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Symbolbild zum Bericht Menschen brauchen Rituale. Der Sonntag hat viele hervorgebracht: Sonntagskleidung, -braten oder -spaziergang.

Die gefährdete Zeitart

Schwerpunkt

Eine europäische Allianz macht sich für den freien Sonntag stark. Zugleich leiden manche an der verordneten Ruhe. Was sagt das über unsere Arbeitsgesellschaft aus?

Am siebten Tage sollst du ruhen“, heißt es in der Genesis. Judentum, Christentum und Islam kennen einen arbeitsfreien Tag. Bis ins 19. Jahrhundert war der „Tag des Herrn“ völlig arbeitsfrei. Mit der Maschinentaktung der Industrialisierung geriet der arbeitsfreie Sonntag immer stärker unter Druck, heute geht dieser Druck von der Liberalisierung und Digitalisierung aus. In manchen osteuropäischen Ländern ist die Sonntagsruhe nahezu völlig abgeschafft, andere wie Südtirol nehmen Öffnungsregelungen wieder zurück. Wie aktuell oder antiquiert ist die absolute Sonntagsruhe? Jedenfalls gehört der Kampf für einen arbeitsfreien Sonntag zu den zentralen gewerkschaftlichen und christlich-sozialen Anliegen

Kulturgut Sonntag
Takt und Rhythmus prägen die Natur (Tages-, Jahreszeiten), aber auch Kultur. „Feier- und Festtage sind schützenswerte Zeitarten, die immer stärker gefährdet sind“, meint Margit Schäfer vom Verein zur Verzögerung der Zeit. Der Sonntag ist ein letzter Rest vormoderner allgemeinen Feierkultur, weitgehend abgelöst durch eine individualisierte Freizeitkultur, vielleicht abgesehen vom Tatort-Krimi, der für viele fast ein Sonntagabendritual ist. Menschen brauchen Rituale. Der Sonntag hat viele hervorgebracht: Sonntagskleidung, -braten oder -spaziergang. Der Sonntagsspaziergang ist ein beliebtes Sujet der bildenden Kunst. Einprägsam karikiert Carl Spitzweg den Sonntagsspaziergang als Inszenierung bürgerlicher Familienidylle, die Kommunikationsarmut und männliche Dominanz zum Vorschein bringt. Der Kern bleibt positiv, nicht umsonst gibt es die Redewendung „dass etwas kein Sonntagsspaziergang gewesen ist“, um eine mühsame Angelegenheit zu beschreiben.

Sonntagsneurose
Doppelgesichtiger Sonntag: ein arbeitsfreier Feiertag, der zugleich andere Zwänge sichtbar macht. Der austro-ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi spricht von Sonntagsneurosen. 1919 beschreibt er in einem Aufsatz die sonntäglich wiederkehrenden Kopf- und Bauchschmerzen Jugendlicher, für die es keinen erkennbaren körperlichen Grund gibt. Befreit von den Fesseln, die uns Pflichten und Zwang auferlegen, mobilisiere diese innerliche Befreiung „Selbstbestrafungsfantasien“, die sich mit diesen Symptomen äußern. Der Neurologe Viktor E. Frankl erklärt die Sonntagsneurosen als mangelnde Sinnerfahrung, die Menschen an arbeitsfreien Tagen erfahren, indem sie in eine Art existenzielles Vakuum kippen.
„Wenn es nur einen Wert in meinem Leben gibt und ich mich neurotisch in meine Arbeit stürze als eine Flucht, dann ist der Entzug schmerzhaft“, so Harald Pichler vom Viktor Frankl Zentrum Wien. Nach 15 Jahren Managementerfahrung berät er heute Unternehmen, um Sinnfragen in die Firmenorganisation zu integrieren. Arbeitsfreie Zeit macht nicht alle Menschen glücklich. Überraschend ist, dass gerade Hochqualifizierte darunter leiden. Eine empirische Studie der Hamburger Wirtschaftswissenschafter Wolfgang Maennig und Malte Steenbeck wertete das Glücksverhalten von 34.000 Personen in einem Zeitraum von sechs Jahren aus. Bei Männern wie Frauen mit akademischer Ausbildung sinkt die Zufriedenheitsskala am Sonntag auf 7 ab, steigt am Montag – als glücklichster Tag der Woche – auf 7,2 an (Skalenwert 10 steht für sehr zufrieden). Der allgemeine Zufriedenheitswert liegt mit 6,8 bei wenig Qualifizierten deutlich darunter, rutscht aber sonntags kaum ab. Frauen aus dieser Gruppe sind mit 6,7 Punkten am Wochenende am unglücklichsten.

