topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Symbolbild zum Bericht: Irinas Weg Klassische ArbeiterInnenkinder müssen durch besonderen Einsatz eine Reihe von strukturellen Benachteiligungen ausgleichen.

Irinas Weg

Schwerpunkt

Kinder aus ArbeiterInnen-Familien sind an den Universitäten eine Ausnahmeerscheinung. Nötig wäre eine Willkommenskultur.

Irina absolviert momentan den letzten Abschnitt für die Studienberechtigungsprüfung (SBP) Medizin. Gefragt sind Grundlagen der allgemeinen, anorganischen und organischen Chemie. Die Vorbereitung auf diese Teilprüfung umfasste 60 Stunden Kursbesuch sowie ungefähr 60 Stunden Selbstlernzeit. Insgesamt muss Irina fünf solcher Prüfungen absolvieren (Deutschaufsatz, Biologie und Umweltkunde, Physik 1, Chemie 2 und eine Anatomieprüfung).
Die 30-Jährige hat nach der Hauptschule eine Fachschule für soziale Berufe besucht und arbeitet seit einigen Jahren – mit Unterbrechungen – in Pflegejobs. Ärztin zu werden war immer ihr Traum. Obwohl den Eltern gute Noten sehr wichtig waren, konnte ihr niemand so richtig den Weg von der Hauptschule zum Arztberuf erklären. Eine dreijährige Lehre oder Fachschule war demgegenüber greifbar – praktisch alle KollegInnen ihres Schuljahrgangs versuchten, diesen Weg zu gehen. Von der Möglichkeit einer Studienberechtigungsprüfung hat Irina erst viel später und durch Zufall erfahren.

Mehrfache Ausnahmeerscheinung

So der Studienzugang nun tatsächlich gelingt, wäre Irina gleich mehrfach eine Ausnahmeerscheinung. Nur etwas mehr als elf Prozent aller österreichischen Studierenden erreichen den sogenannten tertiären Sektor über einen „nichttraditionellen Hochschulzugang“. Gemeint ist damit ein anderer als der erste, schulische Bildungsweg, der – ganz traditionell – mit der Matura gekrönt werden muss. Besonders niedrig liegt dieser Anteil der „Nichttraditionellen“ bei den Universitäten, etwas höher ist er bei den Fachhochschulen. Letztere sind auch beim Zugang etwas offener und berücksichtigen beispielsweise Berufsausbildungen beim Zulassungsverfahren. Ebenfalls in diesen Wert hineingerechnet werden Personen, die über die Anerkennung ausländischer Abschlüsse zugelassen werden.
Im europäischen Vergleich liegt Österreich damit punkto „Aufwärtsmobilität“ im letzten Drittel. In England/Wales sowie in Schweden sind demgegenüber mehr als 25 Prozent der Studierenden „nicht traditionell“ auf die Uni gekommen. Auch wenn in Britannien Hochschulen durch universitäre Aufnahmeverfahren und Studiengebühren der Durchlässigkeit massiv entgegenwirken, kann vom dortigen Beispiel einiges gelernt bzw. abgeleitet werden.
In Schweden spielt der Formalabschluss bei der Studienzulassung im Grunde keine Rolle mehr. Selbst im auf das Abitur fixierten Deutschland darf seit 2009 mit absolvierter Meisterprüfung studiert werden. In Österreich erspart sich demgegenüber ein/e MeisterIn gerade einmal eine von vier Teilprüfungen der Berufsreifeprüfung.
Österreichische Statistiken zeigen allerdings auch, dass gerade diese atypisch Studierenden unter den besonders ambitionierten Studierenden überdurchschnittlich stark vertreten sind. Im obersten Zehntel, welches am allerschnellsten das Studium abschließt (neun Semester oder weniger), sind Personen mit Studienberechtigungs- bzw. Berufsreifeprüfung gemeinsam mit HAK-AbsolventInnen nämlich besonders zahlreich. Ein – in diesem Sinne – „hohes Maß an Zielstrebigkeit, Motivation und Disziplin“ ist laut Martha Eckl von der AK Wien ebenfalls bei den „First Generation Students“ zu finden. Das sind Studierende, die aus Haushalten kommen, in denen kein Elternteil einen Ausbildungsweg mit der Matura abgeschlossen hat.
In vielen Fällen handelt es sich wie bei Irina um klassische ArbeiterInnenkinder, die durch ihren besonderen Einsatz eine Reihe von strukturellen Benachteiligungen ausgleichen müssen. Wie dramatisch diese wirken, zeigt sich daran, dass nur 6,6 Prozent jener Kinder, deren Eltern maximal eine Pflichtschule abgeschlossen haben, den tertiären Bereich erreichen und weit weniger als die Hälfte der Studierenden (42 Prozent) zur Gruppe der „First Generation Students“ gehören.

