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Begnügt euch Der Vorschlag der Millionen-Erbin, genügsam inmitten einer satten Gesellschaft zu sein, ist implizit - aber keineswegs schwächer - auch in der postliberalen Ära präsent.

Begnügt euch

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Wo genau ist die Leistung? Ein Streifzug durch die Begriffswelt der "sozialen Gerechtigkeit".

Man könne ja auf der Terrasse Tomaten ziehen. Die Umsetzung dieses Ratschlags von Fiona Grasser, runde 48 Stunden nach der Insolvenz der amerikanischen Lehman Brothers Bank am 15. September 2008 erteilt, ist aus mindestens zwei Gründen nicht ratsam: Über Terrassen verfügen die wenigsten. Und selbst wenn, nagt die Frage: Warum hat der Nachbar ein immenses Glashaus?

Genügsam statt gerecht

Der Vorschlag der Millionen-Erbin, gnügsam inmitten einer satten Gesellschaft zu sein, ist implizit – aber keineswegs schwächer – auch in der postliberalen Ära präsent. Nichts gegen Paradeiser und Eigenbau, vor allem nicht in Zeiten unterbezahlter ErntehelferInnen, die Frage nach Gerechtigkeit sollte aber dabei nicht unter den Tisch fallen. Ganz ohne Vergleichsabsicht nämlich „lässt sich der Blick darauf kaum vermeiden, dass sich andere nicht an die Maxime der Genügsamkeit halten, dafür vom Marktsystem aber mit Erfolgen belohnt werden – und das zumindest teil- oder zeitweise mit der Folge, dass der Grad der Genügsamkeit, dem man sich selbst hinzugeben hat, ein wenig gesteigert werden muss“, heißt es dazu in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).
Sattsam bekannt ist die stets sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, die für immer mehr Menschen nicht nur reine Metapher ist. Die angestrebte „Genügsamkeit“ aber fordert mehr als nur die Abkehr von der Bestrebung, sein eigenes Wohl und die soziale Gerechtigkeit zu steigern, schreibt der Studienautor Frank Nullmeier unter dem Titel „Neoliberalismus und Gerechtigkeit in der öffentlichen Debatte“. „Es fordert Verzicht auf jeden Vergleich mit anderen und letztlich sogar Verzicht auf Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge zwischen den Haltungen der einen und der Genügsamkeit der anderen.“
Schließlich sollte doch der Vergleich sicher machen, und warum funktioniert ein Vergleich nur bei Warenpreisen? Welches Denken in Bezug auf soziale Gerechtigkeit prägt heute den öffentlichen Diskurs? Von einer längst ausständigen Analyse von Sprache und Bildern in Bezug auf die „Gerechtigkeitsdebatte“ spricht Experte Frank Nullmeier. Welche Denkfiguren dominieren? Die Finanzkrise hat zwar kurzfristig stärkere öffentliche Kritik an neoliberalen Konzepten freigesetzt, (post)-neoliberale Ansätze, so Nullmeier, sind dennoch vorherrschend. „Eine neue Qualität erreichen sie, wenn soziale Ungleichheiten nicht mehr ausschließlich als Ergebnis von Erfolg oder Misserfolg auf Wettbewerbsmärkten erscheinen, sondern durch genetische Unterschiede von ‚Ethnien‘ oder ‚bildungsfernen‘ Schichten erklärt werden.“

Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität

Als Schlüsselelemente jeder politischen Debatte fungieren Wertebegriffe. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass stets eine Vielzahl unterschiedlicher Werte besteht. Seit den 1970er-Jahren, stellt Frank Nullmeier fest, hat sich in den Grundsatzprogrammen der meisten europäischen Länder ein System von Grundwerten entwickelt, das in die „Trias“ von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität mündete.
Die öffentliche Vorherrschaft des Neoliberalismus in den Jahren 1998 bis 2005 war damit verbunden, den Gerechtigkeitsbegriff auf eine Marktgesellschaft zu reduzieren. In Folge vervielfältigten sich die Gerechtigkeitsbegriffe durch neue Komposita: Generationen-, Teilnahme-, Geschlechter-, Bildungs- oder Chancengerechtigkeit. Aufgabe der Politik ist es, so Frank Nullmeier, die Relationen sowohl zu den Zentralwerten als auch untereinander zu klären und zu bestimmen.

