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Symboöbild zum Bericht Ausschlaggebend für geringere Lern- und Bildungserfolge von Kindern zugewanderter Eltern ist die Struktur des Bildungssystems, das auch Nicht-MigrantInnen benachteiligt.
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Ungleichheitssystem Schule

Schwerpunkt

Dass viele Kinder von MigrantInnen in Österreich zu den BildungsverliererInnen zählen, hat seine Ursachen in den Strukturen des Bildungssystems.

Zeynep Korkmaz (31) ist die jüngste Tochter einer fünfköpfigen Familie. Ihre Eltern kamen 1967 aus der Türkei nach Österreich, um hier zu arbeiten. Geboren in Österreich, wuchs Korkmaz in einer Siedlung im Hinterhof einer Textilfabrik auf, in der ihre Eltern abwechselnd im Schichtdienst arbeiteten. Die Mehrheit ihrer MitschülerInnen in der Volksschule kam aus der gleichen Siedlung, nur drei hatten Deutsch als Muttersprache. Es war Korkmaz’ Volksschullehrerin, die ihren Eltern riet, sie im Gymnasium anzumelden. Ihre Eltern verstanden den Unterschied nicht, folgten aber der Empfehlung. Korkmaz war eine von vier SchülerInnen ihrer Klasse, die in die AHS-Unterstufe wechselten. 2002 maturierte sie als erste ihrer Familie und ist heute, nach ihrem Studium an der Fachhochschule, als Controllerin tätig.

Wachsende Diversität

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, deren Eltern nach Österreich zugewandert sind, wächst seit vielen Jahren. Dies liegt einerseits in der vor 50 Jahren einsetzenden Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte begründet, andererseits an der Erhöhung der Mobilität innerhalb der EU und der Globalisierung. Migration und Diversität sind in Österreichs Klassen also schon lange angekommen. Aber hat sich das Schulsystem darauf eingestellt?
Ein Blick auf die Fakten verrät, dass Korkmaz’ Bildungsverlauf noch immer nicht Normalität ist. Allerdings ist Vorsicht angebracht, denn die Ursachen dafür sind in den sozialen Verhältnissen und vor allem in den Strukturen des österreichischen Bildungssystems zu finden, nicht in der ethnischen Zugehörigkeit, wie dies immer und immer wieder fälschlicherweise behauptet wird.
Jugendliche mit Migrationshintergrund, von denen die meisten in Österreich geboren wurden, besuchen seltener höher bildende Schulen und sind auch an den Hochschulen deutlich unterrepräsentiert. Hinzu kommt, dass fast jede/r vierte Jugendliche mit Migrationshintergrund ein/e sogenannte/r „NEET“ (Not in Employment, Education or Training) ist und damit weder eine Ausbildung macht, noch einen Arbeitsplatz hat. Diese Entwicklungen sind in Zeiten steigender Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt alarmierend.
Viele zugewanderte Eltern, insbesondere wenn sie in den späten 1960er-Jahren als Arbeitskräfte angeworben wurden, verfügen oftmals nur über geringe schulische Bildung. Dazu kommen die Nichtanerkennung ausländischer Abschlüsse sowie Sprachbarrieren, die zudem häufig zu niedrigeren Positionen auf dem Arbeitsmarkt und damit zu schlechteren ökonomischen Bedingungen führen. BildungssoziologInnen sagen, dass es zugewanderten Familien deshalb an „relevanten Kapitalien“ fehlt, die für das gemeinsame Lernen und den Bildungserfolg ihrer Kinder so wichtig seien. Das war auch bei Korkmaz so. „Meine Eltern konnten mir nie bei den Hausübungen helfen, weil sie sich nicht auskannten und zu wenig Deutsch verstanden“, erzählt sie. „Ich machte sie meistens alleine oder mit meinen Geschwistern.“ Es ist eine Situation, die wohl vielen ÖsterreicherInnen ohne Migrationshintergrund bekannt vorkommen wird, deren Eltern keine höhere Bildung genießen konnten.
Kinder, die aus bildungsferneren Familien stammen, können ihren Startnachteil im Laufe der Schulzeit nur mit großer Anstrengung überwinden und zählen somit häufiger zu den sogenannten BildungsverliererInnen. Gerade weil Kinder von MigrantInnen in Österreich häufig aus sozial schwächeren Familien kommen, sind sie im hiesigen Schulsystem benachteiligt. Oft sind es dann Einzelne wie Korkmaz’ Lehrerin, die über den Bildungsweg eines Kindes entscheiden.

Schlechtere Chancen

Kinder mit Migrationshintergrund aus sozial benachteiligten Familien sind durchaus in der Lage, Bildungserfolge zu erzielen. Ein ForscherInnenteam untersuchte beispielsweise vor Kurzem die Bildungschancen von Nachkommen türkischer MigrantInnen in sieben europäischen Ländern, darunter auch Österreich. Die Grundfrage: Wie gestalten sich Bildungschancen für Kinder, deren Eltern als ArbeitsmigrantInnen in den 1960er-Jahren mit nur geringem Bildungsstand aus der Türkei nach Europa gekommen sind, die aber allesamt in den jeweiligen Ländern zur Welt gekommen sind und dort die Schule besucht haben?
In Schweden (9 Prozent) und Frankreich (14 Prozent) haben vergleichsweise wenige Nachkommen türkischer MigrantInnen einen Pflichtschulabschluss. In Österreich ist die Zahl wesentlich höher (25 Prozent), am höchsten ist sie in Deutschland (31 Prozent). Umgekehrt ist die Chance auf einen hohen Bildungsabschluss für die Nachkommen türkischer EinwanderInnen in anderen Ländern drei- bis viermal so groß wie in Österreich.
Drei strukturelle Eigenschaften sind laut Barbara Herzog-Punzenberger von der Johannes Kepler Universität Linz dafür verantwortlich: erstens das Eintrittsalter in vorschulische Einrichtungen – und damit der Zeitraum, in dem Eltern das Lernen des Kindes alleinverantwortlich beeinflussen. „Hier schlägt der in Österreich vergleichsweise späte Eintritt der Kinder negativ für deren spätere Bildung zu Buche“, erklärt die Bildungsforscherin. Ähnlich gelagert ist der zweite Punkt: Der Zeitpunkt, zu dem über den weiteren Bildungsweg entschieden wird, hat großen Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder. In Österreich liegt dieser sehr früh – der Einfluss der Eltern und ihrer Bildungsgeschichte ist zu diesem Zeitpunkt noch sehr groß. Drittens ist der zeitliche Umfang der schulischen Betreuung wichtig. Auch hier verliert Österreich aufgrund des vorherrschenden Halbtagssystems im Vergleich mit Ländern wie Schweden oder Frankreich. „In Österreich, wo SchülerInnen verhältnismäßig viel Lernzeit außerhalb der Schule erbringen müssen, setzen sich familiäre Ausgangsbedingungen eher fort als in Ländern mit ganztägigen Schulformen. Dadurch sind gerade Kinder von Eltern benachteiligt, die weder mit dem Lernstoff noch mit Sprache oder Schulsystem vertraut sind“, so Herzog-Punzenberger.

Zu frühe Entscheidung

Folglich ist der Migrationshintergrund ebenso wie die ethnisch-kulturelle Herkunft an sich nicht ausschlaggebend für geringere Lern- und Bildungserfolge von Kindern zugewanderter Eltern. Wesentlich sind vielmehr die Struktur des Bildungssystems, der Bildungsstand der Eltern sowie die andere Erstsprache als Deutsch. Wer aus bildungsfernen Familien kommt und darüber hinaus eine andere Erstsprache als Deutsch spricht, hat es im österreichischen Bildungssystem also schwer, den Schulalltag erfolgreich zu meistern. Die Zeit bis zur ersten Schullaufbahnentscheidung im Alter von zehn reicht für viele nicht aus, ihre schlechteren Startbedingungen zu überwinden und mit anderen SchülerInnen gleichzuziehen. Die Betreuung weiterer schulischer Leistungen am Nachmittag kann durch die Eltern in zugewanderten Familien oftmals nicht ausreichend geleistet werden. Diese Benachteiligungen führen nicht nur zu geringeren Leistungen, sondern nicht selten auch zu Frustration bei den Jugendlichen, die sich im Laufe der Zeit steigert und zum frühzeitigen Abbrechen der Schule führen kann.
Wie lassen sich Benachteiligungen für Kinder von MigrantInnen in Österreich abbauen? Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die Einführung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahres. Zum anderen, das zeigen die Ländervergleiche, wäre ein verstärkter Ausbau von Ganztagsschulen notwendig, um Kinder erfolgreich schulisch zu fördern und deren Bildungserfolg möglichst unabhängig vom Elternhaus zu gestalten. Speziell für die Bedürfnisse von Kindern mit Migrationshintergrund wäre ebenfalls der Ausbau der Deutschförderung auf allen Schulebenen bei gleichzeitiger Förderung der Erstsprachen notwendig. Nicht zuletzt sollten sich LehrerInnen bereits in der Ausbildung mit der sprachlich-kulturellen Diversität auseinandersetzen, um der Normalität im Schulalltag gewachsen zu sein. Nur mit einer Kombination aus diesen Maßnahmen kann erreicht werden, dass künftig alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft gleiche Chancen im Bildungssystem und damit später am Arbeitsmarkt haben.

Internet:
OECD 2015, Indicators of Immigrant Integration:
tinyurl.com/nhstaly
The Integration of the European Second Generation – TIES:
www.tiesproject.eu/index3322.html?lang=de

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