Reale Hürden und angebliche Ferne

Irinas Eltern war eine gute Ausbildung ihrer Tochter durchaus wichtig. Die Ressourcen, in der Oberstufe gegebenenfalls selbst Lernunterstützung zu geben oder zu finanzieren, waren aber ebenso wenig vorhanden wie Kenntnisse der Universitätslandschaft und auch die Möglichkeit, später ein Studium zu bezahlen. Fern von den Bedürfnissen und diskriminierend gegenüber der Möglichkeit, an eine Uni zu kommen, war und ist hier vor allem das Bildungssystem. Auch wenn Irina diese entscheidenden Hürden letztlich doch überwinden konnte, ist ihr Hindernislauf noch lange nicht zu Ende. Begriffe wie MedAT (Aufnahmeverfahren Medizin) wirken nicht nur wie elitäre Geheimcodes, sondern stehen vor allem für weitere Selektionsinstrumente.
Bereits die ersten Studien zum MedizinerInnentest haben ergeben, dass der Anteil der Studierenden mit hochschulgebildeten Vätern durch diese Tests von 41 auf 55 Prozent stieg, jener mit Vätern, die über einen mittleren Abschluss verfügen, von 33 auf 27 Prozent sank. Die soziale Diskriminierung, die dieser Test bedeutet, lässt sich übrigens durchaus in konkreten Zahlen beschreiben: Die entsprechenden Vorbereitungskurse kosten inzwischen bis zu 2.000 Euro – Geld, welches Irina schlichtweg nicht hat.

Unzureichende Stipendien

Überhaupt ist aus Sicht von AK und ÖGB die Finanzierung des Studiums ein zentraler Aspekt. Martha Eckl und andere ExpertInnen belegen in Beiträgen auf dem A&W-Blog, wie unzureichend beispielsweise das Stipendiensystem momentan aussieht. Seit Jahren wurden hier Erhöhungen weit unter den Lohnanpassungen vorgenommen, die Stipendienquote sank von über 26 auf 22 Prozent der Studierenden. Selbst Höchststipendien liegen unter der Mindestsicherung, durchschnittlich erhalten StipendienbezieherInnen – nach allen Abzügen – 272 Euro. Für Irina besonders relevant ist zudem die „Altersfalle“: Für die Beantragung eines Stipendiums gilt an sich eine Altersgrenze von 30 Jahren, die bei langer Berufstätigkeit auf bis zu 35 Jahre ausgedehnt werden kann.
Weil das Stipendium nicht ausreicht, muss Irina zudem nebenberuflich arbeiten, was sich negativ auf die Stipendienhöhe und den Studienerfolg auswirken könnte. Doch nicht nur eine Erhöhung der Stipendienrate, der Beihilfenhöhe sowie der Altersgrenze ist notwendig, wenn „Öffnung“ und „Durchlässigkeit“ keine Schlagworte bleiben sollen.

Echte Willkommenskultur gefragt

Entgegen der Kritik von AK und ÖH wurde gerade erst das „Flickwerk“ (AK) der Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP) bis 2021 verlängert sowie zusätzlich ausgedehnt. Die STEOP, also ein verpflichtender Kanon von Prüfungen, der in einem kurzen Zeitabschnitt zu absolvieren ist, soll nun für fast alle Studien gelten. Eine entsprechende „Willkommenskultur“ für Menschen, die sich – wie beschrieben – zunächst schwerer beim „Studieneingang“ tun und dann vielleicht auch etwas mehr Zeit für die erste „Orientierung“ im Universitätsdschungel brauchen, sieht jedenfalls anders aus.
Neben mehr Geld und weniger Eingangshürden benötigen Studierende aus bildungsbenachteiligten Schichten auch Netzwerke. Vor allem in der ersten Studienphase können entsprechende Unterstützungsangebote dazu beitragen, eventuell fehlende familiäre Ressourcen auszugleichen. Versuche, hier deutsche Initiativen wie „Arbeiterkind.de“ auf Österreich zu übertragen, scheinen aber vorerst ins Stocken geraten zu sein. In Graz existiert allerdings seit 2013 ein spezielles Programm: „Eigens ausgebildete MentorInnen, die selbst aus ‚bildungsfernen‘ Schichten kommen, stehen First Generation Students bei der Auswahl des Studiums zur Seite und beraten sie in den ersten beiden Semestern zu allen Fragen rund ums Studium und mögliche Unterstützungen.“ Bemerkenswert: Laut Uni Graz kommen 52 Prozent ihrer Studierenden aus „bildungsfernen“, also tatsächlich benachteiligten Schichten – deutlich mehr als der österreichweite Schnitt. Eigentlich schade, dass es so etwas nicht an allen österreichischen Universitäten gibt, immerhin könnten alle Studierenden der ersten Generation eine solche Unterstützung gut gebrauchen.

Linktipp

Projekt Uni Graz:
tinyurl.com/o52on74

Literatur

Magazin erwachsenenbildung.at Nr. 21, Februar 2014:
Das Versprechen sozialer Durchlässigkeit. Zweiter Bildungsweg und Abschlussorientierte Erwachsenenbildung:
Abrufbar unter
erwachsenenbildung.at/magazin/archiv.php

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor john.evers@vhs.at 
oder die Redaktion aw@oegb.at

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum