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Omers Abschied

Kurzgeschichte

Eine Kurzgeschichte von Sabina Naber

Mende, ich kann dein Winken nicht mehr sehen. Heute gehe ich nicht mehr in dieses Lokal, ich putze nicht mehr die Aborte, um dir eine halbe Stunde nahe zu sein, verzeih mir. Ich hätte dein Winken gar nicht sehen dürfen. Es wäre besser gewesen, ich hätte nie die Gelegenheit bekommen, das Internet zu benutzen. Dann wäre bis zu meinem Tod das Bild von dir in mir gewesen, wie du Nawal und Abdel umarmst, an dich drückst, mit einem Lächeln so traurig und zuversichtlich zugleich, dass mein Herz wie eine Antilope jagte.

Ein Mann schwarzer Hautfarbe klettert unter einem Blätter-Karton-Dach hervor. Sein Blick saugt sich an der Sonne fest, die zwischen den schwarzen Silhouetten von Pinien und Korkeichen aufgeht.

Dein Winken, Mende, das ein Greifen ist, als würdest du die Blüten des Napier streicheln wollen. Dein Winken, das nichts anderes als dein Fortgehen aus dieser Welt ist, weil dich die Salven eines Gewehrs in Stücke gerissen haben.

Dem Mann rinnen Tränen die Wangen hinunter. Er beachtet sie nicht, geht vielmehr in die Hocke und lässt die hellbraune Erde durch seine Finger bröseln.

Du bist ein Star, Mende, weißt du das? Drei Millionen Aufrufe in nur 37 Stunden. Immer wieder der Mann mit dem Gewehr, der den Zipfel deiner Hose unter dem ausgebrannten Autowrack entdeckt. Der den anderen Mörder zu sich ruft. Der das Wrack umstößt. Du, wie du aufstehst, Nawal und Abdel hinter dich schiebst, so wie früher, wenn Ali unseren Sohn verprügeln wollte, weil Abdel mit dem Fahrrad durch eine Pfütze gefahren und deshalb Ali angespritzt hatte. Ja, Millionen von Menschen sehen, wie du unsere Kinder aus der Sicht bringen, mit deinem Körper beschützen willst. Was dir nicht gelingt, weil sie inzwischen viel zu groß sind. Was auch keinen Sinn hat, weil sich die Männer mit den Gewehren von dir und deinem wütenden Schreien nicht abhalten lassen. Und dann winkst du, die letzte Bewegung einer Leiche über den blutigen Resten von zwei wunderschönen jungen Menschen.

Feinsäuberlich faltet der Mann die Kartons seiner Behausung zusammen. Mit dem Daumen fährt er über den Schriftzug La Tentación dulce und die lachende Erdbeere darüber.

Ja, du bist ein Star, Mende. Dein Tod macht dich zu dem, was du nie sein wolltest, was du an Nawal nie verstehen konntest – die Sehnsucht unserer Tochter nach der Glitzerwelt. Ich will ihr nicht Schuld geben, unserer kleinen Tänzerin, aber ihre traurigen Augen beim Gedanken an all die Schulen und Theater in Europa waren Sandkörner in der Schale der Entscheidung.

Nur zwei Körner in der vollen Schale Aufbruch, durchdrungen von der Gewissheit, ich schaffe es, denn ich bin anders als die anderen, von denen man nichts mehr hört.

Keines dieser tapsigen Jungtiere, die keine Chance haben, weil einem Ali das Dorf gehört, einem Muhammad die Stadt und einem Umar das ganze Land. Nein, einem Xiabo, einem Yong-Li und einem Xi-Tao. Oder einem François und einem John und einem Heinz?

Ich bin verwirrt, ich weiß es nicht mehr. Genauso verwirrt wie diese Jungtiere, die denken, die Länder der neuen Herrscher warten nur auf sie. Wo es so reiche Leute gibt, gibt es auch Arbeit.

Mit einem Blick auf einen etwas entfernten, flackernden Punkt legt der Mann die Kartons neben die Eiche, an die seine Behausung gebaut war. Dann zertritt er die übriggebliebenen Äste und Stämme.

