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Quo vadis, Italia? Italien ist wie die anderen südeuropäischen Mitglieder des Euroraums besonders von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen. Dort erfolgten Reformen, welche das bestehende Kollektivvertragssystem in gewissem Maße veränderten.

Quo vadis, Italia?

Internationales

Der italienische Sozialpakt regelte die Arbeitsbeziehungen seit 1993. Während der Wirtschaftskrise hat sich viel verändert.

Italien ist wie die anderen südeuropäischen Mitglieder des Euroraums besonders von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen. Dort erfolgten Reformen, welche das bestehende Kollektivvertragssystem in gewissem Maße veränderten. Nach wie vor gehen wichtige institutionelle Merkmale der italienischen Arbeitsbeziehungen aber auf den dreiseitigen Sozialpakt vom Juli 1993 zurück. Manche BeobachterInnen bezeichnen dieses Abkommen, welches die Regierung sowie die großen Gewerkschaftsbünde (CGIL, CISL, UIL) und Arbeitgeberdachverbände unterzeichneten, als eine durch Selbstregulierung zustande gekommene Art von „Arbeitsverfassung“.

Der Sozialpakt 1993

Im Kern beinhaltete dieser Sozialpakt eine wettbewerbsorientierte Einkommenspolitik, eine grundlegende Neuordnung des KV-Systems und die Anerkennung der RSU als betriebliche Vertretung der Beschäftigten. Die Paktparteien vereinbarten, zweimal im Jahr über Einkommens- und Wirtschaftspolitik zu beraten, vor allem über die angestrebte Inflationsrate als wichtigste Richtlinie für die zweijährliche Anhebung der Mindestlöhne in den Branchenkollektivverträgen.
Das KV-System bestand fortan aus zwei Verhandlungsebenen mit klar definierten Kompetenzen: den nationalen Branchen-KV-Verhandlungen und den Verhandlungen in den Betrieben bzw. – in den Branchen, wo KMU dominierten – auf regionaler Ebene.
Die Aufgabe der Branchen-KVs bestand darin, landesweit geltende Mindeststandards für Löhne und Arbeitsbedingungen festzulegen sowie jene Inhalte zu bestimmen, die an die dezentralen Kollektivverträge delegiert werden sollten, v. a. effizienz- und ertragsabhängige Lohnzuschläge.
Eine Einheitliche Gewerkschaftsvertretung (RSU) kann in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten eingerichtet werden. Die Initiative zur Errichtung geht von den Gewerkschaften aus. Im privaten Sektor werden zwei Drittel der Mitglieder von der gesamten Belegschaft gewählt, ein Drittel wird von den Gewerkschaften ernannt. Die RSU handeln im Rahmen des zweistufigen KV-Systems die Betriebskollektivverträge aus und sind Träger von Informations- und Konsultationsrechten.
Es herrscht in Italien breite Übereinstimmung darüber, dass der Sozialpakt von 1993 wesentlich dazu beigetragen hat, dass das Land die Kriterien für die Teilnahme an der dritten Stufe der Währungsunion ab 1999 erfüllen konnte.

Reformbedarf

Die Diskussionen über Reformen des 1993 etablierten KV-Systems intensivierten sich 2008, nicht zuletzt angesichts der globalen Rezession.
Aus Gewerkschaftssicht bestand Anpassungsbedarf v. a. in drei Bereichen:

  1. Für große Teile der Beschäftigten blieb die Tariflohnentwicklung immer wieder hinter der Teuerung zurück.
  2. Die schwache Lohnentwicklung war unter anderem eine Folge des geringen Deckungsgrades dezentraler Kollektivverträge.
  3. Rechtsunsicherheiten bestanden in Bezug auf Branchen-KVs, die nicht von allen relevanten Gewerkschaftsverbänden unterzeichnet wurden, und in Bezug auf die Allgemeinverbindlichkeit von Betriebs-KVs (auch für Mitglieder von Minderheitengewerkschaften, die dem Betriebs-KV nicht zugestimmt hatten).

Die Arbeitgeberseite forderte weitere kollektivvertraglich vereinbarte Arbeitsmarktflexibilisierung, zumindest in der Form von Öffnungsklauseln in den Branchen-KVs.

