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BürgerInnen machen Steuerpolitik Blickt man etwas über den österreichischen Tellerrand, dann ist die Sache schon nicht mehr so klar. In der Schweiz bestimmen BürgerInnen mittels Abstimmungen ganz wesentlich die Steuerpolitik.

BürgerInnen machen Steuerpolitik

Schwerpunkt

Immer wieder wird mehr Mitsprache - auch Budget und Steuern betreffend - gefordert. Ist das eine Gefahr oder Chance für die Demokratie?

Der Staat braucht Steuereinnahmen, um Politik machen zu können. Ohne Steuereinnahmen keine Investitionen in das Bildungssystem, in den Sozialstaat oder in die Infrastruktur eines Staates.
Doch wer entscheidet in einer Demokratie darüber, aus welchen Einnahmen sich der Staat finanziert und zu welchen Zwecken die Budgetmittel ausgegeben werden sollen? In Österreich ist diese Antwort eindeutig: Darüber entscheiden die gewählten PolitikerInnen.
Blickt man etwas über den österreichischen Tellerrand, dann ist die Sache schon nicht mehr so klar. In der Schweiz bestimmen BürgerInnen mittels Abstimmungen ganz wesentlich die Steuerpolitik.
Andere Wege geht das Konzept des Bürgerhaushaltes auf kommunaler Ebene: Hierbei bestimmen BürgerInnen in einem Beteiligungsprozess, der sich nicht auf eine Abstimmung beschränkt, über die Verteilung von Ausgaben der Kommune.

Zehn Prozent zweckwidmen?

Direkte Demokratie in der Schweiz und Bürgerhaushalte: zwei völlig verschiedene Herangehensweisen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen, wie wir noch sehen werden. Aber eines haben sie gemeinsam: BürgerInnen erhalten mehr Einfluss auf die Steuer- und Budgetpolitik.
In Österreich ist die politische Diskussion diesem Thema bisher großräumig ausgewichen, sieht man vom – je nach politischem Standort mutigen oder skurrilen – Vorschlag des Integrationsstaatssekretärs Sebastian Kurz ab. Die BürgerInnen sollten zehn Prozent ihrer Lohn- und Einkommenssteuer zweckwidmen können, forderte er im Frühjahr 2012. Damit könne man der allgegenwärtigen Politikverdrossenheit entgegenwirken.

Wer zahlt, der soll mitreden?

Auf der Homepage der Jungen ÖVP, deren Bundesobmann Kurz ist, wird die Intention des Vorschlages aber etwas unverblümter dargestellt. Mit „Wer zahlt, soll mitreden können – Steuerdemokratie für Österreich“ ist der Vorschlag dort tituliert.1 Offensichtlich soll ein Manager der Raiffeisenbank International mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 1,7 Mio. Euro sehr viel „mitreden“ können. Eine alleinerziehende Mutter, die als Teilzeit-Altenpflegerin arbeitet und wegen ihres geringen Einkommens keine Steuer zahlt, hat dagegen nichts zu melden.
Doch kehren wir zurück in die Schweiz. Dort haben direktdemokratische Mitbestimmungsrechte eine lange Tradition. Welche Auswirkungen haben sie?
Nehmen wir eine der letzten Abstimmungen als Beispiel: Am 23. September 2012 stimmten die Wahlberechtigten im Kanton Bern einem „Volksvorschlag“ zu, der die Motorfahrzeugsteuern um ein Drittel senken will. Sehr zum Leidwesen der Kantonsregierung, welche die Steuerausfälle von 100 Mio. Franken unbedingt verhindern wollte. Aber sie konnte sich letztlich nicht gegen die von der Autolobby unterstützte Initiative eines Berner Autohändlers durchsetzen.
Die Liste der Abstimmungen über steuerpolitische Maßnahmen in der Schweiz ist lang und sie hat eine eindeutige Schlagseite. So wurden durch Bürgerentscheide die Einführung einer gesamtstaatlichen Schuldenbremse, die Senkung der Unternehmenssteuern und der Motorfahrzeugsteuern beschlossen.

Steuerparadies Schweiz

Nur sehr vereinzelte Bürgerentscheidungen liefern Ergebnisse gegen diesen Trend, wie zum Beispiel die Abschaffung der Steuerprivilegien (sogenannte Pauschalsteuer) für reiche Nicht-SchweizerInnen in mittlerweile fünf Kantonen.2
Begünstigt durch einen innerstaatlichen Steuerwettbewerb – selbst benachbarte Gemeinden können unterschiedliche Steuersätze festlegen – zeigen die meisten Ergebnisse jedoch in die gleiche Richtung: Der Staat bzw. die Kommunen werden durch die Reduzierung der Steuereinnahmen einem steten Sparzwang unterworfen. Aber auch anderen Staaten entgehen durch die Steuerflucht in die Schweiz Einnahmen in Milliardenhöhe. Den Vermögenden gefällt es dafür in der Schweiz: In einer Länderliste der Superreichen mit einem Vermögen über 50 Mio. US-Dollar liegt das kleine Land hinter den USA, China und Deutschland auf Platz vier.
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Schauplatzwechsel

