topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Zusammen spazieren gehen Stellen wir uns, Gilbert folgend, eine Person vor, wir nennen sie Susi, sie spaziert allein eine Straße entlang. Plötzlich bemerkt sie, dass jemand anders, ein Mann in einem schwarzen Mantel, neben ihr geht, in einem Abstand von etwa dreißig Zentimetern.
Buchtipp

Zusammen spazieren gehen

Schwerpunkt

Was ein Spaziergang zu zweit mit Familie in traditionellen und neuen Formen zu tun hat.

Vor einiger Zeit saß ich mit ein paar Freunden nach dem wöchentlichen Fußballspiel zusammen und wir unterhielten uns darüber, wie sehr uns das gemeinsame Spiel noch immer Spaß macht. Da erzählte einer folgende Geschichte: Eine seiner Töchter war gerade in der Pubertät, es war sehr schwierig mit ihr und sie fanden überhaupt keinen Draht mehr zueinander. Da machte er ihr eines Abends den Vorschlag, noch eine Runde miteinander spazieren zu gehen. Und während dieses Spazierens kamen sie sich wieder näher, sie konnten ruhig miteinander reden und ihre Gedanken austauschen. Es sei doch seltsam, dass diese banale Handlung des gemeinsamen Gehens eine solche Wirkung hatte.
Das erinnerte mich an einen Aufsatz, den die Sozialphilosophin Margaret Gilbert geschrieben hat, und der eben den Titel trägt: „Zusammen spazieren gehen: Ein paradigmatisches soziales Phänomen“. Den Begriff „paradigmatisch“ kann man hier so verstehen, dass es darum geht, welche Merkmale aus der Handlung des zusammen Spazierengehens für das Soziale insgesamt gewonnen werden können.

Susi spaziert die Straße entlang

Stellen wir uns, Gilbert folgend, eine Person vor. Wir nennen sie Susi. Sie spaziert allein eine Straße entlang. Plötzlich bemerkt sie, dass jemand anders, ein Mann in einem schwarzen Mantel, neben ihr geht, in einem Abstand von etwa dreißig Zentimetern. Das kann man nun sicher nicht gemeinsames Gehen nennen und gerade der Umstand, dass es kein gemeinsames Gehen ist, mag Susi sehr nervös machen. Jetzt erkennt Susi ihn aber, es ist Fredi Maier. Sie ist nun beruhigt und erfreut und würde auch ganz gern mit ihm einige Worte wechseln. So gehen sie nebeneinander her. Kann man hier schon vom gemeinsamen Spazieren sprechen? Eher nicht, wenn wir annehmen, dass Fredi bekannt ist für seine Verschlossenheit, was Susi zur Vermutung veranlasst, er würde lieber allein gehen, und dass Fredi vielleicht von seinem Ruf weiß und glauben mag, dass er Susi nicht so willkommen ist. Das gemeinsame Spazierengehen wird also noch nicht dadurch erzeugt, dass beide für sich das persönliche Ziel haben, neben dem anderen zu gehen. Sie müssen jedenfalls voneinander wissen, dass sie das gleiche Ziel haben.
Doch reicht dieses Wissen schon aus? Stellen wir uns vor, Susi und Fredi gehen tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt miteinander spazieren. Nun beginnt Fredi seine Schritte zu beschleunigen, er eilt voraus. Susi könnte auf unterschiedliche Weise reagieren. Sie hätte die Möglichkeit Fredi zuzurufen, dass sie nicht nachkommt, oder sie könnte zu ihm aufschließen und ihm dann sagen, dass er zu schnell geht. Damit wird angenommen, dass es eine Verpflichtung gibt, miteinander Schritt zu halten und auch ein Recht darauf hinzuweisen und die Verpflichtung einzumahnen. Doch ebenso könnte sich Susi in diesem Stadium der Gemeinsamkeit denken: Was berechtigt mich denn, das von Fredi zu verlangen, und will ich es eigentlich?
Diese Wendung wirft die Frage auf, wodurch Rechte und Verpflichtungen begründet sind. Gilbert bespricht zwei Möglichkeiten einer solchen Verpflichtung: Moral und Klugheit. Eine moralische Verpflichtung würde heißen, dass man nicht vorauseilen soll. Es ist aber nicht gesagt, dass Fredi diese moralische Regel für sich gelten lässt, und auch Susi könnte der Ansicht sein, dass Fredi moralisch zu nichts verpflichtet ist, und daher auch eine Verpflichtung aus diesem Grund nicht einfordern.

