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Neues Wachstumsmodell für Europa Markante Kürzungen von Staatsausgaben, insbesondere im Bereich des Sozialstaates, haben in ohnehin schon schrumpfenden Wirtschaften verheerende Folgen.

Neues Wachstumsmodell für Europa

Schwerpunkt

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hält die bisherige Sparpolitik für gescheitert und drängt auf einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel.

Einen radikalen Kurswechsel fordert der EWSA (siehe Info&News) in einer aktuellen Stellungnahme, die mit der bisherigen Kaputtsparpolitik zur Krisensanierung abrechnet. Dies ist umso bemerkenswerter, als im EWSA drittelparitätisch die Interessenverbände von ArbeitgeberInnen, ArbeitnehmerInnen und von sonstigen Interessengruppen vertreten sind. Unisono – also auch mit den Stimmen fast aller ArbeitgeberInnen – wird konstatiert, dass es mit der bisherigen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, welche konsequent die Bedeutung von Nachfrage und Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigt, nicht gelungen sei, die großen anstehenden Herausforderungen zu bewältigen, insbesondere jene einer Verbesserung der Arbeitsmarktlage. Anstatt aus der Krise herauszuführen, habe der radikale Sparkurs die Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung weiter verschlimmert und die europäische Wirtschaft erneut in eine Rezession getrieben.

Neuorientierung gefordert

Daher wird vom EWSA eine grundsätzliche Neuorientierung gefordert: „Europa benötigt ein neues Wachstumsmodell, welches gekennzeichnet ist durch Kampf gegen die unakzeptable Arbeitslosigkeit, durch ausreichenden Spielraum für Zukunftsinvestitionen sowie für soziale und ökologische Investitionen, wodurch Wachstum und Nachfrage geschaffen werden. Durch haushaltspolitische Umschichtungen und Sicherstellung einer ausreichenden Einnahmenbasis unter Berücksichtigung der Verteilungsgerechtigkeit müssen die Sozialsysteme zur Erhöhung der Produktivkraft und zur Stabilisierung von Nachfrage und Vertrauen gestärkt werden. Mit einem solchen Wachstumsmodell wird auch die nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ermöglicht.“

Realwirtschaftliche Erneuerung

Grundvoraussetzungen für den Erfolg nationaler Wirtschaftspolitiken sind eine straffere Regulierung des Finanzsektors unter Einbeziehung des Schattenbanksystems sowie Maßnahmen zur Reduktion der Finanzierungskosten verschuldeter Staaten, welche durch Spekulation und Abhängigkeit von Ratingagenturen künstlich auf hohem Niveau gehalten werden. Der EWSA fordert eine „realwirtschaftliche Erneuerung“ in Europa, durch welche unternehmerisches Handeln wieder den Vorrang gegenüber spekulativen Motiven erhält.
Der EWSA stellt klar, dass mangelnde Haushaltsdisziplin in der Eurozone nicht generell die Krisenursache war. Denn der Anstieg von Defiziten bzw. Schuldenständen ergab sich erst ab 2008 durch den massiven Einsatz von öffentlichen Mitteln zur Rettung des Finanzsystems sowie zur Stützung von Nachfrage und Arbeitsmarkt, die infolge der Finanzkrise eingebrochen waren.
Der Ausschuss sieht sehr wohl die Notwendigkeit von nach Ländern differenzierten Schritten zur Sicherung der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen, allerdings unter Einhaltung folgender Prinzipien:

