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Arbeitsrechts- und China-Experte Dr. Rolf Geffken Dr. Rolf Geffken
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Arbeitskampf im Reich der Mitte

Interview

Der Arbeitsrechts- und China-Experte Rolf Geffken über die veränderte Arbeitswelt im einstigen Billiglohnland.

Zur Person
Dr. Rolf Geffken
Geboren 1949
Geschieden, zwei Kinder
Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg
1967–1972 Studium der Rechtswissenschaften, Universität Hamburg
1975–1978 Promotion Dr. jur., Universität Bremen
Seit 1977 Inhaber der Kanzlei RAT & TAT
1977–1979 Hochschule für Wirtschaft und Politik, Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter
2005/06 Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg, ICGS
2006 Publikation „Labour and Trade Unions in China“ für das Europäische Gewerkschaftsinstitut ETUI
2008–2010 Lehrauftrag an der Universität Oldenburg
2008 Gründung des China Competence Centre (CCC) Hamburg

Arbeit&Wirtschaft: Sie haben zahlreiche Publikationen und Artikel über die soziale, rechtsstaatliche und politische Situation in China verfasst. Wie ist Ihre Affinität zu China entstanden?

Rolf Geffken: Ich war in den 1980er-Jahren als Anwalt für Seearbeitsrecht tätig und habe viele asiatische Seeleute vertreten. Auf diesem Weg bin ich sozusagen nach China gekommen, das war vor mehr als 15 Jahren. Mein erster Forschungsaufenthalt zu Arbeitsbeziehungen in China, Hongkong und Taiwan war 2003, im selben Jahr habe ich auch erstmals zu diesem Thema publiziert. 2005 habe ich die erste Deutsch-Chinesische Konferenz zum Arbeitsrecht an der Universität Sun Yat-sen in Kanton mitorganisiert.

Von Forschungsaufenthalten und Kongressen abgesehen: Haben Sie als Anwalt auch praktische Erfahrungen mit dem chinesischen Arbeitsrecht?

Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine wissenschaftliche Tätigkeit neben meiner Anwaltskanzlei. An Gerichtsverhandlungen in China war ich nicht selbst beteiligt, habe allerdings hier in Hamburg einige deutsche Manager vertreten, die in China gearbeitet haben. Im Übrigen vertreten chinesische Anwälte nur sehr ungern Einzelpersonen. Der Aufwand lohnt sich für sie nicht, denn die Gebühren, die ein normaler Anwalt verrechnen kann, sind sehr niedrig. Diese geringen gesetzlichen Gebühren sind theoretisch sozial günstig, allerdings läuft das in der Praxis darauf hinaus, dass junge, erfolgreiche Anwälte solche Mandanten gar nicht akzeptieren, sondern meist Unternehmen vertreten, die entsprechend zahlen. Der durchschnittliche chinesische Arbeitnehmer nimmt sich dann einen sogenannten Barfuß-Anwalt, das sind zum Teil Autodidakten, die aber nicht unbedingt schlecht arbeiten.

Die NGO China Labour Bulletin berichtet von fast 1.200 Streiks und Protestaktionen von Mitte 2011 bis Ende 2013. Das passt so gar nicht in unsere Vorstellung von den nach Harmonie strebenden Chinesinnen und Chinesen.

