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Gérard und Wladimir Auch die Flüchtlinge, die im Winter vor und in der Votivkirche in Wien verzweifelt für ein menschenwürdiges Leben kämpfen, können nur davon träumen, die Staatsbürgerschaft mit allen Rechten angeboten zu bekommen. Dafür fehlt ihnen das nötige Kleingeld.

Gérard und Wladimir

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In Russland geht’s den MillionärInnen gut, während die Armut wächst. Doch die ruhigen Zeiten sind für Putin und Co. vorbei!

Anfang Jänner erhielt der französische Schauspieler Gérard Depardieu die russische Staatsbürgerschaft. Der Anlass dafür war die drohende höhere Besteuerung von Reichtum in Frankreich. Davor fürchtet er sich in Russland nicht, denn für Reiche und die FreundInnen Putins ist Russland ein angenehmer Ort. Doch das trifft auf die wenigsten der 143 Mio. Menschen in Russland zu. Auch die Flüchtlinge, die im Winter vor und in der Votivkirche in Wien verzweifelt für ein menschenwürdiges Leben kämpfen, können nur davon träumen, die Staatsbürgerschaft mit allen Rechten angeboten zu bekommen. Dafür fehlt ihnen das nötige Kleingeld.

Extreme Ungleichheit

Die soziale Lage in Russland ist alles andere als rosig. Nach offiziellen Angaben des russischen Statistikamtes konnte die Zahl der Armen von 42,3 Mio. (2000) auf 18,5 Mio. Menschen (2010) reduziert werden. Der in Armut lebende Teil der Bevölkerung fiel nach diesen Zahlen von 29 Prozent auf 13 Prozent. Doch mit Statistiken lässt sich vieles „beweisen“ bzw. verschleiern, und das Statistikamt ist wohl in Russland noch weniger unabhängig als anderswo. Dramatisch ist die extreme Ungleichverteilung von Einkommen bzw. Reichtum. Der Gini-Koeffizient, der die soziale Ungleichheit misst, zeigt, dass diese in Russland doppelt so groß ist wie beispielsweise in Schweden. Russland steht damit in einer Reihe mit Iran, Turkmenistan, Mali und Nigeria.
Einige der Superreichen aus Russland sind auch in österreichischen Nobelorten wie Kitzbühel oder dem Wiener Bezirk Döbling mehr oder weniger gerne gesehene Gäste. Manche versuchen, die hiesige Staatsbürgerschaft zu bekommen (und erhielten dabei auch Unterstützung von prominenter Seite – übrigens wieder von einer Partei, die gleichzeitig scharf gegen AsylwerberInnen schießt). Aktuell gibt es in Russland 375.000 Dollar-MillionärInnen. In der Forbes-Liste der MilliardärInnen liegen vor Russland nur die USA und China. Ein Drittel der europäischen MilliardärInnen kommt aus Russland. Moskau ist mit 79 die Hauptstadt der MilliardärInnen und liegt sogar noch vor New York. Schätzungen sprechen davon, dass sich der Klub der Reichen in Russland bis 2020 verdoppeln oder sogar verdreifachen könnte.
Viele der heutigen SpitzenpolitikerInnen, OligarchInnen und Superreichen kommen aus dem ehemaligen stalinistischen Partei- und Staatsapparat, ergänzt durch Glücksritter, Kriminelle und SpekulantInnen. Es herrscht ein „Gangster- und Mafiakapitalismus“, in dem es einige wenige geschafft haben, die ehemaligen Staatsbetriebe in ihre Hände zu bekommen und die wichtigsten Wirtschaftsbereiche zu kontrollieren. Es ist eine der korruptesten Formen des Kapitalismus, in der nicht einmal die beschränkten demokratischen Möglichkeiten, die es in westlichen Demokratien gibt, existieren.

„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“ (Brecht)

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat keine Ersparnisse. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass tatsächlich ca. die Hälfte der russischen Bevölkerung chronisch oder zumindest vorübergehend arm ist. Der Wechsel von der vorübergehenden in die chronische Armut kann schon durch Ereignisse wie die Geburt von Zwillingen oder die Erkrankung eines Haushaltsmitglieds erfolgen. Die Kinderarmut liegt bei 24 Prozent.

