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Die rohe Bürgerlichkeit - verdirbt Geld den Charakter? Die Auswertungen ergaben, dass diejenigen Probanden, die einer höheren Schicht angehörten, mehr Bonbons genommen hatten als solche einer unteren Schicht.

Die rohe Bürgerlichkeit - verdirbt Geld den Charakter?

Schwerpunkt

Besserverdienende nehmen die soziale Spaltung der Gesellschaft weniger wahr.

Ein schwach beleuchteter Raum ohne Mobiliar außer einem großen runden Tisch mit zehn Sesseln rundherum. Am Tisch sitzen zehn Studierende, die sich für eine Studie zur Verfügung gestellt haben und verschiedenste Aufgaben am Laptop bewältigen.
In einer Pause betritt wie beiläufig ein Versuchsleiter den Raum und stellt ein Glas Bonbons in die Mitte des Tisches. Diese seien eigentlich für eine Gruppe Kinder im Nebenraum bestimmt, teilt er den Probanden mit und verschwindet wieder. Manche von ihnen greifen zu, manche nicht. Danach warten wieder einige knifflige Aufgaben am Laptop auf ihre Bewältigung. Was die Testpersonen nicht wussten: Paul Piff, amerikanischer Psychologe und Studienleiter, interessierte sich nicht für ihre Leistungen am Laptop. Er hatte die Probanden in zwei Gruppen geteilt und beobachtete ausschließlich, wer wie viele Bonbons gegessen hatte. Die Auswertungen ergaben, dass diejenigen Probanden, die einer höheren Schicht angehörten, mehr Bonbons genommen hatten als solche einer unteren Schicht.

Wie die Reichen sind

Handelt es sich hier um eine einzelne tendenziös angelegte Studie, mit der Ressentiments gegen „die da oben“ bedient werden sollen? Oder lässt sich der alte Spruch „Geld verdirbt den Charakter“ tatsächlich wissenschaftlich belegen? Erst im Zuge der relativ jungen Reichtumsforschung gibt es einige Untersuchungen, die sich auch mit Persönlichkeitsmerkmalen von reichen Menschen beschäftigen. Oben erwähnter Paul Piff startete eine ganze Versuchsreihe zu der Thematik, unter anderem auch im Straßenverkehr: An einer vielbefahrenen Kreuzung, an der die Vorfahrt mit Stopp-Schildern geregelt ist, beobachtete er, ob und welche Autos sich nicht an die Regeln halten. Und tatsächlich: Fahrer von Oberklassewagen missachteten häufiger die Verkehrsregeln. Sie ignorierten auch Fußgänger an einem Zebrastreifen deutlich häufiger als dem Anschein des Wagens nach weniger reiche Leute.

Im Ghetto des Geldes …

Die Straße ist auch Schauplatz einer viel beachteten zweiteiligen Reportage des ZEIT-Journalisten Henning Sußebach in bester Günter-Wallraff-Tradition. Verkleidet als Obdachlose ohne einen einzigen Euro in der Tasche suchen Sußebach und eine Schauspielerin in Taunus bei Frankfurt im Dezember 2011 für eine Woche nach Hilfe und Herberge – ein modernes Weihnachtsmärchen.1
Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Hier leben die reichsten Deutschen – Industriellenfamilien, Bankiers, Millionäre und Milliardäre. Die aufgezeichneten Erlebnisse auf der einwöchigen Betteltour demaskieren die Welt der Reichen als eine von einer Wand aus Ignoranz abgeschottete Parallelwelt. Selbst als sich Sußebachs Partnerin als Schwangere ausgibt, änderte sich nichts am abweisenden Reaktionsmuster der Menschen. Wenn Hilfe kommt, dann fast ausschließlich von Bediensteten der Reichen – einem Gärtner, einer Rezeptionistin, einer Bäckerin. Und von einem Pfarrer.