Rahmenabkommen 2009

2009 schlossen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsbünde ein auf vier Jahre befristetes, experimentelles „Rahmenabkommen über die Reform der KV-Struktur“ ab, das den Pakt von 1993 modifizierte. Die Regierung unterzeichnete in ihrer Funktion als Arbeitgeberin. Der größte Gewerkschaftsbund CGIL lehnte das Abkommen allerdings ab.
Angesichts der Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und des Leistungsbilanzdefizits wurde darin weiterhin eine moderate Lohnentwicklung angestrebt: Richtlinie für die Erhöhung der Mindestlöhne in den Branchen-KVs war nun die prognostizierte Veränderung des Preisindex der EU, abzüglich der Preiseffekte von Energieeinfuhren. Sollte die tatsächliche die prognostizierte Inflation übertreffen, würde am Ende der Laufzeit (nun drei Jahre) automatisch (d. h. ohne zusätzliche Verhandlungen) ein Lohnausgleich erfolgen. Abgestimmte Einkommenspolitik, von den Berlusconi-Regierungen ohnehin nicht praktiziert, fand nicht mehr statt. Für Beschäftigte in Betrieben ohne Betriebs-KV sollten die Branchen-KVs Kompensationszahlungen vorsehen. Die VerhandlerInnen auf Branchenebene erhielten die Möglichkeit, Öffnungsklauseln zu vereinbaren, welche unter bestimmten Umständen dezentralen Kollektivverträgen Abweichungen nach unten erlaubten. Derartige Regelungen waren den Parteien des Branchen-KV zur Zustimmung vorzulegen, es handelt sich also immer noch um eine kontrollierte Form der Dezentralisierung.
Die KV-Verhandlungen 2009–2011 belegen die Wirksamkeit des Rahmenabkommens. Trotz der Ablehnung durch die CGIL wurden fast alle Branchen-KVs von allen Gewerkschaften, also auch den betreffenden CGIL-Verbänden, unterzeichnet.

Sozialpartnerpakt 2011

Im Juni 2011 einigten sich die drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL sowie der Arbeitgeberdachverband Confindustria auf ein interkonföderales Abkommen über Reformen des KV-Systems: Die größten Sozialpartnerverbände zogen es vor, die lange unbefriedigend gelöste Frage der Tariffähigkeit von Gewerkschaften selbst zu regeln. Zum Abschluss von Branchen-KVs berechtigt sind demgemäß nur repräsentative Gewerkschaften, solche, die in der jeweiligen Branche landesweit mehr als fünf Prozent der Beschäftigten organisieren. Betriebs-KVs sind dann für alle Beschäftigten gültig, wenn sie von einer Mitgliedermehrheit der betreffenden RSU unterzeichnet wurden.
Sie können vom Branchen-KV nach unten abweichen, sofern dieser eine Öffnungsklausel enthält. Falls nicht, können in Bezug auf Arbeitsorganisation, -leistung und -zeit nach unten ab-weichende Regelungen getroffen werden, wenn es darum geht, Krisensituationen zu meistern oder signifikante Investitionen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigung des Unternehmens zu tätigen. Voraussetzung dafür ist die Herstellung des Einvernehmens zwischen der betreffenden RSU und den zuständigen regionalen Verbänden der Konföderationen. Die Sozialpartner appellierten an die Regierung, die steuer- und abgaberechtlichen Vergünstigungen für die auf Betriebs-KVs beruhenden Zusatzlöhne, die von der Erreichung betrieblicher Ziele hinsichtlich Produktivität usw. abhängen, beizubehalten oder auszubauen.
Das Gesetz 148/2011, das Mitte September 2011 noch auf Initiative der Berlusconi-Regierung beschlossen wurde, ermöglicht Betriebs-KVs unter bestimmten Bedingungen noch breitere Abweichungen nach unten vom Branchen-KV und vom Arbeitsgesetz (!). Die Bedeutung dieser gesetzlichen Bestimmung wird freilich erst durch die folgende Rechtsprechung geklärt werden müssen. Der Bundessekretär der UIL wies darauf hin, dass das Erfordernis der Zustimmung vonseiten der repräsentativen Gewerkschaften eine Garantie gegen die missbräuchliche Verwendung der Öffnungsklauseln sei.
Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise des Landes bewiesen die Sozialpartner mit dem Abkommen ihre Handlungsfähigkeit und ihren Willen, an der Problemlösung konstruktiv mitzuwirken.

Die Zukunft wird sich weisen

Der Abschluss kam zu einem Zeitpunkt, als die Regierung Berlusconi unter dem Druck internationaler Finanzakteure und der EU drastische budgetäre Kürzungen durchsetzte, ohne vorher die Sozialpartner zu konsultieren. Ob die Fachleute- und Übergangsregierung Monti (bis zu den Parlamentswahlen im Frühjahr 2013) die Kooperation der Sozialpartner suchen wird, um die Fülle der anstehenden Probleme anzugehen, wird sich weisen.

Mehr Infos unter:
tinyurl.com/9kt2urk

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor michael.mesch@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
 

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