Krankmacher Sonntagsarbeit?
Ob Sonntagsneurose, -krankheit, -depression oder Sonntagabendsinnkrise: Auch wenn an diesem Tag gelitten und gestritten wird – arbeiten sollte man besser nicht. Das deutsche Bundesamt für Arbeitsschutz und -medizin ließ eine Studie über die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen langer Arbeitszeiten erstellen, rund 50.000 Menschen nahmen daran teil. Das Ergebnis: Sonntags- und Wochenendarbeit stellen einen zusätzlichen Belastungsfaktor für psychisch-vegetative Beeinträchtigungen dar, auch die negativen Folgen für das Sozialleben sind erheblich, so die Studienautorin Anna Wirtz. Maßgeblich ist aber die wöchentliche Gesamtarbeitszeit und mangelnde Planbarkeit. Denn allein an dem Tag kann es nicht liegen. In Gastgewerbe, Tourismus, Unterhaltungsindustrie, Gesundheitswesen, öffentlichem Verkehr ist sie selbstverständlich. „Arbeit am Sonntag kann nicht grundsätzlich schädigend sein. Sonst wäre ja jeder Landwirt im Burn-out. Wichtig sind Selbstbestimmtheit und Sinnorientierung in der Arbeit“, stellt Pichler fest. Geht es bei Sonntagsarbeit also vorrangig um die autonome Entscheidungsmöglichkeit? In Österreich gilt für Vollzeitbeschäftigte, die am Sonntag arbeiten, ein Ersatzruhetag unter der Woche. Warum gleicht diese individuelle Regelung die Bedeutsamkeit eines allgemein arbeitsfreien Sonntags nicht aus?

Sozialtag und Tag für Ehrenamt
„Die Gesellschaft braucht synchronisierte Freizeit“, betont Franz Georg Brantner, Sprecher der „Allianz für einen freien Sonntag“ und GPA-djp-Regionalvorsitzender von Wien. Seit 2002 setzt sich die Allianz für die sozialen wie religiösen Anliegen dieses arbeitsfreien Tages ein, mit wachsender Zahl europäischer BündnispartnerInnen. Der Sonntag als Tag geistiger Erbauung und der Beziehung: Bei zunehmend flexibler Arbeitszeitgestaltung, wo Freizeit und Begegnung auch organisiert sein wollen (und somit selbst zur Arbeit werden), schafft ein freier Sonntag gute Rahmenbedingungen.
Rund eine halbe Million ArbeitnehmerInnen arbeiten im Handel. In erster Linie betrifft die Sonntagsöffnung den Einzelhandel, aber nicht nur. Wird sonntags mehrheitlich gearbeitet, müssen auch Kinder außer Haus betreut werden. In der Mehrzahl betrifft auch das Frauen, die mit Sonntagsarbeit ein zusätzliches Vereinbarkeitsproblem schultern müssten. Neben den kirchlichen und gewerkschaftlichen AllianzpartnerInnen erklärt dies das Engagement des Vereins der AlleinerzieherInnen. Auch Vereine melden Bedenken an. Der österreichische Alpenverein, die Kinderfreunde oder der Österreichische Blasmusikverband: All diese Vereine brauchen einen freien Sonntag, sonst lässt sich ihre Tätigkeit kaum noch organisieren.

Wiener Gemütlichkeit
Anders als in vielen europäischen Großstädten sind in Wien die Geschäfte am Sonntag noch weitgehend geschlossen. Geht es nach dem Präsidenten der Wiener Wirtschaftskammer, soll die Einführung von Tourismuszonen diese auch in Österreich einmalige Position der Hauptstadt beenden. In festgelegten Tourismuszonen entlang touristischer „Hotspots“ wie der City, der inneren Mariahilfer Straße und Schönbrunn soll es Einzelhandelgeschäften erlaubt sein, am Sonntag zu öffnen.
Dieser Vorstoß stößt bei Weitem nicht bei allen auf Gegenliebe. Die Mehrheit der Bevölkerung, die betroffenen ArbeitnehmerInnen und auch viele Kleinbetriebe lehnen ihn vielmehr ab. Aus der Erfahrung der längeren Öffnungszeiten weiß man, dass das Geschäft nicht mehr wird, sondern sich nur mehr verschiebt. „Konzerne und die Einkaufszentren treiben die Debatte um die Sonntagsöffnung voran. Die Arbeitsplätze, die da entstehen, sind prekäre, geringfügige oder Teilzeitjobs“, warnt Brantner.
„Man muss die Menschen vor sich selbst schützen, der arbeitsfreie Sonntag ist ein kollektives Regulativ“, resümiert der Philosoph und Zeitcoach Franz J. Schweifer. Individualisierung wie Digitalisierung entgrenzen immer mehr Lebensbereiche, die zugleich Halt schenken. Sei es Online-Shopping oder das E-Mail-Checken vor Beginn der Arbeitswoche: müssen nicht alle, tun aber viele. Das gilt auch für die geplante Sonntagsarbeitsregelung in Tourismuszonen. Bei steigendem Arbeitsdruck wird rasch aus einem Sollen ein Wollen. Der grundsätzlich arbeitsfreie Sonntag ist ein starkes Angebot für eine Auszeit von der Arbeits- und Konsumzeit. Politische Rahmenbedingungen lassen sich einfordern, für die individuelle Umsetzung muss jede/r dann letztlich selbst sorgen.

Linktipp
Mehr Infos unter:
www.freiersonntag.at
Servicetipp
Die Sonntagsallianz bedankt sich mit einer Fotoausstellung bei allen, die an diesem Tag arbeiten müssen. Diese ist bis 6. November bei freiem Eintritt im Foyer des ÖGB Catamaran in Wien zu sehen.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin beatrix@beneder.info oder die Redaktion aw@oegb.at

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