Orte, an den sich die Superreichen der Welt wohl eher seltener verirren, sind die Elendsviertel der brasilianischen Metropole Porto Alegre. Anfang der 1990er-Jahre trafen sich dort Tausende Menschen zu Bürgerversammlungen, um über die Verteilung von Stadtbudgetmitteln zu entscheiden. Damals ahnte noch niemand, dass dies der Ausgangspunkt für ein weltweit beachtetes Bürgerbeteiligungsmodell sein würde: den Bürgerhaushalt. Die 1988 an die Macht gekommene brasilianische Arbeiterpartei entwickelte gemeinsam mit der Zivilgesellschaft ein Verfahren, das Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gibt, sich an der Verteilung öffentlicher Gelder zu beteiligen. Das Projekt stand von Anfang an unter der Prämisse der sozialen Gerechtigkeit. Die unteren Schichten wurden gezielt zur Teilnahme an den Versammlungen mobilisiert. Es wurden Kriterien entwickelt, wie die zweistelligen Millionenbeträge zugunsten der am meisten benachteiligten Gebiete über die einzelnen Stadtregionen verteilt werden sollten. Die sichtbaren Erfolge, z. B. der Anstieg der Abwasseranschlüsse von 46 Prozent (1989) auf 84 Prozent (1999), führen dazu, dass jedes Jahr mittlerweile 30.000 Menschen an der Erstellung des Bürgerhaushaltes teilnehmen. Der genaue Ablauf des jährlich stattfindenden Prozesses ist sehr detailliert definiert und am Ende des jeweiligen Prozesses übergeben die BürgerInnen „ihren“ Haushaltsentwurf dem Bürgermeister. Formal entscheidet letztlich der Stadtrat (also „die Politik“) über das Budget, de facto werden aber nur mehr geringfügige Änderungen am Entwurf vorgenommen.
Nachdem die weitere Verbreitung des erfolgreichen Modells aus Porto Alegre zunächst auf Lateinamerika beschränkt blieb, schwappte es im Zuge des ersten Weltsozialforums 2001 in Porto Alegre auf Europa über.4 Ließen sich die Bürgerhaushalte am Anfang des Jahrtausends in Europa noch an einer Hand abzählen, sind es zehn Jahre später weit über 200. Darunter finden sich kleinere Städte mit wenigen Tausend EinwohnerInnen ebenso wie die Millionenstadt Köln. In den europäischen Hauptstädten Berlin, Paris, Rom, London und Lissabon wurde der Bürgerhaushalt in zumindest einem Bezirk eingeführt.
Am Anfang waren es vor allem die GlobalisierungskritikerInnen, die die Idee des Bürgerhaushaltes nach Europa getragen hatten, nach und nach kamen andere Player mit ins Spiel: UNO, Weltbank, OSZE und private Beraterunternehmen, die einen vielversprechenden Markt wittern.
Das Modell von Porto Alegre wurde nicht einfach kopiert, sondern es entstand eine enorme Vielfalt. Allerdings bleibt dabei oftmals die „Grundidee“ von Porto Alegre auf der Strecke: Etwa werden BürgerInnen lediglich zur Beratung herangezogen, ohne an den herkömmlichen Entscheidungsstrukturen etwas zu ändern, oder Gelder von Privatunternehmen in Public-Private-Partnership-Modellen verteilt. Vielfach steht vor allem die Modernisierung der Verwaltung stark im Vordergrund. Dies ist an sich ja noch nichts Schlechtes, aber im Gegensatz zur Situation in Lateinamerika werden die Förderung der sozialen Gerechtigkeit sowie die Mobilisierung der unteren Schichten nur am Rande gestreift.

Eine Chance für die Demokratie

Unter dem Strich bleibt: Bürgerhaushalte bieten die Chance einer tiefgreifenden Reform der Demokratie unter – wenn man es politisch will – Berücksichtigung der „sozialen Frage“. Es wird spannend, wann wer in Österreich als erstes diesen Ball aufnimmt. Gerade jetzt, wo die repräsentative Demokratie in einer Krise steckt, wären neue Formen der Mitbestimmung möglich und dringender denn je.

1 junge.oevp.at/24261/?MP=61-17194, abgefragt am 9. Oktober 2012.
2 Im Kanton Zug gibt es noch die Pauschalsteuer, Frank Stronach (offizieller Wohnsitz in der Stadt Zug) kann aufatmen. Aber auch hier laufen die Vorbereitungen für eine Volksabstimmung zur Abschaffung.
3 tinyurl.com/cgtlhgu
4 Sintomer/Herzberg/Röcke: Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie?, 2010, VS Verlag.

Mehr Infos unter: tinyurl.com/5voevjk

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian.zickbauer@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at

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