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Abgehängt und verhöhnt

Schwerpunkt Bedürftigkeit

Die Arbeitsmarkt-, die Bildungs- und letztlich auch die Politik-Fernen: Personen, die mit solchen Etiketten versehen werden, sind beliebte Sündenböcke

Der Journalist Christian Ortner („Zentralorgan des Neoliberalismus“) warnt polemisch vor der angeblichen „Prolokratie“, in der uns die „bildungsfernen, aber grundsicherungsaffinen Schichten“ – wie Ortner es ausdrückt – „demokratisch in die Pleite“ führen.
Aber auch von ganz anderer Seite sind durchaus ähnliche Töne zu hören. Autorin Christine Nöstlinger hält FPÖ-WählerInnen einfach für „denkfaul“ und „ungebildet“. Sänger Farin Urlaub („Die Ärzte“) stößt in dieselbe Richtung: „Solange es Leute gibt, die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben, wird es auch Rassismus geben.“ Und Christa Zöchling („profil“) beschreibt FPÖ-WählerInnen pauschalisierend als sozial und kulturell klar umrissenen Menschenschlag: „Es sind die hässlichsten Menschen Wiens, ungestalte, unförmige Leiber, strohige, stumpfe Haare, ohne Schnitt, ungepflegt, Glitzer-T-Shirts, die spannen, Trainingshosen, Leggins. Pickelhaut. Schlechte Zähne, ausgeleierte Schuhe.“

Politik mit problematischen Bildern
Doch nicht der mediale Diskurs, sondern auch die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik wandelt zuweilen auf ähnlichen Pfaden. Die „arbeitsmarkt- bzw. bildungsfernen“ Schichten sind in zahllosen Strategiepapieren genau jene Zielgruppen, welche durch verschiedene Maßnahmen des Staates „aktiviert“ werden sollen. Doch wer ist damit eigentlich gemeint? Als Bildungsferne werden in der Regel Personen bezeichnet, die keinen oder nur einen niedrigen Formalabschluss besitzen und daher besonders schwer einen Arbeitsplatz finden. Das Bund-Länder-Programm „Initiative Erwachsenenbildung“ schätzt, dass insgesamt rund eine halbe Million nicht mehr schulpflichtige Menschen entsprechenden Basisbildungsbedarf haben oder einen Pflichtschulabschluss benötigen.
Als „arbeitsmarktfern“ gilt in Österreich bereits jemand, der im letzten Jahr maximal zwei Monate beschäftigt und zumindest vier Monate beim AMS als Arbeit suchend vorgemerkt war (Ausnahme WiedereinsteigerInnen). Genau solche Personengruppen möchten auch österreichische PolitikerInnen viel stärker in die Pflicht nehmen.

Stärker „fordern“ statt „fördern“?
Bereits in seinem ersten Arbeitsjahr als Finanzminister meinte Hans Jörg Schelling, dass es in Österreich nur deshalb schwer wäre, „Arbeitskräfte zu finden, weil das Arbeitslosengeld fast genauso hoch ist wie das Arbeitseinkommen. In Deutschland gibt es mit Hartz IV ein Modell, das offenbar besser funktioniert.“
„Fördern und fordern“ lautete der Leitgedanke, als die (deutsche) Bundesregierung 2005 Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu dem Hartz-IV-Paket schnürte. Unter Hartz IV wird die Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Menschen, die länger arbeitslos sind, zum Arbeitslosengeld II zusammengeführt, das zum Teil auf einem Niveau unterhalb der Sozialhilfe lag. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bilanziert dazu: „Gefördert wird kaum, gefordert wird viel. Wer Arbeitslosengeld II bezieht, kann nämlich in jeden Job vermittelt werden, egal, ob er untertariflich bezahlt wird oder ob es nur ein Mini- oder ‚Ein-Euro-Job‘ ist. (...) ver.di setzt sich daher für eine sofortige Abschaffung der ‚Ein-Euro-Jobs‘ ein. Denn diese Jobs sind entwürdigend. Erwerbslose werden hier gezwungen, Jobs auszuüben, für die sie vielfach überqualifiziert sind. ‚Ein-Euro-Jobs‘ vernichten außerdem reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Und: Auf diese Weise werden prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland hoffähig gemacht.“
Die Hans-Böckler-Stiftung kritisiert diese allgemeine Tendenz, nämlich dass auch in Europa die schon aus den USA bekannten Zusammenhänge von arbeitsfördernden und repressiven Vorgehensweisen im Sinne eines „strafenden Staats“ aufgegriffen werden . Man fordert also soziale Inklusion durch Zwang und Autorität. All diese Vorschläge firmieren unter dem Schlagwort  „aktivierender Sozialstaat“.