Perspektivenlosigkeit und Angst

In den letzten 20 Jahren haben sich die Realeinkommen jener 40 Prozent, die am unteren Ende der Einkommensleiter stehen, um ein Drittel reduziert oder halbiert. Der Zusammenbruch des Stalinismus und die (Wieder-)Einführung des Kapitalismus haben nicht die erhofften Investitionen gebracht. In den ersten zehn Jahren wurden ca. 40 Prozent der Industrie – und damit auch die Arbeitsplätze – vernichtet, die Wirtschaft wurde zunehmend von Rohstoffexporten (Öl!) und damit den Schwankungen der Preise abhängig. Die Armut stieg auf über 50 Prozent, die Lebenserwartung sank mit 58 Jahren unter das Pensionsalter. Zwar wurde nach der „Russlandkrise“ 1998/99 und mit der Machtübernahme Putins im Jahr 2000 die Lage stabilisiert, doch Putin ist ein Garant für die Privilegien einer kleinen Schicht. Deren Reichtum hängt auch davon ab, dass der Großteil der Bevölkerung arm bleibt. Zahlreiche „Partnervermittlungen“, die „heiratswillige“ Russinnen an den europäischen Mann bringen, spiegeln die ausweglose Lage wider. In kaum einem anderen Land sinkt die Bevölkerungszahl so stark wie in Russland. Auch das ist ein Indikator für Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst. Nur etwas über zehn Prozent schätzen die materielle Lage der Familie als gut oder sehr gut ein. Die Hälfte (dieser Wert hat sich in letzten zehn Jahren verdoppelt) hat nicht genug Geld für sogenannte „langlebige Konsumgüter“. Das bedeutet, dass das Geld nur für das Nötigste reicht und eine kaputte Waschmaschine nicht ersetzt werden kann.

Putins Stern sinkt

Lange konnte sich Putin als „Retter aus der Krise“ und auch aufgrund des hohen Ölpreises eine gewisse politische Stabilität erhalten. Sein repressives Regime erledigte den Rest. Schon seit einiger Zeit ist sein Stern im Sinken. Vor einem Jahr erschütterten Massenproteste Russland, die teilweise bis heute anhalten. Auslöser waren die mehr als dubiosen Wahlen. Hunderttausende gingen auf die Straße. 2012 haben sich die Proteste und sozialen Unruhen verdreifacht, mehr als ein Viertel hält am eigenen Wohnort Massenproteste gegen sinkenden Lebensstandard und für eigene Rechte für möglich. Der Anteil jener, die bereit sind, sich daran zu beteiligen, ist nur wenig geringer.
Denn neben den offensichtlichen diktatorischen Elementen in Putins Regime zeigt sich auch, dass die Wirtschaft an allen Ecken und Enden kracht. Das Wachstum hat sich verlangsamt, sinkende Rohölpreise werden das verstärken. Die Kapitalflucht stellt ein Problem dar; die Serie von Korruptionsskandalen hat das Vertrauen in das Regime auf einen Tiefpunkt sinken lassen. Auch innerhalb des Regimes tun sich Spaltungen auf. Die Proteste werden mit Repression beantwortet, Tausende wurden verhaftet und die Regierung verschiebt Staatsausgaben aus dem Sozialbereich zu Militär und Sicherheitsapparat. Die Verurteilung der Musikerinnen von Pussy Riot und die Angriffe gegen die Rechte von Homosexuellen/LGBT spiegeln den Schulterschluss zwischen Putin und den reaktionärsten Teilen der Gesellschaft, u. a. der Kirche, wider.
Im Mai 2012 verzeichnete die Oppositionsbewegung eine zweite Welle. Doch sie ist inhomogen – in ihr befinden sich Kräfte mit gegensätzlichen Interessen: liberale Bürgerliche, Wirtschaftsliberale, Linke, Rechtsextreme bis hin zu faschistischen Kräften. Während die Opposition anfangs zu Putins Wahlbetrug stand, findet seither ein lebhafter Diskussions- und Differenzierungsprozess statt. Die Frage von Basisorganisationen, von lokalen Komitees für soziale und demokratische Grundrechte wird debattiert. Bei den Demonstrationen wurde der „Bildungsblock“, bestehend aus AktivistInnen, die sich gegen die Missstände und den Ausverkauf des Bildungssektors wehren, immer wichtiger. GewerkschaftsaktivistInnen nehmen ebenso teil und so zeigt sich, dass die Opfer der neoliberalen Politik, die auch in Russland Privatisierung bedeutet, eine immer zentralere Bedeutung in der Bewegung bekommen und Forderungen gegen Privatisierungspolitik, für höhere Löhne und die Organisierung von Lohnabhängigen erheben.
Elena Volkova, Sozialistin und Mitglied der unabhängigen LehrerInnengewerkschaft, steht stellvertretend für jenen Teil der Opposition, der Demokratiefragen nicht von sozialen Fragen trennt: „Nach 20 Jahren sogenannter marktwirtschaftlicher Reformen haben wir weder Freiheit noch ordentliche Jobs. Deswegen haben die Menschen im Dezember 2011 protestiert. Die Wut über Korruption, das Fehlen von Jobs, die Perspektivlosigkeit, die Abwesenheit von Demokratie und Grundrechten ist enorm. Ich bin der Meinung, dass echte Demokratie bedeutet, dass die Mehrheit der einfachen Menschen entscheidet, was für uns gut ist, und nicht die Oligarchen, ihre Profite oder Putins Clique."

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