  • Der Zeitrahmen ist zu strecken und flexibler zu gestalten. Die eklatante Verschärfung der Vorgaben für die Budgetpolitik der Mitgliedsstaaten sowie der viel zu früh, zu radikal und noch dazu gleichzeitig in allen Ländern eingeschlagene Sparkurs bewirkte eine Dämpfung aller wesentlichen Nachfragekomponenten.
  • Schuldenabbauprogramme müssen die Nachfrageeffekte berücksichtigen sowie auf die sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele der EU-2020-Strategie abgestimmt sein.
  • Sie müssen die Staatseinnahmenseite stärker berücksichtigen. Der traditionelle Ansatz, Ausgabenkürzungen seien erfolgversprechender als Einnahmenerhöhungen, wurde spätestens durch die Erfahrungen in Krisenländern wie Griechenland widerlegt. Markante Kürzungen von Staatsausgaben, insbesondere im Bereich des Sozialstaates, haben in ohnehin schon schrumpfenden Wirtschaften verheerende Folgen. Sie führen in einen Teufelskreis von sinkenden Einkommen, zurückgehender Nachfrage, Produktion und Beschäftigung, was letztendlich einen weiteren Anstieg der Haushaltsdefizite bewirkt.
  • Die Steuersysteme sollten generell überdacht werden, wobei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zwischen unterschiedlichen Arten von Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen sind. In diesem Sinne ist auch ein angemessener Beitrag jener einzufordern, die in besonderem Maße von den Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten und den mit Steuergeldern finanzierten Bankenrettungspaketen profitiert haben.
  • Auf der Einnahmenseite besteht eine Reihe von Handlungsansätzen, z. B. Schließung von Steueroasen, entschlossener Kampf gegen Steuerhinterziehung, Besteuerung großer Vermögen, von Immobilien und von Erbschaft, Besteuerung von Banken, Harmonisierung von Steuerbemessungsgrundlagen und -systemen zur Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen in der EU, anstatt wie bisher über einen Senkungswettlauf die Erosion der öffentlichen Einnahmen voranzutreiben.

Eine intelligente Umschichtung von Konsolidierungsmaßnahmen mit stärkerer Beteiligung der Wohlhabenderen kann Mittel für Zukunftsinvestitionen frei machen, ohne das Defizit zu erhöhen. So wird eine Reduktion des Defizits um 1.000 Euro durch eine höhere Vermögensteuer weniger wachstumsdämpfend wirken als etwa durch Einsparungen beim Arbeitslosengeld.

Produktivitätsorientierte Lohnpolitik

Der Ausschuss warnt nachdrücklich vor einer Überbewertung der Rolle der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und damit auch der Lohnkosten beim Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Das „deutsche Modell“ (Lohnzurückhaltung zur Förderung der Exporte) als Rezept gleichzeitig für alle Länder kann beim hohen Anteil des Binnenhandels in der Eurozone nur zu einer fatalen Abwärtsspirale führen. Vielmehr müssen die Überschussländer ihre Binnennachfrage stärken und damit „Importdefizite“ abbauen.
Zudem wird oft übersehen, dass Lohnkosten nur einen von vielen Kostenfaktoren darstellen, und dass neben anderen Kostenfaktoren (wie etwa den Gewinnkosten) auch nicht-preisliche Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit von großer Bedeutung sind – sonst könnte Deutschland schließlich nicht weiterhin Exportweltmeister sein. Der EWSA wiederholt zudem seine Forderungen nach einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik und nach Wahrung der Tarifautonomie der Sozialpartner. Staatliche Zielvorgaben oder gar Eingriffe wie staatlich verordnete Lohnkürzungen werden als völlig unakzeptabel striktest abgelehnt.

Soziale Sicherungssysteme ausbauen

Der EWSA fordert auch die Sicherung und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sowie des sozialen Dialoges. Denn durch diese wurden in der Krise Nachfrage und Vertrauen gestützt und damit wurde ein Abgleiten in die Depression wie in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts verhindert.
Abschließend betont der Ausschuss die Bedeutung einer möglichst frühen und umfassenden Einbindung der Sozialpartner in die Politikformulierung.
Diese EWSA-Stellungnahme stellt ein äußerst positives Signal aus Brüssel dar, da sich darin die Vertreter aller Sozialpartner endlich gemeinsam zu wesentlichen gewerkschaftlichen Forderungen bekennen.

Info&News
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in Brüssel repräsentiert die großen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen der Mitgliedsstaaten der EU. Er ist somit eine wichtige Stimme der Sozialpartner und der sonstigen repräsentativen Interessenvertretungen im europäischen Beschlussfassungsprozess. Von den 344 Mitgliedern aus allen 27 Mitgliedsstaaten stammen zwölf aus Österreich.
Die Stellungnahmen des EWSA haben umso mehr Gewicht, je größer die Mehrheit ist, mit der sie verabschiedet werden. Die hier präsentierte Stellungnahme zur Neuorientierung der Wirtschaftspolitik wurde mit überwältigender Mehrheit (mit nur drei Gegenstimmen und neun Enthaltungen) angenommen. Berichterstatter war Thomas Delapina von der Arbeiterkammer Wien. Der Originaltext der gesamten Stellungnahme ist abzurufen unter: tinyurl.com/bs94crs


Detailliertere Informationen über den EWSA sind auf dessen Webseite zu finden, unter anderem:
tinyurl.com/cpq2t4l

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor thomas.delapina@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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