Dieses Bild hat vermutlich sowieso nie gestimmt, es mag vielleicht gerade noch im privaten Bereich zutreffen. Tatsächlich ist das Selbstbewusstsein der chinesischen Arbeitnehmer im Laufe der Zeit gewachsen. Die Regierung hat das auch gefördert, unter anderem mit einer großen Kampagne zum Arbeitsvertragsgesetz. Dadurch ist das bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch angekommen, dass man seine Rechte aktiv wahrnehmen kann bzw. soll. Hongkonger Wissenschafter haben nachgewiesen, dass sie mittlerweile auf dem Standpunkt stehen: Wenn sich die Unternehmer nicht an das Gesetz halten, dann gehen wir nicht zu den Behörden oder zum Anwalt, sondern wir legen die Arbeit nieder. Der Staat wollte mit der Kampagne eigentlich erreichen, Konflikte zu individualisieren. Tatsächlich sind Arbeitskämpfe aber jetzt weitverbreitet, fast schon Alltag. Vor allem die jüngere Generation ist deutlich konfliktbereiter. Wobei Streiks und Proteste nicht unbedingt gleichbedeutend mit schlechten Arbeitsbedingungen sind. Es gibt ja auch in westlichen Ländern starke und weniger starke Gewerkschaften. Die starken Gewerkschaften erreichen für ihre Klientel viel, die schwachen weniger.

Welche Sozialleistungen gibt es überhaupt?

An sich gilt das Sozialversicherungsgesetz landesweit, mit getrennter Kranken- und Pensionsversicherung, außerdem gibt es eine Mutterschaftsversicherung und seit einiger Zeit auch eine Arbeitslosenversicherung. Die praktische Umsetzung funktioniert in manchen Regionen, etwa in Shanghai, gut. Aber das System ist noch im Aufbau und es gibt immer wieder Probleme. Die Sozialversicherungen sind nicht vom öffentlichen Budget getrennt. Korruptionsfälle, Veruntreuung von Geldern kommen immer wieder vor. Außerdem waren von Anfang an nicht alle Berufsgruppen einbezogen, etwa die Wanderarbeiter sowie Angehörige des öffentlichen Dienstes und der großen Staatsunternehmen. Jetzt wird das System allmählich ausgeweitet, zunehmend werden auch die Wanderarbeiter inkludiert. Es gab mehrere Streiks, wo es nicht um Lohnerhöhungen ging, sondern darum, dass Unternehmen entgegen den gesetzlichen Vorschriften keine Sozialabgaben einbezahlt haben.

Wo liegen die wesentlichen Unterschiede zwischen unserem Sozialsystem und dem chinesischen?

In China hat sich das Sozialsystem in den vergangenen Jahren sehr weit entwickelt, während hierzulande durch den Neoliberalismus 20 Jahre lang eine Rückentwicklung stattfand. 1995 wurde in China ein Arbeitsgesetz nach neoliberalen Grundsätzen verabschiedet, doch 2008 erfolgte ein Paradigmenwechsel. Obwohl einige der arbeitnehmerfreundlicheren Neuerungen nach Interventionen von Unternehmen teilweise entschärft worden waren, enthielt das neue Arbeitsvertragsgesetz enorme Verbesserungen, etwa auch für Leiharbeiter, die jetzt von Rechts wegen weitaus besser gestellt sind als in Deutschland. Doch es hapert an der Umsetzung. Leicht überspitzt formuliert gibt es bei uns ein gut umgesetztes schlechtes Arbeitsrecht, während in China ein gutes Arbeitsrecht schlecht umgesetzt wird. Ähnliches gilt für andere asiatische Länder, zum Beispiel die Philippinen, wo der Grundsatz „im Zweifel für den Arbeitnehmer“ gilt. In einem Arbeitskampf mit einem Zulieferbetrieb von Adidas mit 40.000 Streikenden hat die chinesische Regierung dem Unternehmen Weisung erteilt, dass das Gesetz vollzogen werden muss. Wal-Mart beispielsweise weigerte sich, eine Betriebsgewerkschaft zu installieren, es folgte ein Aufschrei in der Öffentlichkeit – vor allem im Web, weniger von den Beschäftigten. Jedenfalls gab es schließlich eine Weisung der Regierung und innerhalb von 24 Stunden wurde eine Betriebsgewerkschaft installiert.

Welche Auswirkungen auf die Arbeitskämpfe haben die modernen Technologien?