Zwang, strenge Kontrollen, Strafen
Aber auch der Bildungsbereich ist hier inzwischen betroffen. Das alte Prinzip der Freiwilligkeit in der Erwachsenenbildung wird in der Praxis immer häufiger durch die Einbindung der entsprechenden Institutionen in sogenannte Integrations- bzw. Qualifizierungsmaßnahmen durchbrochen. Personen, die in diesem Kontext Sprachkurse absolvieren oder Schulabschlüsse nachholen, unterliegen strengen Kontrollen bzw. Sanktionsmöglichkeiten. Aber beispielsweise auch die Möglichkeit, Verwaltungsstrafen gegenüber Betroffenen bzw. deren Familien bei Nichterfüllung der neuen Ausbildungspflicht zu verhängen, geht in diese Richtung.

Kontraproduktiv
Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist demgegenüber festzuhalten, dass die entsprechenden Maßnahmen nicht nur unsozial gegenüber den Betroffen sind. Sie bewirken in Wahrheit oft das Gegenteil von dem, was ihre ProtagonistInnen behaupten. Studien belegen etwa, dass fast die Hälfte all jener, die aus Hartz IV heraus eine Arbeit aufnehmen, parallel zum neuen Job zusätzlich Hartz-IV-Leistungen beantragt.
Hartz IV ist somit ein System, das Menschen erst in die Abhängigkeit bringt und damit kein Sprungbrett ist, sondern vielmehr ein tiefer Graben, aus dem Betroffene nur schwer wieder herauskommen. In eine ähnliche Richtung gehen auch jene Befürchtungen, die ÖGB und AK zu Recht gegenüber den Geldstrafen bei Verletzung der Ausbildungspflicht formulierten: „Die Sanktionierung der Eltern ist nicht zielführend. Diese würde vor allem jene Eltern treffen, die bereits sozial benachteiligt sind, und die Jugendlichen mit einer Bestrafung zusätzlich als Ausbildungsverweigerer stigmatisieren. Daher erscheinen Sanktionen im gewünschten Sinn weder wirksam noch sinnvoll (...).“
In einem viel beachteten Essay rechnet der Schweizer Pädagoge Roland Reichenbach mit dem Begriff „Bildungsferne“ ab. Er kritisiert nicht nur die Verengung und Überfrachtung eines Diskurses, in dem Bildung quasi als Problemlöser für alles Mögliche verkauft wird.
Besonders problematisch ist für ihn, wenn die Verantwortung für Systemfehler auf die vom System Abgehängten übergewälzt wird. „Aber welches Bildungsverständnis muss im Bildungsforscherkopf vorherrschen, damit er davon ausgehen kann, ganze Bevölkerungsgruppen könnten der Bildung fernliegen?“, meint Reichenbach. Und an anderer Stelle bringt er die Arroganz dieses Zugangs noch klarer auf den Punkt: Man sagt „bildungsfern“ und denkt „ungebildet“.

Perfide, bequem und falsch
Analog könnte man demnach auch interpretieren: Man sagt „arbeitsmarktfern“ und meint „arbeitsscheu“. Doch die Betroffenen zu beschimpfen ist nicht nur perfide und bequem, sondern vor allem auch falsch.
Eltern und Kinder, die sich im Dschungel unseres Bildungssystems nicht zurechtfinden, sind deshalb nämlich nicht bildungsfern. Und wie fern ist der Arbeitsmarkt von Menschen, die mit 50 zum alten Eisen gerechnet werden? Und wie realitätsfern sind Intellektuelle, wenn sie das wachsende Unbehagen gegenüber den Eliten als „Politik-Ferne“ analysieren? Oder Populismus und Rechtsextremismus auf ein soziokulturelles „Unterschichtsphänomen“ verkürzen?

Was sollte getan werden?
Es gibt viel zu wenige Vorschläge und Ansätze, die Ausgegrenzten wieder ins Boot zu holen. Besonders wichtig ist dabei, dass sich das Bildungsangebot an die Bedürfnisse der Menschen anpasst. Die Bildungschancen sind ungerecht verteilt. Nur 21 Prozent der Kinder (OECD 2015) erwerben einen höheren Abschluss als die Eltern – der Bildungsgrad wird also vererbt. Nicht die Talente zählen, sondern Bildung und Einkommen der Eltern. Auch sollte es mehr Möglichkeiten geben, Bildung und Ausbildung im Erwachsenenalter nachzuholen.
Daneben wird es für AK oder ÖGB wichtig sein, die Interessenpolitik auch für besonders benachteiligte Zielgruppen verständlich zu machen. Das bedeutet nicht nur, bewusst manchmal eine Sprache zu suchen und zu lernen, die die Zielgruppe versteht. Sondern auch ein besonderes Augenmerk auf die Organisation und Interessenvertretung jener Gruppen zu haben, die besonders wenig Rückhalt in der Gesellschaft und ihren sonstigen Institutionen haben.

Linktipp:
Roland Reichenbach, „Über Bildungsferne“, 2015. Downzuloaden unter:
tinyurl.com/zh3r3h2
 
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Autor john.evers@vhs.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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