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Symbolbild einer Waage

Im Kollektiv stärker

Schwerpunkt Kollektivverträge

Kollektivverträge sind das zentrale Instrument für die Verteilung der Wertschöpfung. Gäbe es sie nicht, würde die Ungleichheit in Österreich kräftig steigen.

Ein erfolgreiches Projekt ist abgeschlossen, die positiven Erinnerungen daran sind beim Chef oder der Chefin noch ganz frisch: Dies sei der beste Zeitpunkt, um Verhandlungen für eine Lohnerhöhung anzugehen. Um der eigenen Forderung mehr Gewicht zu geben, sei es sinnvoll, vorher zu recherchieren, was die eigene Leistung im Branchenvergleich wert ist, einige Statistiken zu studieren und ordentlich Selbstvertrauen zu tanken.
 
Rat und Realität
So oder so ähnlich lauten die Ratschläge in vielen Leitfäden für eine erfolgreiche Lohnverhandlung. Dabei löst der Gedanke, die Gehaltsvorstellungen in einem jährlichen Zwiegespräch bei den Vorgesetzten durchsetzen zu müssen, bei vielen ArbeitnehmerInnen Unbehagen aus: Was passiert, wenn die gewünschte Lohnerhöhung trotz steigender Miete nicht genehmigt wird? Was, wenn es vom Management heißt, dass der Gürtel enger geschnallt werden muss? Was, wenn die Lage am Arbeitsmarkt einen Jobwechsel bei ausbleibender Lohnerhöhung unrealistisch macht? Einzelne ArbeitnehmerInnen haben im Personalbüro kaum Verhandlungsmacht.
Ein breites Kollektivvertragssystem hingegen sorgt für einen stärkeren Interessenausgleich, weil die Forderungen der ArbeitnehmerInnen gebündelt vorgebracht werden. Das hat den Vorteil, dass die Lohnentwicklung nicht vom individuellen Selbstvertrauen und Verhandlungsgeschick abhängt, sondern von erfahrenen und informierten ExpertInnen der Gewerkschaften auf Branchenebene ausgehandelt wird. Zudem können kollektive Maßnahmen zur Interessendurchsetzung wie etwa Betriebsversammlungen oder Arbeitsniederlegungen den eigenen Forderungen mehr Druck verleihen. Nicht zuletzt dient das Kollektivvertragssystem somit auch der Solidarität, da auch schwächere VerhandlungspartnerInnen vom gemeinsamen Vorgehen profitieren. Außerdem gilt das Verhandlungsergebnis auch für ArbeitnehmerInnen, die nicht Mitglied  der Gewerkschaft sind.
Der Erfolg der Kollektivvertragsverhandlungen kann am Tariflohnindex der Statistik Austria abgelesen werden. Dieser Index misst die Veränderungen von Mindestgehältern in den verschiedenen Lohngruppen quer über alle Kollektivverträge. Diese Veränderungen liegen in den letzten drei Jahrzehnten nahezu immer klar über der Inflationsrate. Seit 2006 ist der Tariflohnindex real um 5,9 Prozent gestiegen.

Erschwerte Rahmenbedingungen
Rahmenbedingungen, die individuelle Lohnverhandlungen untermauern oder schwächen können, spielen natürlich auch bei der kollektiven Verhandlung eine Rolle. Eine hohe Arbeitslosigkeit und eine schwierige Wirtschaftslage erschweren die Position für die Gewerkschaften. Gerade deshalb war die Verteilung der Wertschöpfung zwischen Arbeit und Kapital zuletzt immer öfter von harten Auseinandersetzungen geprägt. Die Verteilungsspielräume im blühenden Nachkriegskapitalismus waren spürbar größer und die sozialpartnerschaftlich ausverhandelten Anteile an der Wertschöpfung waren meist für beide Seiten zufriedenstellend.
Mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik, dem steigenden Druck von Finanzakteuren und der zunehmenden Krisenhaftigkeit des Kapitalismus sind diese Spielräume aber scheinbar kleiner geworden. Während viele große Unternehmen sprudelnde Gewinne verzeichnen und exorbitante Dividenden und Managergehälter zahlen, beklagen sie in Lohnverhandlungen die schwache Wirtschaftslage.

