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Franz Astleithner "Wir leben in einer Zeit, in der es höchste Zeit für mehr Freizeit ist", meint Soziologe Franz Astleithner. Viele Beschäftigte arbeiten am Limit, kritisiert er.

Paradoxien unserer Zeit

Interview

Soziologe Astleithner über Stress trotz gestiegener Zeitressourcen, Arbeitsfetisch und Potenziale einer Arbeitszeitverkürzung.

Zur Person
Franz Astleithner
Der gebürtige Steyrer absolvierte eine HTBLA für Mechatronik in Linz, um anschließend in Wien Soziologie und Volkswirtschaft zu studieren - mit einem Auslandssemester in Rumänien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, soziale Ungleichheit sowie Mobilität & Migration bzw. ethnische Ökonomien. Entschleunigung und Arbeitszeitverkürzung bezeichnet er als sein Steckenpferd, unter anderem hielt er beim Kongress „Gutes Leben für alle“ im Jahr 2015 einen Vortrag mit dem Titel „Kampf um Zeit. Emanzipatorische Potentiale einer Arbeitszeitverkürzung“. Er arbeitet am Wiener Institut für Soziologie im Team Jörg Flecker.


Arbeit&Wirtschaft:
Es ist viel von Beschleunigung die Rede: Wie real ist diese?

Franz Astleithner: Das wirklich zu messen ist schwer. Laut European Working Condition Survey geben in Österreich ein bisschen mehr als 60 Prozent an, noch genug Zeit zu haben, um ihre Arbeit erledigen zu können. Andere Entwicklungen sprechen wiederum dafür, etwa wenn man die Entwicklung bei psychischen Erkrankungen betrachtet.
Hartmut Rosa hat sehr schön aufgezeigt, dass es durch den technologischen Wandel und das Schaffen von Konsumbedürfn
issen bei den Menschen mehr zu einem Kaufen statt einem Konsumieren von Produkten kommt. Um es plakativ darzustellen: Wie groß ist die Reihe von Büchern, die im Bücherregal zu Hause stehen, die man aber immer noch nicht gelesen hat? Aus der Perspektive von Rosa hat der technologische Fortschritt in gewisser Weise die emanzipatorischen Potenziale verloren, weil die Menschen nicht mehr die Zeit haben, die Dinge zu nutzen.

Dabei dienen die meisten Innovationen vor allem dem Ziel, die Menschen zu entlasten. Warum führt das eigentlich nicht zu einer Entschleunigung?

Theoretisch müsste das so sein. Aber historisch hat sich gezeigt, dass die technologischen Innovationen und der Produktivitätsfortschritt schlussendlich dazu geführt haben, dass die Menschen immer mehr arbeiten. Mit neuen Kommunikations- und Informationstechnologien ufern die Grenzen noch aus, und das verursacht massiven Stress.

Freizeit als Muße: Ist das weiterhin ein Privileg?

Beim Thema Muße – mehr Freizeit, die wir vielleicht faktisch haben, aber nicht erlebt fühlen können – muss man auch auf das eingehen, was der französische Soziologe (Alain, Anm.) Ehrenberg mit dem „erschöpften Selbst“ betitelt. In der heutigen Zeit kann man gemäß der Formel „Jeder ist seines Glückes Schmied“ eigene Entscheidungen treffen und eigene Wege gehen. Aber wir sind auch einem extremen Druck ausgesetzt, das Leben möglichst ideal zu verwerten.
Es ist inzwischen soziologischer Mainstream, dass es zu einer weiteren Ökonomisierung aller Lebensbereiche kommt. Der deutsche Philosoph Jürgen Rinderspacher sagt, dass es heutzutage den normativen Drang gibt, Zeit sinnvoll zu nutzen. Dieser wird viel über obere Mittelschichten reproduziert und verbreitet. Er bringt ein sehr schönes Beispiel, nämlich dass unsere Großeltern einfach noch ein paar Stunden auf der Bank vor dem Haus gesessen sind und in die Landschaft geschaut haben. Das würden heute viele als inferiore Zeitnutzung ansehen, wie er es nennt. Heutzutage müssen wir schon in einen Aschram nach Indien fliegen.

