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Symbolbild zum Bericht: Matura um jeden Preis? Die Matura eröffnet Wahlmöglichkeiten. Aber ist es wirklich sinnvoll, alle Jugendlichen die "Reifeprüfung" absolvieren zu lassen?

Matura um jeden Preis?

Schwerpunkt

Die Reifeprüfung am Ende der Oberstufe ist der Eckpfeiler des höheren Schulsystems. Doch macht sie heute noch Sinn?

Die Matura ist für zahlreiche SchülerInnen ein psychischer Ausnahmezustand. Viele verfolgt die Vorstellung, noch einmal zu dieser Prüfung antreten zu müssen, sogar noch Jahre später in Alpträumen. Doch welche pädagogische oder gesellschaftliche Funktion hat dieser Reifetest eigentlich?
Der in Deutschland übliche Begriff „Abitur“ weist auf einen der Ursprünge dieser Prüfung hin, denn er leitet sich vom neulateinischen Wort abiturire ab, zu Deutsch ab- oder weggehen. Grundsätzlich ist sie ein Abgangszeugnis der höheren Schulen. Der in Österreich übliche Begriff „Matura“ verweist auf eine zweite Funktion: Wer die Prüfung besteht, ist „reif“ fürs Studium. Die Reifeprüfung hat obendrein eine gesellschaftliche Funktion, denn sie zeigt an, welche Wissensinhalte heute als gesellschaftlich legitim angesehen werden. Nicht zu vergessen: Die Matura ist immer auch die Abgrenzung einer „gebildeten Elite“ vom Rest der Gesellschaft.


Erfindung des preußischen Staates

Die Reifeprüfung ist eine Erfindung des preußischen Staates aus dem Jahr 1788. Sie entstand als Kriterium für den Hochschulzugang, der bis dahin kaum geregelt war. Nicht jeder brachte damals die nötigen Voraussetzungen nach wenigen Jahren Schule mit, daher versuchte man, den Zugang einzuschränken. Groß war die Freude mit dieser Prüfung nicht. Wohlhabende Eltern fürchteten um ihren Status, sollten ihre Kinder scheitern. Den Staat wiederum plagten andere Sorgen: Man befürchtete, dass die Beschäftigung mit antiken Sprachen das republikanische Denken gegen das „preußisch-monarchistische Gefühl“ zu sehr fördern könnte. Der damalige deutsche Kaiser Wilhelm II. etwa warnte vor einer „allzu starken Überproduktion der Gebildeten“ und Bismarck vor einem „staatsgefährlichen Proletariat der Gebildeten“.
In der Realität machte nur eine verschwindend kleine Minderheit das Abitur: Gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung schafften diesen Abschluss. Zur Jahrhundertwende stieg die Zahl schließlich an, als endlich auch Mädchen zum Abitur zugelassen wurden. In Österreich gab es ähnliche Diskussionen. Hier verordnete Maria Theresia im Jahr 1776 ein fünfjähriges Gymnasium mit strenger Schlussprüfung. Im Jahr 1849 entstand schließlich das Gymnasium in der heutigen Form mit einer Maturitätsprüfung als Abschluss.

Großer Anstieg

Die anfangs geringe Zahl an Maturanten stärkte die Vorstellung von einer Bildungselite, die sich nach unten abgrenzte. Zumindest quantitativ lässt sich dies nicht mehr bestätigen: Im Jahr 1960 haben 10.832 SchülerInnen maturiert, im Jahr 2013 waren es 43.987 und damit vier Mal so viele. Zugleich machte sich der Ausbau der Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) bemerkbar: Der Anteil der AHS-AbsolventInnen unter den MaturantInnen sank von 68 Prozent im Jahr 1960 auf 42 Prozent im Jahr 2013. In der Altersgruppe der 18 bis 19-Jährigen ist die Anzahl der MaturantInnen deutlich gestiegen: Seit 1987 hat sich ihr Anteil von 24,9 auf 42,4 Prozent erhöht.

Zwischenstation

Damit erfuhr die Matura einen Bedeutungswandel: Lange Zeit war sie ausreichende Einstiegsqualifikation für eine BeamtInnen- oder Bankenlaufbahn, ohne dass auf sie zwingend ein Studium gefolgt wäre. Mittlerweile ist vor allem die AHS-Matura Zwischenstation auf dem Weg zu einem akademischen Abschluss. Demgegenüber bietet die BHS beides: sowohl die berufliche Qualifikation, die zum Teil sehr stark am Arbeitsmarkt nachgefragt wird, als auch die Studienberechtigung.
Die bestandene Matura hat in jedem Fall noch einen großen symbolischen Wert. Auch das Projekt der Lehre mit Matura soll nicht unbedingt mehr Personen mit Lehrabschluss an die Hochschulen führen. Vielmehr soll dadurch die Lehre für Jugendliche wieder attraktiv gemacht werden. Dafür bräuchte es aber wohl mehr Maßnahmen (siehe auch „Liebling zwischen Sein und Schein“). Viele Jugendliche wählen schließlich auch deshalb eine Lehre, weil sie mit ihrer Schulzeit negative Erfahrungen verbinden und für sie das Lernen in der Schule unattraktiv ist. Sie erst recht wieder auf die Schulbank zu zwingen, scheint zumindest diskussionswürdig, zumal ihnen der Weg an die Uni über die Studienberechtigungsprüfung zu einem späteren Zeitpunkt immer noch offen steht. Einen sehr spannenden Weg gehen in diesem Zusammenhang die Fachhochschulen: Sie sind auch für Personen mit Lehrabschluss, BMS oder spezifischen beruflichen Qualifikationen offen. Diese müssen allerdings Zusatzprüfungen ablegen, um ihre „Reife“ zu beweisen.