Steigende Gewinne
Die härteren Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital spiegeln sich auch in den Daten wider. Die Lohnquote als Anteil der ArbeitnehmerInnenentgelte am Volkseinkommen war in der Nachkriegsära bis Mitte der 1980er-Jahre abgesehen von zyklischen Schwankungen relativ konstant. Vor allem ab den 1990er-Jahren bis zur Finanzkrise 2008 ging die Lohnquote aber stark zurück. Der Gewinneinbruch in der Krise trug zwar zu einer kleinen Gegenbewegung bei. Doch während sich die Gewinne seither wieder erholt bzw. zu neuen Höhen aufgeschwungen haben, verharrt die Lohnquote auf einem deutlich niedrigeren Niveau als noch vor 40 Jahren. Zu einem guten Teil lässt sich dieser Rückgang auf die steigende Zahl an atypischen Arbeitsverhältnissen zurückführen: Teilzeit, geringfügige und unterjährige Beschäftigung, Befristung, Leih- und Zeitarbeit. Gerade für diese Beschäftigungsverhältnisse gestaltet sich die gewerkschaftliche Organisierung sehr schwierig.
Nichtsdestotrotz erfüllen die Kollektivverträge hier eine wichtige Funktion: Einerseits setzen sich die Gewerkschaften dafür ein, eine weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors zu verhindern, andererseits kämpfen sie gegen Scheinselbstständigkeit. Deshalb ist dieser Sektor in Österreich trotz steigender prekärer Beschäftigung mit knapp über zehn Prozent vergleichsweise klein. In Deutschland etwa fallen 22 bis 24 Prozent der Erwerbstätigen in diese Gruppe.

Internationales Vorzeigemodell
Inzwischen bestätigen auch internationale Institutionen, dass das Kollektivvertragssystem dazu beiträgt, einen Anstieg der Einkommensungleichheit zu vermeiden, oder anders ausgedrückt: zu mehr Einkommensgerechtigkeit beiträgt. Im Frühling 2015 sorgte der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einer Studie für Aufsehen, wonach die Aushöhlung von Arbeitsmarktinstitutionen in den letzten drei Jahrzehnten zu einer höheren Einkommensungleichheit geführt habe.
Das Zurückdrängen von Gewerkschaften und Kollektivvertragssystemen habe in den Industrienationen zu einer Polarisierung der Einkommen beigetragen. Auch die OECD hat 2015 in einer Studie bestätigt, dass eine höhere Kollektivvertragsdeckung in Europa mit einer geringeren Einkommenskonzentration einhergeht. Das österreichische System der kollektiven Lohnverhandlung mit seiner fast vollständigen Abdeckung des privaten Sektors gilt somit als internationales Vorzeigemodell für eine fairere Verteilung.
Indessen ist in den Institutionen der Europäischen Union derzeit keine einheitliche Sichtweise auf Kollektivvertragssysteme zu erkennen. Zwar zählt die Europäische Kommission in einer Studie die „Länder mit starken Institutionen des Sozialdialogs zu den leistungsstärksten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaften der EU“. Zugleich aber mehren sich die neoliberalen Einwürfe, die kollektive Lohnverhandlungssysteme als Problem für die Wettbewerbsfähigkeit sehen. Dementsprechend wird eine „Reduzierung der Tarifbindung“ gefordert, also eine Dezentralisierung der Lohnverhandlungen auf die Betriebsebene und eine Aufhebung von Allgemeinverbindlichkeitsregeln.

Stärke durch Organisation
Nicht nur in Europa, sondern auch in Österreich werden die Kollektivverträge immer wieder angegriffen und eine Verlagerung von Lohn- und insbesondere Arbeitszeitverhandlungen auf die betriebliche Ebene verlangt (siehe auch „Die Spaltung der Lohnabhängigen“). Die Industriellenvereinigung forderte jüngst eine „Tariföffnungsklausel“ nach deutschem Vorbild, um Branchenvereinbarungen auf betrieblicher Ebene unterlaufen zu können.
Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass das österreichische System eine soziale Errungenschaft ist, die es zu verteidigen gilt. Die Folgen der systematischen Angriffe auf die Kollektivverträge treten in anderen europäischen Ländern zutage: massive Einkommensverluste für breite Teile der Bevölkerung, radikale Arbeitszeitflexibilisierung, Abbau vieler Schutzmaßnahmen für ArbeitnehmerInnen sowie eine drastische Schwächung der Gewerkschaften.
Angesichts der existierenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen reicht es nicht aus, das Kollektivvertragssystem zu verteidigen. Das Ziel muss eine Stärkung der Verhandlungsmacht von ArbeitnehmerInnen in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen sein. Die Krise hat viele Herausforderungen im Bereich der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit zusätzlich verschärft. Eine notwendige Umverteilung in diesen Bereichen kann nur demokratisch und solidarisch erfolgreich sein und benötigt eine gemeinsame Organisation in den Gewerkschaften.

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor Matthias.Schnetzer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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