Sind Auszeiten Ausdruck für eine beginnende Entschleunigung?

So, wie es gelebt wird, ist es eigentlich eher eine kurze Ausflucht. Ein Sabbatical kann man interpretieren als eine kurze Auszeit von diesem Verwertungsdruck der Erwerbsarbeit, um sich wieder zu regenerieren. Das wirkliche Aussteigertum gibt es heute weniger als zum Beispiel in den Siebzigerjahren.
Man hat das Gefühl, wenn man nicht seine Karriere, seine Biografie durchzieht, ist man irgendwann weg vom Arbeitsmarkt und kommt nicht mehr so leicht zurück. Man braucht sich ja nur die Studien heute anschauen, die viel straffer organisiert sind. Die Studienpläne sind viel verengter – und eigentlich kann man sagen darauf ausgerichtet, die Menschen für die Erwerbstätigkeit verkaufbar zu machen.

Es haben also nicht alle die Möglichkeit, aus der Beschleunigung auszusteigen?

Keinesfalls. Dieser Diskurs über die Generation Y und die stärkere Freizeitorientierung ist eher ein Mittelschichts-Phänomen. In weniger privilegierten Schichten stellt sich die Frage viel, viel weniger, ob man jetzt mal die Arbeitszeit reduziert. Wenn ich meinen schlecht bezahlten 40-Stunden-Job habe, bleibt nicht mehr viel Raum für mehr Muße.

Eine interessante Parallelität: Man spricht von einer Jugend, die sich nicht mehr unter Druck setzen lassen will, während gerade eine Jugend aufwächst, die total unter Druck gesetzt wird.

Das ist ein bisschen eine Paradoxie unserer Zeit. Das ist ähnlich wie die viel, viel stärkere Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit, während die Chancen auf Arbeit für einen immer größer werdenden Teil der Menschen nicht mehr gegeben sind. Wir haben immerhin eine bereinigte Arbeitslosenquote von knapp zehn Prozent.
Der gesellschaftliche Anspruch und die faktischen Möglichkeiten driften auseinander. Das ist beim Thema Muße und „mehr Zeit haben“ ähnlich. Partiell gibt es den Trend zu mehr Teilzeitbeschäftigung auf jeden Fall. Trotzdem würde ich sagen, dass es eher die Menschen betrifft, die es sich leisten können. In Niedriglohnsegmenten ist es dann eher unfreiwillige Teilzeit.

Der Wohlstand in unserer Gesellschaft ist sehr groß, zugleich haben ArbeitnehmerInnen wenig davon. Warum?

Da machen Sie mehrere Türen auf. Bei der Arbeitszeit selbst können wir eine starke Polarisierung feststellen. Einerseits gibt es jene, die arbeiten, manche haben viel längere Arbeitszeiten und machen viel, viel mehr Überstunden, viele stehen immer mehr unter Druck. Auf der anderen Seite gibt es eine immer größere Reservearmee von Arbeitslosen, die – um es in der marxistischen Terminologie zu fassen – den Druck auf die arbeitende Bevölkerung größer werden lassen, Arbeit zu jeglichen Bedingungen anzunehmen.
Die andere Tür sind die Löhne und die Produktivität: Seit den Siebzigerjahren hat sich die Produktivität in Österreich mehr als verdoppelt, doch die Arbeitszeit ist de facto seit 1975, als sie auf 40 Stunden reduziert wurde, kaum mehr gekürzt worden, zumindest nicht auf kollektivvertraglicher Ebene. Da spielen natürlich Mechanismen eine Rolle, wie Wohlstand verteilt wird, warum Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am steigenden Bruttoinlandsprodukt weniger beteiligt werden.
Zudem steigt die Zahl der unselbstständig Beschäftigten seit den Siebzigern kontinuierlich, doch die Lohnquote sinkt. Das heißt schlussendlich, wir haben eine Umverteilung von Löhnen zu Gewinnen und von Arbeit zu Kapital.

Welchen Sinn hat Arbeitszeitverkürzung?