Das ist sehr spannend und tatsächlich typisch chinesisch. Die üblichen Attribute von Arbeitskämpfen wie Jacken mit Logos, Plakate et cetera gibt es nicht. Demonstrationen und Streiks werden rasch und kurzfristig per Smartphone organisiert. Das hat den Vorteil des Überraschungseffekts. Diese Einzelaktionen verlaufen zum Teil sehr fantasievoll und auch erfolgreich, doch natürlich wären Strukturen nötig. Es ist schon vorgekommen, dass bei Streiks die Unternehmer händeringend nach einem Verhandlungspartner suchten, aber es meldete sich niemand, denn die Organisatoren hatten Angst vor negativen Konsequenzen.

Das geflügelte Wort von den harmonischen Arbeitsbeziehungen ist also heute nur ein frommer Wunsch der Unternehmerseite?

Ja, ein verzweifelter Appell der Regierung, um kollektives Bewusstsein zu verhindern. Das hat mit der Realität nichts mehr zu tun, das haben inzwischen auch die Unternehmen verstanden. Noch vor zehn Jahren wurde in Seminaren für in China tätige Expats erzählt, Chinesen wären harmoniebedürftig und gingen nicht vor Gericht. Heute macht man sich geradezu lächerlich, wenn man das auch nur ausspricht. Die Konfliktbereitschaft ist weitaus größer als in Westeuropa. Ich kenne selbst einige Unternehmer, die sich in China erstmals damit auseinandersetzen mussten, was denn eigentlich ein Streik ist. Das führt dann zu der Kuriosität, dass allgemeine Prozesse, die bei Streiks ablaufen, als spezifisch chinesisch interpretiert werden.

China zählt nicht mehr zu den Billiglohnländern, die ArbeitnehmerInnen fordern vehement ihre Rechte, Produktionsstätten werden ins Ausland verlegt. Wie weit ist das Problem Arbeitslosigkeit aktuell?

China will kein Billiglohnland mehr sein und setzt verstärkt auf qualifizierte Tätigkeiten und moderne Technologien statt Massenproduktion. Noch gibt es kaum sichtbare Arbeitslosigkeit, auch weil Chinesen zum Teil in den informellen Sektor ausweichen. Es gibt zwar an sich eine Arbeitslosenversicherung, aber keine einheitliche Gesetzgebung dazu. Das Land befindet sich in der Übergangsphase von der lohnintensiven zur kapitalintensiven Produktion. Durch weiterhin stagnierendes Wirtschaftswachstum und fortschreitende Produktivitätssteigerung könnte die Arbeitslosenquote bald auch in China steigen. China steht in mehreren Bereichen vor großen Herausforderungen. Schon jetzt herrscht durch die Landflucht in den Großstädten extreme Enge, die Preise fürs Wohnen sind exorbitant hoch. Heiraten ist nur mit einer entsprechenden Wohnmöglichkeit möglich, aber die können sich viele nicht mehr leisten. Selbst Akademiker finden oft keinen adäquaten Job. Eine traditionelle chinesische Familienplanung ist für viele nicht mehr möglich.

Wie ist die Situation für ArbeitnehmerInnen in den Sonderwirtschaftszonen?

Die Arbeitsgesetze gelten an sich dort auch, aber wie in allen Sonderwirtschaftszonen auch außerhalb Chinas wird natürlich versucht, dort Sonderrechte zu schaffen und auf unterschiedliche Weise Abhängigkeiten zu schaffen. Das ist der ewige Traum von der billigen Arbeitskraft und der ruhigen Arbeiterschaft. Bekannt ist ja die Methode, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern überteuerte, menschenunwürdige Unterkünfte zur Verfügung stellen. Aber auch außerhalb der Sonderwirtschaftszonen wurde und wird vor allem von den Großunternehmen systematisch versucht, die Gesetze zu umgehen. Foxconn Electronics, mit Hunderttausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in China, arbeitet mit Schulen zusammen und stellt direkt von dort Praktikantinnen und Praktikanten ein. Diese jungen Leute sind von der Schule her ein autoritäres System gewöhnt und der Konzern will sich so billige und willige Arbeitskräfte sichern. Ich bin davon überzeugt, dass die Suizidwelle bei Foxconn vor vier Jahren auf dieses Phänomen zurückzuführen ist. Diese Menschen kamen direkt vom autoritären Schulsystem in ein Unternehmen, das sie rücksichtslos ausbeutete, und sie waren mit den Betriebsstrukturen total überfordert.