… und in Berlin-Neukölln

Die Reportage sorgte für heftige Reaktionen. Ein Vorwurf: Auch in einem ärmeren Viertel wären die Menschen nicht mitfühlender gewesen.
Daraufhin gingen die beiden ein Jahr später mit der gleichen Geschichte im Gepäck in den wohl bekanntesten „Problembezirk“ Deutschlands, Berlin-Neukölln.2 Das Ergebnis des Experimentes war verblüffend: Es musste abgebrochen werden – wegen zu großer Hilfsbereitschaft. Nachdem ihnen ein Kellner eines Skatklubs, in dem sie sich Tage zuvor zum Aufwärmen kurze Zeit aufhielten, einen Job vermittelte, beschlossen die JournalistInnen die Tarnung frühzeitig aufzugeben. Bis dorthin durchlebten die beiden „Obdachlosen“ – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eine fast schon beschämende Hilfsbereitschaft: Unterstützung bei der Herbergssuche, Einladung zum Essen, frische Lebensmittel aus dem Supermarkt.
Eine wissenschaftliche Erklärung für die Erfahrungen der ZEIT-JournalistInnen liefert eine Studie der US-Forscher Kraus, Côté und Keltner aus dem Jahre 2010. Deren Ergebnis: Menschen aus höheren sozialen Schichten zeigen weniger Mitgefühl. Dies wurde in mehreren Experimenten herausgefunden. Beim größten nahmen 200 Angestellte einer öffentlichen Universität teil, die eine Hälfte mit Hochschulabschluss und die andere ohne. Ihnen wurden 20 verschiedene Fotos vorgelegt. Auf diesen waren Menschen abgebildet, die lachten, verärgert, verwundert, schockiert oder voller Angst waren. Die Aufgabe der TeilnehmerInnen bestand darin, die Gesichtsausdrücke genau einzuschätzen und zu benennen. Die Gruppe ohne Hochschulabschluss erreichte dabei eine höhere Trefferquote, sie war also empathischer.
Die Wissenschaftler erklären dieses Ergebnis damit, dass Menschen aus unteren sozialen Schichten abhängiger von ihren Mitmenschen sind als reichere. Sie haben weniger Geld und Macht und sind daher verstärkt auf das soziale Umfeld angewiesen. Um dieses besser nützen zu können, müssen sie sich stärker an ihren Mitmenschen orientieren und schärfen dadurch offenbar ihre Empathiefähigkeit.

Steigende soziale Ungleichheit

Einen breiter gefächterten Ansatz bietet der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer mit seiner Theorie der „rohen Bürgerlichkeit“. Er zeigt auf, dass es gesellschaftliche bzw. politische Entwicklungen wie die steigende soziale Ungleichheit gibt, die die Einstellungen und damit den Charakter der oberen Schichten negativ beeinflussen.

Glatte Fassade, rabiate Rhetorik

Der Sozialwissenschaftler und sein Team untersuchten Einstellungen der Bevölkerung in Deutschland gegenüber Menschen, die in der Gesellschaft Vorurteilen ausgesetzt sind – aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen. Die Forschungen wurden jährlich im Zeitraum von 2002 bis 2011 durchgeführt und veröffentlicht. In diesem Zeitraum stieg die soziale Ungleichheit stetig an, zuletzt verschärft durch die Wirtschaftskrise.
Für unser Thema ist besonders interessant, was Heitmayer über die Einstellungen der Besserverdienenden herausfiltert. Er weist nach, dass ausgerechnet diejenigen, die sich selbst zum oberen Teil der Gesellschaft zugehörig fühlen, die soziale Spaltung in der Gesellschaft weniger wahrnehmen. Im Gegenteil: Sie beklagen zunehmend, dass sie nicht in einem gerechten Maße vom allgemeinen Wachstum profitieren würden.
In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises 20123 formulierte er es so: „Die geringere Wahrnehmung der sozialen Spaltung durch die oberen Einkommensgruppen hat viele Folgen. [...] Weniger Unterstützung wird vor allem in der höheren Einkommensgruppe gegenüber Langzeitarbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern gefordert. [...] Sie sollten entgegen dem Grundgedanken einer Solidargemeinschaft endlich Selbstverantwortung übernehmen. [...] Und so gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen, ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen, niedrig qualifizierten Zuwanderern, Obdachlosen und Behinderten. In Gruppen mit höheren Einkommen wird immer stärker abgewertet.“ Diese Einstellungen werden verdeckt kommuniziert, haben aber großen öffentlichen Einfluss. Heitmeyer verwendet dafür den Begriff „rohe Bürgerlichkeit“. Sie „ergibt sich aus dem Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritären aggressiven Einstellungen und Haltungen“.
Damit gelingt Heitmeyer eine verblüffend passende wissenschaftliche Erklärung für die Erlebnisse der verkleideten Obdachlosen im Nobelort Taunus bei Frankfurt.

Geld verdirbt den Charakter, vor allem wenn es in einer Gesellschaft ungleich verteilt ist.

1 Henning Sußebach: Maria und Josef im Ghetto des Geldes, Die ZEIT, 52/2011.
2 Nadine Ahr, Henning Sußebach: Maria und Josef in Neukölln, Die ZEIT, 52/2012.
3 Alle folgenden Zitate aus Wilhelm Heitmeyer: Redetext anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises am 10. März 2012, tinyurl.com/b2utl2c

Heitmayer-Rede zum Göttinger Friedenspreis:
tinyurl.com/b2utl2c

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian.zickbauer@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
 

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