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Symbolbild zum Bericht Der passive Konsum von Fernsehen, Radiohören und Lesen ist seit rund 30 Jahren ziemlich gleich geblieben. Selbst so etwas wie ein Laufboom hat nicht stattgefunden.
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Bittersüße Freizeit

Schwerpunkt

Für viele hat das Wort Freizeit einen bittersüßen Klang: Sie haben entweder gar keine, viel zu viel davon oder sie können sie nicht auf befriedigende Weise füllen.

„Ich muss ein Geständnis machen“, schrieb Leo Babauta Mitte September auf seinem Blog „Zen Habits“. Er, der sich als Befürworter von Minimalismus und Vereinfachung einen Namen gemacht hat, sei in letzter Zeit „zum Multitasking und zur Ablenkung zurückgekehrt“. Dabei hat er nicht nur einen Ratgeber, sondern auch eine Vielzahl an Blog-Einträgen zum Thema Single-Tasking geschrieben. Im Jahr 2010 reihte das „Time Magazine“ zenhabits.net sogar auf Platz eins der „Top 25 Blogs“. Im Grunde ist es wenig verwunderlich, dass Zen Habits gerade in dieser schnelllebigen Zeit so großen Erfolg hat. Immerhin geht es dort laut Eigendefinition darum, „Einfachheit im täglichen Chaos unseres Lebens“ zu finden.
Ungefähr so sieht dieses Chaos aus: Während eifrig immer raffiniertere Technologien entwickelt werden, die unser Leben komfortabler machen sollen, lässt uns der Umgang mit denselben Technologien den Atem stocken. Wir tragen kleine Alleskönner in Form von „smarten“ Telefonen ständig bei uns, die uns erlauben, jederzeit Informationen abzurufen – zum Beispiel, wie wir am schnellsten von A nach B gelangen. Diese Gewissheit lässt uns zu spät aufbrechen, sodass uns die kleinste Verzögerung erst recht in Stress versetzt. Wir können heute zu jeder Zeit und an jedem Ort arbeiten. Das Dumme ist nur: Wir tun das auch, und jeder weiß, dass wir immer und überall unseren Laptop aufklappen können, um „schnell noch“ etwas zu erledigen – und das wird dann auch von Arbeitgebern und PartnerInnen verlangt. Dazu kommt, dass wir schön und fit aussehen sollen und/oder wollen. Wenn wir gerade nichts Berufliches erledigen, können wir also Hanteln stemmen oder uns an die Kletterwand hängen. Nicht zu vergessen das Netzwerken und Bescheidwissen, was in der Welt passiert. Und unsere Kinder? Die sollen neben den schulischen Aufgaben bitte ein Instrument, Chinesisch und Programmieren lernen und im Fußballverein eine gute Figur machen. Und wer sich verweigert und lieber faul herumliegt? Der soll das bitte zumindest mit schlechtem Gewissen tun.

Sogenannte Freizeit
Das Paradoxe daran: Zumindest im historischen Vergleich haben wir gar nicht so wenig Freizeit. Allein im 20. Jahrhundert hat sich dem in Wien ansässigen Institut für Freizeit- und Tourismusforschung (IFT) zufolge die durchschnittliche Lebenszeit europaweit um ein Drittel verlängert, die Arbeitszeit wurde auf 39 Wochenstunden halbiert, und der Urlaub hat sich auf bis zu fünf Wochen ausgeweitet, manche kommen sogar in den Genuss von sechs Wochen. „Nur 14 Prozent unserer Lebenszeit verbringen wir im Beruf und in Ausbildungen“, sagt IFT-Leiter Peter Zellmann. Ein Drittel unseres Lebens verschlafen wir, und der Rest, nämlich 53 Prozent, ist laut Zellmann die „sogenannte Freizeit“. So genannt, weil es „nicht die freie Zeit für uns selbst“ ist. Bei Alleinerziehenden oder Eltern mit zwei Kindern sei diese Zeit gleich null. Ansonsten gehe der Großteil der Freizeit für Ehrenämter, selbst gewählte Verpflichtungen, Heimarbeit und Leistungen für die Familie drauf. All diese Tätigkeiten gelten nicht als Arbeit im Sinne des BIP. Würde man sie dazurechnen, sähe die Freizeitbilanz schon anders aus.
Die „Freizeitgesellschaft“ sei „eine falsche Überschrift des Boulevards“, findet Zellmann. Es habe sich in den letzten 30 Jahren viel weniger verändert, als man annehmen würde: Der passive Konsum von Fernsehen, Radiohören und Lesen sei etwa seit rund 30 Jahren ziemlich gleich geblieben. Insgesamt betreiben auch nicht mehr ÖsterreicherInnen Sport. Selbst so etwas wie der Laufboom habe nicht so stattgefunden, wie in den Medien beschrieben: „Es laufen gleich viele Menschen wie in den Achtzigerjahren, aber die, die laufen, laufen heute jeden Tag.“ Zweifellos aber ist nicht alles gleich geblieben: „Die Mobiltelefonie und das Internet haben unser Freizeitbudget verändert. Die Digitalisierung hat uns in die Technikfalle gelockt.“ Wir haben uns angewöhnt, in die gleiche Zeiteinheit immer mehr hineinzustopfen, anstatt die Zeit für unser Wohlbefinden zu nutzen. Der Lebenszeitgewinn führe keineswegs zu mehr Lebensqualität, sondern vielmehr zu Zeitknappheit und Burn-out.