Wenn man sich die gesellschaftliche Ungleichverteilung von Arbeit anschaut und die steigende Ungleichheit dazunimmt: Da könnte Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich ein Mittel sein, um die Ungleichheit zu verringern.
Arbeitszeitverkürzung würde außerdem wieder Arbeitskräftemangel herstellen, der derzeit auf makroökonomischer Perspektive nicht vorherrscht. Das würde das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital wieder ein bisschen in Richtung Arbeit verschieben. Der marxistische Ansatz lautet: Wenn man auf der einen Seite die Arbeit hat und auf der anderen das Kapital, die ausverhandeln, wer wie viel bekommt, ist natürlich eine große Zahl von Arbeitslosen für die Verhandlungsposition der Arbeiterinnen und Arbeiter schlecht. Arbeitszeitverkürzung ist eigentlich die einzige in dem politischen System durchsetzbare Stellschraube, wie man dieses Verhältnis wieder ein bisschen ebener machen könnte.
Die Beschäftigungswirksamkeit von Arbeitszeitverkürzung ist in der Literatur umstritten. Die neoklassischen Ansätze gehen eher davon aus, dass es keinen Effekt hat. Aber es gibt für Frankreich Beispiele, die berechnen, dass die Arbeitszeitverkürzung einen positiven Beschäftigungseffekt hat. Da gibt es per se keine Antwort, denn es kommt sehr stark darauf an, wie diese konkret ausgestaltet wird, wie das Verhältnis von Binnen- zu Außenmarkt ist. Ich halte sie für eine gesellschaftlich relevante und eigentlich zukunftsweise Maßnahme.

Gibt es Risiken?

Arbeitszeitverkürzung kann gesehen werden als Stellschraube, um die geschlechtergerechte Arbeitsteilung zur forcieren. Aber dass dies tatsächlich passiert, ist nicht gewiss. Es gibt Literatur, die davon ausgeht, dass die absolute Wahlfreiheit bei der Arbeitszeitgestaltung unter den Bedingungen, wie die Arbeitsverteilung gegenwärtig funktioniert, eher dazu führen würde, dass Männer noch mehr arbeiten und Frauen noch weniger. Arbeitszeitverkürzung wäre allerdings ein Mittel, damit wieder Ressourcen für eine Neuverhandlung von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung frei werden.
Das orthodoxe, ökonomische Argument lautet, dass es in einer internationalen Wirtschaft ein Produktivitätsnachteil ist, wenn die Lohnstückkosten steigen. Auch das ist wieder sehr relativ, weil es wieder sehr auf die Ausgestaltung ankommt. Und es zeigt sich, dass Arbeitszeitverkürzung Produktivitätszuwächse bewirkt. Die schwedischen und norwegischen Beispiele haben gezeigt, dass es mehr oder weniger eine Win-win-Situation für alle ist.
Arbeitszeitverkürzung wird auch als Möglichkeit gesehen, die negativen ökologischen Konsequenzen unseres Wirtschaftens zu reduzieren: Menschen müssen weniger pendeln, es wird weniger produziert, Stichwort Post-Wachstum. Aber es ist eher eine offene Frage, was die Leute dann wirklich machen: ob sie ökologisch sind, in die Bibliothek gehen und zum Buch greifen oder ob sie Fernreisen machen.

Ist Arbeitszeitverkürzung eine Maßnahme zur Entschleunigung?

Das würde ich auf jeden Fall so sehen, vor allem vor dem Hintergrund, dass schon ganz, ganz viele Beschäftigte mehr oder weniger am Limit arbeiten. Insofern ist eine weitere Intensivierung von Arbeit bei vielen schon schwer möglich. Bei einer Arbeitszeitverkürzung würde zumindest die Regenerationszeit mehr.

Weniger Arbeit und längere Regeneration bedeuten weniger Krankheiten: eine Entlastung gleichermaßen für die Firmen wie für die Gesellschaft?

Für die Gesellschaft jedenfalls. Für die Firmen ist es relativ. Die schwedischen Beispiele haben gezeigt: Die Firmen haben zwar weniger Krankenstände, aber diese werden ja normalerweise ab einem gewissen Zeitpunkt von der Sozialversicherung finanziert. Das heißt, im Endeffekt ist es für die Sozialversicherungsträger oder den Fiskus von Vorteil, aber nicht direkt für die Unternehmen.

