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Alternative Mehrheitswahlrecht? Der Nachteil ist hier zweifelsohne, dass die Menschen innerhalb eines kurzen Abstandes ein zweites Mal zu den Urnen pilgern müssen. Außerdem führt die Konzentration auf zwei KandidatInnen zu sogenannten Lagerwahlkämpfen.

Alternative Mehrheitswahlrecht?

Schwerpunkt

In Großbritannien und auch in Kanada gibt es mittlerweile starke Bewegungen für die Änderung der jeweiligen Wahlsysteme.

Großbritannien im Jahr 2005: Tony Blair wird zum zweiten Mal zum Premierminister gewählt. Seine Labour Party bekommt 353 der 646 Sitze im Unterhaus und erringt damit die absolute Mehrheit. 64 Prozent der WählerInnen haben zwar gegen Blair gestimmt, doch das relative Mehrheitswahlrecht ermöglicht ihm mit nur 36 Prozent die absolute Mehrheit.

Kanada 2011

Über 60 Prozent der WählerInnen stimmen gegen die regierenden Konservativen und wählen größtenteils liberale und linke Parteien. Dennoch zieht auch der kanadische Regierungschef Stephen Harper mit einer absoluten Mehrheit ins Parlament ein. Sowohl in Großbritannien als auch in Kanada gibt es mittlerweile starke Bewegungen für die Änderung der jeweiligen Wahlsysteme, vor allem die Disproportionalität der abgegebenen Stimmen zu den erhaltenen Mandaten wird heftig kritisiert.
In Österreich wurde dagegen in der Vergangenheit schon des Öfteren die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes diskutiert. Vom ehemaligen ÖVP-Verteidigungsminister Fasslabend bis zum Ex-Bundeskanzler Gusenbauer (SPÖ) reichen die Namen prominenter PolitikerInnen, die mit dem Gedanken einer Adaptierung des österreichischen Verhältniswahlrechtes spielten.
Die beiden bekanntesten Varianten der Mehrheitswahlsysteme sind das relative und das absolute Mehrheitswahlrecht. Daneben gibt es aber auch diverse Mischmodelle.
Beim relativen Mehrheitswahlrecht, das zum Beispiel in Großbritannien, den USA oder Kanada angewendet wird, gibt es genauso viele Wahlkreise wie Mandate. Gewählt ist jener/jene KandidatIn, der/die die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält. Das heißt, er/sie ist auch dann gewählt, wenn er/sie etwa nur 22 Prozent der Stimmen bekommt, falls die anderen MitbewerberInnen weniger Stimmen erhalten haben.
Beispiel:
KandidatIn A: 20 Prozent; KandidatIn B: 17 Prozent; KandidatIn C: 8 Prozent; KandidatIn D: 22 Prozent; KandidatIn E: 18 Prozent; KandidatIn F: 15 Prozent;
SiegerIn wäre also KandidatIn D. Die restlichen abgegebenen Stimmen verfallen.
Beim absoluten Mehrheitswahlrecht, das zum Beispiel bei der österreichischen Bundespräsidentschaftswahl Anwendung findet, gibt es einen zweiten Durchgang mit den beiden stärksten KandidatInnen der ersten Runde, also nach unserem Beispiel mit KandidatIn A und KandidatIn D. Der Nachteil ist hier zweifelsohne, dass die Menschen innerhalb eines kurzen Abstandes ein zweites Mal zu den Urnen pilgern müssen. Außerdem führt die Konzentration auf zwei KandidatInnen zu sogenannten Lagerwahlkämpfen.
Einen ganz eigenen Weg beim Mehrheitswahlrecht geht Australien. Hier müssen alle im Wahlkreis antretenden KandidatInnen nach Beliebtheit gereiht werden. Der/Die schwächste KandidatIn wird eliminiert und seine/ihre Zweit-, Dritt- und weiteren Stimmen auf die anderen KandidatInnen übertragen. Dieser Schritt wird so lange wiederholt, bis nur mehr ein/eine KandidatIn überbleibt. Diese Form des Mehrheitswahlrechtes wird auch bei der Präsidentschaftswahl in Irland angewendet.

Die Praxis: Zwei Beispiele

Das Wahlergebnis von 2010 bescherte Premierminister David Cameron, im Gegensatz zu seinem Vorvorgänger Tony Blair, zwar keine absolute Mehrheit, doch sind die Verzerrungseffekte genauso beachtlich.
Die Conservative Party als stärkste Partei erhielt für 36,1 Prozent der Stimmen 47,1 Prozent der Mandate. Die zweitplatzierte Labour Party erhielt mit 29 Prozent der Stimmen immer noch 39,7 Prozent der Mandate, während die Liberal Democrats mit immerhin 23 Prozent der Stimmen nur mehr 8,8 Prozent der Mandate gewannen. Die beiden rechtsradikalen Gruppierungen British National Party und United Kingdom Independent Party konnten zwar nicht ins Parlament einziehen, doch ermöglichte es das Mehrheitswahlrecht, regionalen Gruppierungen aus Nordirland, Schottland und Wales zahlreiche Mandate zuzusprechen.
Auch im Falle Australiens lässt sich bei den jüngsten Wahlen ein Verstärkungseffekt zugunsten der größten Partei, der Labor Party, feststellen. Die zweitplatzierte Liberal Party erhielt proportional ungefähr so viele Mandate wie Stimmen. Wenig erfreuliche Auswirkungen hatte das australische Wahlrecht auf die Grünen, erhielten sie doch für beinahe zwölf Prozent der Stimmen nur ein einziges Mandat, also 0,7 Prozent der zu vergebenden Sitze!