Das Thema Zeit beschäftigt auch den Wirtschafts- und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach seit Jahrzehnten. Die ungeheure Dynamik der Finanzmärkte mit ihrem Hochfrequenzhandel, der durch die Kombination von Technik und Finanzwirtschaft möglich wurde, war für ihn der Anstoß, das Buch „Die Zeit gehört uns: Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung“ zu schreiben. Ungleiche Verteilung gibt es nicht nur bei Einkommen und Vermögen, sondern auch beim Thema Zeit oder besser Zeitsouveränität. „Wem wird mehr Freizeit gestattet? Und wem nicht?“, fragt Hengsbach. Problematisch werde es „überall da, wo einseitige Machtverhältnisse bestehen“. Also wo zum Beispiel Unternehmen sich am Shareholder-Value orientieren und nicht mehr autonom genug sind. Zeit-Ungleichheit herrscht auch zwischen Männern und Frauen: Für viele Frauen beginnt nach der Erwerbsarbeit die Kinderbetreuung oder das Sorgen für die Eltern. Männer, die ihre Erwerbsarbeit gerne reduzieren und dafür auch auf Lohn verzichten würden, stünden dagegen unter Rechtfertigungsdruck.

Herrliche Verlockungen
Freizeit hat für viele heute einen bittersüßen Klang. Die einen kommen nicht in deren Genuss, weil sie aufgrund von Überstunden, Hausarbeit oder familiären Verpflichtungen nur noch ins Bett fallen, wenn alles erledigt ist. Andere haben zwar viel freie Zeit, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen, können es sich aber nicht leisten, diese mit den herrlichen Angeboten der Konsumwelt zu füllen oder gar mit Muße. Wieder andere haben Zeit und Geld, wünschen sich aber, angestachelt von den verlockenden Rufen der Urlaubs- und Freizeitwirtschaft, mehr Geld und mehr Zeit und sind also auch nicht glücklich.
Der Freizeitforscher Peter Zellmann kritisiert, dass es in Mitteleuropa bis heute eine tief verwurzelte Kluft zwischen Arbeit und Freizeit gibt. Während es in Skandinavien schon zu Beginn der 1970er-Jahre etwas wie eine Freizeitpolitik gegeben habe, war Freizeit für die MitteleuropäerInnen „eher ein Negativum, das bestenfalls zur Wiederherstellung der Arbeitskraft gut war. Der Workaholic war das Leitbild der Nachkriegszeit.“ Freizeitpolitik meine weniger ein Freizeit-Angebot als die Tatsache, dass Freizeit als gleich wichtiger Lebensbereich wie Arbeit angesehen werde: „Nicht entweder … oder, nicht zuerst die Arbeit, dann das Spiel. Die Reihenfolge ist egal: Es darf auch zuerst das Spiel sein, wenn die Arbeit dann erst recht gut erfolgt.“ Zellmann ruft dazu auf, „Mut zur Muße“ zu haben.
Freizeitangebote wie der Kulturpass, mit dem unter dem Motto „Hunger auf Kunst und Kultur“ Benachteiligte Kulturangebote gratis in Anspruch nehmen können, sind laut Zellmann „durchaus vernünftige Maßnahmen“, aber sie „bringen die Gesellschaft nicht wirklich weiter“: Solange das Grundproblem nicht erkannt werde, haben solche „Pflästerchen“ wenig Sinn.
Dass viele von uns über ihre freie Zeit nicht mehr verfügen können, muss sich auch aus Friedhelm Hengsbachs Sicht wieder ändern. Er hofft auf eine Bewegung, eine Rebellion. Kleine Änderungen im Alltag wie sich „eine Viertelstunde auf einen Stuhl setzen und meditieren“ reichen nicht aus. Dennoch: Nein sagen lernen, nicht immer gleichzeitig essen und lesen und einfach öfter mal „herumschildkröteln“ sind wichtig. Größere Gegenbewegungen zur beschleunigten Freizeit wie Urban Gardening, Slow Food und Konsumreduktion – all diese Maßnahmen gingen in die richtige Richtung. Hengsbach: „Die Notwendigkeit einer Umkehr ist offensichtlich.“

Freizeit entschleunigen
Was es aus seiner Sicht noch bräuchte, damit wir wieder Herr und Frau unserer Zeit werden: kollektive Arbeitszeitverkürzung, Nachhaltigkeit anstatt Wachstumsrausch und Geschlechtergerechtigkeit. Und bis es so weit ist, können wir ja zumindest unsere Freizeit entschleunigen und jedenfalls – zeitweise – unsere schlauen Geräte ausschalten und mehr Muße einkehren lassen.

Linktipp
Mehr Infos unter:
zenhabits.net

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin alexandra.rotter@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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