Ich bin Lehrer, ich kann etwas. Ich bin anders. Ja, Mende, so dachte ich, verlassen von jeglicher Demut. Nach einem schwierigen Beginn werde ich meinen Platz finden und euch holen können. Weg von den anderen, die nicht verstehen, dass wir alle an denselben Gott glauben. Dass wir auf dieselbe Art unsere Kinder zeugen, gebären, ernähren, ja, dass wir alle die gleiche Scheiße von uns geben. Und dessen bin ich mir ganz sicher, seit Muhammads Schergen mich in die ihre gedrückt haben.

Aber was ist schon ein stinkender brauner Haufen im Vergleich zur Rettung unseres Sohnes. Sie würden es genauso sehen, wenn ihre Kinder verschleppt werden sollten. Was ich ihnen nicht wünsche. Ich sehe noch immer deine Augen mit dem ungläubigen Blick vor mir, als ich das erste Mal sagte, ich will keine Rache. Du bist der Löwe in unserem Rudel.

Der Mann geht einige Schritte zum flackernden Licht. Zwei Männer sitzen an einem Feuer. In ihrer Nähe befinden sich ähnliche Behausungen wie jene, die der Mann gerade zerstört hat.

Ich hätte dir alles schreiben sollen. Von den Dornen in den Füßen auf dem Weg zum Meer, von dem Gestank in dem kleinen Schiff, weil zu viele Angst hatten, ihre Notdurft über dem Wasser zu verrichten, von dem großen Schiff, das an uns vorbeigefahren ist, von dem Schiff mit bewaffneten Männern, von meiner Verzweiflung, als ich zwei Tage und eine Nacht zum Ufer geschwommen bin, von dem Leben als Tier, das im Müll der anderen nach Essen sucht.

Nein, ich habe dir nur von diesem Mann erzählt, der mich aufgelesen, mir Kleidung gegeben, mich über Berge und Küsten in das Land gebracht hat, wo meinesgleichen Geld verdienen kann. Und ich habe dir von der Arbeit auf den Plantagen berichtet. Wenn man auf die Berge steigt, werden sie zu einem silbernen See. Ich habe gern die schwere Arbeit in den Bergen verrichtet, denn der Silbersee hat mich an unsere Reise zum al-Bahr al-ahmar erinnert. An dich. Doch nichts erzählt habe ich von der Hitze, die so anders ist als bei uns, von den Schmerzen, weil die roten Beeren nur am Boden wachsen.

Der Mann winkt den Gestalten am Feuer zu und wendet sich wieder ab. Er reißt von einem Pinienast, der am Boden liegt, ein paar Nadeln ab, zerreibt sie zwischen den Fingern und riecht daran.

Ich habe dir nichts von den Prügeln erzählt, die mir zwei Männer in der Stadt verabreicht haben, einfach so. Nichts davon, dass plötzlich Weiße kamen, die meine Beeren pflückten, weil sie in ihrem Land, weit fort, wo die Sonne aufgeht, keine Arbeit mehr hatten. Wie ich zurück in den Wald musste, bald mit diesen Platzräubern gemeinsam, weil nun die Männer aus der Stadt die roten Beeren pflücken wollten.

Der Mann geht zu seiner Eiche zurück, legt sein Hemd ab, dann seine Hose. Er zieht den Gürtel aus den Schlaufen.

Meine Mende, ich hätte dir das alles schreiben sollen. Meine Scham ist nichts im Vergleich zu deinem Tod. Ich hätte zurückkehren, dich und die Kinder beschützen müssen. Ich werde jetzt zu dir gehen, Mende, und dich bitten, mir zu verzeihen.

Omer klettert auf den Baum, schlingt den Gürtel über den Ast oberhalb von ihm, steckt den Kopf durch die Schlaufe und lässt sich fallen.

Zur Autorin:
Sabina Naber arbeitete nach ihrem Studium in Wien unter anderem am Theater, als Journalistin und Drehbuchautorin. Ihr mittlerweile sechster Kriminalroman mit Maria Kouba, „Die Spielmacher“, erschien 2011 bei Rotbuch/Berlin.
2013 startete sie eine zweite Serie rund um das Team Mayer & Katz mit dem Roman „Marathonduell“ (Gmeiner-Verlag, nominiert für den Leo-Perutz-Preis 2013 der Stadt Wien).
Sie gibt auch Kurzgeschichtenanthologien heraus. 2007 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis für die beste Kurzgeschichte.
Sabina Naber ist auch Trainerin in den Bereichen Sprechen und Schreiben: www.giblautwerdedu.at

Details siehe www.sabinanaber.at

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