Verhinderung radikaler Gruppen?

Ein Argument für die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes ist seit jeher die Behauptung, man könne sogenannte radikale Gruppen von der Politik fernhalten. Das stimmt nur zum Teil. Denken wir nur an das bekannteste Zweiparteiensystem der industrialisierten Welt, nämlich das US-amerikanische. Dort hat die radikale, antisoziale Plattform Tea Party große Teile und lokale Organisationen der Republikanischen Partei übernommen und stellt mit Paul Ryan sogar den Vizepräsidentschaftskandidaten für die diesjährigen Wahlen. Eines seiner wichtigsten Anliegen: Krankenversicherungsbeiträge für PensionistInnen stark anheben und Gesundheitsleistungen für SozialhilfeempfängerInnen einschränken.
Ein anderes Beispiel: In Australien konnte bei den Wahlen von 1998 zwar der Einzug der rechtsradikalen One Nation Party von Pauline Hanson verhindert werden, obwohl diese 8,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Dennoch waren die Folgen fatal.
Die regierende Liberal Party (bis 2007 an der Macht), auf die WählerInnen der Rechtsradikalen schielend, rückte noch weiter nach rechts, bekämpfte Gewerkschaften, zerschlug den ohnehin nur rudimentär ausgebauten Sozialstaat und fuhr einen extrem brutalen Kurs gegen Einwanderinnen und Einwanderer sowie AsylwerberInnen. Letztere wurden etwa in menschenunwürdige Internierungslager auf kleinen Inseln verbannt. In der Politikwissenschaft nennt man das „contagion from the right“, d. h. eine Regierungspartei wird von rechts von ihr stehenden politischen Bewegungen – innerhalb sowie außerhalb des Parlamentes – mit konstantem Druck selbst weiter nach rechts gezogen. Die Regierungspartei setzt dann in weiterer Folge viele Forderungen der Rechten um. Das Mehrheitswahlrecht schützt davor nicht.
Übrigens: Hätte man bei den Wahlen von 2010 in Großbritannien das österreichische Verhältniswahlrecht angewandt, dann würden statt derzeit zehn nur drei Parteien im britischen Unterhaus sitzen. Im Falle Kanadas wären 2011 vier statt fünf Parteien eingezogen …

Stabile Regierungen?
Ein immer wieder vorgebrachtes Argument für das Mehrheitswahlrecht ist die Bildung von stabileren Regierungen, sprich Alleinregierungen, die sofort einsatzfähig wären und ohne mühsame Koalitionsverhandlungen gleich die Arbeit aufnehmen könnten. Das ist tatsächlich häufig der Fall, aber öfter als man glauben mag auch nicht.
Kanada hatte beispielsweise innerhalb der letzten 50 Jahre sieben Minderheitskabinette, die sowohl für die Budgeterstellung als auch bei der Gesetzgebung auf eine oder mehrere Oppositionsparteien angewiesen waren. Derzeit müht sich auch Australien mit einem Labor-Minderheitskabinett unter Premierministerin Julia Gillard ab. Dieses wird zwar von den Grünen unterstützt, aber auch mit allen grünen Abgeordneten hat es keine Mehrheit im Unterhaus und ist auf zusätzliche Stimmen angewiesen. Die diesem Konstrukt vorausgehenden Verhandlungen erwiesen sich als schwieriger als alles, was wir aus Österreich kennen. Das unerwartete Wahlergebnis von 1974, bei dem keine Parteienkoalition eine Mehrheit zustande brachte, stürzte einst auch Großbritannien in eine schwere Regierungskrise. Neben Minderheitskabinetten können durch das relative Mehrheitswahlrecht aber durchaus auch klassische Koalitionsregierungen hervorgehen, wie die Britinnen und Briten es mit ihrer Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten aktuell vorzeigen.
Das österreichische Verhältniswahlrecht ist in manchen Teilaspekten sicher verbesserungswürdig, doch sollte seine Ersetzung durch ein Mehrheitswahlrecht keine ernstzunehmende Alternative sein!

Mehr Infos unter: de.wikipedia.org/wiki/Mehrheitswahl

Schreiben Sie Ihre Meinungan den Autor martin.bolkovac@gpa-djp.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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