Gibt es geschlechtsspezifische Problemstellungen?

Die Ausbeutung junger weiblicher Arbeitskräfte ist nach wie vor Alltag. Die typische Textilarbeiterin kommt vom Land oder direkt von der Schule. Es gibt auch noch die typischen Massenquar-tiere (dormitories), vor allem in den Textil- und Schuhfabriken Südchinas. Doch inzwischen sind diese Mädchen vom Lande auch nicht mehr so naiv, das enge Zusammenleben fördert die Solidarisierung zum Teil. Streiks gehen allerdings selten von Frauen bzw. von den wirklich schlecht Bezahlten aus, die treibende Kraft sind häufig die gebildeteren Arbeitnehmer.

Wie ist aktuell die Situation der chinesischen Gewerkschaften?

Es gibt den Gewerkschaftsdachverband ACFTU (Englische Abkürzung für den ACGB) mit zehn Teilgewerkschaften. Der ACFTU ist Mitglied beim Weltgewerkschaftsbund WFTU, wird aber vom ITUC nicht anerkannt. Nur sehr selten gibt es – nach vereinzelten Arbeitskämpfen – gewählte Betriebsräte, in der Regel werden sie nach wie vor ernannt. Die Gewerkschaftsfunktionäre agieren wie Beamte und die Gewerkschaft ist organisatorisch an den Staat gebunden. Juristisch und politisch anerkannt werden nur Gewerkschaften, die auch Mitglied im Dachverband ACFTU sind. Manches erinnert an die Situation in Europa Ende des 19. Jahrhunderts, bevor die Gewerkschaften entstanden sind. Denn wie gesagt, die chinesischen Gewerkschaften haben mit dem, was wir hierzulande darunter verstehen, nur sehr wenig zu tun. Die Frage ist, ob Veränderungen friedlich möglich sein werden oder ob das aus dem Ruder läuft. Vor dieser Konsequenz hat der chinesische Staat Angst, das Wort Solidarność geistert als Schreckgespenst in den Köpfen.

Gibt es Kontakte zwischen chinesischen und unabhängigen Gewerkschaften in Europa oder den USA?

Ich habe 2011 eine Konferenz in Oldenburg veranstaltet, um mehr Kontakte zu den chinesischen Gewerkschaften zu ermöglichen, und sei es nur mit der Basis. Das ist aber leider nicht gelungen. Es gibt ein Abkommen des US-Dachverbands AFL-CIO mit dem chinesischen Gewerkschaftsdachverband.

Die USA haben da weniger Berührungsängste. Hier passiert viel zu wenig, es gibt kaum Kontakte und Austausch mit der Basis. Im Hamburger Gewerkschaftshaus klopfen manchmal Gewerkschaftsgruppen auf Europareise an. Oft möchten sie ohnehin nur irgendwelche Einkaufstipps, aber es gibt sehr wohl auch den Wunsch nach Kontakt und Austausch. Finden dann tatsächlich kurzfristig Gespräche statt, sind alle Beteiligten aber so schlecht vorbereitet, dass man ständig aneinander vorbeiredet. Hier besteht Verbesserungsbedarf, vor allem auch wenn man bedenkt, dass Chinesen ja meist nicht nur Deutschland besuchen, sondern gleich durch Europa reisen, wodurch die internationale Vernetzung relativ einfach wäre.

Wir danken für das Gespräch.

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