Wobei man das auch als Chance für eine Senkung von Lohnnebenkosten sehen könnte.

Das Argument könnte man in jedem Fall ausbauen. Es gibt ja auch den Ansatzpunkt – das ist eher aus einer keynesianischen Perspektive –, dass Menschen mehr Zeit zum Konsumieren haben. Wenn die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich passiert, kann das auch die Nachfrage anregen.

Braucht es neue Konzepte für Arbeit, weil es vielleicht bald nicht mehr genug davon gibt?

Diese Theorien gibt es schon lange. Jeremy Rifkin hat vom Ende der Arbeit und von ihrer Zukunft geschrieben. Auch André Gorz hat in den Achtzigerjahren gemeint, dass uns die Arbeit ausgeht. Es gibt dazu unterschiedliche Einschätzungen: Einerseits hat der Kapitalismus die Fähigkeit, Nachfrage und Bedürfnisse zu schaffen, die individuell trotzdem dazu motivieren, dass man viel arbeitet.
Andererseits ist die Arbeitslosigkeit durchwegs am Steigen, von daher hat dieses Argument schon etwas, es ist allerdings umstritten. Empirisch steigt die Arbeitslosigkeit, das ist das einzig Sichere.

Firmen wie Google oder Microsoft scheinen die Potenziale der Entschleunigung erkannt zu haben.

Dafür ist die Zeit, die Menschen dann im Büro verbringen, sehr, sehr lang. Da geht es um die Übernahme dessen, was Marx das Insubordinationsproblem nennt: dass die Arbeiterinnen und Arbeiter kontrolliert werden müssen, um überhaupt zu arbeiten. Heute ist Selbstkontrolle ganz, ganz stark, sodass sich die Arbeiter selbst marktförmig organisieren und verhalten. Man muss das deshalb sehr, sehr kritisch betrachten, weil sich die Leute im Endeffekt in die freiwillige Selbstausbeutung begeben.
Dazu kommt der Diskurs, dass Arbeit Spaß machen muss. Das wird in den Firmen aktiv forciert, was aber dazu führt, dass Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zur Gänze verschwimmen. Und wenn Arbeit keinen Spaß macht, ist man als Individuum auch selbst schuld und hat selbst etwas falsch gemacht.

Wenn selbst an die Freizeit so viele Ansprüche gestellt werden: Kann man sie dann überhaupt noch genießen?

Das ist eine wirklich schwierige Frage. Die Antwort wäre vielleicht, dass man sich der kommerzialisierten Form der Freizeit entzieht. Aber das schafft niemand.

Klingt nach Enthaltung und Askese. Ist es nicht letztlich ein Fortschritt, dass mehr Menschen Freizeit haben?

Ja natürlich, wir leben in einer Zeit, in der es höchste Zeit für mehr Freizeit ist! Dass das mit Askese zu tun hat, ist nicht gesagt. Man muss hier zwischen Freizeit und Konsum unterscheiden. Und dass der Konsum kurzlebiger Güter problemtische Folgen hat, sieht man an jeder Ecke. Stephan Lessenich nennt das die Externalisierungs-Gesellschaft. Unsere derzeitigen Wirtschaftsweisen und der Reichtum des Westens funktionieren einerseits über Ausbeutung von Ressourcen von anderen Ländern und gleichzeitig über das Vernichten von Zukunftsoptionen zukünftiger Generationen durch die ökologische Zerstörung. Er hat da einen wunderbaren Vortrag auf dem deutschen Kongress für Soziologie gehalten, wo er in Anspielung auf den Monty-Python-Film gefragt hat: „Was hat der Kapitalismus je für uns getan?“. Er hat in den westlichen Ländern Wohlstand für ganz, ganz viele ermöglicht, für die Arbeiterschaft. Das aber auf Kosten von ganz, ganz vielen anderen.

Mit den Flüchtlingen kommt dieser Bumerang nun zurück. Allerdings könnten manche diese Situation als Argument gegen Arbeitszeitverkürzung verwenden.

Genau deswegen brauchen wir eine Arbeitszeitverkürzung, weil wir ja mehr Menschen in den Arbeitsmarkt bringen wollen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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