Ritual

Wozu ist die Matura also eigentlich gut? Im schulischen Bereich ist sie in erster Linie eine Art Ritual, pflichtet Heidi Schrodt, Bildungsexpertin und langjährige AHS-Direktorin, bei. Ein Ritual aber ließe sich auch auf andere Weise durchführen. Die Hauptfunktion besteht also darin, die allgemeine Hochschulreife zu belegen. Mittlerweile hat sich die Schullandschaft allerdings verändert. So haben sich die höheren Schulen in eine Vielzahl an alternativen Zweigen ausdifferenziert. Nicht nur die AHS unterscheidet sich von HTL, von HAK, HLW und anderen Schulformen. Das Portal htl.at des Bildungsministeriums listet allein 57 unterschiedliche Fachrichtungen im HTL-Bereich auf. Daneben bestehen mit der Lehre mit Matura, der Externistenmatura oder Berufsreifeprüfung sowie der Studienberechtigungsprüfung eine Vielzahl an weiteren Möglichkeiten, den Hochschulzugang zu erhalten.
Man mag die Vielfalt an Angeboten begrüßen, sie wirft allerdings auch einige Fragen auf: Wie lässt sich bei einer so großen Zahl an Schulvarianten ein gemeinsamer Standard für eine Reifeprüfung festlegen? Mit der Zentralmatura hat man versucht, diesen zu definieren. Allerdings wirkt dies fast wie der Versuch einer Quadratur des Kreises. Immerhin unterscheiden sich beispielsweise die Lehrpläne in Mathematik bereits zwischen den technischen Fächern so stark, dass es im Grunde nicht möglich ist, gemeinsame Standards auf Maturaniveau zu prüfen.
Die Vielfalt im schulischen Bereich ist allerdings harmlos gegenüber der tertiären Bildungswelt. Die Seite studienwahl.at des Wissenschaftsministeriums listet allein in Österreich 2.332 Studienrichtungen an Bachelor-, Master- und Doktoratsstudien auf. Für diese Breite an Studienrichtungen einen gemeinsamen Nenner festzulegen, welche Kenntnisse eine Reifeprüfung abdecken müsste, ist unmöglich.

Freier Unizugang?

An den Universitäten und Hochschulen wurden Hürden immer beliebter, um die große Zahl der Studierwilligen einzuschränken. So führt mittlerweile eine steigende Anzahl von Studienrichtungen Aufnahmeverfahren durch. Wenn auf diesem Weg der freie Hochschulzugang endgültig ausgehebelt wird, stellt sich tatsächlich die Sinnfrage für die Matura als Reifetest fürs Studium. Stattdessen könnte auch das Abschlusszeugnis der letzten Klasse genügen. Bildungsexpertin Schrodt verweist auf Schweden, wo ein ähnliches System besteht. Dort ist es auch durchaus üblich, dass Fächer, die für ein Studium erforderlich sind, in Kursen der Erwachsenenbildung nachgeholt werden.
Eine andere Variante wäre die Änderung der Prüfungsordnung. Der Slawist und Bildungsforscher Gero Fischer etwa schlägt vor, den Bereich der vorwissenschaftlichen Arbeit in eine Art „individualisierte“ Matura umzubauen. Diese könnte sich explizit an den Anforderungen eines späteren Studiums orientieren. Zudem könnte man Kurse anbieten, in denen sich die SchulabgängerInnen für den späteren Weg vorbereiten können, ob dieser in den Arbeitsmarkt oder an eine Hochschule führt. Damit könnte auch ein weiteres Problem gelöst werden, denn viele Drop-outs an den Universitäten hängen mit der falschen Fächerwahl und einem schwierigen Uni-Einstieg zusammen.
Die ersatzlose Abschaffung der Matura aber beinhaltet vor allem ein großes Risiko: Damit wäre der Weg für Aufnahmeprüfungen in allen Studienrichtungen frei. Zudem eröffnet dies privaten Anbietern einen riesigen Markt für Kurse, um SchülerInnen auf diese Prüfungen vorzubereiten – wie sie an den Medizinunis bereits Realität sind. Somit würde der Hochschulzugang wieder zu einer finanziellen Hürde. Dagegen ist die weitestgehend kostenfreie Matura sicherlich die bessere Alternative. Die Durchlässigkeit zu erhöhen, darin sehen viele ExpertInnen den zentralen Auftrag an die Bildungspolitik – die Diskussion über die Matura ist dabei ein Baustein.
 
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