Wir brauchen Werte

Die Figur Frank Stronach, die nunmehr auf der politischen Bühne Österreichs erschien, ist beredtes Zeugnis einer Wertediskussion, die jede vernünftige Relation überschritten hat. Die drei Schlagworte seines „Programms“ – an die zumindest erinnern sich er und seine KandidatInnen in Interviews – sind weder Werte, noch geben sie Aufschluss über ein stringentes Konzept. Aufschlussreich ist die unverhältnismäßige Akzeptanz des verhaltensoriginellen Milliardärs, dessen Markterfolg gerne mit Leistung verwechselt wird. Leistung für wen?
Erinnert wird in der FES-Studie an die zwei Grundthesen des Hauptvertreters des neoliberalen Denkansatzes, Friedrich A. Hayek. Erstens: Der Begriff „Gerechtigkeit“ kann aufgrund der Marktstruktur nur als Bezeichnung für die Qualität der marktrechtlichen Rahmeninstitutionen Sinn machen. Zweitens: Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ hat hingegen keinen bestimmbaren Sinn in seiner Anwendung auf die Marktordnung.
Seine dritte These in Zusammenhang mit „Leistungsgerechtigkeit“ findet erst seit Kurzem Eingang in die Debatte über soziale Gerechtigkeit. „Doch der Gedanke, dass wir das, was wir in der Vergangenheit (...) erworben, auch moralisch verdient haben, ist weitgehend illusorisch“, hatte Hayek 1976 in seinem Buch „Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit“ postuliert. Belohnt wird in der Marktwirtschaft somit allein der Markterfolg, der sich aber verdienstethisch nicht heiligen lässt, kommentiert Nullmeier.

Gute Ordnung

„Brauchen wir die Vorstellung von Gerechtigkeit immer und überall?“, überspitzt der deutsche Historiker und Publizist Paul Nolte die Frage. Was tritt an ihre Stelle? Als allgemeines Ziel ließe sich die Idee einer „guten Ordnung“ entwickeln, in der möglichst viele Menschen möglichst große Chancen auf Entfaltung und Entwicklung bekämen. Gerechtigkeit ist im heutigen eingeschränkten Sinn kein eigenständiger Wert, der ohne Zusatzerklärung auskommt. Denn was hätten wir von einer sozialen Gerechtigkeit, wenn alle arm sind und unfrei dazu? Um den Begriff für die (post-)liberale Position zu bewahren, meint Nullmeier, wird meist auf „Chancengerechtigkeit“ verwiesen. In einem Markt, in dem allein die rechtliche Basis dafür gesichert ist, bleibt Chancengleichheit aber theoretisch bzw. der Herkunft, dem Umfeld u. v. a. m. – also grob gesagt dem Zufall – überlassen.

Wo woa mei Leistung?

Die Aufgabe einer Gerechtigkeitstheorie in einer diskursiv geschulten Gesellschaft besteht darin, schreibt Frank Nullmeier, gute Gründe für bestimmte Verteilungen und institutionelle Verhältnisse zusammenzutragen. Wenn ein autoritärer Fabrikant mit fundamentalen Benimmproblemen Chancen auf ein politisches Amt erhält, kann von einer diskursiv geschulten Gesellschaft nicht die Rede sein. Das Unbehagen, die Wut und der Zorn jedenfalls sind seit der berühmten Frage „Wo woa mei Leistung?“ unübersehbar. Reiner Markterfolg und der ihm zugrunde liegende „Zufall“ werden zunehmend als gute Gründe angezweifelt.
Folgt man der Denkweise Hayeks, gäbe es drei Möglichkeiten: Man identifiziert Leistung mit Erfolg. Das wird, wie erwähnt, zunehmend unhaltbar. Man begründet soziale Ungleichheiten mit der Herkunft, Ethnie, Kultur, Religion oder gar Genetik. Oder aber, man akzeptiert sie fraglos. So etwa der postliberale Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz: „Wir sollten zufrieden sein mit dem, was ist, statt mit absurdem Aufwand nach der optimalen Lösung zu suchen. Besser genug statt gleich viel.“

Die Kluft wird größer

Genügsamkeit aber steht in krassem Widerspruch zu Individuen, die am Markt agieren (müssen). „Daher muss sie auf die weniger marktrelevanten Teile der Bevölkerung eingeschränkt werden“, schreibt Frank Nullmeier in der eingangs zitierten Expertise der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer, vertraut man abgesehen von der Statistik und Studienquellen den eigenen Augen. Um mit dem zitierten Autor zu sprechen: Vielleicht muss auch die Leistungsbereitschaft der „LeistungsträgerInnen“ befragt werden. „Denn zur Leistungsgerechtigkeit gehört auch, gemäß seiner Leistungsfähigkeit zum öffentlichen Wohl beizutragen."

Frank Nullmeier, „Kritik neoliberaler Menschen- und Gesellschaftsbilder und Konsequenzen für ein neues Verständnis von ‚sozialer Gerechtigkeit‘“, Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2010:
library.fes.de/pdf-files/wiso/07649.pdf


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