Fredi hat das gleiche Ziel

Von der Moralität abgesehen, könnte die Klugheit Fredi gebieten, alles Mögliche zu unternehmen, um sie beide zusammenzuhalten. Denn wenn sie beide voneinander wissen, dass sie das fragliche Ziel haben, könnte es gut sein, dass Susi das Verhalten Fredis für rücksichtslos hält. Dies könnte dazu führen, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein möchte. Fredi wäre also aus einem Klugheitsgesichtspunkt verpflichtet, nicht vorauszueilen. Der Haken dabei ist, dass auch dieses Kalkül nur ein persönliches von Fredi ist. Die Frage, der wir nachgehen, lautet aber: Unter welchen Umständen ist die Verpflichtung so geartet, dass Fredis Versäumnis, neben Susi zu bleiben, Susi berechtigt, ihn zu rügen? Und für diese Verpflichtung reichen sowohl Moral als auch Klugheit nicht aus.

Kräfte vereinen
Gilbert schlägt folgende mögliche Lösung zur Klärung dieser Frage vor: Gehen wir nochmals zum Ausgangspunkt zurück. Nehmen wir an, Fredi hustet, um Susis Aufmerksamkeit zu erregen, und fragt sie dann, ob sie Susi Berger sei und ob sie etwas dagegen hätte, wenn er sich ihr anschließen würde. „Nein“, sagt Susi, „das wäre nett, ich hätte gern Gesellschaft.“ Damit sind alle Bedingungen für gemeinsames Spazierengehen vorhanden. Was charakterisiert diese Situation? Gilbert meint, dass hier jeder Beteiligte durch sein Akzeptieren des gemeinsamen Ziels, spazieren zu gehen, seine Bereitschaft klar gemacht hat, die Kräfte zum Erreichen des Ziels zu vereinen. Es kommt also auf die Gemeinsamkeit des Ziels an und beide Personen sind dabei Teile von etwas, das Gilbert „Pluralsubjekt“, man könnte es mit „Mehrzahl-Ich“ übersetzen, nennt. Das gemeinsame Ziel kann nur erreicht werden, wenn sich die beiden Willen gegenseitig und gleichzeitig miteinander binden.
Der Unterschied zu der vorhergehenden Konstellation liegt darin, dass hier nicht jede Person für sich das gleiche Ziel hat wie die andere, sondern dass beide das eine gemeinsames Ziel haben und dieses nur erreicht werden kann, wenn sie ihre Kräfte dazu verbinden. Erst dieses Verhältnis begründet gegenseitige Verpflichtungen und Rechte. So sieht es jedenfalls Margaret Gilbert. Müßig zu erwähnen, dass diese Definition durchaus nicht von allen Personen, die sich mit diesem Thema befassen, geteilt wird. Manche halten die Vorstellung eines „Mehrzahl-Ichs“ für zu stark und überzogen. Sie meinen, dass wir immer Einzelpersonen mit individuellen Zielsetzungen bleiben. Ich denke jedoch, dass die Darstellung von Gilbert recht gut erklären kann, warum in dem oben geschilderten Fall meines Freundes dieser Spaziergang mit der Tochter so gut verlaufen ist. Denn in diesem Moment haben sich die beiden offenbar gleichermaßen einander verpflichtet, achtend und sorgend gefühlt. Folgt daraus, dass die Beteiligten ihre Individualität verlieren und in einem „Wir“ aufgehen? Das ist nicht der Fall. Denn es sind und bleiben Subjekte, Einzelpersonen, die zu einem gemeinsamen Ziel wechselseitig ihre Kräfte verbinden.

Familie hat ein „Mehrzahl-Ich“

Was bedeutet das nun für die Familie? Die Familie ist eine Gruppe mit spezifischen Merkmalen. Im Sinne Gilberts könnte man sagen, in einer Familie bilden Personen ein „Mehrzahl-Ich“, also ein „Wir“, mit dem Ziel, miteinander das Leben zu bestreiten. Das beinhaltet die Sorge um die anderen, darauf zu achten, dass – sinnbildlich zum spazieren gehen – niemand zu schnell geht oder zurückbleibt, und es begründet Rechte und Pflichten.

Sorge, Pflichten, Rechte
Die Geschichte von Susi und Fredi wird möglicherweise nach dem gemeinsamen Spaziergang enden – oder auch weitergehen, wer weiß? Gilbert behandelt das nicht weiter, es geht ihr nicht um das Ende, sondern um das Entstehen von Gruppen. Mit der Familie ist das nun eine besondere Sache. Denn die Sorge und die Pflichten und Rechte enden nicht einfach, wenn ein Teil oder mehrere Teile nicht mehr mitmachen.
Zur Familie kommt man auch nicht immer aus freiem Willen. Kinder etwa können sich keineswegs aussuchen, ob und unter welchen Umständen sie auf der Welt sind. Hier endet deshalb das oben erwähnte Paradigmatische an Gilberts Darstellung des zusammen Spazierengehens. Es gibt uns aber doch einen Hinweis darauf, was den inneren Zusammenhang einer Familie ausmacht, ungeachtet der unterschiedlichen Formen und Zusammensetzungen, die sie annehmen kann.

Den Aufsatz von Margaret Gilbert „Zusammen spazieren gehen“ können Sie in unserem Buchtipp nachlesen.

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor alexander.schneider@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum