Jonathan Quiro ist 21 Jahre alt, vor gut zwei Jahren kam er nach Ruiru im Umland von Nairobi. Seine Heimat ist eine Tagesreise entfernt, nach dem College hat er dort keine Arbeit finden können. Nun schneidet er Rosen in einer modernen Farm und verdient einschließlich Wohngeld knapp 4000 Shilling, umgerechnet 40 Euro im Monat. Das entspricht dem Tarifvertrag und liegt über dem gesetzlichem Mindestlohn. »Meine Familie erwartet, dass ich ihnen regelmäßig Geld überweise. Ich bin der einzige mit einem festen Einkommen. Doch es reicht einfach nicht. Ich wohne mit meiner Frau und dem kleinen Kind in einem Zimmer, ohne Strom und Wasser. Dafür zahlen wir schon 1000 Shilling, dazu kommen Ausgaben für Essen, Kleidung.« Der Gewerkschaftsbund COTU hat errechnet, dass eine vierköpfige Familie zehn Monatslöhne benötigt, um die Grundbedürfnisse befriedigen zu können.
Zwei Tageslöhne für Kinobesuch
Konsequenzen haben Kenias Gewerkschafter hieraus kaum gezogen. Das Land ist wichtiger Lieferant für Blumen und Gemüse auf dem Weltmarkt, der Gartenbausektor expandierte im vergangenen Jahr um 17 Prozent, doch die Löhne bleiben stabil niedrig. Nach einem Seminar mit Plantagenarbeitern sitze ich abends im Kino des Sarit Centers von Nairobi. 300 Shilling kostet der Eintritt - mehr als zwei Tageslöhne von Jonathan Quiro. Nicht nur dass die Löhne keinen Kinobesuch zulassen, sie gestatten auch keine Grundbedürfnisbefriedigung. Auf dem Seminar habe ich gesehen, wie sich die Kolleginnen und Kollegen die Teller bis zum Anschlag füllten. So viel und so reichhaltige Nahrung kommt bei ihnen offenbar nie auf den Tisch. Hungerlöhne in der Wachstumsbranche.
Historisch sind Kenias Gewerkschaften eng mit der Unabhängigkeitsbewegung verbunden und haben lange klassische Arbeiterinteressen den nationalen untergeordnet. »Privatkriege zwischen Arbeit und Management können in armen Entwicklungsländern nicht erlaubt werden. Die Kosten eines Streiks mögen für Arbeit und Management zu tragen sein, aber die sozialen Kosten sind untragbar«, sagte Tom Mboya, der erste bekannte Gewerkschaftsführer des seit 1963 unabhängigen Kenia, der Minister unter Kenyatta wurde. Die Regierungspartei KANU erwarb sich direkten Zugang auf Entscheidungen in der Gewerkschaftsbewegung, der COTU-Präsident musste von ihr bestätigt werden. Unter Kenyatta und Arap Moi entwickelte sich die -Regierungspartei zum alles entscheidenden Faktor für Grundsatzentscheidungen oder Postenvergabe - auch jenseits des direkten Regierungsapparats. Das reichte von der Gewerkschaft über die nationale Frauenvereinigung bis zum Fußballverband.
Korruption
An diesen Strukturen hat sich bis heute wenig geändert. Die KANU wurde abgewählt, aber fast alle hohen Regierungsbeamten blieben im Amt und die klientelistischen Entscheidungsstrukturen in Kraft. Kibaki hat den Kampf gegen die Korruption als Priorität eingestuft. Zunächst wurde die Polizei besser bezahlt und in deren Apparat gegen die üblichen Geldforderungen bei jeder Verkehrskontrolle vorgegangen. Das brachte spürbare Erleichterungen im Alltag. Doch die großen Fische im Korruptionssumpf wurden nicht bestraft. Berichte über vorteilhafte Landverkäufe gigantischen Ausmaßes seit der Ära Kenyatta zirkulieren, werden aber nicht weiter verfolgt. Die Lehrergewerkschaft und Krankenhausangestellte beklagen sich öffentlich, dass Arbeitsplätze nicht auf Grundlage der Qualifikation, sondern der Protektion vergeben werden.
»Die Korruption ist in vielen Bereichen noch schlimmer geworden«, erzählt mir eine Universitätsdozentin. »Früher nahmen die Beamten 10 Prozent, jetzt sind es 30 Prozent auf den Geschäftswert. Früher wussten die Beamten, dass sie ewig im Amt bleiben würden, heute sind sie nicht sicher, ob sie bei einer Abwahl der Regierung nicht ihren Job verlieren, da wollen sie sich vorab noch sanieren.«
COTU-Generalsekretär Francis Atwoli ist als KANU-Mann auf diesen Führungsposten gekommen. Nun muss er sich mit der ehemaligen Opposition arrangieren. Da scheinen ihm massive Arbeitskämpfe kaum angesagt. Doch die Arbeiterinnen und Arbeiter nehmen zunehmend selbst ihre Rechte in die Hand. Interessant ist die Entwicklung in den Exportproduktionszonen, wo internationale Konzerne wie GAP und Walmart kostengünstig Kleidung produzieren lassen. Wir treffen uns mit einer Gruppe gewerkschaftlich organisierter Frauen in Athi River, eine knappe Stunde außerhalb Nairobis.
Streiks in den Weltmarktfabriken
»Sie haben nur unverheiratete Frauen zwischen 18 und 25 Jahren eingestellt. Sie dachten, die wären leichter auszubeuten«, beantwortet Nancy lachend meine Frage, ob denn keine Männer kämen. Diese gibt es in den Textilfabriken in Athi River fast nur als Aufseher, meist asiatischer Herkunft. Die hiermit verbundenen rassistischen und sexistischen Übergriffe haben - neben den »normalen« Ausbeutungsstrukturen - maßgeblich zu dem großen Streik vom Februar 2003 beigetragen. Überstunden wurden bis -dahin nie gezahlt, oft kamen die jungen Frauen erst abends um zehn aus der -Fabrik, Mutterschaftsurlaub war unbekannt.
Präsident Kibaki hatte die Arbeiter nach dem Amtsantritt zu mehr Selbstbewusstsein ermuntert und auf ihre Rechte hingewiesen - auch in den Exportzonen, die unter der Regierung Moi quasi rechtsfreier Raum waren. Zunächst brachen Streiks in der Freihandelszone von Nairobi aus, dann schwappte die Bewegung nach Mombasa und Athi River über. »Wir hatten uns in kleinen Gruppen heimlich getroffen, einige Studenten aus Nairobi haben uns geholfen. Du hättest die Überraschung bei den Wachleuten und Managern sehen sollen, als am 29. Februar 2003 fast alle 25.000 Beschäftigten aus den Fabriken auf die Straße zogen«, berichtet Nancy mit leuchtenden Augen. COTU hatte zunächst sehr zurückhaltend auf die Streikwelle reagiert, doch die Textilarbeitergewerkschaft TTWU ergriff die Gunst der Stunde, zumal ihre Frauensekretärin die erste Gewerkschaft bereits 1997 in Athi River aufgebaut hatte. Schnell schlossen sich fast alle Arbeiterinnen der Gewerkschaft an und die TTWU konnte einen ersten Tarifvertrag für die Textilbetriebe in der Exporthandelszone abschließen.
»Der Tarifvertrag hat uns relevante Verbesserungen ermöglicht. Wir haben nun ordentliche Verträge und damit alle gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen zu Überstundenzahlung, Mutterschutz und Urlaub. Der Mindestlohn von 2480 Shilling wurde auf 3999 zuzüglich 750 Shilling Wohngeld erhöht,« erläutert eine der jüngeren Kolleginnen. »Das ist noch nicht genug, wir müssen uns meist mit zwei oder drei Frauen ein Zimmer teilen. Aktuell diskutieren wir mit den Kolleginnen im Betrieb einen Tarifvertrag fürs kommende Jahr. Wir müssen dabei einbeziehen, dass einige Betriebe wirtschaftlich sehr viel besser dastehen als andere.«
Neue Frage für Gewerkschaften
Einen ähnlich guten Tarifvertrag konnte die mächtige Plantagenarbeitergewerkschaft KPAWU - mit 120.000 Mitgliedern eine der größten ganz Afrikas - nur bei dem Ananasproduzenten Del Monte abschließen, worauf mich ihr stellvertretender Generalsekretär Francis Waweru stolz hinweist. Er vergisst dabei zu erwähnen, dass dieser Tarifvertrag erst zustande kam, nachdem Menschenrechtsgruppen eine internationale Kampagne gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei dem Fruchtmulti gestartet hatten.
Mit neuen Allianzen und neuen Themen tut sich Kenias Gewerkschaftsbewegung schwer. »Frauenfragen und die Einbettung Kenias in die globalisierte Weltwirtschaft haben in der Politik der Gewerkschaften noch viel zu wenig Widerhall gefunden. Damit entgehen ihr wichtige Chancen«, bemängelt Kathini Maloba. Die ehemalige Afrika-Koordinatorin der internationalen Landarbeitergewerkschaft IUF leitet heute die Frauenorganisation KEWWO und unterhält Netzwerke mit Organisationen in Abnahme-ländern kenianischer Waren wie auch im afrikanischen Umfeld. »Die Konsu-menten fordern zunehmend faire Arbeitsbedingungen, die Arbeiterinnen in den Blumenplantagen oder Textilfabriken auch. Wenn sich unsere Gewerkschaften stärker dieser Allianzen bedienen wür--den, könnten die wirtschaftliche Erfolge Kenias auch stärkere soziale Früchte -tragen.«
]]>Wenn man über die Ethik des Wirt-schaftens - und alles Wirtschaften bedeutet ja Konsum - nachdenkt, verschränkt man zwangsläufig Ökonomie und Reflexion über Gesellschaft. Wenn Ökonomen mit Philosophen diskutieren, vermutet man auf den ersten Blick Chaos oder zumindest gegenseitiges Missverstehen. Das blieb hier weitgehend aus: Man kann noch miteinander reden, das ist die erste positive Bilanz. Und man kann auch weitgehend kontroversielle Positionen zur Kenntnis nehmen, das ist die zweite positive Bilanz.
Reflexive Tagungen wie diese, und das ist nun in Hinblick auf allfällige Lesererwartungen zu sagen, haben meist kein eindeutiges Ergebnis, etwa im Sinne von »dem Statuskonsum ist von nun an der allgemeine Kampf angesagt«. Dies könnten Ergebnisse von politischen oder sehr themenfokussierten Tagungen sein.
Eines aber ist klar geworden: Es gibt eine perspektivische Vielfalt, wie an den »Konsum«, also an die kontinuierliche Beschaffung der Lebens-Mittel, welche uns in den modernen Gesellschaften aufgezwungen wurde, heranzugehen ist. Und mehrheitlich wird Konsum doch recht kritisch gesehen. Es ergäbe wenig Sinn, hier alles Angesprochene längsschnittartig aufzusummieren, vielmehr geht es meiner Meinung nach um das Herausgreifen einiger relevanter Positionen.
Ein Eckpunkt wurde beispielsweise von Adela Cortina (Universität Valencia) markiert, die gesellschaftlich zwingende Ziele von individuellem Konsum ansprach, welche sich auf persönliche Autonomie, Gerechtigkeit, Mitverantwortung und subjektive Glücklichkeit zu richten hätten. Und dies wären Sachverhalte, die vor den Kaufakten zu stehen hätten.
Kranke Wirklichkeit
Passend dazu beschrieb Matthias Kettner die Funktion von Werbung und Marketing, die dazu dient, die Souveränität des Konsumenten scheinbar zu stärken (indem sie ihn zum Konsum »verurteilt«), diese jedoch gleichzeitig bricht, indem sie ihn auf eine Marke fixiert. Insgesamt schwächt die zeitgenössische Konsumismus-Kultur die Urteilskraft des Verbrauchers ins Marginale.
Einen zweiten Eckpunkt schärfte der emeritierte Klaus-Michael Meyer-Abich (Universität Essen) am Beispiel des Medizin-Konsums. Die moderne (unhinterfragte) Inanspruchnahme, aber auch das Angebot von Gesundheitsdienstleistungen geht nur an die Oberflächenphänomene, nicht jedoch an saubere Problemlösungen. Denn, so eine von ihm erwähnte alte medizinische Faustregel, die Hälfte aller Kranken benötigt gar keine medizinische Leistung, sondern hat andere (soziale, psychische) Probleme, dem nächsten Viertel der Kranken kann gar nicht medizinisch geholfen werden, weil es noch keine Lösungen für ihre Krankheiten gibt, und das übrigbleibende Viertel bekommt die entsprechende Leistung. Eine dünne Bilanz. Ganz prinzipiell ist damit das Gesundheitswesen der modernen Gesellschaft ein Krankheitswesen, mit dem übrigens keiner der Beteiligten zufrieden ist. Einen dritten Eckpunkt konturierte Lucia Reisch (Universität Hohenheim), die sich auf Imagegüter und auf Statusgüter fokussierte, dabei (zwar nicht explizit) darauf hinwies, dass diese prinzipiell sozial unverträglich sind.
Der vierte Eckpunkt wurde von Birger Priddat (Zeppelin University) markiert, der seine Duplextheorie der Güter darstellte. Das heißt, überspitzt dargestellt, die Ware ist nur mehr im Zusammenhang mit ihrer sozialen Bedeutung zu sehen. Moderne Konsumgüterunternehmen produzieren mit ihrem Marketing und ihrer Werbung »Bedeutungswelten«, und diese sind es, die der Verbraucher in erster Linie kauft, das Konsumgut bleibt demgegenüber sekundär. Es geht um die Interpretation, die der Käufer aus dem Konsum zieht, und von der er glaubt, dass sie bei seinen Anderen, seinen Mitmenschen, seinen Peergroups, dieselbe ist.
Werbung, Marketing und Kaufsucht
Konsumgesellschaft zieht das Phänomen Kaufsucht mit sich mit und ergänzt dabei die Suchtpalette der Individuen, die in einer disaströsen Gesellschaft existieren (müssen). Werbung wirkt als Rechtfertigungsmetapher für Sucht oder Kaufleidenschaft, so Norbert Bolz (TU Berlin). PR-Aktivitäten von Unternehmen wären als sozial verantwortungsvolles Handeln - meint so Martin Belz (TU München) - zu verstehen oder, so denkt man sich, eher misszuverstehen.
Nun, Tatsache ist, für Werbung und Marketing zahlt jeder deutsche Haushalt rund 3000 Euro im Jahr, das sind so ungefähr die Marketingausgaben, die in den Konsumgüterpreisen mit drinnen stecken. Also Kosten für virtuelle Dinge, die mit Werbung produziert werden: Images, Stimmungen, virtuelle Moral, fiktive Normen. Für Verbraucherschutz gibt der deutsche Staat übrigens nicht einmal zwei Euro pro Haushalt und Jahr aus - das sind asymmetrische Verhältnisse, die auch bedächtige Philosophen und Ökonomen zum Staunen bringen können.
In meinem Beitrag betonte ich die Wichtigkeit von Verbraucherbildung: sie gibt es in der Schule praktisch nicht, obschon Kinder und Jugendliche von Marketingaktivitäten fest umzingelt sind. Nur mit einem guten, auch kritischen Verbraucherwissen aber wird es gelingen, den Konsum nachhaltiger zu machen und auch viele Konsumfallen, die bis in die Überschuldung führen können, zu vermeiden.
]]>Amnesty International (ai) macht die internationale UNO-, bzw. NATO-Präsenz für den massiven Anstieg verbrecherischer Ausbeutung von Frauen und Kindern im Kosovo mitverantwortlich. 1999 wurden an die 40.000 Soldaten der -NATO-Friedenstruppe (KFOR) - darunter 500 aus Österreich - im Kosovo stationiert. Hunderte Kräfte der UN-Mission im Kosovo (UNMIK) und das Personal von über 250 Nichtregierungsorganisationen kamen ins »kosovo polje«, das Amselfeld, das mit »metohija« (Metochien), seit Juni desselben Jahres völkerrechtlich zum Staat »Serbien und Montenegro« gehört.
»Binnen kurzem wurde Kosovo in Europa zu einem der Hauptzielländer für Frauen, die gehandelt und zur Prostitution gezwungen werden. Ein lokaler Kleinmarkt für Prostitution wurde zu einer Großindustrie, die sich auf den vorrangig durch kriminelle Netzwerke organisierten Menschenhandel stützt«, heißt es in dem Bericht. Ihm widmet auch die ai-Arbeitsgruppe verfolgter Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen vermehrte Aufmerksamkeit. Mit gewerkschaftlicher Organisation haben die Frauen, die aus den ärmsten Ländern Europas kommen - vor allem Moldawien, Rumänien, Bulgarien und der Ukraine - natürlich nichts zu tun. Ihr Leidensweg, der schon in ihren Heimatländern beginnt, hat aber immer soziale, politische und ökonomische Ursachen. »Auch aus diesem Grund müssen diese massiven Menschenrechtsverletzungen Anliegen der Gewerkschaften sein«, meint Sabine Vogler von der genannten ai-Arbeitsgruppe.
Die meisten dieser Frauen geraten in die Netzwerke des organisierten Menschenhandels, weil sie sich Arbeit im Ausland erhoffen. Rund drei Prozent, so schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM), ist sich von Beginn an bewusst, dass es eine Arbeit als Prostituierte ist. »Sicher wusste ich das«, berichtet eine der Zwangsprostituierten, der die Flucht durch Sprung aus dem Fenster gelungen war: »Ich habe fünf Geschwister, niemand von uns findet zu Hause Arbeit. Aber das habe ich nicht erwartet. Ich dachte, ich würde bezahlt bekommen, mir meine Freier selber aussuchen -können. Ich dachte an normale Pro-s-titution.«
Boom der Bordelle
»Handel? Das hat etwas mit Autos zu tun«, meinte ein anderes Opfer. Autos werden allerdings besser behandelt als Menschen, die zu Ware werden. »Vergewaltigung, Folter und Sklaverei«, mit diesen drei Worten fasst Amnesty die erschütternden Zeugnisse der entrechteten Frauen zusammen.
Die meisten der später gehandelten Frauen wissen auch, dass ihre Reise in eine vermeintlich bessere Zukunft nicht ganz legal ist. »Oft schöpfen sie deshalb keinen Verdacht, wenn sie in versperrten Räumen festgehalten und ihnen sämtliche Personaldokumente weggenommen werden«, berichtet Amnesty International. »Sobald sie sich ihrer Gefangenschaft bewusst werden, ist ein Entkommen kaum möglich. Viele werden mit Drogen ruhiggestellt, andere mit brutalen Drohungen, Schlägen und Vergewaltigung gefügig gemacht.« Viele Frauen werden buchstäblich verkauft, andere werden von den »Besitzern« in Hotels oder Privatwohnungen versteigert. Der Preis für eine Zwangsprostituierte liegt zwischen 50 und 3500 Euro.
Durch die internationalen Friedenstruppen, die mit dem Auftrag gekommen waren, die Ordnung im Kosovo wiederherzustellen, kam es zu einem explosionsartigen Anstieg von Bordellen, Bars und Nachtclubs. Die Zahl der registrierten einschlägigen Etablissements war von 18 (im Jahr 1999) auf über 200 (Ende 2003) gestiegen. Ende 1999 berichtete der UN-Entwicklungsfonds für Frauen (UNIFEM) über die Zunahme organisierter Prostitution im Umfeld der KFOR-Lager. Die meisten Freier waren Mitglieder der internationalen Truppen. Einige Angehörige der internationalen Gemeinschaft, so heißt es im ai-Bericht, waren direkt am Handel mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, beteiligt.
Zwar wurden mittlerweile einige positive Schritte im Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution im Kosovo gesetzt: So kamen die rund 200 Bars und Nachtclubs auf eine »schwarze Liste« und dürfen von UN-Mitarbeitern und Soldaten nicht mehr aufgesucht werden (»Off limits«). Für die betroffenen Frauen ändert das allerdings wenig, denn nur die Herkunft der Freier hat sich geändert. Heute stammen etwa 80 Prozent der Kunden aus der Provinz Kosovo, 20 Prozent gehören zum internationalen Personal, während es 1999 genau umgekehrt war.
Im Jänner 2001 wurde von der UNMIK die Richtlinie 2001/4 erlassen, die Händler und jene, die wissentlich Sex mit gehandelten Frauen haben, zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen soll. Vorgesehen sind Strafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren, bei Missbrauch Minderjähriger zehn Jahre. Bis dato gab es allerdings keine Verurteilung auf dieser Grundlage. Hauptgrund dafür ist die Straflosigkeit für Mitglieder der internationalen Friedenstruppen. Für sie gilt generelle Immunität, die bei Angehörigen der UNMIK nur vom UN-General-sekretär, bei KFOR-Soldaten nur durch die jeweiligen nationalen Oberbefehls-haber aufgehoben werden kann.
Die positiven Schritte lassen laut Amnesty und Opferschutzorganisationen aber mehr als zu wünschen übrig.
Heute, fünf Jahre nach Ankunft der internationalen Friedenstruppen, wurde zwar erkannt, dass es ein Problem gibt, der richtige Ansatz zur Lösung fehlt aber. »Für die einen sind es bloß Prostituierte, für die anderen ›nur‹ Wirtschaftsflüchtlinge. Ihnen ist nicht klar, was eigentlich hier vor sich geht: Nämlich Sklaverei, mitten im 21. Jahrhundert«, meint die ehemalige Frauenministerin Helga Konrad, nunmehr Leiterin der Abteilung Menschenhandel beim Balkanstabilitätspakt der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Erkenntnis, das es sich um Verbrechen handelt, fehle völlig, meint Konrad. »Der Ansatz lautet: Kampf gegen illegale Einwanderung. Es sind Versuche, die Migration zu managen.«
Eine wichtige Rolle spielen die kosovarische Polizei und die UN-Spezialeinheit gegen Frauenhandel und Prostitution, die im November 2000 gegründet worden war. »Manchmal eine allzu wichtige«, kritisiert Konrad. Anstatt Methoden zum Aufdecken der Drahtzieher und Hintermänner anzuwenden, wie es beim Kampf gegen organisierte Kriminalität üblich ist, stürmen Polizisten Bordelle und einschlägige Bars und Lokale. Kriminalisiert werden die Opfer, nicht die Täter und Mittäter. Denn Prostitution ist im Kosovo und Metochien illegal, die betroffenen Frauen werden abgeschoben, ohne weitere Hinweise auf die Männer geben zu können, die aus ihnen rechtlose Objekte gemacht haben.
Eine gesetzliche Grundlage erhoffen sich die Menschenrechtsorganisationen von der neuen Europäischen Konvention gegen Menschenhandel, an deren Entwurf derzeit im Europarat gearbeitet wird. Alle 45 Mitgliedstaaten des Europarates sind vom Handel mit Menschen betroffen, sei es als Herkunfts-, Transit- oder Zielland. Besonders wichtig ist es, die Rechte der Opfer zu schützen, die bisher auf der Strecke bleiben.
1) ai-Bericht vom 6. Mai 2004 über die Situation im Kosovo (Ser-bien und Montenegro): »›Heißt dies etwa, dass wir Rechte haben?‹ Zum Schutz der Menschenrechte von Frauen und Mädchen, die zur Zwangsprostitution in das Kosovo gehandelt werden.« Deutsche Kurzfassung in der Broschüre amnesty info Nr. 3/2004. Vollversion auf Englisch unter www.amnesty.org
]]>Die Logik des Profits und die Unterwerfung vieler Regierungen unter das neo-liberale Diktat, bringen die Gewerkschaften zunehmend der Schmerzgrenze näher.
Strategische Kampagnen, wie sie von den US-Gewerkschaften lanciert wurden, zielen darauf ab, spezifische Schwächen und Verwundbarkeiten eines bestimmten Arbeitgebers gezielt auszunutzen. Mittels Taktiken, die aus allen verfügbaren Informationen über die Situation eines Unternehmens abgeleitet werden, wird versucht, die Mobilisierung und Beteiligung von entschlossenen und kämpferischen Mitgliedern zu maximieren. Die Medienöffentlichkeit wird mobilisiert und damit werden die KonsumentInnen involviert. Allerdings erfordert es auch eine Kultur, in der Klarheit darüber besteht, dass Kampagnen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie Schmerzen verursachen. Kampagnen treffen dort, wo es wehtut, sonst sind sie wirkungslos. Zeitgemäße gewerkschaftliche Kampagnen zielen auf kostbare Dinge wie das Image eines Konzerns. Also auf den Lebensnerv.
Klar, die Härte und Konsequenz, mit der Kampagnen in den USA geführt werden, war in Österreich bislang undenkbar. Bislang. Die Zeiten haben sich geändert und die Schmerzgrenze ist vielerorts längst überschritten.
Was ist eine Kampagne?
Diese Serie soll eine klare, einfache und handlungsorientierte Hilfestellung für engagierte KollegInnen sein.
Es soll diejenigen unterstützen, die bereit sind, den Kampf für Gerechtigkeit, Solidarität und Menschlichkeit auch jenseits des Sitzungssaales zu führen.
Eine Kampagne ist eine Serie von Kommunikationsereignissen, oft auch Aktionen genannt, mit dem Mindestziel, eine Veränderung in den Köpfen der Menschen zu bewirken. Das höhere Ziel ist natürlich, Menschen zu einer konkreten Handlung zu motivieren oder auch gegen den Willen eines politischen Gegners etwas durchzusetzen. Anders formuliert: »Kampagnen sind dramaturgisch angelegte, thematisch begrenzte und zeitlich befristete kommunikative Strategien zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit.«
Ein wesentlicher Teil der Erreichung des Ziels ist, das Ziel auch richtig zu formulieren. Wenn das Ziel nicht klar ist, wird die Wahl der Strategie zu einem Spiel mit dem Zufallsgenerator. Deine Kampagne ist zu wichtig, als dass wir sie dem Zufall überlassen sollten. Das Engagement unserer KollegInnen hat es sich nicht verdient, dass die Lage falsch eingeschätzt wird, oder dass es zufällig mal so und mal so ausgeht.
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Ziel und der Forderung: Das Ziel setzt sich das Kampagnenteam. Die Forderung ist das für die Öffentlichkeit bestimmte Ziel der Kampagne.
Ziel und Forderung
Das Ziel muss so gewählt sein, dass es Menschen motiviert, sich in dieser Kampagne zu engagieren. Engagement ist für vieles, das wir erreichen wollen, das Zauberwort. Ohne Engagement wird es keinen Erfolg geben. Erfolgreiche Menschen sind nicht unbedingt die Intelligentesten oder die Besten, die mit der teuersten Schulausbildung, die mit den besten Noten, die Schnellsten, die Stärksten. Erfolgreiche Menschen sind oft diejenigen, die mit der größten Begeisterung für ein Ziel arbeiten. Entfachst du bei den Menschen diese Begeisterung, die Bereitschaft Aktionen zu setzten, Handlungen zu tätigen, dann ist der Grundstock für den Erfolg deiner Kampagne gelegt.
Es muss uns gelingen, uns mit unserer Kampagne vom »Alltäglichen« abzuheben. Von 1990 bis Ende der Neunzigerjahre hat sich die Zahl der im deutschsprachigen Fernsehen beworbenen Marken von knapp 2000 auf über 5500 fast verdreifacht. Die Zahl der Werbespots hat sich von 300.000 auf 1,5 Millionen verfünffacht. Immer mehr Geld wird ausgegeben, um immer weniger Publikum zu erreichen. Bei jeder PR- oder Werbetagung heißt es: »Die Werbung muss realistischer werden! Die Werbung muss mutiger, echter und ideenreicher werden! Die Werbung muss provokanter, aktueller und humorvoller werden. Die Werbung muss ehrlicher, zielgruppenorientierter, überraschender und lebensnaher werden!« Mit einem Wort, sie muss kreativer werden.
Kreativität ist etwas, was du nicht verordnen kannst. Es liegt an dir, die Voraussetzungen zu schaffen, die Kreativität ermöglichen. Ist der Planungsprozess - so wie ich ihn einleite - kreativitätsfördernd? Ist der Sitzungsort passend? Ist unsere Sitzungskultur unterstützend? Ist mein Kampagnenziel richtig ausgewählt? Ist die Präsentation meiner Idee kreativitäts-animierend?
Die Beantwortung dieser Fragen ist die Voraussetzung für die berühmte Frage: Was tun?
Trau dich!
Lasst uns realistisch bleiben, versuchen wir das Unmögliche!
Ernesto »Che« Guevara
Dass Kampagnen immer »moderner« werden, hat sicher mit der »Amerikanisierung« unserer Politik zu tun. Dieser Trend ist schon seit Jahren bemerkbar. Als sich im September 1998 der Kandidat der SPD, Gerhard Schröder, für seinen Wahlsieg bedankte, war das in zweifacher Hinsicht ein Wendepunkt. Einerseits natürlich das Ende der 16-jährigen Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl und andererseits der Erfolg einer »Amerikanisierung« des Wahlkampfes in Deutschland. Die Medien reagierten damals mit negativen Schlagzeilen. »Die politische Auseinandersetzung wird zur Show« stand dort zu lesen und »... denn es gewinnen die, die den größten Unterhaltungswert bieten«. Wenn man sich die Regeln zur erfolgreichen Kampagne ansieht, kann man zweifelsfrei feststellen: Das Erfolgsrezept dieses »amerikanischen« Wahlkampfes basiert auf den Grundprinzipien einer erfolgreichen Kampagne.
Personalisiert, fernsehtauglich, neue Wirklichkeiten schaffend und erbarmungslos!
In einer Welt, in der
Personalisiere deinen Gegner!
Der ÖGB hat für die Abgeordneten, die für die Einführung der Ambulanzgebühr, die Erhöhung des Pensionsantrittsalters und die Verschlechterung des Urlaubsrechtes gestimmt haben, Tafeln mit dem Slogan:
Ich, (Name der/s Abgeordneten),
betreibe Sozialabbau
angefertigt.
AktivistInnen des ÖGB haben dann bei öffentlichen Auftritten mit diesen Tafeln die MandatarInnen auf ihr Abstimmungsverhalten hingewiesen. Die Reaktion der Abgeordneten war noch heftiger als erwartet. Ein Abgeordneter aus Niederösterreich hat, als er bei einer Wahlkampfveranstaltung in seinem Wahlkreis mit dem Schild konfrontiert wurde, den dortigen BetriebsrätInnen zugerufen: »Was bildet ihr euch ein? Das geht doch hier niemanden etwas an, wie ich in -Wien abgestimmt habe!« Dieses Verhalten zeigt nicht nur sein persönliches demokratiepolitisches Defizit auf, es offenbart auch, wie er in seinem Wahlkreis diese Abstimmung kommentiert. Seine Argumentation mit »die da in Wien haben dafür gestimmt ...« ist in diesem Moment natürlich zusammengebrochen, weil wir aus der Anonymität der »die da in Wien ...« klar herausgearbeitet haben, dass er Teil »derer da in Wien« ist.
Emotionalisierung und Personalisierung sind Kernelemente moderner Kampagnen und Wahlkampfstrategien. Emotionalisieren und personalisieren heißt, vereinfachen, zuspitzen und verkürzen. Die Lüge ist als Mittel untauglich. Emotionalisierung und Personalisierung sind aber keineswegs Neuerscheinungen. Auch in früheren herkömmlichen Wahlkämpfen wurden sie immer angestrebt. (Im nächsten Heft wird dieser Beitrag fortgesetzt.)
]]>Niedrige und hohe Gehälter entwickeln sich auseinander: Das oberste Einkommensprozent wuchs seit 1997 fast fünfmal so stark wie die niedrigen.
Während die Löhne nur sehr schwach »wachsen«, sind bei den Vermögen - über die sich die Statistiken ausschweigen - Rekorde zu verzeichnen. Wir wissen zum Beispiel von dem bei Banken und Versicherungen angelegten privaten Geldvermögen, das 320 Milliarden Euro übersteigt, also umgerechnet auf jeden der 8 Millionen Österreicher, vom Baby bis zum Greis, 40.000 Euro. Haben Sie persönlich 40.000 auf der Bank? Sind sie vielleicht verheiratet und haben zwei Kinder? Dann müssten Sie gemeinsam mit Ihren Lieben 160.000 Euro auf der Bank haben. Falls Sie das nicht haben, machen Sie sich nichts draus: Dafür haben die hundert reichsten Österreicher zusammen ein Vermögen von über 50 Milliarden Euro.
»Lieber reich und gesund als arm und krank«, heißt das Sprichwort. Die Steuerprivilegien der Superreichen, die ihr Geld meist in Privatstiftungen haben, sind enorm. »Während von jedem Euro Sparbuchzinsen 25 Prozent Kapitalertragsteuer (Kest) abgezogen werden, sind Privatstiftungen massiv begünstigt: Solange das Geld in der Stiftung bleibt, werden Zinsen nur mit 12,5 und Dividenden aus Gewinnausschüttungen überhaupt nicht besteuert.« In den Jahren von 1992 bis 2003, haben die Wirtschaftsexperten der AK OÖ errechnet, ist die Lohnsteuer um 69 Prozent gestiegen, und die Gewinnsteuer um 19 Prozent. Die wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen, wie Schulen oder Spitäler, Polizei, Familienbeihilfen usw. werden immer mehr von den Lohnsteuerzahlern und Konsumenten finanziert, denn die Lohnsteuer und die Steuern der Konsumenten (Mehrwertsteuer usw.) betragen schon mehr als zwei Drittel der Steuereinnahmen des Bundes.
Und welche Steuern und Gebühren wurden in den letzten Jahren erhöht? Natürlich jene, welche die Kleinverdiener am meisten belasten: Kfz-Steuer, Autobahnvignette, Strom- und Erdgassteuer, Mineralölsteuer, die Gebühr für die Reisepassausstellung und und und. Von der angesagten Steuerreform 2005 werden vor allem Arbeitnehmer und Pensionisten nur wenig entlastet, Kleinverdiener unter dem steuerfreien Existenzminimum gar nicht. Großzügig beschenkt werden hingegen die Unternehmen und Großkonzerne, denn sie werden 2000 Millionen Euro weniger Steuer zahlen.
Dazu sagt AK OÖ-Präsident Johann Kalliauer: »Eine gerechte Verteilung von Einkommen und Steuerlasten ist auch wirtschaftlich sinnvoll!«
Die Konjunkturflaute hat ihre Ursache in der zu geringen Kaufkraft (deutlich sichtbar z. B. beim Rückgang des Weihnachtsgeschäfts - wer nix verdient, kauft nix). Nur stärker steigende Löhne können die Flaute überwinden. Eine gerechtere Einkommensverteilung und eine gute wirtschaftliche Entwicklung sind kein Widerspruch, wie das Beispiel einiger skandinavischer Länder zeigt. Vor allem aber gilt eines: Der Sozialstaat ist finanzierbar! Er ist finanzierbar, wenn sich alle nach ihrer Leistungsfähigkeit beteiligen. »Auch Reiche, Unternehmer und Großkonzerne nehmen öffentliche Dienstleistungen in Anspruch, es ist nur gerecht, wenn sie über Steuern mitzahlen.«
Also, wie heißt es im Jargon der Wissenschafter? Der Rückgang der Lohnquote ist der Ausdruck der Umverteilung von Arbeits- zu Kapitaleinkommen und wachsender Lohnunterschiede zwischen den einzelnen Arbeitnehmergruppen mit einem stetig zunehmenden Niedriglohnsektor. Wir Gewerkschafter wollen aber mehr als den Abbau von Arbeits- und Sozialstandards moderieren. Unser Ziel ist die deutliche Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, und allen Vorzeichen zum Trotz bleibt dieses Ziel Mittelpunkt unserer Arbeit.
Siegfried Sorz
]]>Nobelpreis
Einzelheiten über die Menschenrechts-lage in Burma wurden und werden von Anhängern der Demokratiebewegung mühsam vor Ort dokumentiert und unter hoher persönlicher Gefährdung an Hilfsorganisationen im Ausland weitergegeben. Sie finden sich dann - über das Internet leicht zugänglich - in den Berichten der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen sowie von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG), dem auch der ÖGB angehört. Aufkeimende Studentenproteste hatten die Militärs 1988 noch zusammenschießen lassen, 1990 jedoch stimmten sie aufgrund internationalen Drucks der Abhaltung freier Wahlen zu. Überragende Siegerin derselben wurde die von der charismatischen Tochter des Führers der Unabhängigkeitsbewegung gegen Großbritannien, Aung San Suu Kyi, begründete Nationale Liga für Demokratie (NLD). Aung San Suu Kyi erhielt zwar 1991 für ihr gewaltloses Engagement für Gerechtigkeit den Friedensnobelpreis, ihre Partei jedoch wurde von den Generälen ihres Wahlsiegs beraubt und in den Untergrund gedrängt, die Parteivorsitzende selbst unter Hausarrest gestellt.
Zwangsarbeit
Ein weiteres Element der menschenrechtswidrigen Repression in Burma ist die Heranziehung der Zivilbevölkerung (insbesondere der ethnischen Minderheiten des Landes) zu unbezahlter Zwangsarbeit. Ein großer Teil derselben kommt dem Verkehrs-, Infrastruktur- bzw. Tourismussektor Burmas zugute - ein Faktum, das für die aktuelle politische Diskussion zu »Myanmar« von Bedeutung ist.
Wie die allgemeinen bürgerlichen Freiheiten sind auch die gewerkschaftlichen Rechte erheblich eingeschränkt. Der demokratische Gewerkschaftsbund des Landes, die der Demokratiebewegung nahestehende Föderation der Gewerkschaften in Burma, ist in den Untergrund gedrängt (seitens der Militärjunta wurde eine Quasi-Arbeitnehmervereinigung ins Leben gerufen, deren Mitgliedschaft für alle Beschäftigten verpflichtend ist); Neugründungen von unabhängigen Organisationen auf betrieblicher oder branchenmäßiger Basis sind legal praktisch unmöglich. Zusammenkünfte von fünf oder mehr Personen bedürfen einer Genehmigung der Polizei, andere Formen gewerkschaftlicher Betätigung oder gar Streiks sind verboten. »Wer Mitglied einer unrechtmäßigen Vereinigung ist«, heißt es in der Verordnung Nr. 2/88 des so genannten Staatsrats für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung (heutiger Name: Staatsrat für Frieden und Entwicklung), »oder an ihren Sitzungen teilnimmt bzw. Beiträge für eine derartige Vereinigung entgegennimmt oder erbittet ... wird mit einer mindestens zweijährigen und nicht mehr als dreijährigen Haftstrafe belegt.«
Haft und Todesurteile für Gewerkschafter
Dass der Gewerkschaftsbund angesichts dessen nur im Untergrund bzw. vom Exil aus tätig ist (etwa 1,5 Millionen burmesische Arbeitsmigrant/inn/en arbeiten in Thailand), nimmt nicht wunder. Im Inland werden unabhängige Gewerkschafter häufig mit langen Haftstrafen belegt (so die Funktionäre der Petrochemiegewerkschaft U Myo Aung Thant und U Khin Kyaw), im Ausland werden Wanderarbeiter/innen und vor allem die burmesischen Matrosen auf hoher See bespitzelt und eingeschüchtert, um sie von Kontakten zur Internationalen Transportarbeitervereinigung abzuhalten. Mehrere Personen, die Informationen an das ILO-Büro in Rangoon geliefert hatten, wurden 2003 zum Tod verurteilt und erst vor kurzem nach heftigen internationalen Protesten zu langjährigen Gefängnisstrafen »begnadigt«.
Als 1990 klar wurde, dass die Militärjunta in Rangoon nicht daran dachte, den Wählerwillen zu respektieren und die NLD, die einzige von der Bevölkerung demokratisch legitimierte politische Kraft, mit der Regierungsbildung zu beauftragen, begann sich internationale Kritik und Solidarität mit dem Widerstand zu formieren. In verschiedenen Ländern Westeuropas bildeten sich Solidaritätsgruppen, welche die NLD unterstützten und Maßnahmen gegen die burmesischen Militärs forderten.
Zugleich begannen auch einzelne Staaten, Maßnahmen gegen die Diktatur zu ergreifen. Regierung und Konzerne aus den Vereinigten Staaten machten den Anfang, teils wegen des rasch wachsenden burmesischen Drogenhandels, dessen Verzweigungen in höchste Regierungskreise reichen, teils im Zeichen einer (vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton geförderten) »politischen Korrektheit« aus Protest gegen die offene Missachtung demokratischer Wahlen. Führende Tourismus- und Ölfirmen aus den USA z. B. zogen sich aus Burma zurück, auch die meisten Kreditkarten (Visa und Mastercard z. B.) sind für den »goldenen Gulag« nicht gültig. 1996 verhängte auch die Europäische Gemeinschaft teilweise Sanktionen gegen »Myanmar«, die bis heute gelten und unter anderem eine Aussetzung offizieller politischer Besuche sowie ein Waffen- und Technologie-Embargo enthalten.
Tourismus und Diktatur
Vor allem die Tatsache der in Burma weitverbreiteten und von den Generälen systematisch organisierten Ausbeutung von Zwangsarbeiter/innen rief die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf auf den Plan. Zwangsarbeit wird als gravierende Verletzung der international akkordierten und auch von Burma selbst ratifizierten grundlegenden Arbeitsnormen gewertet. Insofern war es nicht zufällig die ILO, die im Jahr 2000 als erste internationale Organisation Strafmaßnahmen gegen »Myanmar« wegen Verstoßes gegen das Zwangsarbeits-Übereinkommen forderte; unter anderem wurde für die Einstellung aller touristischen Verbindungen zu Burma plädiert, sofern dieselben auf Leistungen aus Zwangsarbeit beruhen oder das System der Zwangs-arbeit fördern. Damit wurde neuerlich - wie seinerzeit im Fall des Apartheid-regimes in Südafrika - die umstrittene Frage nach der Bedeutung von Tourismus und Tourismuswerbung für diktatorische Regime gestellt: Führt Fremdenverkehr zur schrittweisen Liberalisierung eines Systems oder leistet er im Gegenteil noch Schützenhilfe für derartige Diktaturen?
Gefängnis für Japaner
Die erste Meinung wird, kaum verwunderlich, vor allem seitens der Reiseveranstalter sowie von Tourist/inn/en vertreten, die nicht selten von der Schönheit des Landes und der Freundlichkeit seiner Bevölkerung beeindruckt sind. Wenigen Burma-Reisenden freilich ist bewusst, dass sich nicht nur der organisierte (Reisegruppen), sondern auch der Individualtourismus nur innerhalb sehr enger vom Regime gezogener Grenzen bewegt. Politische Repression und Zwangsarbeit werden von den in der Regel sprachunkundigen und auf (geheimdienstlich überwachte) Fremdenführer und Hotelpersonal angewiesenen Tourist/inn/en kaum wahrgenommen; ebenso wenig der Umstand, dass weite Teile des Landes von den Militärs zu Sperrzonen erklärt wurden und nur mit Sondergenehmigungen betreten werden dürfen. Erst am 24. September 2004 wurden in Mandalay beispielsweise drei japanische buddhistische Mönche zu dreijährigen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie einige Wochen zuvor eine Nacht in Mogok, einer gesperrten Zone etwa 200 km nördlich von Mandalay, verbracht hatten. Gemeinsam mit ihnen wurden ihr burmesischer Chauffeur, ihr Dolmetscher sowie zwei Studenten verurteilt.
Dass solche zwar wohlmeinenden, politisch aber naiv unternommenen Versuche von Reisenden, auf eigene Faust einen Beitrag zur »Demokratisierung« des Landes zu leisten, in Wirklichkeit nur die lokale Bevölkerung gefährden, ist ein Umstand, der auch aus anderen Diktaturen bekannt ist.
Darüber hinaus bieten touristische Verbindungen und vor allem die von Fluglinien und Reisebüros betrieben Werbemaßnahmen (im Fall Burmas die Hochglanzbroschüren mit den goldenen Tempeln vor blauem Himmel) dem Regime eine willkommene Propagandaplattform im Ausland.
Aufruf des IBFG
Die internationale Gewerkschaftsbewegung - vor allem der IBFG sowie die Internationale Transportarbeitervereinigung, die für den Verkehrssektor zuständig ist - vertreten daher die zweit-genannte Meinung. IBFG-Generalsekretär Guy Ryder: »Die globale Gewerkschaftsbewegung ruft die internationale Gemeinschaft und im besonderen die multinationalen Konzerne zu Wirtschaftssanktionen gegen Burma auf, um auf diese Weise mit friedlichen Mitteln eine Demokratisierung des Landes und die Übertragung der Regierungsgewalt an die durch Wahlen legitimierte Nationale -Liga für Demokratie durchzusetzen.«
Österreich ist von dieser Debatte in besonderer Hinsicht betroffen. Nicht nur hat ein privates (gewerkschaftlich nicht organisiertes) Reisebüro Burma als eine Marktlücke entdeckt, als einzige europäische Fluglinie führt vielmehr auch die Lauda Air während der Wintersaison Direktflüge von Wien nach Rangoon und unterläuft somit den von der Internationalen Arbeitsorganisation geforderten Tourismusboykott - an den sich zwar nicht die asiatischen, immerhin aber US-amerikanische und die anderen EU-Fluglinien halten. Auch abgesehen davon ist die Optik nicht die beste: Wie angesichts der Verhältnisse im militärisch regierten Burma nicht anders zu erwarten, wurde die Flugverbindung Wien - Rangoon der Lauda Air im November 2002 im Rahmen einer feierlichen Zeremonie eröffnet, an der hochrangige Generäle wie Verkehrsminister Hla Myint Swe und der Minister für Hotel und Tourismus, Thein Zaw, teilnahmen - was in der regierungsnahen Presse in Burma natürlich groß berichtet wurde.
Verantwortung der AUA
Dadurch provoziert, laufen seit März 2003 in mehreren europäischen Ländern NGO-Proteste gegen Austrian Airlines, koordiniert von dem (mit Unterstützung der EU agierenden) Burma-Zentrum in Amsterdam. Eveline Bontje, zuständige Kampagnemanagerin, erklärt dazu:
»Austrian Airlines propagiert durch diese Flüge einen Massentourismus nach Burma, der das Militärregime finanziell und moralisch unterstützt, Zwangsarbeit stützt und den Wünschen der demokratisch gewählten Oppositionspartei, des NLD, entgegenläuft.
Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Burma-Solidaritätsgruppen in mehr als 15 Ländern protestieren dagegen durch Petitionen, Briefe und auch Demonstrationen auf den Flughäfen. Und diese internationale Kampagne gegen Austrian Airlines geht weiter.«
Das Image der österreichischen Airline, die sich in anderen Bereichen als sozial und ökologisch verantwortungsbewusste Fluglinie profiliert hat, sieht sich dadurch in Frage gestellt.
Gehen die Proteste weiter, stehen AUA und Lauda Air über kurz oder lang vor der Alternative, entweder kurzfristige Erträge durch politisch bedenkliche Flüge in einer »Marktnische« zu erwirtschaften oder sich langfristig ein positives Image im Sinne der corporate social responsibility zu schaffen bzw. zu erhalten. Auch für die Beschäftigten von Austrian Airlines, die den umstrittenen Flügen ihrer Firma in vielen Fällen selbst ambivalent bis kritisch gegenüberstehen, sind die internationalen Proteste nicht angenehm.
ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch hat deshalb das AUA-Management und Vertreter der internationalen Gewerkschaftsbewegung ersucht, Gespräche über die umstrittenen Flüge nach Burma und die von Gewerkschaften und NGOs daran geübte Kritik aufzunehmen.
Über die Ergebnisse wird »Arbeit&Wirtschaft« sicher berichten.
]]>Das Bildungsministerium machte trotz eklatanter Ressourcenmängel den Institutsvorstand selbst für die Misere verantwortlich. Und die Leitung der Universität plante, mit einer bizarren Idee Aushilfe zu schaffen: Von außen sollten (via Ausschreibung) kompetente Gutachter zugekauft werden, um die angehenden Jungakademiker/innen aus der Ferne zu betreuen: Professorinnen und Professoren, per Werkvertrag verpflichtet, um die fehlenden Stellen auszugleichen: Wer solche Vorschläge unterbreitet, verrät ein seltsames Verständnis von »Betreuung«, die ja gerade in regelmäßigem Austausch und persönlicher Beratung besteht.
Mangelverwaltung und Eliteuniversität
Geplante drei Anwesenheitstermine in Wien und die Kommunikation über eine E-Learning-Plattform waren wohl kaum geeignet, derart professionelle Unterstützung zu gewährleisten. Zwar zeichnen sich in der Zwischenzeit andere Lösungen ab und leicht könnte man die Ereignisse für einen Sonderfall halten: Eine populäre Studienrichtung, bei der Angebot und Nachfrage auseinanderklaffen - das kann schon einmal vorkommen, zumal in einer Marktwirtschaft. Doch die Situation am Wiener Publizistikinstitut ist alles andere als ein Einzelfall. Sie hat nur, im Gegensatz zu vielem, was an den österreichischen Universitäten geschieht, den Sprung in die Medienberichterstattung geschafft. Doch es handelt sich eben nur um die Spitze des viel zitierten Eisberges. Überfüllte Seminare, Raumnot, mangelnde technische Ausstattung der Institute und eine vielfach steigende Anzahl von Studierenden, mit der die Entwicklung des akademischen Personals nicht mithalten kann, kennzeichnen die Situation der Universitäten. Besonders in Wien. Die Rektoren forderten jüngst ein Notprogramm vom Finanzminister in Gestalt einer Soforthilfe in der Höhe von 100 Millionen Euro, um zumindest den bestehenden Betrieb aufrecht zu erhalten. Doch während dieser wieder in die rhetorische Trickkiste seiner Managementfibeln griff und inhaltsleer »mehr Effi-zienz« forderte, verschärfen sich die -Engpässe im Hochschulbereich. Die -Unzufriedenheit aller Beteiligten steigt. Dass Österreichs Universitäten durch die Wissenschaftspolitik der schwarz-blauen Regierung zur »Weltklasse« werden könnten, wie dies die Ministerin Gehrer vollmundig angekündigt hatte, ist längst außerhalb jeder Diskussion. Die Weltklasse-Uni taugt heute nur mehr als Lachnummer. Denn die in die Autonomie entlassenen Universitäten können nun vor allem eines: Völlig »autonom« den Mangel verwalten. Die Priorität der derzeitigen Wissenschaftspolitik scheint ohnedies woanders zu liegen: Eliteuniversitäten kommen ausgerechnet in einer Situation aufs Tapet, in der in Teilen des Hochschulbereichs die grundlegende Funktionsfähigkeit gefährdet ist. Wie konnte es dazu kommen? Hier empfiehlt sich ein kurzer Rückblick.
Zweierlei Universitätsreformen
Jede einschneidende Reform der neuen ÖVP/FPÖ-Regierung wird gerne mit Versäumnissen und Fehlentwicklungen der großen (»sozialistisch« geführten) -Koalition begründet, die vor »Schwarz-Blau« Österreich regierte. Dass die ÖVP auch in dieser Regierung prominent vertreten war und Ministerämter besetzte, zählt zu den bestgehüteten Geheimnissen der österreichischen Politik. Vor allem stellte die ÖVP etwa mit Hans Tuppy (1987-1989) und Erhard Busek (1989-1994) auch Wissenschaftsminister. Vermutlich ist dies der Grund, warum bei Schuldzuweisungen in der Wissenschafts- und Hochschulpolitik noch weiter zurückgeblickt wird. Nun ist die Phase der sozialistischen Alleinregierung (1970-1983), in der Hertha Firnberg das damals neu geschaffene Wissenschaftsministerium leitete, Stein des Anstoßes. In dieser Zeit, so kann man auch heute immer wieder hören, lägen die Wurzeln der österreichischen Hochschulmisere begraben. Die Universitäten, argumentierte deswegen auch der wie immer über allen Parteien stehende Nationalratspräsident Andreas Khol, seines Zeichens selbst Universitätsprofessor, würden mit dem neuen Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 2002 aus jener Sackgasse herausgeführt werden, in die sie Kreisky und Firnberg gebracht hätten. Doch damit macht er sich die Sache sicher zu einfach. Ein Kern des UOG von 1975 bestand in der Verankerung der Mitbestimmung in allen universitären Gremien. Professoren, der so genannte Mittelbau (Assistenten), aber auch Studierende sollten an der demokratischen Willensbildung in Angelegenheiten der Universität teilnehmen können. Schon davor, im Jahr 1972, erfolgte die Gebührenbefreiung an allen Universitäten.
Zwei wesentliche Zielsetzungen waren also mit dieser Reform verbunden: Die Demokratisierung der universitären Strukturen einerseits, die Öffnung der Hochschulen für möglichst alle gesellschaftlichen Schichten andererseits. Damit machte sich die Sozialistin Firnberg natürlich nicht nur Freunde. Die Reform stieß auf Ablehnung von vielen Professoren, die Teile ihrer Macht abgeben mussten. Sie fand ihre Gegnerschaft aber auch in einer konservativen Wissenschaftspolitik, die einem elitären Modell verpflichtet war.
Heute haben die Universitätsreformen der Siebzigerjahre kein gutes Image. Ineffizienz, »Gremialismus«, mangelnde Entscheidungsfähigkeit und Abhängigkeit von den ministeriellen Strukturen sind nur -einige der Vorwürfe, die, teils zu Recht, erhoben wurden. Auch muss zugegeben werden, dass vieles, das damals intendiert war, nicht erreicht worden ist. Den Hochschulzugang für alle zu öffnen scheiterte nicht nur an sozialen, sondern auch an kulturellen Barrieren: Nach wie vor ist der Anteil der Studierenden aus Arbeiterhaushalten oder Bauernfamilien geringer als jener aus den Mittel- und Oberschichten. Die Welt der »großen Wörter«, die der aus bäuerlichem Milieu stammende österreichische Schriftsteller Franz Innerhofer beschrieben hatte, erwies sich auch nach dem Wegfallen finanzieller Hindernisse für viele als schwer zugänglich. Aber dennoch: Der Umstand, dass nicht alle gesellschaftspolitischen Zielsetzungen erreicht worden sind, bedeutet nicht automatisch, dass diese Zielsetzungen falsch waren.
Hinter Modelle der Mitbestimmung und den freien Hochschulzugang sollte -eigentlich kein Weg zurück führen. Die Reformen der jetzigen Regierung gehen in die entgegengesetzte Richtung. Sie unterscheiden sich eben nicht nur dadurch, dass sie angeblich professioneller gemacht sind - was angesichts der Realität an den Hochschulen schwer nachvollziehbar ist - sondern vor allem auch in ihren gesellschaftspolitischen Zielsetzungen von der Wissenschaftspolitik der Siebzigerjahre. Nicht in der Demokratisierung der Hochschulen, sondern in der Wiedereinführung der Professorenuniversität bei gleichzeitiger Abwertung der Mitbestimmungsmöglichkeiten des Mittelbaus und der Studierenden scheint ihr Kern zu liegen. Neben der starken Person des Rektors, der zu einem umfassenden Wissenschaftsmanager avancierte, dessen Kompetenzen massiv gestiegen sind, wacht ein Universitätsrat über das Geschehen.
Politische Umfärbung
Sind diese neue Strukturen nun effizienter, die Hochschulen wirklich unabhängiger? Einerseits stellt sich die Frage, ob die darin vertretenen Personen aus Wirtschaft und Gesellschaft auch fachlich kompetente und nicht nur politisch genehme Berater/innen im Wissenschaftsbereich sind - insbesondere einige von der Regierung nominierte Räte warben bei der letzten Nationalratswahl eifrig für Bundeskanzler Schüssel. Andererseits kamen diese Universitätsräte auch deswegen ins Gerede, weil sich Persönlichkeiten aus fragwürdigem politischen Milieu darunter befanden:
»Burschenschaftlichen bzw. rechtsextremen Hintergrund« ortete das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) in manchen Fällen. Statt der rhetorisch viel strapazierten Entpolitisierung schien also wieder einmal politische Umfärbung auf der Tagesordnung zu stehen.
Dazu passt auch die jüngst von der ÖVP initiierte Novelle des Hochschülerschaftsgesetzes: Denn durch die Abschaffung der Direktwahl der ÖH wird nicht nur die studentische Interessenvertretung generell geschwächt. Wie durch Zufall würde eine Umlegung der derzeitigen Kräfteverhältnisse auf das neue Wahlrecht auch eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse zugunsten der ÖVP-nahen Aktionsgemeinschaft bedeuten. Aus rot-grün mach schwarz-blau. So einfach geht das.
Die Wissenschaftspolitik wiederum bestimmt heute ein Forschungsrat (Rat für Forschung und Technologieentwicklung) wesentlich mit, der vor allem die Anschlussfähigkeit an die Wirtschaft gewährleistet sehen will. Doch während dies bei manchen Studien wünschenswert sein mag, sind damit Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vor unlösbare Probleme gestellt.
Wie soll ein Ägyptologe wirtschaftsnah arbeiten, wie ein Sprachwissenschaftler betriebswirtschaftliches Denken fördern? Bedeutet die einseitige Ausrichtung an ökonomischen Imperativen nicht eine Abkehr von der Idee der Universität, die ihr eigentliches Ziel ja im unabhängigen Forschen und nicht im vorgeschriebenen Nutzen hatte?
Intellektuelle Reservearmee
Dramatisch sind die Veränderungen nicht nur im politischen und wirtschaftlichen Bereich - auch sozial betrachtet sind massive Verschlechterungen festzustellen. Dies betrifft nicht nur die Studierenden. Sie werden durch Studiengebühren belastet (Studierende aus Nicht-EU-Staaten müssen die doppelte Studiengebühr zahlen!), die mit keinerlei Verbesserungen der Studiensituation verbunden sind. Eine Halbierung der ERASMUS-Stipendien von 12 auf 6 Monate (Internationalisierung!) scheint nun spät, aber doch wieder rückgängig gemacht zu werden.
Drastisch sind die Einschnitte aber auch, was die Arbeitsbedingungen am unteren Ende der Universitätshierarchie betrifft. Da es sich dabei um Gruppen mit schwachen oder keinen Lobbys handelt, blieb dies von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Geschaffen wurde zum Beispiel die Kategorie von »wissenschaftlichen Mitarbeiter/inne/n in Ausbildung«, die vielfach de facto die Arbeit von früheren Assistenten verrichten, aber mit dem Argument, (gleichzeitig) ihre Dissertation fertigstellen zu können, nur den halben Lohn erhalten. Besonders betroffen ist aber auch jene Berufsgruppe, die bisher sehr viel zur thematischen Öffnung, zur Anbindung an die praktische Forschung und zur Erweiterung des Studienprogramms beigetragen hat: die externen Lektorinnen und Lektoren. Das ist jene Personengruppe von meist hauptberuflichen außerhalb der Universität tätigen Wissenschaftler/innen, die Lehraufträge anbieten, in die sie ihre Forschungs-praxis einbringen.
Gerade angesichts schwindender Ressourcen im »freien« (also institutionell ungebundenen) Forschungsbereich ist für manche von ihnen die Lehre an der Universität allerdings längst zu einem wesentlichen Teil ihres Erwerbs geworden, die auch nötige Versicherungsleistungen miteinschloss. Während nun an den meisten Universitäten der Personalmangel ein überaus ernstes Problem darstellt, setzt gleichzeitig bei dieser Gruppe eine neue (Personal-)Einsparungsoffensive an. Ihre Lehraufträge werden in der Bezahlung (sofern nicht gänzlich gestrichen) um ein bis zwei Drittel gekürzt! Angesichts nicht gerade üppiger bisheriger Honorierung und bereits vorangegangener Kürzungen in den Neunzigerjahren kann dies vielfach nur als »Einladung« an die Externen verstanden werden, ihre Lehrtätigkeit einzustellen.
Obgleich die Praxis durch die Autonomie der jeweiligen organisatorischen Einheiten variiert, zeichnet sich eine klare Tendenz ab, Lehraufträge so weit herabzustufen, dass die Lektorinnen und Lektoren bei einer zweistündigen Lehrveranstaltung im Semester unter die Geringfügigkeitsgrenze und somit auch aus der Sozialversicherung hinausfallen.
Am dramatischsten ist die Situation am Wiener Institut für Geschichte, wo künftig statt der höchsten Bezahlungsstufe von 2400 Euro brutto nur mehr rund 900 Euro pro Semester für eine zweistündige Lehrveranstaltung bezahlt werden sollen. Das ergäbe selbst nach den äußerst unrealistischen (weil die Vorbereitungszeiten zu knapp bemessenden) Arbeitszeiten, welche die Wiener Universität ihren neuen Verträgen zugrunde legt, einen Stundenlohn von (unversteuert und ohne Sozialversicherung) rund 10 Euro!
Dies ist nicht nur ein frivoler Lohn für qualifizierte Arbeit, sondern bedeutet - aufgrund der unterschiedlichen Handhabung auf verschiedenen Fakultäten, Fachbereichen und Instituten - eine eklatante Ungleichbehandlung gleicher Tätigkeiten.
Doch da die Alternativen für viele gering und das »symbolische Kapital« universitärer Tätigkeit die monetäre Unterdotierung mildert, wird es wohl auch für jene, die unter diesen Bedingungen ihre Tätigkeit einstellen, rasch Ersatz geben. Denn die Arbeitslosigkeit unter Akademiker/inne/n hat längst eine intellektuelle Reservearmee entstehen lassen, die auch unter schlechtesten Bedingungen nachrücken könnte. »Prekarisierte«, also in prekären sozialen Verhältnissen lebende Intellektuelle, sind eben erpressbar. Was liegt also näher, als genau bei jener Gruppe den Sparstift anzusetzen?
R E S Ü M E E
Zwei Systeme?
Auch wenn die Betroffenheit von Standort zu Standort verschieden ist: Das Gesamtbild der österreichischen Universitätslandschaft ist schon etwas düster. Mitbestimmungsmöglichkeiten werden eingeschränkt, Zugangsbarrieren teils bereits errichtet, teils diskutiert, Gegensätze im ohnedies durch Ungleichheiten geprägten Universitätssystem noch vertieft. Es ist Vorsicht angesagt, damit nicht weitere Restriktionen ein immer schlechter werdendes universitäres System für die »Allgemeinheit« gegenüber einem hoch dotierten, mit entsprechenden Gebühren und privatwirtschaftlichen Strukturen ausgestatteten elitären Ausbildungssystem zurückdrängen. Denn spätestens dann drohte massiver Schaden für das Bildungssystem, aber auch für die Gesellschaft: Wenn Universitäten, die immer noch zentralen Ausbildungs- und Forschungsstätten des Landes, auf Ökonomisierung und Hierarchisierung verpflichtet werden - so bedeutet dies einen politischen Schaden, der auf die Gesellschaft zurück wirkt.
Wenn viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weggehen oder der Wissenschaft den Rücken kehren (gerade diese Gruppe zählt ja aufgrund der langen Ausbildungszeit auch zu den Verlierern der Pensionsreform!), dann ist intellektueller Schaden unabwendbar. Verbunden damit ist eine Einengung der wissenschaftlichen Perspektive, denn was sukzessive zurückgedrängt werden wird, sind jene Bereiche, die sich ökonomisch nicht eindeutig rechtfertigen können. Dazu zählt auch eine gegenüber der Gesellschaft kritisch orientierte Forschung, von der jede Veränderung lebt.
Die Frage lautet: Was ist das Ziel der Wissenschaftspolitik - und dies ist auch gesellschaftspolitisch zu definieren. Ökonomisierung und Nutzenanwendung allein greifen jedenfalls zu kurz.
ES GIBT EINEN PLATZ, WO SICHER KEIN MANN HINKOMMT. |
|
Frauenhelpline: 0800 222 555 |
frauenhaus |
Über das erste blaue Auge hatten sie noch gescherzt. »Oh, ein Veilchen«, hatte die Betriebsrätin gemeint. »Ja, die Stiegen hinunter gefallen«, hat die Kollegin lachend geantwortet - wie im Klischee. Die Betriebsrätin hat nicht weiter gefragt. Die Kollegin wirkte nicht, »wie eine, die von ihrem Mann geschlagen wird«. Aber dann folgten weiter Spuren von Gewalteinwirkung und der eine oder andere Krankenstand. »Ich bin so ungeschickt«, betonte die Frau, als sie die Betriebsrätin wieder einmal drauf ansprach. Irgendwann landete die Frau dann im Krankenhaus - halb tot geprügelt vom eigenen Mann. Die Betriebsrätin macht sich heute noch Vorwürfe.
»Es fällt den Opfern meistens sehr schwer, über das zu reden, was ihnen von ihrem Partner angetan wird«, weiß Rosa Logar, Geschäftsführerin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. Acht solcher Opferschutzeinrichtungen gibt es in Österreich. Eingerichtet wurden sie als Begleitmaßnahme zum österreichischen Gewaltschutzgesetz, das 1997 in Kraft getreten ist. Finanziert werden sie zu gleichen Teilen vom Bundesministerium für Inneres und vom Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Am Konzept der Interventionsstelle war die Diplomsozialarbeiterin Logar maßgeblich beteiligt. Als Mitbegründerin des ersten Frauenhauses in Österreich 1978 war ihr und ihren Kolleginnen vom Verein Autonomer Österreichischer Frauenhäuser bald klar, dass das Bundesgesetz zum Schutz bei Gewalt in Familien Begleitmaßnahmen benötigt.
Bis Klaus seinen Arbeitsplatz verloren hat, war alles in Ordnung. Sicher, er war eher der eifersüchtige Typ, aber Susanne sah das auch immer ein bisschen als Liebesbeweis. Mittlerweile kontrolliert er den Dienstplan der Altenpflegerin minutiös nach. »Ich komme kaum zum Arbeiten aufgrund der ständigen Kontrollanrufe. Sogar in meiner Dienststelle hat Klaus schon angerufen, nachfragen, ob ich auch tatsächlich eingeteilt worden bin«, erzählt sie. Immer öfter beschimpft er sie laut und ordinär: »Ich habe jeden Tag Angst vor dem Heimkommen. Auch unser 15-jähriger Sohn leidet unter der Situation.«
Vorbildliches Gewaltschutzgesetz
»Das Gewaltschutzgesetz schützt jede Person in der Familie«, betont Logar - fügt aber gleich hinzu: »Unserer Erfahrung nach sind aber 95 Prozent der Opfer Frauen und Kinder und 95 Prozent der Täter männliche Familienmitglieder oder Lebensgefährten.« Wichtigster Punkt dieses Bundesgesetzes, das mittlerweile in Europa Vorbildwirkung hat, ist das so genannte Wegweiserecht. Laut diesem Gesetz hat die Polizei das Recht, eine Person, von der akute Gefahr für andere ausgeht, sofort aus der Wohnung, dem Haus und der näheren Umgebung zu verweisen und ein Betreten dieses Bereiches zu verbieten, ganz egal ob Ehepartner oder Lebensgefährte. Die Opfer können - unabhängig davon, wem Wohnung oder Haus gehört oder wer Hauptmieter ist - in der gewohnten Umgebung verbleiben. Ist eine strafbare Handlung wie z. B. Nötigung, Körperverletzung, Vergewaltigung oder Freiheitsentzug gesetzt worden, muss die Polizei eine Anzeige aufnehmen. »Nach jeder Wegweisung informiert die Polizei eine Interventionsstelle«, erklärt Rosa Logar: »Wir setzen uns dann mit den Opfern in Verbindung und versuchen gemeinsam ein weiteres Vorgehen zu entwickeln.« Dabei muss rasch gehandelt werden, denn das Wegweiserecht bleibt für nur zehn Tage aufrecht. Dann müssen - falls notwendig - weitere Maßnahmen gesetzt werden, etwa eine Einstweilige Verfügung.
»Es ist mir einfach passiert. Ich wollte das nicht. Sie weiß doch genau, dass ich es so möchte, warum provoziert sie mich auch«, begründet Karl »die Watschn«. Er vergisst zu ergänzen, dass es mehr als eine Ohrfeige war, die er seiner Frau verpasst hat, weil das Essen nicht pünktlich am Tisch stand. Er hat Maria so heftig geschlagen, dass die Nachbarn die Polizei rufen mussten. Maria war nach dem zweiten Kind zu Hause geblieben. Sie hat niemanden, mit dem sie über die Gewaltausbrüche ihres Mannes reden kann.
Gefährliche Trennungsphase
»Das Wegweiserecht ist sehr wertvoll, bietet aber keinen hundertprozentigen Schutz vor Gewalt. Im Fall von Waffenbesitz, Mord- oder Selbstmorddrohungen, Alkohol- oder Drogensucht oder krankhafter Eifersucht raten wir den Opfern, ins Frauenhaus zu gehen, bis die gefährlichste Zeit vorbei ist«, erklärt die Sozialarbeiterin: »Auch im Fall einer Trennung oder Scheidung ist es oft besser, den gewohnten Ort zu verlassen. Da passieren die meisten Gewalttaten.« Und gerade diese gehen nur allzu oft tödlich aus, wie man tagtäglich auf den Chronikseiten der Zeitungen lesen kann.
»Vom ersten Augenblick an bin ich wahnsinnig verliebt in sie gewesen«, erklärte Martin im Verhör, nachdem er seine Freundin Gudrun erwürgt hat. Als sie ausziehen wollte, weil sie seine Eifersucht und die daraus resultierenden Streitigkeiten nicht mehr aushielt, bekam er »eine irre Wut«. Erst als die große Liebe tot war, begriff er, was geschehen ist: »Sie wollte mich verlassen - deshalb tat ich etwas, wozu ich niemals glaubte fähig zu sein.«
16 Tage gegen Gewalt an Frauen
Österreichische Fraueneinrichtungen engagieren sich schon seit 1992 bei der internationalen Kampagne »16 Tage gegen Gewalt an Frauen« vom 25. November bis 10. Dezember. Mit dabei war auch die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai), die am 10. Dezember 2004 eine Tagung zum Thema veranstaltete. Der Grund, warum sich ai auch hier engagiert, findet sich auf der Homepage der ai academy:
»Die weltweit häufigste Todesursache von Frauen im Alter zwischen 16 und 44 Jahren ist häusliche Gewalt. Gewalt an Frauen fordert mehr Opfer als Krebs, Verkehrsunfälle, Malaria und Krieg zusammen. Sie findet Tag für Tag in allen Ländern, Kulturen und sozialen Schichten statt.
Drei Viertel aller in der österreichischen Kriminalstatistik ausgewiesenen Gewalt- und Tötungsdelikte werden im familiären Kontext begangen. Gewalt an Frauen ist eine Menschenrechtsverletzung. Gewalt ist nie ›privat‹, sondern fordert das entschiedene Auftreten privater und staatlicher Institutionen.«
Aus den Chronikseiten von ORF ON im August dieses Jahres: Ein 40-Jähriger hatte seine Freundin mit einem Fleischschlögel traktiert. »Er hat ihn mir auf den Kopf und den Rücken geschlagen, bis ich das Bewusstsein verloren habe«, erzählte die Frau vor Gericht. Die Frau hatte einen anderen Mann kennen gelernt, was das Ende der Beziehung zum 40-Jährigen bedeutete. Trotzdem besuchte sie ihn im Juli. Man trank Schnaps, unterhielt sich und sprach schließlich über die Beziehung. Dabei rastete der Ex-Freund aus. Er beschimpfte die Frau und ging dann mit dem Fleischschlägel auf sie los. Der Richter verurteilte ihn rechtskräftig wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung zu acht Monaten Haft, davon zwei Monate unbedingt. Zusätzlich muss er 2000 Euro Schmerzensgeld zahlen.
Der Staatsanwalt erwähnte am Rande ein anderes Urteil: »Gestern war ich bei einer jungen Richterin eingeteilt, die hat für gewerbsmäßigen Diebstahl 20 Monate unbedingt verhängt. Bei einem Schaden von 100 Euro.«
I N F O R M A T I O NInterventionsstellen in Österreich
Interventionsstellen sind Opferschutzeinrichtungen, die Frauen und ihren Kindern nach einer polizeilichen Wegweisung des Partners/Ehemanns Beratung und Unterstützung anbieten. Die Interventionsstellen wurden als Begleitmaßnahme zum österreichischen -Gewaltschutzgesetz eingerichtet.
Burgenland
Steinamangerer Straße 4/2, 7400 Oberwart
Tel. 03352/314 20, Fax 03352/314 20-0,
intervention@utanet.at
Vorarlberg
Drevesstraße 2/3. Stock, 6800 Feldkirch
Tel. 05522/824 40, Fax 05522/824 40-20,
interventionsstelle@ifs.at
Tirol
Museumsstraße 27, 6020 Innsbruck
Tel. 0512/571 313, Fax 0512/573 942
interventionsstelle.tirol@utanet.at
Salzburg
Paris-Lodron-Straße 3a/1/5,
5020 Salzburg
Tel. 0662/870 100, Fax 0662/870 100-44,
istsalzburg@netway.at
Oberösterreich
Scharitzerstraße 6-8/V, 4020 Linz
Tel. 0732/607 760, Fax 0732/607 760-10
office@interventionsstelle.org
Niederösterreich
Kremsergasse 37/1. Stock, 3100 St. Pölten
Tel. 02742/319 66, Fax 02742/319 66-6,
office.st.poelten@istnoe.at
Steiermark
Granatengasse 4/1. Stock, 8020 Graz
Tel. 0316/774 199, Fax 0316/774 199-4,
office@interventionsstelle-steiermark.at
Kärnten
Radetzkystraße 9, 9020 Klagenfurt
Tel. 0463/590 290, Fax 0463/590 290-10, interventionsstelle@carinthia.at
Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels
Markhofgasse 4/6, 1030 Wien
Tel. 01/796 92 98, Fax 01/796 92 99,
lefoe@t0.or.at
Frauenhelpline 0800/222 555
»Zivilcourage ist gefragt, ob von den Nachbarn, dem Arbeitskollegen oder der Betriebsrätin«, erklärt die Expertin Logar: »Und dabei ist es sehr wichtig, den Opfern vorerst einmal nur zuzuhören. Ihnen das Gefühl zu geben, ernst genommen zu werden.« Dass das nicht immer einfach ist, weiß die Sozialarbeiterin aus ihrer langjährigen Erfahrung und verweist auf die Frauenhelpline. Auch sie wird vom Bundesministerium für Gesundheit und Frauen finanziert. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden täglich betreuen unter der Telfonnummer 0800/222 555 professionelle Mitarbeiterinnen anonym und vertraulich die Anrufenden.
Die primären Zielgruppen sind neben Frauen, die von physischer, psychischer und/oder sexueller Gewalt betroffen oder bedroht sind, deren Kinder, sowie Frauen in Beziehungs- und Lebenskrisen. Die Formulierung »Frauen in Beziehungs- und Lebenskrisen« wurde übrigens gewählt, um auch jene von Gewalt betroffenen Frauen anzusprechen, die ihre oft tagtäglich erlebten Gewalterfahrungen nicht als Gewalt erkennen oder für sich benennen können. Gründe dafür können Scham und Schuldgefühle oder auch Angst vor Stigmatisierung sein.
»Oft beginnen Gespräche bzw. Anrufe mit den Worten: Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin, geschlagen werde ich nicht, aber ...«, berichten die Mitarbeiterinnen. Im Lauf des Gesprächs stelle sich dann heraus, dass es sich möglicherweise zwar nicht um körperliche jedoch um vielfältige andere Formen von Gewalt handelt. Denn auch totale Kontrolle, Isolation von FreundInnen und Familie, materielle, physische oder psychische Ausbeutung, psychischer Druck, fortgesetzte Beschimpfungen sind als Gewalt zu werten.
Bei Gewalt gegen Frauen innerhalb von Familie und/oder Partnerschaft sind sehr oft Kinder und Jugendliche mit oder direkt betroffen. Auch ihnen bietet die Frauenhelpline durch eine erste telefonische Krisenberatung Rat und Hilfe an.
Eine weitere, wichtige Zielgruppe sind Personen aus dem Umfeld der Betroffenen, die Rat und Entlastung suchen und sich mit dem Wunsch zu helfen und der Sorge um die Betroffenen oft überfordert fühlen. Dazu gehören Verwandte, Bekannte, NachbarInnen, ArbeitskollegInnen etc.
Und nicht zuletzt bietet diese Helpline auch sozialen Institutionen, die in ihrer Arbeit mit dem Thema Gewalt konfrontiert sind, wie z. B. Exekutive, Gerichten, Schulen, Spitälern und sozialen Hilfseinrichtungen Information und Beratung an. Eine weitere wichtige Aufgabe der Frauenhelpline ist es, Medien sowie administrativ bzw. politisch tätige Personen mit den nötigen Informationen zu Gewalt gegen Frauen zu versorgen.
Otto war kein Schlägertyp. Aber es passierten seltsame Dinge, nachdem Karin ihn verlasen hat. Komische Anrufe mitten in der Nacht, Verleumdungen per E-Mail an ihrem Arbeitsplatz, das Autoschloss war mit Superkleber verklebt und mehr. Nachweisen konnte man Otto nichts davon. Karin wandte sich an die Interventionsstelle.
Eine Mitarbeiterin telefonierte mit Otto. Sie wies ihn darauf hin, dass das keine Methode wäre, die Frau zurückzugewinnen. Sie erzählte ihm von der bevorstehenden Anzeige und sie wies ihn darauf hin, was das alles für sein Leben bedeuten könnte. »Das zahlt sich doch nicht aus«, erklärte sie dem Mann, der alles bestritt. Die Belästigungen hörten auf.
Anti-Gewalt-Training
»Nicht alle Frauen wollen und können sich von ihren Partnern trennen, selbst wenn diese physische, psychische oder sexuelle Gewalt ausüben«, berichtete Diplomsozialarbeiterin Logar: »Und Kinder können sich nicht vom Vater trennen.« In Wien läuft seit fünf Jahren ein Modellprojekt von Männerberatung und Interventionsstelle. In einem Anti-Gewalt-Training sollen die Gefährder in acht Monaten ein anderes Verhalten lernen.
Die Interventionsstelle bietet den Partnerinnen dieser Männer Unterstützung und Hilfe.
»Auch in diesem Prozess ist es besonders wichtig, auf die Frauen zu hören. Gewalttätige Männer verstehen sich oft auf Manipulation. So hat z. B. einer -
seiner Frau erzählt, er habe im -Training gelernt, wenn er mehr Sex habe, wäre er nicht so gewalttätig.«
Norbert hat als kleiner Bub erlebt, dass der Vater die Mutter geschlagen hat: »Sie war ein wundervoller Mensch«, schildert er: »Sie ist oft geschlagen worden und hat ihn nie angezeigt. Sie hat ihn halt wahnsinnig geliebt.« Auch er selbst hat regelmäßig Schläge bekommen. Am Anfang seiner Beziehung zu Inge war alles in Ordnung: »Aber irgendwann hat sie mich provoziert - da habe ich halt dann zugeschlagen.«
»Es ist kein großes Geheimnis, dass Gewalt Gewalt erzeugt«, ergänzt Rosa Logar: »Kinder, die mit Gewalt in der Familie aufwachsen, werden später eher Täter oder Opfer als Kinder, die gewaltfrei aufwachsen. Sie lernen Gewalt als Lösung anzunehmen. Auch deswegen ist Prävention so wichtig.« Frauen, die von Gewalt in der Familie betroffen sind, rät die Expertin, zuerst das Gespräch mit dem Partner zu suchen:
»Sie müssen schon bei den ersten Anzeichen zeigen, dass das so nicht geht, dem Partner klar machen, dass die Gewalt der Liebe schadet. Sie sollen über die Kränkung sprechen, die ihnen durch die Worte oder die Handlung des Partners widerfahren ist.
Gewalt erzeugt Gewalt
Wenn eine Frau das aber nicht kann, weil sie Angst vor dem Partner hat, dann ist es höchste Zeit, Hilfe in Anspruch zunehmen.
Dann lebt diese Frau in einer Gewaltbeziehung.« Und Gewaltbeziehungen gehen uns alle an. Denn abgesehen davon, dass jeder Mensch irgendwann selbst von Gewalt in der Familie betroffen sein kann, kostet diese Gewalt auch volkswirtschaftlich ein Vermögen. Das teure dabei sind nicht die Hilfeeinrichtungen, sondern die Interventionen nachher.
Die Kosten für Polizei und Justiz, um Gewalttäter zu bestrafen und aus dem Verkehr zu ziehen. Aber auch die Kosten für durch Gewalt verursachte Kran-kenstände und Therapien. Um ein Schlusswort gebeten, meint Rosa Logar: »Schreiben Sie bitte, Gewalt zahlt sich nicht aus - für niemanden. Sie tötet die Liebe.«
I N F O R M A T I O N
Frauenhäuser
Frauenhäuser bieten Frauen, die Gewalt durch ihren Partner/Ehemann erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Sie sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion. Die Adressen der Frauenhäuser sind aus Sicherheitsgründen anonym. Anschrift und Telefonnummer von Frauenhäusern in Ihrer Nähe erfahren Sie über die Gratistelefonnummer der Frauenhelpline 0800/222 555. Österreichweit gratis rund um die Uhr.
Generell boomt Teilzeit jedoch: In den letzten 20 Jahren stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 170.000 auf zuletzt über 500.000 an. Während allerdings jede dritte Frau in Österreich Teilzeit arbeitet, tut das nur jeder 25. Mann. »Natürlich ist der Wunsch von Müttern, eine Teilzeitstelle zu finden, generell hoch«, erklärt Ingrid Moritz, Leiterin der Abteilung Frauen - Familien der AK Wien. »Österreichweit haben drei Fünftel aller Frauen mit Kindern bis 15 Jahren eine Teilzeitbeschäftigung. Aber in Wien, wo die Mobilität geringer ist als in den Bundesländern und die Infrastruktur der Kinderbetreuung wesentlich besser, liegt die Quote unter 40 Prozent. Da ist der Wunsch nach Teilzeit also deutlich weniger ausgeprägt.
Selbstverständlich ist es ein Thema, Familie und Arbeit vereinbaren zu können, aber ein Thema für Männer und Frauen. Männer werden im Betrieb immer begehrter, wenn sie Väter werden, weil sie als Ernährer einen Sicherheitsfaktor darstellen, Frauen werden hingegen zum Risiko. Dieses Muster sollte man aufbrechen.«
Wenn man es sich leisten kann …
Je höher das Bildungsniveau, so ein Ergebnis einer Studie zu »Qualifizierter Teilzeitbeschäftigung in Österreich«, desto attraktiver ist die Vorstellung, nicht vollbeschäftigt zu sein. »Wenn man es sich leisten kann, herrscht natürlich ein anderes Bewusstsein. Da setzen sich Frauen auch eher dafür ein, jede Art von Arbeit zu teilen, auch die unbezahlte zu Hause,« so Moritz.
So gibt es Gewinner und Verlierer: In bestimmten Lebensphasen ist Teilzeit eine willkommene Arbeitsform, manchen ermöglicht sie die Vergrößerung des persönlichen Handlungsspielraums. Für andere bedeutet sie aber unfreiwillige Beschränkung. Zwar ist die Teilzeitbeschäftigung arbeits- und sozialrechtlich der Vollzeitstelle gleichgestellt. De facto sind Teilzeitbeschäftigte aber hinsichtlich ihrer sozialen Absicherung benachteiligt. Langfristig bedeutet Teilzeitarbeit ein niedriges Erwerbseinkommen und kann zur Armutsfalle werden, im Fall von Krankheit und Arbeitslosigkeit etwa, und seit zur Berechnung der Pension nicht mehr die 15 besten Jahre herangezogen werden, sondern der Durchrechnungszeitraum schrittweise erweitert worden ist.
Variable Arbeitszeiten
Während einem Vollzeitbeschäftigten ein Überstundenzuschlag von 50 Prozent zusteht, wird Mehrarbeit bis zum Umfang der Vollarbeitszeit von 38,5 bzw. 40 Stunden nur als Mehrarbeit ohne Ausgleichszahlung abgegolten. Moritz: »Teilzeitbeschäftigte kommen stärker unter Druck, variable Arbeitszeiten zu haben, ohne dass es Gegenleistungen dafür gibt, wenn die vertragliche Vereinbarung überschritten wird.«
Dort, wo Teilzeit angeboten wird - vor allem im Handel, in der Reinigung und den persönlichen Dienstleistungen -, gibt es sie jedoch nicht in der familienfreundlichen Form, die gewünscht wird.
Frau L. ist Mutter von drei Kindern und seit mehr als einem Jahr auf Jobsuche. Als Ordinationshilfe kann sie nichts mehr finden, nun muss sie sich zwischen Angeboten in anderen Branchen entscheiden. Der Haken dabei: Die angebotenen Stellen als Altenpflegerin oder Feinkostverkäuferin sind zwar Teilzeitjobs und dementsprechend schlecht entlohnt, aber keineswegs familienfreundlich. Das Altersheim würde sie nur nachmittags von 14 bis 18 Uhr brauchen, der Supermarkt möchte ihr keine fixen Arbeitszeiten in Aussicht stellen, »die wären dann jeweils zu vereinbaren«.
Tatsächlich vermittelt das AMS derzeit mit Nachdruck in den Handel, denn dieser ist eine der größten Wachstumsbranchen. Zwar steigt die Gesamtzahl der Beschäftigten - laut einer Studie der AK hat sie sich im Zeitraum 1995 bis 2002 um 3,5 Prozent erhöht -, das Arbeitsvolumen ist jedoch abzüglich der Mehr- und Überstunden rückläufig, mit beträchtlichen Konsequenzen für die Arbeitsplatzgestaltung der Betroffenen. Während Vollzeit erst vom Filialleiter aufwärts im mittleren Management zu haben ist, wird im Kundenbereich des Einzel- und Großhandels nunmehr ausschließlich Teilzeit angeboten. Über ein Viertel aller im Handel Beschäftigten arbeiten Teilzeit, wobei der Trend zur geringfügigen Beschäftigung steigt, jeder Zehnte ist geringfügig beschäftigt. Und Teilzeit ist vorwiegend weiblich.
Keine fixen Arbeitszeiten
Frauen, die mit einer Teilzeitbeschäftigung eine Familie vereinen möchten, geraten jedoch immer mehr in Bedrängnis: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird eine Unternehmenspolitik der variablen Kostengestaltung praktiziert. Vollzeit gibt es nur mehr dort, wo sie tatsächlich gebraucht wird, darüber hinaus wird die Kostengestaltung dem Kundenverlauf angepasst, das bedeutet verstärkter Personaleinsatz zu Spitzenzeiten.
»Wir haben das Problem, dass es keine fixen Arbeitspläne gibt, es wird von Woche zu Woche neu eingeteilt. Häufig werden Frauen in der Früh zwei Stunden hereingeholt, dann schickt man sie im besten Fall nach Hause, im schlechtesten auf die Straße, und abends braucht man sie wieder für zwei Stunden«, klagt Manfred Wolf, GPA-Sekretär für Handel. Die Gründe für diesen Strukturwandel sieht er in der Liberalisierung der Öffnungszeiten im Jahr 1997, als bestehende Vollzeitarbeitsplätze in flexible Teilzeit umgewandelt wurden, aber auch im gnadenlosen Preisdumping. Geiz ist geil am Rücken der Beschäftigten, denn »jedes Sonderangebot wird von den Beschäftigten mitfinanziert«.
»Teilzeit ja, aber geregelt«, fordert eine Broschüre der GPA-Frauen. Geregelte Teilzeit ist im Handel nicht mehr anzutreffen. Ein Extrembeispiel ist Peek&Cloppenburg: Derzeit läuft ein Verfahren gegen die Textilkette, die ihren VerkäuferInnen Null-Stunden-Verträge anbietet und damit den Kollektivvertrag unterläuft. Im Arbeitsvertrag fehlt bei -einem Null-Stunden-Vertrag die Fest-legung der vereinbarten Arbeitszeit, von den Angestellten wird verlangt, dass sie zu Hause auf Abruf bereit auf ihren Einsatz warten.
Betrug?
Aber auch mit Stundenverträgen arbeiten Teilzeitbeschäftigte in der Regel mehr als die vereinbarte Zeit. Mehrleistungen, die, wenn schon nicht mit Überstundenzuschlag, dann wenigstens anteilsmäßig auch bei Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld, Abfertigung oder Entgeltfortzahlung bei Krankheit mitgerechnet werden müssen. Wenn sie denn auf ordnungsgemäßem Weg verrechnet werden. Im September dieses Jahres gingen Vorwürfe ehemaliger Angestellter des Rewe-Konzerns (Billa, Merkur, Emma, Bipa, Mondo/Penny) durch die Medien, dass Überstunden mit Gutscheinen an der Lohnverrechnung vorbei bezahlt worden seien, und zogen Beschwerden von weiteren Mitarbeitern über generell nicht bezahlte Mehrarbeit nach sich.
Zeitausbeutung und Mindestarbeitszeit
»Teilzeitbeschäftigte werden dazu angehalten, Mehrarbeit zu leisten. Da gibt es die Situation, dass jemand ungeplant von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends einspringen muss, dann sind da plötzlich 12 Stunden und der Filialleiter sagt, es dürfen nur 10 eingetragen werden. So beginnt sich das Karussell unbezahlter Überstunden, die häufig nicht offiziell aufscheinen, zu drehen.« Als Grund für den Trend zur ungeplanten Mehrarbeit führt Wolf das Sparprogramm in der Personalpolitik an. Einer Erhöhung der Gesamtzahl der Beschäftigten im Handel stehen die Reduzierung der Stunden sowie massive Produktivitätszuwächse entgegen.
So habe einerseits die Verkaufsfläche pro Angestellten zugenommen, andererseits würden Krankenstände und Fehlzeiten in der Personalplanung nicht mehr berücksichtigt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der ungeplanten Überstunden, die Probleme mit ihrer Verrechnung nehmen dabei mit wachsender Betriebsgröße zu.
»Der Filialleiter hat Budgetvorgaben, die sich mit den Überstunden, die notwendig werden, spießen. Auf dem Weg von der Filiale zur Zentrale gehen Stunden auf mehreren Schnittstellen verloren, wenn der Filialinspektor zum Beispiel Stunden nicht genehmigt, für deren Verrechnung dann andere Lösungen getroffen werden müssen. In der Lohnab-rechung scheint diese Arbeit nie auf.« Im besten Fall bedeuten diese anderen Lösungen Zeitausgleich, allerdings um den Preis des Verlustes von Sozialversicherungsleistungen.
Die Arbeitnehmervertreter fordern daher geregelte Grenzen für Dauer und Lage der Arbeitszeit sowie Zuschlagspflicht, wenn die Arbeitszeit von Seiten der Arbeitgeber verändert wird. Einen ersten Schritt in diese Richtung gibt es im neuen Kollektivvertrag der HeimhelferInnen seit 1. Juni 2004, der Zuschläge auch für Mehrarbeit vorsieht.
Eine weitere zentrale Forderung ist die nach einer Mindestarbeitszeit von vier Stunden, um Zeitausbeutung zu verhindern. Nicht nur der Handel bedient sich dieses Instruments, auch in der Reinigungsbranche kämpfen die Beschäftigten mit zersplitterter Arbeitszeit: Geputzt wird außerhalb der Öffnungszeiten morgens und abends, hinzu kommen unterschiedlich lange Wegzeiten je nach Lage des jeweils zu reinigenden Gebäudes.
Während im Niedrigstverdienstsegment die Quote der überwiegend weiblichen Teilzeitbeschäftigten am höchsten und Teilzeit häufig nicht freiwillig gewählt ist, lässt sich der Wunsch nach Teilzeit in anderen Branchen schwerer erfüllen. Der klassische Halbtagsjob mit der kinderbetreuungsfreundlichen Vormittagsarbeitszeit ist auch andernorts rar. »Bei uns ist das noch relativ moderat, es gibt klare Rahmenbedingungen für Teilzeitarbeit, auch wenn es häufig andere Zeitmodelle sind, auf die man sich dann einigt, etwa tageweise Anwesenheit im Kundenbereich, wo man für den Nachmittag allein keinen Ersatz finden würde«, erzählt Ingrid Streibel, Vorsitzende des Zentralbetriebsrates der BAWAG, aus dem Bankensektor.
Recht auf Elternteilzeit?
Seit 1. Juli 2004 soll ein neues Gesetz Abhilfe schaffen. Das Recht auf Elternteilzeit garantiert nicht nur den Anspruch auf Teilzeitarbeit bis zum siebenten Geburtstag des Kindes, den Beschäftigten wird auch die Möglichkeit zur Mitgestaltung der Arbeitszeit eingeräumt. Allerdings hat die neue Regelung gleich mehrere Haken. Sie gilt nur für jene, die seit mindestens drei Jahren (nur 36 Prozent aller Frauen und die Hälfte der Männer) einem Betrieb mit mehr als 20 Angestellten (acht Prozent aller Betriebe) angehören. Auch dauert der besondere Kündigungsschutz bis maximal vier Wochen nach dem vierten Geburtstag des Kindes. Danach gilt ein Motivkündigungsschutz, der besagt, dass eine Kündigung nicht aufgrund des Teilzeitverhältnisses ausgesprochen werden darf - was sich in der Praxis schwer beweisen lässt.
AK und Gewerkschaften üben Kritik daran, dass dieser Rechtsanspruch nicht nur nicht allen zugänglich, sondern darüber hinaus nur schwer durchzusetzen ist: Sofern der Arbeitgeber nicht zustimmt, bedarf es eines zeit- und kostenaufwändigen Verfahrens. Währenddessen muss erst recht die zusätzliche Kinderbetreuung organisiert werden. Und wer möchte schon weiter für einen Chef arbeiten, mit dem er einmal im Gerichtssaal gestanden ist? »Rechte allein reichen nicht aus«, betont Ingrid Moritz, »es muss ein Kulturwandel im Arbeitsklima stattfinden. Es muss ein Dialog zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stattfinden und ein Konsens darüber gefunden werden, dass die Bedürfnisse von Familien und Kindern auch einen Wert darstellen. Es sollte die Aufgabe der Regierung sein, ein Klima von Verständnis und Sensibilisierung zu fördern, damit diese neuen Rechte auch durchsetzbar sind und nicht in Mobbing enden.«
Rahmenbedingungen verbessern!
Während es Förderungen für Unternehmen gibt, die Ersatzkräfte einstellen, erhalten Arbeitnehmer, die sich für Elternteilzeit entscheiden, keine finanzielle Entschädigung, wie etwa im Fall der Altersteilzeit. »Das würde auch Männer eher motivieren, sich an dem Modell zu beteiligen, denn so bleibt die Betreuungsarbeit wieder an den Frauen hängen«, kritisiert Moritz.
Barbara Theider, Wiener Frauensekretärin der GPA, hat in der Beratung den Eindruck, dass der Wunsch von Frauen nach Elternteilzeit groß ist, sie weiß auch, dass es vielen in der Praxis schwer gemacht wird, diesen Wunsch durchzusetzen. Dennoch sieht sie in dem neuen Rechtsanspruch nicht nur eine Chance, sondern auch eine Gefahr. Denn nicht immer kann bei reduzierter Arbeitszeit die Qualität der Arbeit aufrechterhalten werden, und Frauen nehmen häufig eine Dequalifizierung in Kauf, um den beruflichen Anschluss nicht ganz zu verlieren. Auch Ingrid Streibel betrachtet als Vorsitzende des Zentralbetriebsrates der BAWAG Teilzeit mit einem wohlwollenden und einem kritischen Auge. Häufig werde Teilzeitbeschäftigten weniger qualifizierte Arbeit überlassen, da sie für die laufend nötige Weiterqualifizierung nicht in dem Maß zur Verfügung stehen und am Informationsfluss weniger Anteil haben. Teilzeitbeschäftigte haben für das Unternehmen den Vorteil, in gedrängter Zeit effiziente Leistung zu bekommen. Ein Anliegen des Betriebsrates sei es daher, die Rahmenbedingungen für die positiven Aspekte der Teilzeit zu fördern und den Karriereknick zu verhindern.
»Das Gesetz ist erst jung«, gibt Theider zu bedenken. »Noch gibt es wenig Erfahrungen, wir hoffen aber, dass die Realität der Elternteilzeit keine negativen Auswirkungen auf die Formen der Frauenerwerbstätigkeit schlechthin hat.«
]]>Bei Statistiken, die Arbeitsunfälle und Krankenstände erfassen und die für die Arbeit der Experten unerläßlich sind, um Strategien gegen die Gefahren am Arbeitsplatz zu entwerfen, ist Zynismus nicht angebracht, sie täuschen aber dennoch über Wesentliches hinweg:
Erstens nützt es keinem Toten, Invaliden oder Verletzten, wenn er um einer weniger als im Vorjahr ist. Zweitens werden in den Statistiken nur die Fälle von Versicherten erfasst, die auch als Unfall bzw. als Berufskrankheit anerkannt wurden. Und drittens: Die Ursache, warum Krankenstände weniger häufiger auftreten, liegt nicht darin, dass die Österreicher bzw. in Österreich arbeitenden Menschen plötzlich gesünder werden. Sie gehen einfach auch dann zur Arbeit, wenn ihr Arzt oder Apotheker auf gefährliche Nebenwirkungen aufmerksam macht.
Kein Jubel
»Ich warne davor, in Jubelstimmung auszubrechen«, kommentierte ÖGB-Arbeitnehmerinnenschutzexpertin Renate Czeskleba (siehe Interview), das »Rekordtief« bei den Krankenständen, das laut einer Aussendung der Wirtschaftskammer Österreichs (WKÖ) im September vermeldet wurde. Dies, so die WKÖ, hinge in erster Linie mit Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung zusammen.
»Betriebliche Gesundheitsförderung ist gut, aber noch sehr ausbaubar«, meint Czeskleba, Leiterin des ÖGB-Referats für Humanisierung, Technologie und Umwelt. »Nur: die Leute gehen auch arbeiten, wenn sie krank sind.«
Krankheiten in Ruhe auskurieren können sich heute nur Leute leisten, die Geld bzw. andere Menschen für sich arbeiten lassen können. Birgit B., 46, ist seit etwa zwölf Jahren in einer Schule als Reinigungskraft tätig. Keine großartige Sache, meint sie, dafür anstrengend, aber auch ein sicherer Job mit weniger Arbeit in den Schulferien. Nur wenn sie krank ist, wie seit letztem Winter immer wieder, verliert sie das Gefühl, dass der Job »sicher« ist. Eigentlich sollte sie nichts Schweres heben, wegen der Wirbelsäule und den Bandscheiben. »Vorzeitige Abnutzung«, hat ihr Arzt gemeint. Aber mit den Injektionen geht’s wieder, auch ohne Krankenstand. Denn Angst hat sie, ihren Job zu verlieren wenn sie daheim bleibt.
Kaputtes Kreuz
Kaputte Bandscheiben und Wirbelsäulenschäden allgemein sind eine der Haupt-ursachen, dass Menschen schließlich ihre Arbeit aufgeben müssen. In Europa, so die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, klagt fast jeder dritte Beschäftigte über Rückenschmerzen.
Für krummrückige Freiberufler und andere Menschen, die vorwiegend an Computer und Schreibtisch arbeiten, gibt es zwar Broschüren und auch - von der deutschen Gewerkschaft ver.di entwickelte - Bildschirmschoner, auf denen fröhlich hüpfende Männchen Anleitung zu Ausgleichsübungen geben. Aber wer nicht nur unter Fehlhaltung, sondern auch unter Stress leidet, wird keine Ruhe finden, das Männchen zu ertragen.
Und die Angst den Job zu verlieren, gilt heute als eine der Hauptursachen für Stress. Freiberufler hält das Bestreben, Aufträge zeitgerecht abzuliefern ohne Ausgleichsgymnastik zähe an der Computertastatur. Das Thema Freiberufler bedarf der gesonderten Behandlung. Gut organisierte, mit stählerner Disziplin, werden ganz einfach nicht krank oder haben eine teure Zusatzversicherung. Andere, mit schlechterem genetischen Material, mögen auf die Frage des Arztes »Soll ich Sie krank schreiben?«, mit leichter Krise reagieren.
Stress
Dauerstress macht krank, das weiß der Laie, und das wurde auch von Experten herausgefunden. Laut dem AUVA-Fachmagazin für Prävention in der Arbeitswelt »Sichere Arbeit« sind ein Viertel der Arbeitnehmer in Österreich von arbeitsbedingtem Stress betroffen. Dafür verantwortlich sind Zeitdruck, zu wenig Handlungsspielraum oder auch Über-, bzw. Unterforderung. Die Arbeitgeber können es aber auch wirklich keinem recht machen. »Chronischer Stress kann zu körperlichen Schäden führen und erhöht die Krankenstandshäufigkeit und Dauer«, wissen die Arbeitsmediziner.
Angst
»So wenig Krankenstände wie noch nie«, meldete auch die Tageszeitung »Die Presse« am 30. September in einem Beitrag, der die Jubelmeldung der WKÖ sogar durchaus kritisch hinterfragte. »Ist es die Angst vor einem Jobverlust in konjunkturell schwierigen Zeiten? Oder werden die Österreicher tatsächlich immer gesünder?«, lautete die Frage. Denn statistische Tatsache ist, dass die Zahl der Krankenstände seit 1993 kontinuierlich rückläufig ist. War 1993 noch jeder Arbeitnehmer, für Beamte liegen keine aktuellen Zahlen vor, im Durchschnitt 15,1 Tage im Krankenstand, so werden es heuer, laut Hauptverband der Sozialversicherungsträger, nur mehr 12,5 Tage sein. Eine Verminderung anerkannter Berufskrankheiten meldet auch die Allgemeine Unfallsversicherungsanstalt (AUVA), bei der rund drei Millionen Erwerbstätige, 1,3 Millionen Schüler und Studenten und zahlreiche freiwillige Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Rettungsdiensten versichert sind. So wurden 2003 um 16 Prozent (224 Fälle) weniger Berufskrankheiten anerkannt. Führend dabei sind: Lärmschwerhörigkeit, Haut- und Infektionskrankheiten sowie Asthma bronchiale.
Gespräche mit Betriebsräten machen eines deutlich: Die Menschen werden nicht gesünder, im Gegenteil. Sie gehen einfach auch dann zur Arbeit, wenn sie krank sind.
Unfälle
Bei Unfällen kann sich der Mensch nicht selbst austricksen. Wenn er müde wird, kann es sein, dass er einfach wo herunterfällt. Zwar wird auch in der Sparte »Arbeitsunfälle« im Zeitraum 1993 bis 2003 insgesamt ein Rückgang von der AUVA vermeldet. Im Vorjahr allerdings ist die Zahl der »anerkannten Schadensfälle« insgesamt um ein Prozent gestiegen. Insgesamt betroffen waren 177.626 Personen.
Davon entfielen 121.303 auf Erwerbstätige und 56.323 auf Schüler und Studenten. Besonders »anfällig« waren die Arbeiter: Hier stieg die Zahl der Schadensfälle um 5378, bei den Angestellten um 708, bei den selbständig Erwerbstätigen um 82.
Von den 121.303 Schadensfällen Erwerbstätiger waren 120.125 Arbeitsunfälle und 1178 Berufskrankheiten. »Sowohl die Zahl der Arbeitsunfälle im engeren Sinn als auch die Wegunfälle stiegen gegenüber 2002«, heißt es im AUVA-Bericht zum Vorjahr. So stiegen die Arbeitsunfälle um 5040 auf über 108.000, die Unfälle auf dem Weg von bzw. zur Arbeit um 1263 auf über 12.000.
»2003 wurden 251 tödlich verlaufene Schadensfälle Erwerbstätiger anerkannt, um 29 mehr als 2002. Davon: Arbeitsunfälle 133 (um elf weniger als im Vorjahr), Wegunfälle 73 (um elf mehr) und Berufskrankheiten 45 (um 29 mehr).«
Einen »Erfolg« gab es im Baubereich, bei dem laut AUVA die Zahl der Todesfälle am meisten, nämlich von 28 auf 21, gesenkt werden konnte.
Schadensfall Milan
Milan J. zum Beispiel ist ein »Schadensfall«, der nirgends aufscheint. Er ist ein »Rigips-Mann«, 29, und ziemlich dürr für einen, der zwei, manchmal drei, sechs Quadratmeter große Rigipsplatten auf einmal schleppt. Normaltrainierte Heimwerker schaffen gerade das Quantum für die Verkleidung des Wohnzimmers, sechzehn Stück, dann große Pause. Milan schleppt den ganzen Tag, manchmal steigt er auch aufs Gerüst: Außenverkleidung. Und eines Tages, gerade vor Feierabend, ist er dann heruntergefallen. Zum Glück nicht tief und zum Glück war nur der Knöchel verstaucht. Versicherung? »Nix Versicherung. Die Frau geht mehr putzen, bis ich wieder Platten tragen kann.« Bei einer anderen Firma, weil von seiner letzten weiß Milan nicht einmal den Namen, nur die Handy-Nummer. »Bei der ersten Subfirma geht der Arbeitnehmerschutz auf Null«, weiß auch Renate Czeskleba.
Gefahr: Lenken
Ähnlich ist es bei den Berufslenkern, die im Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen zerrieben werden. Bei »Fahrzeugen und anderen Beförderungsmitteln«, so die AUVA-Statistik, ist die Zahl der Todesfälle im Jahr 2003 von 116 auf 128 gestiegen.
»Arbeitgeber haben immer weniger die Bereitschaft, den Lenkern Zeit für notwendige Arbeiten vor Fahrtantritt einzuräumen und vor allem, diese zu bezahlen«, berichteten Referenten bei der AK-Veranstaltung »Ausgeliefert - Arbeitsbedingungen der Berufslenker im Oktober des Jahres«. Denn obwohl der Sektor Straßengütertransport in Österreich nur zwei Prozent der Beschäftigung ausmacht, finden 15 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle in dieser Branche statt.
Keine Kontrolle
Steigender Druck und Stress sind die Hauptgründe. Die Zeit für die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolltätigkeit vor Fahrtantritt - die bei Lkw mit Anhängern bis zu 100 Minuten dauern kann - wird den Lenkern vom Arbeitgeber immer häufiger verwehrt bzw. nicht bezahlt.
Christoph Herrmann, Autor einer AK-Studie mit dem Titel »Arbeitsbedingungen im Straßengütertransport«, nennt den beinharten Wettbewerb zwischen den Fuhrunternehmen als neue, zusätzliche Belastung der Arbeitsbedingungen der Lkw-Lenker. Wer sich an die gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorschriften hält, wird vom Markt verdrängt.
Anders als in Österreich ist in Deutschland die strafrechtliche Verfolgung von Fuhrunternehmen, die »billige« ausländische Kräfte zu sklavenartigen Bedingungen verdingen, seit 1998 Praxis. Die Vorgangsweise der Straftäter ist laut Christoph Thaler vom Hauptzollamt München immer die gleiche: »Billige Leute einstellen, ohne Steuer- und Sozialversicherung, Verschleiern von Überschreitungen der Ruhezeiten …« Und vieles mehr.
Vieles gebe es noch zu tun, auch wenn die Zahl der Krankenstände zurückgegangen und auch die »tödlich verlaufenden Schadensfälle« nicht eklatant gestiegen sind.
In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle in Österreich um 40 Prozent zurückgegangen. »Aber jeder Arbeitsunfall ist einer zuviel«, meinte auch ÖGB-Präsident Verzetnitsch am 28. April, dem »Commemoration Day«, an dem weltweit jener Menschen gedacht wird, die bei der Arbeit tödlich verunglückt sind.
Weltweit starben 2002, nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), rund 2,250.000 Menschen aufgrund von Arbeitsunfällen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen.
]]>Wahnsinn: Die haben euch da hin geschickt als »Ersthilfe«?
Ja, das war für mich eine Arbeit, die war wirklich prägend. Ich hab viel gelernt von den Arbeitslosen dort. Zum Beispiel, dass man Arbeiter und Arbeitslose nicht anlügen oder ihnen Hoffnungen machen soll, sondern mit ihnen über die Situation reden soll, wie sie ist.
Auf dem Umweg über solche Projekte hast du dann in den ÖGB gefunden?
Nein, dann habe ich ein Jahr in einem Gymnasium in Graz unterrichtet. Parallel dazu habe ich eine Ausbildung gemacht zur Gestaltpädagogin. Also typisch: Studienabschluss und kein Job. Ich hab in der Zeit auch eine Ausbildung zur Erwachsenenbildnerin gemacht. Das kommt mir heute alles zugute. Was ich damals gelernt habe ist, dass man nicht zu den Menschen reden soll, sondern mit ihnen. Sobald ich das erste feste Anstellungsverhältnis hatte, dass war bei »Jugend am Werk«, bin ich der Gewerkschaft beigetreten. 1992 bin ich nach Wien gezogen. Beim ÖGB-Bildungsreferat habe ich dann angefangen, weil die Arbeit dort Herausforderung war und Spaß gemacht hat. Nach einem Jahr habe ich in das Referat »Humanisierung, Technologie und Umwelt« gewechselt und relativ bald die Umweltagenden übernommen und 1996 auch die Leitung des Referates. Dann hatte ich plötzlich den gesamten Bereich dieser Abteilung in meiner Verantwortung - inklusive des Johann-Böhm- Fonds. Auch heute noch werden übrigens Diplomarbeiten, Dissertationen und Abschlussarbeiten von Fachhochschulen, die Bezug zur Arbeitswelt haben, gefördert.
Eine sehr umfassende Abteilung, die natürlich wie alle auch leicht unterbesetzt ist …
Neben mir arbeitet eine zweite politische Sekretärin im Referat und eine Büroassistentin. Dass ich derzeit das dritte Jahr mit dem Chancen-Nutzen-Büro zwei politische Sekretäre und eine halbe Bürokraft im Referat habe, liegt daran, dass wir um EU-Fördermittel für das Thema »Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt« angesucht haben.
Die Arbeiterkammer hat ja auch so -eine Abteilung?
Ja, ich bin froh über die Zusammenarbeit mit der Arbeiterkammer. Gemeinsam entwickeln wir Themen und führen Veranstaltungen durch, zum Beispiel in Wien, in Salzburg, in Graz oder in Linz. Mindestens so eng arbeite ich auch mit den Arbeitnehmerschutzdelegierten der Gewerkschaften zusammen. Sie sind in den Unternehmen und wissen am besten, wo Kolleginnen und Belegschaftsvertretungen der Schuh drückt.
Mit ein Grund, warum die Arbeitsunfälle zurückgegangen sind. Unternehmer heben aber den Rückgang der Krankenstände hervor und vergessen oft, dass der Grund im verstärkten Arbeitsplatzdruck zu suchen ist, dass die Leute arbeiten gehen, auch wenn sie krank sind.
Das ist auch meine Erfahrung aus Gesprächen mit Betriebsräten. Ein Mehr an betrieblicher Gesundheitsförderung ist mehr als wünschenswert. Sie ist im Vergleich zu dem, was bis jetzt im Arbeitnehmerinnenschutzumgesetz umgesetzt wurde, noch sehr ausbaubar. Krankenstände sind nur ein Indikator für Arbeitsbelastungen, Unfälle sind ein weiterer Indikator, genauso wie Invaliditätspensionen, aber auch Arbeitszufriedenheit. An dieser fehlt es oft. Die meisten Invaliditätspensionen kommen aufgrund von Muskel- und Skeletterkrankungen zustande. An zweiter Stelle stehen schon die psychiatrischen Erkrankungen. Arbeitnehmer schlucken ihren Stress runter und es kommt oft viel später zu Erkrankungen und Berufsunfähigkeit. Die Angst vorm Jobverlust ist eben sehr groß und einer der größten Stressursachen.
Ich habe da eine Statistik gesehen, die größte Angst ist jetzt vor dem Versagen oder Zusammenbruch des Gesundheitssystems.
Ja, du kannst die Menschen in der Arbeitswelt nicht für blöd verkaufen. Sie merken einfach, dass das mit der Gesundheit eine Zeitbombe ist. Seitens der Krankenkassen ist die betriebliche Gesundheitsförderung erst vorsichtig im Anlaufen. Eigentlich müssten AUVA und die anderen Sozialversicherungen viel mehr zusammenarbeiten, damit Krankenstände nachhaltig zurückgehen und Arbeitnehmer gesund in Pension gehen können. Arbeiten ist immer noch gesundheitsgefährlich! Neben unergonomischer körperlicher Schwerarbeit ist Stress ein Hauptfaktor für arbeitsbedingte Erkrankungen. Jeder dritte Arbeitnehmer und jede dritte Arbeitnehmerin klagt über arbeitsbedingten Stress. Das bestätigen europäische Studien, aber auch österreichische. Deutsche Studien und Studien in den nordischen Ländern sagen aus, dass 50 Prozent aller Erkrankungen arbeitsbedingt sind. Du weißt, es gibt Berufskrankheiten, z. B. Staublunge, Asbestose oder Hauterkrankungen. Doch wenn sich Arbeitnehmer aufgrund von Bildschirmarbeit kranke Augen und Haltungsschäden zuziehen, handelt es sich zumindest zum Teil um arbeitsbedingte Erkrankungen.
Arbeitsbedingt und berufsbedingt ...
Berufskrankheiten sind Krankheiten, die in einer Liste geführt werden und nur einen kleinen Teil der arbeitsbedingten Erkrankungen berücksichtigen. Berufskranke erhalten eine Pension über die AUVA. Arbeitsbedingte Erkrankungen werden zu 100 Prozent mit den Mitteln der Krankenkassen behandelt. Dass 50 Prozent von diesen 100 Prozent eigentlich arbeitsbedingt sind, ist kaum jemandem bewusst. Arbeitsbedingte Erkrankungen kommen aufgrund körperlicher Belastungen und aufgrund psychischer Belastungen zu Stande.
Bei psychischen Krankheiten haben die Leute immer noch Vorurteile …
Ja, leider. Nimm zum Beispiel einen Betriebsrat oder einen Arbeitnehmer, der sagt »Ich bin psychisch belastet« oder »Ich habe Stress«. Dann sagen alle »Der spinnt, der soll zum Vogerldoktor gehen!«. Aber es kümmert sich nicht wirklich jemand um ihn oder sie. Die einschlägigen wissenschaftlichen Studien sind da ernst zu nehmen. Zum Beispiel sind 70 Prozent aller Kreuzbeschwerden psychisch bedingt. Das ist eigentlich leicht nachvollziehbar: Wenn du gestresst bist, sitzt du nicht entspannt, sondern sehr angespannt an deinem Arbeitsplatz. Langfristig kommt es so zu Fehlhaltungen und letztendlich zu Abnützungen der Muskeln und der Knochen.
WenigerUnfälle ist natürlich ein Erfolg. Die meisten Unfälle, stelle ich mir vor, sind auf der Baustelle und …
Baubranche und Metallbranche. Das sind die Spitzenreiter.
Also in der Fabrik, die Maschinen ...
Fabrik ja, aber es gibt auch viel Metallarbeiten auf Baustellen. In der Produktion, besonders in größeren Unternehmen, gibt’s zunehmend Konzepte zur Unfallreduktion, die auch wirken.
Das rechnet sich ja auch.
Ja, da gibt’s Win-win-Situationen. Gesundheit muss organisiert werden. Im Baubereich ist die Situation schlimm, weil neben Sicherheitsrisiken und körperlicher Extrembelastung gibt es Druck und Stress. Leider sind Vorschriften wie die Erstellung eines Gesundheit- und Sicherheitsplanes noch immer nicht umgesetzt. Große Konzerne bemühen sich da noch leichter um den Arbeitnehmerschutz als die vielen Subunternehmen! Ein altes Problem: Subunternehmen, Schwarzarbeit. Und sobald du in die erste Subfirma gehst, geht der Arbeitnehmerschutz gegen Null.
Und die Arbeitsinspektion?
Die Arbeitsinspektionskontrolle ist personell immer noch unterbesetzt, insbesondere, wenn es darum geht, Arbeitszeiten zu kontrollieren. Überlange Arbeitszeiten sind nicht nur im Bau ein besonders sensibles Thema, wenn es um die Gesundheit geht.
Da sollten doch die Leute vom Zoll eingesetzt werden?
Nein, daraus ist leider nichts geworden.
Nur Schwarzarbeit. Also Alibiaktion?
Die Arbeitinspektion hat 300 Leute, die wirklich in die Betriebe gehen, das ist zu wenig, um die Einhaltung der Sicherheitsstandards und der Arbeitszeiten zu kontrollieren. Effiziente Kontrollen beinhalten Nachtausgänge, aber auch zum Beispiel den Vergleich von Arbeits--zeit-aufzeichnungen mit Gehaltsabrechnungen oder Daten der Gebietskrankenkasse!
Da war doch so ein Theater, weil die sich ja vorher ankündigen müssen. Die dürfen ja nicht überraschend kommen, hat der Wirtschaftsminister gesagt ...
Du redest von der Novellierung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetz 2001. Wir konnten die Arbeitspsychologen in das Gesetz bekommen - im Gegenzug mussten wir akzeptieren, dass die Arbeitsinspektoren jetzt ankündigen dürfen und bei Kontrollen nicht nur die Arbeiterkammer, sondern auch die Wirtschaftskammer mitnehmen dürfen.
Dürfen? Sie müssen nicht?
Sie müssen sich nicht ankündigen. Und sie dürfen sich auf keinen Fall ankündigen, wenn es um Gesundheit und Leben geht. Die Praxis schaut leider so aus, dass es einen ersten Missbrauch gibt, in einer Landes-Wirtschaftskammer, wo ein Betrieb von der Wirtschaftskammer über eine Kontrolle vorgewarnt wurde.
Ach ja, das war vor kurzem in den Zeitungen.
Viele Arbeitnehmerinnen und Betriebsräte haben das befürchtet.
Ist da jede Kontrolle lächerlich?
Naja, das Gesetz an sich ist so formuliert, dass die Arbeitsinspektion zu Recht sagen kann: »Ja, wir haben doch den Spielraum, unangekündigt zu kontrollieren.« Die Praxis ist so, dass wenn die Arbeitsinspektion mit der Arbeiterkammer in ein Unternehmen geht, sie die Wirtschaftskammer darüber informieren muss.
Jetzt ist da einer in der Firma und denkt sich, da geht’s ja wirklich rund, wir müssen einmal wen herholen, der sich das anschaut. Wie macht er das, ohne dass er selber draufzahlt?
Das ist im Arbeitsinspektionsgesetz sehr gut geregelt. Ein Arbeitsinspektor, der gerufen wird, darf nicht sagen, wer ihn gerufen hat. Arbeitsinspektoren sind meiner Erfahrung nach da sehr vorsichtig und halten sich an ihre Schweigepflicht. Das ist nicht das Problem der Arbeitsinspektoren. Ihr Problem ist, dass sie zu wenig Zeit haben …
Und unterbesetzt sind ...
… unterbesetzt sind und dass Arbeitszeit eines der wichtigsten Probleme ist, die am wenigstens kontrolliert werden.
Was ist noch ein Problem?
Zum Beispiel die Integration älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die müssen später in Pension gehen, sind zu diesem Zeitpunkt aber oft schon sehr krank. Oder die Integration behinderter Menschen in die Arbeitswelt. Die Themen Stressprävention und Prävention von arbeitsbedingten Erkrankungen hängen mit der Integration Älterer oder von Menschen mit Behinderung eng zusammen. Dass 50 Prozent des gesamten Krankheitsgeschehens arbeitsbedingt sind, ist ein Alarmsignal.
Das müssen wir uns alle vor Augen halten, das betrifft ja wirklich alle.
Ich sehe seitens der Regierung keine Anzeichen, dass sie sich dieses Themas wirklich annimmt.
Wie ist das als Frau in der Organisation? So viele Frauen haben wir ja immer noch nicht. Obwohl wir uns bemühen.
Es ist nicht so, dass es sie gar nicht gibt, die Frauen, es gibt sie halt fast nur auf der dritten Ebene. Du hast sie nur vereinzelt in Präsidien beispielsweise und auf der zweiten Ebene sehr sehr selten.
Bis zur europäischen Ebene geht das -so.
Ich sage dir einen kritischen Satz zu »Frauen in Führungspositionen«, weil ich selber ein bisschen in einer Führungsposition bin. Ich glaube, dass Frauen, auch wenn sie in Führungspositionen sind, typisch weibliche Themen »ausfassen«: zum Beispiel Gesundheit, Beratung, Service und andere so genannte »Soft-Themen«. Gott sei Dank gibt es Frauen dort! Auch ich arbeite sehr gerne im Bereich Arbeit und Gesundheit. Das widerspricht dem nicht. Ein weiteres Phänomen sind die Informationsflüsse, Frauen werden weniger und anders informiert als Männer. Auch innerhalb unserer Organisation. Natürlich gibt es Ausnahmen.
Zurück zu deinem Aufgabenbereich. Er betrifft uns alle direkt und täglich: Humanisierung, Arbeitnehmerschutz. Wie geht’s denn weiter? Wie sind denn die Aussichten für mehr Humanisierung?
Für die Arbeitnehmer in den Unternehmen und Dienststellen wird es deutlich härter. Der Zeitdruck nimmt immens zu. Es gibt in allen Branchen schon Leistungsverträge und Zeitvorgaben, die schwer einzuhalten sind. Mehr Arbeit in weniger Zeit und gleichzeitig Benchmarking. Das Referat Humanisierung hat zum Arbeitnehmerschutz in den letzten Jahren eine Kampagne durchgeführt. Ich werde auch versuchen, betriebliche Gesundheitsförderung noch mehr zum Thema zu machen. Größte Probleme sind arbeitsbedingter Stress und arbeitsbedingte Erkrankungen. Ich glaube, dass wir da als Arbeitnehmerorganisationen hier noch deutlich mehr bewegen müssen als bisher!
Was sollen die Betriebsräte machen? Oder überhaupt die Arbeitnehmer?
Betriebsräte haben ein hervorragendes Problembewusstsein. Viele Belegschaftsvertreter erleben am eigenen Leib, was Neoliberalismus, Rationalisierung und Arbeitsdruck ist. Da helfen Gesetze allein nicht. Trotzdem: Betriebsräte sind oft kompetenter, als ihnen selbst bewusst ist und wissen, dass sie sich vernetzen müssen - mit ihrer Arbeitsmedizinerin, mit dem Arbeitspsychologen. Immer wieder rufen Belegschaftsvertretungen auch zum Beispiel zum Thema Stress in ihrer Gewerkschaft an, natürlich auch bei mir. Meine Aufgabe ist es auch, etwa mit den Vertretern der Arbeitsmedizin oder der AUVA und dem Netzwerk zur betrieblichen Gesundheitsförderung an der Entwicklung und Verbesserung der betrieblichen Betreuung zu arbeiten.
Was für eine Rolle spielen Betriebsräte im Arbeitnehmerschutz?
Das kann man im Arbeitsverfassungsgesetz nachlesen. Der Betriebsrat darf und muss kontrollieren, ob in seinem Unternehmen Arbeitnehmerschutz stattfindet. Viele Betriebsräte unterstützen ihre Arbeitsmedizinerin bei ihrer Arbeit. Eine Arbeitsmedizinerin, die keinen Betriebsrat hat, der sie unterstützt, ist in ihren Möglichkeiten eingeschränkt.
Das ist ein wichtiger Hinweis.
Das gleiche gilt für die Sicherheitsfachkräfte. Aber bei den Arbeitsmedizinerinnen oder auch Arbeitspsychologen und Sicherheitsvertrauenspersonen ist der Betriebsrat noch wichtiger.
Das ist eh nur in den großen Firmen. Die anderen haben ja keinen?
In kleinen Firmen, also in Arbeitsstätten bis 50 Arbeitnehmern, kann man die Arbeitsmedizinerinnen und Sicherheitsfachkräfte von der AUVA kostenlos anfordern. Die AUVA kann auch gerufen werden, wenn es besondere Anlässe, Unfälle, Erkrankungen, besondere Gefahren gibt. Betriebsräte müssen mit diesen Fachkräften zusammenarbeiten und jede mögliche Unterstützung ausreizen, wenn sich die gesundheitliche Situation in ihrem Betrieb verbessern soll.
Meine Vision ist ein gesunder Bauarbeiter, der 65 Jahre alt, eine gesunde Altenpflegerin, die 65 Jahre alt ist!
Wir danken für das Gespräch.
]]>Im Rahmen eines Referates in einer Gewerkschaftsschulklasse in Graz haben wir uns intensiv mit dem Thema Kampagne auseinander gesetzt. Schon in den ersten Minuten war klar, hier sitzt ein hochmotiviertes Team, das »scharf« darauf ist, eine kreative Aktion im Rahmen des Sozialstaat-Volksbegehrens durchzuführen. Nachdem wir die Grundsätze von Kampagnen und einige Beispiele gemeinsam diskutiert hatten, entschied sich die Gruppe, eine Aktion durchzuführen. Ich war gespannt zu erfahren, für welche Aktionsform sie sich letztendlich entschieden hatten. Erfahren habe ich es dann durch einen Anruf des Landessekretärs, der das Gespräch mit den Worten: »Du kommst mir nimmer in mein Bundesland! Jetzt muss ich irgendwelche Viecher durch die Landstraße treiben!« begann. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Du weißt gar nicht, wie ich mich auf diese Aktion freue!« Die Gewerkschaftsschule Graz entschied sich im Rahmen des Sozialstaat-Volksbegehrens für eine Aktion, in der sie als »gerupfte Hühner« verkleidet durch die Innenstadt marschierten. Der Hahn war das Symbol für »Sozialstaat Österreich« und die gerupften Hühner waren mit dem Hinweis »So wollen wir nicht ENDEN« versehen.
Veranstalter waren die TeilnehmerInnen der Gewerkschaftsschule Graz. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass der Spaß, den die TeilnehmerInnen bei dieser Aktion hatten, sichergestellt hat, dass sie bei der nächsten Aktion wieder mitmachen.
Manchmal werden Kampagnen auch als letztes Abenteuer in der Organisation bezeichnet, weil man nie sicher weiß, wie es ausgeht.
Einbeziehen
Je stärker die Mitglieder involviert sind, umso stärker ist deine Kampagne!
Kampagnen bieten die Möglichkeit, Mitglieder direkt und ohne hierarchische Grenzen in Aktionen einzubinden. Wir bieten ihnen damit die Chance, hautnah Abläufe und organisatorische Überlegungen miterleben und vor allem mitgestalten zu können. Sie sind weder ZuschauerInnen, noch KonsumentInnen, sie sind aktiver Teil einer Kampagne. In diesem Fall ist es keine Kampagne für sie, sondern eine Kampagne mit ihnen. Das Gefühl, dabei gewesen zu sein, teilen sie in der Regel mit ihren KollegInnen. Positiver Nebeneffekt - der Multiplikationseffekt ist enorm.
Erkläre mir und ich werde vergessen.
Zeige mir und ich werde mich erinnern. Beteilige mich und ich werde verstehen!
Konfuzius
Eine Kampagne bietet die Möglichkeit, Mitglieder direkt für einen gewissen Zeitraum in die Organisation zu integrieren. Sie sind Teil organisatorischer Überlegungen, können Ideen einbringen und Aktionen mitgestalten. Durch dieses Engagement lernen die Menschen Politik aus nächster Nähe kennen - sie erleben Politik. Wer einmal Kampagnen oder Aktionen mit Mitgliedern durchgeführt hat, weiß wie stark sich das Bild vom ÖGB zum Positiven wendet. Mitglieder, die positive Erfahrungen in einer unserer Kampagnen gemacht haben, sind die besten Werbeträger.
Wie stark in einer Kampagne Mitglieder eingebunden werden sollen, muss von Anfang an klar sein. Beteiligung von Mitgliedern bedeutet nicht zwangsläufig, die pure Basisdemokratie auszurufen.
Verschiebe die Auseinandersetzung von einem Schaukampf Gewerkschaft gegen Management zu einem Anliegen der NutzerInnen und des Gemeinwohls!
Was geht das mich an?
Erfolgreiche Kampagnenstrategien zeichnen sich dadurch aus, dass über das Verhältnis Gewerkschaft versus Management noch andere Aspekte mit einbezogen werden. Wenn es beispielsweise zu einem Konflikt in einem Betrieb »Gewerkschaft gegen Management« kommt und wir unsere Kommunikationsstrategie auf die Situation der Beschäftigten reduzieren, wird bis auf die engsten Verwandten und Bekannten kein allgemeines Interesse und leider auch keine breite Solidarisierung erzeugt werden. Es muss gelingen, herauszuarbeiten, welche größere Dimension in diesem speziellen Konflikt beinhaltet ist. Also eine klare Antwort auf die Frage: »Was geht denn das mich an?«
Ein gutes Beispiel dafür war die Auseinandersetzung der FPÖVP-Regierung im Kampf gegen die KollegInnen bei den Österreichischen Bundesbahnen. Es wäre eine vollkommen falsche Strategie, wenn wir anfangen würden, von Unterschieden zu anderen Berufsgruppen, von Tradition, von erkämpften Rechten, etc. zu sprechen. Es wäre zwar politisch korrekt und in Fachkreisen gut argumentierbar, aber für Menschen, die weder das Eisenbahnerdienstrecht noch die spezi-fische Situation der EisenbahnerInnen kennen, nicht nachvollziehbar. Die Gewerkschaft der Eisenbahner ist daher mit ihrer Kampagne »Österreich braucht die Bahn« folgerichtig einen anderen Weg gegangen. Mit der Argumentation, wenn das Konzept der FPÖVP-Regierung durchgeht, dann bedeutet das für die NutzerInnen-(BahnkundInnen) größere Verspätungen, längere Wartezeiten, weniger Züge, teurere Tickets und mangelnde Sicherheit. Der Kampf der EisenbahnerInnen ist ein Kampf gegen die Zerschlagung eines wichtigen Unternehmens. Es ist ein Kampf der EisenbahnerInnen und BahnkundInnen gegen eine neoliberale und parteipolitisch motivierte Zerschlagung der Bahn. Das regionale Herunterbrechen des Slogans »Österreich braucht die Bahn« auf verschiedenste Städte (»Villach braucht die Bahn«) und sogar Dörfer (»Uttendorf braucht die Bahn«), hat das Aufzeigen der Interessen der PendlerInnen noch einmal verstärkt.
Nutze das Internet!
Kann man eigentlich eine größere Kampagne heute noch ohne Internet durchführen? Die Antwort ist klar: Kein/e politische/r AkteurIn, der/die sich in der Medienöffentlichkeit unserer Informationsgesellschaft bewegt, kann auf eine moderne Kommunikationsstrategie im Internet verzichten. Das Internet ist inzwischen die mächtigste Waffe im Werkzeugkasten des Widerstandes. Die Frage lautet also nicht mehr ob, sondern wie? Die Mediendemokratie fordert ihren Tribut. Wer im Internet nicht präsent ist und »vorne liegt«, kann keine erfolgreiche Kampagne führen. Die Frage, die sich jede/r CampaignerIn stellt: »Was muss getan werden, um im Internet kommunikations- und kampagnenfähig zu sein?«
Ein großer Fehler, der bei der Einschätzung der Bedeutung des Internets für die Politik gemacht wird, ist, das Internet als ein Medium unter vielen zu sehen. Das Internet spielt bei einer guten Kampagne eine wesentliche Rolle und wird in Zukunft zu einem immer wichtigeren Medium. Nicht nur, weil es sehr effizient und schnell Informationen an viele EmpfängerInnen verteilen kann, sondern auch, weil es parallel sehr zielgruppenspezifisch informieren kann.
Eine gute Internetseite bietet den UserInnen die Möglichkeit sich an der Kampagne zu beteiligen und bietet zudem auch echtes Service. Dies kann in unterschiedlichsten Formen geschehen.
Die Aufforderung, Leserbriefe an Zeitungen zu schreiben und gleich die E-Mail-Adressen der Leserbriefredaktionen zu veröffentlichen, ist ein echtes Service und eröffnet auf einfache Weise die Möglichkeit, sich für die Anliegen der Kampagne zu engagieren.
Sei konsequent!
Bei etwas härter angelegten, oft provokanten und dadurch natürlich öffentlichkeitswirksamen Aktionen werden oft Fragen gestellt wie:
Na, dürfen die das?
Ist das nicht ein bisschen zu direkt?
Ist das nicht ein bisschen zu radikal?
Ein gutes Beispiel für die Konsequenz von kampfbereiten BetriebsrätInnenen sind die Aktionen der VOEST-BetriebsrätInnen und Post-PersonalvertreterInnen. Im September 2003 demonstrierte eine Abordnung von ca. 400 Beschäftigten und BetriebsrätInnen während der entscheidenden Verkaufssitzung des ÖIAG-Aufsichtsrates vor der ÖIAG-Zentrale in Wien.
Die DemonstrantInnen hatten den Zugang zur Aufsichtsratssitzung mit Einkaufswagen »verdichtet«. Die Auseinandersetzung zwischen den DemonstrantInnen und den Aufsichtsratsmitgliedern spielte sich so ab, dass die Aufsichtsratsmitglieder durch dieses enge Spalier zum Eingang mussten. Es gab lautstarke Buh-Rufe. Papierfetzen wurden geworfen. Der Effekt war, dass der Weg von den AufsichtsrätInnen nur ungern gegangen wurde.
Das festigte die AkteurInnen nach innen. Die Stimmung war: »Jetzt haben wir es ihnen einmal gezeigt, jetzt hatten die auch mal Bammel vor uns.« Es wurde nicht erwartet, dass die Aufsichtsräte ihr Abstimmungsverhalten ändern.
Wichtig war jedoch, was die Akti-vistinnen und Aktivisten empfanden, die sich an der Aktion beteiligten und dem Konfliktgegner »face to face« gegenüberstanden.
Gestalte Bilder!
Bilder prägen sich schneller und tiefer ins Gedächtnis ein als Worte. Sie sind ein grandioses Trägermedium um Gefühle zu produzieren - und Menschen sehnen sich förmlich danach, etwas »spürbar« vermittelt zu bekommen.
Der Zugang zu Gefühlen über Bilder ist unmittelbar und direkt. Dazu kommt, dass Menschen heute immer öfter Worten und Ideen misstrauen. Sie wollen zunehmend durch Bilder nachprüfen können, ob das, was da berichtet, gelehrt, angeboten wird, auch wirklich wahr und authentisch ist.
Die Faszination der Bilder kann man bei Aktionen sehr gut nutzen. Ob in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft oder im sozialen Bereich, man kann den Menschen mit Bildern Gefühle ermöglichen.
Auf Bilder kann nicht verzichtet werden. Deshalb gilt auch: Keine Veranstaltung ohne Logo!
Oder: Was denkst du, wenn du ein Inserat mit dem Text »Zwei schwitzen für Adidas« liest?
Und was denkst du, wenn du das Bild dazu siehst?
Der dritte Teil der Kampagnenserie beschreibt die wichtigsten Kampagneregeln und liefert wertvolle Kampagnentipps.
]]>Karl Marx/Friedrich Engels, 1848,
»Manifest der Kommunistischen Partei«
146 Jahre später warten in Deutschland - als ob es nie eine Zivilisierung des Klassenkampfes gegeben hätte - zehntausende von Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.
Nicht das Gespenst des Kommunismus, vielmehr die Angst geht um in Europa - gepaart mit Wut, Abscheu und tiefem Misstrauen gegenüber den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die ähnlich den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus in die Industriegesellschaft offensichtlich unfähig sind, die unausweichliche Globalisierung der Ökonomie human zu gestalten.
Unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes reden sie vielmehr einer anarchischen Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht, das Wort. 100 Millionen von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen in Europa und den USA und 3 Milliarden Arme, die zusammen ein geringeres Einkommen haben als die 400 reichsten Familien der Erde, klagen an: die Adepten einer Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt jenseits von Angebot und Nachfrage, Spekulanten begünstigt und langfristige Investoren behindert. Sie klagen an: die Staatsmänner der westlichen Welt, die sich von den multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander ausspielen lassen. Sie klagen an: ein Meinungskartell von Ökonomieprofessoren und Publizisten, die meinen, die menschliche Gesellschaft müsse funktionieren wie DaimlerChrysler, und die sich beharrlich weigern, anzuerkennen, dass der Markt geordnet werden muss, auch global Regeln einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit und der Produkte zerstört.
Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrisst. Die Menschen leben und arbeiten in einer globalisierten Ökonomie, die eine Welt der Anarchie ist - ohne Regeln, ohne Gesetze, ohne soziale Übereinkünfte, eine Welt, in der Unternehmen, Großbanken und der ganze »private Sektor« unreguliert agieren können. Die globalisierte Ökonomie ist auch eine Welt, in der Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden arbeiten und Terroristen Teilhaber an einer gigantischen Finanzindustrie sind und so ihre mörderischen Anschläge finanzieren.
Wo bleibt der Aufschrei der SPD, der CDU, der Kirchen gegen ein Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleinere Firmen wie Kadus im Südschwarzwald mit Inventar und Menschen aufkaufen, als wären es Sklavenschiffe aus dem 18.Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrendite und des Börsenwertes dichtmachen und damit die wirtschaftliche Existenz von tausenden mitsamt ihren Familien vernichten? Den Menschen zeigt sich die hässliche Fratze eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus, wenn der Börsenwert und die Managergehälter - an den Aktienkurs gekoppelt - umso höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Der gerechte, aber hilflose Zorn der Lohnempfänger richtet sich gegen die schamlose Bereicherung von Managern, deren »Verdienst«, wie sogar die FAZ schreibt, darin besteht, dass sie durch schwere Fehler Milliarden von Anlagevermögen vernichtet und Arbeitsplätze zerstört haben.
Das Triumphgeheul des Bundesverbandes der Deutschen Industrie über die Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten noch in den Ohren, müssen marginalisierte und von der Marginalisierung bedrohte Menschen sich vom politischen und ökonomischen Establishment als Neonazis und Kommunisten beschimpfen lassen, wenn sie radikale Parteien wählen, weil es keine Opposition mehr gibt und sie sich mit einer Großen Koalition konfrontiert sehen, die offensichtlich die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt, in dem so tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, dass das Blut nur so spritzt, anstatt durch Bürgerversicherung und Steuerfinanzierung die Löhne endlich von den Lohnnebenkosten zu befreien. Nur Dummköpfe und Besserwisser können den Menschen weismachen wollen, man könne auf die Dauer Solidarität und Partnerschaft in einer Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Warum wird tabuisiert und totgeschwiegen, dass es eine Alternative gibt zum jetzigen Wirtschaftssystem: eine -internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb?
Ideen verändern die Welt.
Auch in einer globalen Wirtschaft sind Produktion und Service ohne Menschen nicht möglich. Neue Produktionsfaktoren wie Kreativität und Wissen sind hinzugekommen. Aber das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Kapital ist geblieben. Die Kommunisten wollten den Konflikt lösen, indem sie das Kapital eliminierten und die Kapitaleigner liquidierten. Bekanntlich sind sie daran gescheitert. Heute eliminiert das Kapital die Arbeit. Der Kapitalismus liegt derzeit genauso falsch wie einst der Kommunismus.
Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.
Abdruck mit freundlicher Erlaubnis
aus »DIE ZEIT« 47/2004
Und wozu gibt’s keine Alternative! Natürlich zum Neoliberalismus, also dem System, das die Reichen immer reicher macht und den Ärmeren den Sozialstaat abbaut, die soziale Sicherheit untergräbt und Löhne stetig schrumpfen lässt.
Der Kampfruf der Kritiker der Neoliberalen lautet: »There Are Many And Real Alternatives« - es gibt viele und realistische Alternativen, also TAMARA.
Die neoliberalen Glaubenskrieger -bestreiten natürlich die Existenz oder die Möglichkeit jeder Alternative und wenn dies nicht gelingt, wird diese diskreditiert, was das Zeug hält. Aus ihrer Sicht ist zum Beispiel die Wertschöpfungsabgabe ein Griff in die unterste Lade des Klassenkampfs, obwohl oder gerade weil auch einige weiterdenkende Konservative sich damit ernsthaft beschäftigen.
Zum nicht nur im vereinigten Europa vorherrschenden Grundsatz »Nimm von den Armen und gib den Reichen« gibt es viele und realistische Alternativen. Es war Margaret Thatcher, die neoliberale britische Premierministerin, die immer wieder beteuerte, »there is no alternative«, der Markt werde alles regeln. Die formelhafte Wiederholung dieses Mantras führte dazu, dass viele Menschen, kritische Menschen, Menschen, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen auch leiden, resigniert mit den Schultern zucken und schließlich glauben, dass es wirklich keine Alternative gäbe.
Simples Muster
Der Begriff TINA-Prinzip (auch -Tina-Prinzip) wurde letztendlich von dem leider viel zu früh verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt und steht nicht nur für den Kampfruf der Margaret T., sondern ist die (mehr oder weniger ironisch gemeinte) Bezeichnung für ein bestimmtes, simples Muster, mit der (manche) Politiker(innen) in der Öffentlichkeit Entscheidungen begründen. Die Behauptung, es gebe keine Alternative, so die These, sei aber nicht real, sondern nur ein propagandistisches Mittel, um Kritik in der Öffentlichkeit die Legitimation zu nehmen und eine Diskussion zu unterbinden. TINA hat übrigens auch noch einen Bruder, der von (manchen) Politiker(innen) schamlos in den Mund genommen wird, den »Sachzwang«. In Eckhard Henscheids »Dummdeutsch«3) wird erklärt: »Wenn Politiker oder Parteien etwas halt partout nicht mögen, dann fällt dessen Unterbleiben in die Kategorie der Sachzwänge. Unter der Zwingherrschaft des Sachzwangs werden Wälder und Alleen abgeholzt, Altmühltäler entschärft und prima Betonlandschaften erzwungen - wobei das Zwängende der oft zu engen Sachen oft zu den zwingendsten Lösungen führt.«
Unter dem Schlachtruf TINA erfolgt jetzt der soziale Kahlschlag, ja mehr noch, die Enteignung des erkämpften sozialen Eigentums. Wollen Sie vielleicht die Post oder die Bahn kaufen oder ein paar -Krankenhäuser? Wenn Sie genug Kleingeld haben ...
TINA oder TAMARA? Es geht hier aber nicht um Glaubenssätze, sondern um unsere Zukunft. Und dazu sagt Erich Fried:
»Die Zukunft liegt nicht darin, dass man an sie glaubt oder nicht glaubt, sondern darin, dass man sie vorbereitet.« Darum geht es.
Siegfried Sorz
1) Zum Beispiel im (lamaistischen) Buddhismus und im Hinduismus das »Om« oder »Aum« oder »Om mani padme hum« - wir wollen keineswegs religiöse Gefühle verletzen und uns nur von den pseudoreligiösen der Neoliberalen distanzieren. Siehe auch: Dirk Baecker (Hg.) »Kapitalismus als Religion«, Kulturverlag Kadmos, 2002.
2) Coué empfahl zum Beispiel, den Satz "Mir geht es in jeder Hinsicht täglich besser und besser" zu wiederholen, 20-mal morgens und abends ...
3) Eckhard Henscheid: Dummdeutsch, Reclam-Verlag
Viele zehntausende Arbeitsplätze verloren
Am Ende einer Totalprivatisierung befürchtet der ÖGB den Verlust weiterer zehntausender Arbeitsplätze. Laut Berechnungen der AK führt eine Totalprivatisierung zu einem Verlust an Steuer- und Dividendeneinnahmen des Staates aus seinen Beteiligungen von jährlich rund 250 Millionen Euro.
Dabei wurden die verkauften Firmen vielfach weit unter ihrem realen Unternehmenswert an die privaten Aktionäre verkauft. Etwa bei der OMV in den 1990er-Jahren, vor allem aber z. B. bei Austria Tabak, voestalpine oder Böhler Uddeholm. So erhielten etwa die neuen privaten und mehrheitlich ausländischen Eigentümer der voestalpine AG ihre Anteile um 400 Millionen unter dem tatsächlichen Unternehmenswert zur Zeit des Verkaufes im September 2003.
Mit dem Beginn der Aufsplitterung der verstaatlichten Betriebe gründete sich auch im Jahr 1987 die Arbeitsgemeinschaft ARGE-ÖIAG. Sie ist die Interessengemeinschaft der BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen der ÖIAG-Beteiligungen, der großen Unternehmen in Staatsbesitz bzw. mit staatlicher Beteiligung. Sie koordiniert seit 1987 die Betriebsräte der einzelnen Firmen unter dem Dach der ÖIAG, die in den Teilgewerkschaften der Privatangestellten, der Chemiearbeiter, Handel, Transport, Verkehr, Post- und Fernmeldebedienstete sowie Metall-Textil organisiert sind.
Informationsaustausch, Lobbying und Medienarbeit
Die ARGE-ÖIAG dient dem Informationsaustausch unter den Beteiligungen sowie einer engeren Bindung zu Arbeiterkammer und Gewerkschaften. Mangels einer gesetzlichen Vertretungsmöglichkeit (diese gibt es nur in Betrieben und Konzernen, nicht aber übergreifend für verschiedene Konzerne und Branchen) besteht diese Plattform. Seitens des ÖGB und der AK ist die ARGE-ÖIAG als Plattform anerkannt. So hat die ARGE ein Vorschlagsrecht an die AK betreffend der Besetzung der von Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat der ÖIAG zu besetzenden Mitglieder.
Nach dem Abgang des Gründungsmitgliedes und langjährigen Vorsitzenden der ARGE-ÖIAG, Helmut Oberchristl (Konzernbetriebsratsvorsitzender der voestalpine AG), wurde Anfang November 2004 der Konzernvertretungsvorsitzende der OMV, Leopold Abraham, zum neuen Vorsitzenden der ARGE-ÖIAG gewählt. Als künftige Ziele seiner Vorsitzführung skizziert er verstärktes Lobbying in Politik, Parlament und der Bundesregierung sowie eine aktive Medienarbeit. Die weiteren Präsidiumsmitglieder der ARGE sowie Mitglieder im ÖIAG-Aufsichtsrat sind Gerhard Fritz (GPF-Vorsitzender und Vorsitzender des Zentralausschusses der Bediensteten der Österreichischen Post AG), Anton Beneder (Vorsitzender der Konzernvertretung der VA Tech AG), Michael Kolek, (Vorsitzender des Zentralausschusses der Bediensteten der Telekom Austria AG) und Helmut Oberchristl.
Mitarbeiterbeteiligung und Mitarbeitervorsorgekassen
Als Erfolge der ARGE-ÖIAG unter dem Vorsitz von Helmut Oberchristl bezeichnet Gottfried Sommer, Sekretär der ARGE, die erreichte Mitarbeiterbeteiligung in einigen ÖIAG-Bereichen sowie die Mitarbeitervorsorgekassen. Freilich, die Privatisierungen konnte die ARGE auf ÖIAG-Ebene nicht verhindern, sind doch die Arbeitnehmervertreter in der ÖIAG nur im Aufsichtsrat und da auch nur als Minderheit vertreten. Allerdings hat die ARGE kräftig dazu beigetragen, dass z. B. die Proteste gegen den Verkauf der voestalpine AG ein so großes mediales Echo und so viel Unterstützung in der Bevölkerung gefunden haben.
Die Rolle der ARGE zeigte sich auch in Sachen VA Tech. Als die Firma Siemens ein Angebot zur Übernahme der VA Tech-Aktien bekannt gab, wurde die ARGE-ÖIAG als Informationsdrehscheibe und Backoffice für den Konzernbetriebsrat tätig. Über den ARGE-Sekretär liefen in diesen Wochen die Koordination von Pressekonferenzen, die Medienbeobachtung und Lobbyingtätigkeiten. »Die Entscheidungen über die Zukunft der VA Tech sind weiterhin in Österreich zu treffen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die ÖIAG als stabiler Kernaktionär bleibt«, verlangte ARGE-ÖIAG-Vorsitzender Leopold Abraham bei der letzten Aufsichtsratssitzung Anfang Dezember 2004. Ähnlich die Forderung von AK Direktor Werner Muhm zur geplanten Mehrheitsübernahme der VA Tech durch Siemens: »Die ÖIAG muss als Kernaktionär an der VA Tech beteiligt bleiben und bei einer eventuellen VA Tech-Kapitalerhöhung voll mitziehen. Nur ein stabiler Kernaktionär ÖIAG kann für den Zusammenhalt des Konzerns sorgen.«
Dass es die ARGE-ÖIAG weitergeben soll, ist für die Belegschaftsvertreter keine Frage. Eine andere Frage ist, in welcher Form: So ist die ARGE-ÖIAG ja direkt an die ÖIAG-Beteiligungen gebunden. Der derzeitige Regierungsauftrag zur ÖIAG sieht vor, dass nach erfolgten Privatisierungen - als Ziel ist Ende 2006 vorgegeben - die ÖIAG als Gesellschaft aufgelöst werden und eine BBMG,
Bundesbeteiligungsmanagement-Gesellschaft die künftigen Aufgaben übernehmen soll. Damit ist die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung dieser ARGE gegeben. Für die Zukunft fordert Leopold Abraham daher, dass die ÖIAG eine echte Beteiligungsholding wird und nicht zur Ausverkaufsholding verkommt: »Angesichts der wirtschaftlichen Lage ist es wichtig, dass grundsätzliche Entscheidungen in Österreich getroffen werden.«
Dass die Befürchtungen der Arbeitnehmervertreter der ARGE-ÖIAG nicht aus der Luft gegriffen sind, beweist das Geschäftsziel der ÖIAG, nachzulesen auf deren Homepage:
»Die Österreichische Industrie Holding AG ist die Beteiligungs- und Privatisierungsagentur der Republik Österreich. Die ÖIAG praktiziert in ihrer Eigenschaft als Beteiligungs, und Privatisierungsagentur eine Doppelstrategie: einerseits die Wertsteigerung der ihr anvertrauten Beteiligungen, andererseits das ständige Prüfen von Exit-Szenarien sowie - so ein Regierungsauftrag besteht - die Teil- oder Vollprivatisierung des Unternehmens.«
Das heißt, zuerst die Betriebe auf Staatskosten, auf Kosten der Beschäftigten und Steuerzahler herzurichten, um sie dann an Private »wertsteigernd« zu verkaufen. Und man muss ergänzen, auszuverkaufen: So hat der jetzige Kapitalmarktbeauftragte der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung, Richard Schenz, noch als OMV-Generaldirektor im Frühjahr 2000 die Befürchtung geäußert, dass die Privatisierungen »die Verstaatlichte zu einem gefundenen Fressen für die Multis« machen würde.
Ausverkauf Österreichs?
Tatsächlich summierte sich bis zum Jahr 2002 der Bestand an ausländischen Direktinvestitionen in Österreich bereits auf 41,2 Milliarden Euro. Das war fast das Doppelte von 1999, also vor Beginn der Totalprivatisierung, und das Fünffache von 1990 (8,51 Mrd. Euro). Dabei stammt fast die Hälfte des Auslandskapitals in Österreich allein aus Deutschland. Und hätte es noch eines Beweises bedurft, dann liefern die Vorgänge um die Übernahme der VA Tech durch die Siemens Austria, einer 100-prozentigen Tochtergesellschaft des deutschen Siemens-Konzern, das traurige Anschauungsmaterial. Soviel auch zur Beteuerung der Regierung, bei den Privatisierungen der ÖIAG-Beteiligungsbetriebe auf den Erhalt einer österreichischen Kernaktionärsschaft zu achten.
Gut für die Aktienbesitzer
Handelt es sich bei den jetzt zur Privatisierung anstehenden Betrieben vielleicht um schlechte Betriebe? Wären die verstaatlichten Betriebe nicht gut geführt worden, es würde sich wohl kaum ein Privater darum reißen. Wie die ÖIAG-Betriebe in Summe an der Börse liegen, darüber gibt der ÖIAG-Börsenindex Auskunft. In Dekade 1993 bis 2002 lag dieser immer über dem ATX, bis 2000 im Schnitt um 20 Punkte darüber. Von 1994 bis 2002 haben die ÖIAG-Betriebe 13 Milliarden Schilling oder 1,18 Milliarden Euro an Dividenden an den Staat abgeliefert.
In Zukunft geht der Staat leer aus. Das ist gut für die Aktionäre, arg für Beschäftigte und eine eigenständige österreichische Industrie. Nicht die Beschäftigten und die Betriebsräte, die sich gegen Privatisierungen wehren, sind arg, sondern die Privatisierungs- und Ausverkaufspolitik der Regierung.
Diese geht nach dem Motto »zuerst privatisieren, dann liquidieren« vor, wie es der Tiroler AK Präsident Fritz Dinkhauser anlässlich der geplanten Schließung von zwei Austria Tabak-Werken ausdrückte. Die Austria Tabak wurde 2001 an den britischen Konzern Gallaher verkauft. Kaum ist die bis Ende 2004 abgegebene Arbeitsplatz- und Standortgarantie abgelaufen, kündigt der Konzern die Schließung der Produktionen in Schwaz/Tirol und Fürstenfeld/Steiermark an. 160 Beschäftigte sind davon betroffen. Für den Vorsitzenden der ARGE-ÖIAG, Leopold Abraham, zeigt das Beispiel Austria Tabak, dass Arbeitsplatz- und Standortgarantien nichts als großspurige Ankündigungen sind - in der Realität Totalprivatisierung nur zu Arbeitsplatzvernichtung und zur Vernichtung von Volksvermögen führt. So hat Gallaher die 2001 für die Austria Tabak bezahlten 770 Millionen Euro schon nach fünf Jahren wieder zurückverdient. Die Vorgänge bei der VA Tech haben für Abraham die gleichen Vorzeichen wie sie derzeit bei den ATW zu Tage treten: »Abbau von Arbeitsplätzen in den Bereichen, wo Siemens und VA-Tech sich gemeinsam am Markt bewegen, sind programmiert. Da nützt auch eine Standort- oder Arbeitsplatzgarantie nichts.« Als Konsequenz fordern die ÖIAG-Belegschaftsvertreter, dass sich der Staat nicht unter die Sperrminorität von 25 Prozent plus eine Aktie aus den Unternehmen zurückziehen soll. Das gelte insbesondere für die Telekom, wie es von Minister Grasser auch schon mit Vertretern von Belegschaft und Gewerkschaft schriftlich vereinbart ist. Ein Börsegang der Post AG zum derzeitigen Zeitpunkt wird ebenfalls abgelehnt.
A B K Ü R Z U N G E N :
Aktienindex: Kennziffer für die Entwicklung des Kursdurchschnitts der bedeutendsten Aktiengesellschaften.
ARGE-ÖIAG: Arbeitsgemeinschaft der BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen der ÖIAG-Beteiligungen, d. h. der großen Unternehmen in Staatsbesitz bzw. mit staatlicher Beteiligung.
ATX: Aktienindex der Wiener Börse.
GPF: Gewerkschaft der Post- und Fernmeldebediensteten.
ÖIAG: Österreichische Industrieholding AG, Holding der großen Unternehmen in österreichischem Staatsbesitz bzw. mit staatlicher Beteiligung.
OMV: Die OMV (früher: Österreichische Mineralöl Verwaltung) ist einer der führenden Erdöl- und Erdgaskonzerne in Mittel- und Osteuropa mit weltweiten Explorations- und Produktionsaktivitäten. Die integrierten Chemieunternehmen in der OMV produzieren Melamin und Geotextilien. Gemessen am Konzernumsatz und der Marktkapitalisierung ist OMV das größte börsennotierte Industrieunternehmen Österreichs.
VA Tech AG: VA Technologie AG. Der Konzern verfügt über führende internationale Positionen in den Bereichen Metallurgietechnik, Hydraulische Energieerzeugung, Energie-übertragung und -verteilung, Wassertechnik sowie Infrastruktur. Hervorgegangen aus den verstaatlichten Betrieben (u. a. ELIN), wird die VOEST-ALPINE Industrieanlagenbau 1988 eine rechtlich selbständige Gesellschaft. 1993 erfolgt die Gründung der VA Technologie AG mit den Tochtergesellschaften Austria Energy, VAI, ELIN Energieanwendung, ELIN Energieversorgung, EBG, aii, VOEST-ALPINE MCE. Seit 1994 notiert die VA Technologie AG an der Börse.
F A C H A U S D R Ü C K E :
AG: Aktiengesellschaft.
Aktiengesellschaft (AG): Handelsgesellschaft, deren Grundkapital (Aktienkapital) von Gesellschaftern (Aktionären) aufgebracht wird, die nicht persönlich, sondern mit ihren Einlagen für die Verbindlichkeiten haften.
Aktie: Anteilsschein am Grundkapital einer Aktiengesellschaft.
Holding: Gesellschaft, die nicht selbst produziert, die aber Aktien anderer Gesellschaften besitzt und diese dadurch beeinflusst oder beherrscht.
Angespornt von ihren Verbänden nutzen große transnationale Konzerne die Massenarbeitslosigkeit und die allgegenwärtige Angst um den Arbeitsplatz: Ein normales Beschäftigungsverhältnis zu haben, soll als Privileg angesehen werden, das mit immer neuen Verzichtsleistungen verdient werden muss. Lohnsenkung durch kostenlose Arbeitszeitverlängerung, Streichen von Überstundenzulagen, von Erholungspausen, von Urlaubsgeld, von Feiertagen.
Drei Thesen
Drei in der öffentlichen Meinung nicht hinterfragte Thesen prägen den gegenwärtigen Diskurs in Deutschland:
1. Der Prozess der Globalisierung ermöglicht dem Kapital eine unbegrenzte Mobilität und setzt das »Hochlohnland« Deutschland zunehmend unter Druck.
2. Diesem Konkurrenzdruck müssen die Unternehmen durch Auslagerung bzw. Outsourcing der lohnintensiven Produktion in Billiglohnländer begegnen, eine Entwicklung, die auch vor forschungsintensiven Dienstleistungen nicht Halt macht.
3. Das führt dazu, dass die Wertschöpfung beim Exportweltmeister immer mehr auf importierten Vorprodukten aus diesen Niedriglohnländern beruht und der Standort zu einer Basarökonomie zu verkommen droht.
Die einzige Alternative zum unaufhaltsamen Abstieg sei deshalb die Senkung des Lohn- und Sozialstaatsniveaus, die Deregulierung des sklerotischen Arbeitsmarkts, kurz: überall »mehr Markt«, um so mit der Konkurrenz mithalten zu können und den Standort wieder attraktiv für Kapitalanlagen zu machen.
Unbestritten hat sich seit den Siebzigerjahren eine internationale Konstellation herausgebildet, die wesentlich durch die Wirkung globalisierter Finanzmärkte und der auf sie bezogenen Unternehmensaktivitäten strukturiert wird. Durch diese Internationalisierungsprozesse sind die Exit-Optionen von Unternehmen in der Tat enorm angewachsen.
Auch wenn nicht alle ökonomischen Akteure auf der Kapitalseite diese Option wahrnehmen können, da einige von ihnen standortgebunden sind, so können doch alle damit drohen und so als Akteure ihr Gewicht in der Politik erhöhen.
Die Gewerkschaften, deren Organisationspraxis auf dem beruhte, was man mit Max Weber als soziale Schließungen national begrenzter Teilarbeitsmärkte bezeichnen könnte, stellt diese Entwicklung vor strategische Herausforderungen. Im Grunde werden sie vor die Alternative gestellt, entweder die Organisationsgrenzen den veränderten Marktgrenzen anzupassen und durch nationale und internationale Aktion das Kapital wieder in »soziale Regulation« einzubetten oder aber auf eine protektionistische Politik der Verteidigungnationaler Teilarbeitsmärkte zurückzufallen.
Verzerrtes Bild
Doch beim näheren Hinsehen zeigt sich, dass das Kapital so »entbettet« nicht ist, wie von manchem beschworen - genauso wie das Bild von Deutschland als »krankem Mann Europas« gnadenlos verzerrt ist.
Sieht man genauer hin, ist die deutsche Wirtschaft trotz aller Klagen eindeutiger Gewinner der Globalisierung: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen ist hervorragend und die Abwanderungsdiskussion in Deutschland mehr Mythos als Tatsache. Wie erst unlängst die Investmentbank Morgan Stanley in London feststellte, sind seit Anfang der Neunzigerjahre lediglich 300.000 Jobs wegen der niedrigeren Lohnkosten nach Osteuropa abgewandert, so dass die deutsche Arbeitsmarktbilanz mit Mittelosteuropa unter dem Strich sogar positiv ausfallen dürfte.
Das alles ist kein Zufall: Industrie und Dienstleister verfügen in Deutschland über spezifische Produktionsbedingungen, die es ihnen ermöglichen, Produkt- und Prozesskompetenz auf hoch produktive Weise kombinieren zu können. Dabei spielt eine Rolle, dass die regionale Infrastruktur, die in den regionalen Netzwerken enthaltenen Erfahrungen, Routinen, die vorhandene Qualifikationsstruktur und die Erwartungssicherheiten von und zwischen Klein-, Mittel- und Großunternehmen selbst eine nicht zu unterschätzende Quelle von Produktivität sind. Erfahrungen damit haben deutsche Unternehmen in der letzten Zeit wiederholt machen müssen:
Deutsche Unternehmer
Daimler Chrysler zum Beispiel, nachdem es regionale Netzwerke zugunsten eines Global Sourcing ausgedünnt hatte, musste plötzlich feststellen, dass unerwartete Folgekosten auftraten und aufwendige Konferenzen mit einheimischen und ausländischen Zulieferern organisiert werden mussten, in denen das Erfahrungswissen der einheimischen Zulieferer den ausländischen Firmen vermittelt werden sollte, um so die Qualitätsstandards der Vorproduktion zu erhalten.
Rahmenbedingungen
Welche Rahmenbedingungen bietet der Standort Deutschland? Die Bundesrepublik hat zur Zeit
Dabei verzeichnet Deutschland Exportrekord auf Exportrekord. Seit 2002 ist Deutschland nicht nur Weltmeister beim Exportüberschuss, sondern auch bei der absoluten Höhe der Exporte - noch vor den USA - und das, obwohl dort mehr als dreieinhalbmal so viele Menschen arbeiten.
Gleichzeitig aber ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, ist die sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit rückläufig und das Wachstum schwach - mit den bekannten negativen Rückwirkungen auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Obwohl die Unterbeschäftigung steigt, fällt der Anteil der Arbeitnehmer-entgelte am gesamten Volkseinkommen (seit 2003 um 4% auf 69%) auf ein Niveau vom Jahre 1970, und die Firmen- und Vermögenseinkommen schnellen in die Höhe (seit 2003 um 20%)1). In den Betrieben müsste das längst spürbar sein. Die Lohnkosten je produzierter Einheit nehmen seit Jahren kaum mehr zu. Weil die Firmen gleichzeitig ihre Preise anheben konnten, liegen die Lohnstückkosten heute real zwei Prozent niedriger als 1996 und fünf Prozent niedriger als 1970. Und trotzdem: die Arbeitslosenzahlen steigen!
Rückläufige Realeinkommen
Wer vor dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit von Exportrekorden und Massenarbeitslosigkeit danach fragt, was falsch läuft im Exportweltmeisterland, stößt unweigerlich auf die stagnierende Binnenkonjunktur - ein Ergebnis rückläufiger Realeinkommen und staatlicher Investitionsschwäche.
Die Binnennachfrage wird maßgeblich von der Lohnentwicklung und der Tarifpolitik mitbestimmt. In den letzten Jahrzehnten ist die Durchsetzung von Lohnsteigerungen in Höhe des verteilungsneutralen Spielraums immer weniger gelungen. Im Kern hatte das viel mit den wachsenden Durchsetzungsproblemen der Gewerkschaften angesichts hoher Massenarbeitslosigkeit und der Angst um den Arbeitsplatz zu tun. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die Realität am unteren Ende der Lohnskala ansieht. Ein Niedriglohnsektor in Deutschland braucht nicht aufgebaut zu werden - er existiert bereits. Im vergangenen Jahr verfügten etwa 1,6 Millionen Vollzeiterwerbstätige über ein monatliches Nettoeinkommen von lediglich 700 Euro und weniger. Das sind immerhin 6,2 Prozent aller Erwerbstätigen. In Ostdeutschland betrifft das sogar fast zehn Prozent. Was wir hier antreffen, ist »arbeitende Armut« (Working Poor). Und das sind Zahlen vor dem Inkrafttreten der Hartz-Reformen.
Arbeitende Armut
Eine Antwort auf diese »arbeitende Armut« wäre die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, so wie ihn praktisch alle westeuropäischen Nachbarländer kennen, von Irland angefangen mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,01 Euro bis Luxemburg mit einem gesetzlichen Mindestlohn von über 8 Euro pro Stunde. Ein gesetzlicher Mindestlohn wird nicht nur gebraucht, um Lohndumping im Zuge von Hartz IV oder der drohenden EU-Dienstleistungsrichtlinie zu begegnen, sondern auch um eine Entwicklung zu immer prekäreren Arbeitsverhältnissen zu verhindern. Ein Mindestlohn ist notwendig, um vielen Vollzeitbeschäftigten ein Einkommen zu sichern, von dem sie leben können. Und es ist wichtig, um hierdurch die Binnennachfrage zu stärken.
Ohne einen funktionierenden Flächentarif entwickelt sich statt produktiver Konkurrenz von Unternehmen um bessere Produktionsverfahren, Produkte und Dienstleistungen, eine zerstörerische Schmutzkonkurrenz. Nach Auffassung von Experten der Weltbank, die sich mit Deflationsgefahren beschäftigt haben, trägt das deutsche Tariflohnsystem maßgeblich dazu bei, Deflationsgefahren in Grenzen zu halten. Bei der Auseinandersetzung um den Flächentarifvertrag geht es also nicht nur um die Absicherung der Einkommen der Mitglieder. Es geht um die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt. Insofern nehmen Gewerkschaften mit der Verteidigung der Flächentarifverträge eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Schutzfunktion wahr.
Schwächung der Binnennachfrage
Mit ihrer Politik tragen die staatlichen Akteure gegenwärtig zur Schwächung der Binnennachfrage bei. Mit einem Anteil der staatlichen Investitionen von gerade einmal 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt Deutschland zusammen mit Österreich ganz hinten. Zum Vergleich: In Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Griechenland, Portugal, Irland und den USA liegen die staatlichen Investitionen oberhalb von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Durchschnitt der Euro-Zone liegt bei 2,6 Prozent.
Dabei sind öffentliche Investitionen wichtiger denn je. Fehlende Kinderbetreuungsplätze, Investitionsbedarf in Bildung, Forschung und Entwicklung, aber auch die Investitionsbedarfe der Verkehrssysteme, renovierungsbedürftige Schulgebäude, marode Abwassersysteme legen davon Zeugnis ab.
Um eine Wende bei der schwachen Binnennachfrage und den niedrigen staatlichen Investitionen herbeizuführen, ist ein deutlicher Impuls nötig: Ein groß angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm für Arbeit, Bildung und Umwelt. Ein 40-Milliarden-Programm brächte direkt über eine halbe Million zusätzliche Arbeitsplätze und einen starken Impuls für mehr und sinnvolles Wachstum. Die Mittel wären insbesondere für Bildung, Forschung und Entwicklung bereitzustellen. Deutschlands heutige Wettbewerbsstärke beruht nicht zuletzt auf den klugen Köpfen, die in der Vergangenheit durch das Schul- und Hochschulsystem, durch eine ausgezeichnete berufliche Bildung im Rahmen des dualen Systems hervorgebracht worden sind.
Gewerkschaften und Steuern
Fragt man nach der Finanzierbarkeit eines solchen Programms, darf nicht vergessen werden, wie sich die steuerlichen Belastungen in Deutschland entwickelt haben. Der Staat hat keine Problem zu hoher Ausgaben, sondern zu niedriger Einnahmen, zu niedriger Steuerzahlungen von denen, die es sich leisten können. Gerade in den letzten Jahren hat die rot-grüne Steuerpolitik zu einem massiven Einbruch der Unternehmenssteuern geführt. Mindestens 70 Milliarden Euro wurden verschenkt. Dieser Absturz ist nicht auf gesunkene Gewinne zurück zu führen. Im Gegenteil: Die Gewinne sind in der selben Zeit kräftig gestiegen, bei den Kapitalgesellschaften von 285 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf über 300 Milliarden Euro in 2003.
Deshalb muss der Spitzensteuersatz auf moderate 47 Prozent angehoben werden. Durch niedrigere Steuersätze im unteren Bereich sollen viele Beschäftigte entlastet werden. Entlastung der Normalverdiener, Belastung der Spitzenverdiener - das versteht ver.di unter Steuergerechtigkeit.
Der geänderte Tarifverlauf ist allerdings nur ein Element der gewerkschaftlichen Vorstellungen zur Steuerpolitik. Weitere wichtige Elemente sind die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Und zwar 16 Milliarden durch die Vermögensteuer und noch einmal 4 Milliarden durch eine reformierte Erbschaftsteuer könnte zu den anderen Vorschlägen der Steuerpolitik zu einem Steuermehraufkommen von jährlich rund 45 Milliarden Euro führen. Damit ließe sich das Zukunftsinvestitionsprogramm finanzieren.
Nationale und europäische Politik
Klar ist, dass eine Abstimmung nationaler und europäischer Politik nötig ist. Eine andere Politik der öffentlichen Haushalte muss durch einen veränderten Kurs der Geldpolitik der europäischen Zentralbank aktiv begleitet werden. Notwendig ist auch eine Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes, der nicht das Defizitkriterium als Ziel hat, sondern die Tendenz des öffentlichen Schuldenstandes. Eine Ausweitung der öffentlichen Verschuldung nachhaltig einzudämmen, ohne konjunkturelle Schwächephasen zusätzlich zu verstärken - darum muss es gehen.
Ein sozialpolitischer Wettlauf nach unten als Antwort auf Wachstumsprobleme würde nicht nur die ökonomischen Konkurrenzvorteile europäischer Ökonomien zerstören, sondern auch die Bedingungen einer sozial und ökologisch nachhaltigen ökonomischen Entwicklung erodieren lassen. Hohe Qualifikation der Arbeitskraft verlangt eine entsprechende Bezahlung. Und zu einer hohen Mobilität und Qualifikation gehört als Voraussetzung ein hohes Sozialniveau - bei allen notwendigen Korrekturen im Funktionsmodus der sozialen Sicherung.
R E S Ü M E E
Politik ist Entscheidung zwischen Alternativen und die Globalisierung ist keineswegs nur ein ökonomischer Prozess. Bezogen auf Deutschland geht es um den Erhalt und die Weiterentwicklung der spezifischen Stärken der deutschen Wirtschaft. Und dies lässt sich nur erreichen, wenn die momentane Fixierung auf Arbeits- und Sozialkostenreduzierungen durchbrochen und überwunden wird; das heißt Fortsetzung des Hauptweges der Innovation, Nutzung komparativer Vorteile und Stärkung des Binnenmarkts.
Dabei gibt es für die deutschen Gewerkschaften noch eine besondere europäische Dimension. Die Gewerkschaften tragen in Deutschland mit ihrer Lohn- und Arbeitszeitpolitik ein hohes Maß an Verantwortung für die Handlungsbedingungen der Gewerkschaften in den EU-Nachbarstaaten. Nirgends in Europa ist der Druck auf die Gewerkschaften, die Arbeitszeit zu verlängern und damit Lohnkosten zu senken so hoch wie in Deutschland. Wenn in der hochproduktiven Leitökonomie Deutschland aber die Arbeitszeiten ohne Lohnzahlung verlängert werden, wird das die Gewerkschaften in den Nachbarländern in einen Absenkungswettlauf zwingen.
Deshalb müssen die Gewerkschaften Strukturen schaffen, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinaus an Wirtschafts- und Branchengrenzen orientieren.
Dieser Gestaltung der Globalisierung werden sich die Gewerkschaften stellen und nicht der kurzsichtigen Standortdebatte neoliberaler Ökonomen, Verbände und multinationaler Unternehmen in Deutschland klein beigeben.
Während der Staatskonsum vor 1990 jährlich durchschnittlich um 3,2% pro Jahr anstieg, werden es 2004 nur mehr 1,3% sein (in Österreich sogar Rückgang bzw. Stagnation seit 2000!).
Parallel sinken auch die öffentlichen Investitionen. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird von zuvor 3,2% (1971-1990) um ein Viertel auf 2,4% (2004) fallen (die Werte beziehen sich auf die EU 15, Quelle: siehe Angabe Graphik).
Diese Politik hat zum längsten Wirtschaftseinbruch in den letzten 30 Jahren geführt!
Die finanziell ausgehöhlten Gemeinden, die größten öffentlichen Investitions-träger, sind kaum mehr in der Lage zu investieren.
Einsparen, Kürzen, Abbauen
Bei einem Gewinnsteuersatz von 12,5% wie in Irland oder gar null Prozent wie in Estland (bei nicht entnommenen Gewinnen)?
Die öffentlichen Budgets werden noch mehr ausgehungert, die Steuerlast wird auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verschoben und die Forderung nach Senkung der Steuern dadurch populärer.
Die Folge: Weitere Sozialleistungskürzungen und Umstellung sozialer Sicherungssysteme auf Privatvorsorge.
Wo bleiben Wachstum und Beschäftigung?
Eine eigenständige, koordinierte, auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichtete Wirtschaftspolitik der EU gibt es nicht.
Ergebnis dieser einseitigen neoliberalen Politik einer reinen Kostensenkungsstrategie für Unternehmen unter dem Stichwort der Wettbewerbsfähigkeit und der völligen Vernachlässigung der Nachfrageseite: das Wachstum bleibt aus, die Steuereinnahmen stagnieren weiter (gehen im Unternehmenssteuerbereich sogar zurück), gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit weiter. Arbeitslosigkeit ist sehr teuer, und gleichzeitig kommen dadurch weniger Steuern und Abgaben herein.
Die extreme Sparpolitik hat erst recht in die Schuldenfalle geführt.
Sturer Sparkurs im Konjunktureinbruch hat Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze gekostet, was nun erst recht wieder zu mehr Schulden führt. Und damit steigen die Budgetdefizite wieder stärker - aber ohne den Nutzen, damit den Wohlstand erhöht zu haben, sondern auf Kosten des Wohlstandes der Menschen.
Nachfrage und Aufträge
Ohne Nachfrage keine Aufträge - ohne Aufträge keine Investitionen.
Unternehmen leben von den Aufträgen und nicht nur von niedrigen Kosten. Unternehmen werden nur investieren, wenn Aufträge in Sicht sind.
Bleiben die Aufträge aus, wird die Kostenschraube immer weiter nach unten gedreht, um die Rentabilität der einzelnen Betriebe zu erhalten. Das führt zu weniger Wohlstand und Einkommen der Staaten und der Mehrheit der Bevölkerung und geht letztlich auch auf Kosten der Gewinne.
In den meisten Staaten Europas fehlt die Binnennachfrage.
Fehlende Binnennachfrage
Dieser Befund der Wirtschaftsanalysten ist eindeutig. Durch den schwachen privaten Konsum und die geringen öffentlichen Investitionen stagnieren auch die Unternehmensinvestitionen. Aber trotzdem wird der Sparkurs noch verschärft und weiter auf einseitige Unternehmensentlastung sowie Verschärfung des Drucks auf Arbeitnehmer/-innen -gesetzt.
Durch Erhöhung der Exporte wird versucht, die Einbrüche im Inland zu kompensieren. Doch die Exporte des einen sind die Inlandsnachfrage des anderen.
Innerhalb Europas heißt das: Wächst die Wirtschaft insgesamt nur schwach, kann der Exportanteil wieder nur noch durch Kosteneinsparungen und auf Kosten der Exporte eines anderen Landes gesteigert werden. Und immerhin spielen sich rund 90% der Exporte der EU-Länder innerhalb Europas ab! Das kann einem Land nur kurzfristig Vorteile verschaffen. Der Kuchen wird wieder nicht größer.
Mit dem Lissabon-Prozess hat sich die EU vorgenommen, bis 2010 der dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu sein, mit dem Ziel eines dreiprozentigen jährlichen Wachstums. Erreicht werden sollte das vor allem durch Anhebung der Quoten für Forschung und Entwicklung (F & E), der Investitionen in Aus- und Weiterbildung und der Infrastrukturinvestitionen in Verkehr und Telekommunikation. Der Befund ist ernüchternd: Wegen der Sparmaßnahmen der öffentlichen Haushalte wurde hier nicht mehr, sondern weniger investiert. (Selbst die Kommission kritisierte beim EU-Gipfel im April den Rückgang der Investitionen für F & E und in Aus- und Weiterbildung.)
Die EU ist die einzige Weltregion, die auf eine expansive, klar auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik verzichtet und darauf wartet, von der Belebung der Wirtschaft in anderen Weltregionen zu profitieren.
Europa für Menschen
Für ein modernes, leistungsfähiges, wirtschaftlich starkes Europa, das den Menschen soziale Sicherheit garantiert und öffentliche Dienstleistungen für alle sicherstellt!
Wachstumspolitik
Europa braucht eine aktive, gemeinsame Wachstumspolitik!
Wir wissen auch, dass wir alle dafür zahlen müssen. Mit Steuern, Abgaben, Beiträgen und Gebühren. Aber: Jeder meint, er zahlt zu viel und die anderen zahlen zu wenig. Das System ist ungerecht. Für ihn selber sollten die Belastungen jedenfalls geringer sein.
Man kann die These aufstellen, das wichtigste für uns alle ist eine blühende Wirtschaft. Daher solle man die Wirtschaft, wie es nur geht, fördern und von den Unternehmen und den Unternehmern möglichst wenig, womöglich sogar gar keine Steuern einheben. Man kann auch, etwas weniger krass, behaupten, jedenfalls müsste die Unternehmerbesteuerung bei uns geringer sein als in den anderen Ländern
Allerdings - wenn man ordentliche Statistiken halbwegs seriös betrachtet, kann man sowohl aus internationalen Vergleichen als auch an Hand von langfristigen Entwicklungen die verschiedenen Argumente einer aktuellen Steuerdebatte etwas neutraler beurteilen.
Ein gerade bei Konservativen beliebter internationaler Vergleich ist die so genannte Abgabenquote (auch Staatsquote genannt). Sie gibt an, ein wie großer Anteil des Bruttonationalprodukts vom Staat in Form von Steuern und Abgaben jeder Art zur Erfüllung seiner Aufgaben in Anspruch genommen wird. Wobei für solche internationalen Vergleiche als »Staat« immer der Gesamtstaat, inklusive seiner regionalen Untergliederungen (in Österreich die Bundesländer), den Gemeinden und der öffentlichen Sozialversicherung verstanden wird. Neoliberale meinen, um so geringer die Staatsquote, um so besser für ein Land.
Anderswo
Das dürfte aber so doch nicht stimmen. Schaut man sich nämlich solche Vergleiche an, dann fällt sofort auf, dass (bei aller Toleranz für statistische Unschärfen) vor allem die westeuropäischen Staaten mit einer sozialen Marktwirtschaft die höchsten Abgabenquoten haben und die ärmsten Entwicklungsländer die niedrigsten. Haben die es deswegen besser? Niedriger als in Europa ist die Abgabenquote allerdings auch in den USA. Warum? Nun weil es dort keine öffentliche Krankenvorsorge gibt, weil viele Schulen und Universitäten privat sind, weil die Infrastruktur (wie Straßen, Brücken, öffentliche Verkehrsmittel) vernachlässigt wird, kurz gesagt, weil es dort weniger und schlechtere öffentlich finanzierte Leistungen gibt. Ob das ein Vorteil für die Amerikaner ist, wird selbst in den USA von vielen, gerade auch von den Gewerkschaften, bezweifelt.
Aber bleiben wir in Westeuropa. Wie liegt da Österreich? Nun, allzu weit auseinander gehen hier die Abgabenquoten nicht. Besonders dann nicht, wenn man berücksichtigt, dass alle derartigen Statistiken zu einem erheblichen Teil auch auf Schätzungen beruhen müssen und daher ein oder zwei Prozent auf oder ab nicht allzu viel aussagen. In Westeuropa liegen die allermeisten Länder knapp bei 40%. Je nachdem, welche Statistik man verwendet, liegt Österreich ein bisschen weiter vorn oder hinten, aber jedenfalls im oberen Mittelfeld. Angesichts unserer guten öffentlichen Leistungen kein schlechter Platz.
Steuergerechtigkeit
Aber wie ist diese Abgabenquote auf die einzelnen Steuerträger verteilt? Wer finanziert unsere Abgabenquote und ist diese Finanzierung gerecht? Vom Standpunkt der Steuergerechtigkeit gilt ohne jeden Zweifel, dass man ganz grob vorerst zwischen direkten und indirekten Steuern unterscheiden muss. Die indirekten Steuern werden auf die Ausgaben der Steuerpflichtigen eingehoben. Es sind Steuern wie die Mehrwertsteuer (mit Abstand die wichtigste davon), die Mineralölsteuer, die Tabaksteuer usw.
Solche indirekte Steuern kann man nur schwer und in engen Grenzen sozial staffeln. Sie belasten im großen gesehen die Bezieher kleiner Einkommen in etwa mit dem gleichen Prozentsatz ihrer Einkommen wie die Bezieher hoher Ein-kommen. Die direkten Steuern werden auf die Einkommen (von Personen und von Firmen) und auf Vermögen eingehoben. Solche Steuern kann man wesentlich leichter sozial staffeln. Um so mehr jemand verdient oder Vermögen hat, einen um so größeren Anteil davon muss er als Steuer bezahlen. Das nennt man Steuerprogression und die gibt es in Österreich jedenfalls bei der Lohnsteuer und der veranlagten Einkommensteuer der Unternehmer.
Man kann daher davon ausgehen: Um so kleiner der Anteil der direkten Steuern am gesamten Steueraufkommen, um so größer der Anteil der indirekten Steuern und um so weniger sozial gerecht ist das Steuersystem.
Vermögensteuer : Einkommensteuer
Hier schneidet Österreich im Vergleich besonders schlecht ab. Bei uns machen indirekte Steuern über 30% der Steuereinnahmen aus. Zum Vergleich: In den Niederlanden, in Belgien, in Deutschland und in Frankreich sind es knapp unter oder knapp über 26% und in den sicher nicht extrem sozialen USA sind es sogar nur 17%. Wollen wir ein gerechteres Steuersystem im Vergleich mit Ländern mit einem Wirtschafts- und Sozialsystem wie dem unseren, dann werden wir mittelfristig die Steuerlast allmählich doch zumindest ein bisschen von den indirekten zu den direkten Steuern verschieben müssen.
Die nächste Frage die man sich stellen muss ist die, wie die direkten Steuern verteilt sind. Die erste grobe Unterscheidung ist zwischen Steuern auf Einkommen und Steuern auf Vermögen. Bei den Steuern auf Vermögen zählt Österreich international gesehen zu den Schlusslichtern. Bei uns bezieht der Staat gerade einmal 2,7% seiner Einnahmen aus dieser Quelle, in Frankreich sind es zum Beispiel 5,0%, in der Schweiz 7,1% und bei Großbritannien stattliche 7,9%. Der amerikanische Staat bezieht sogar 11,4% seiner Steuereinnahmen von den Vermögen seiner Bürger.
Was ist die Ursache für das geringe Aufkommen der Steuern vom Vermögen in Österreich? Es kann wohl nicht an den geringen Vermögen liegen - die Österreicher gehören zu den reicheren Bürgern dieser Welt und Jahr für Jahr werden neue Vermögensrekorde gemeldet. Aber wir haben kaum Steuern auf Vermögen. Die Erbschaftssteuer, die in anderen Industriestaaten hohe Einnahmen erbringt, ist durch die niedrigen Bewertungen, vor allem aber durch die vielen Privatstiftungen in Österreich weitgehend ausgehöhlt. Die Grundsteuern bringen sehr wenig, weil die Einheitswerte unrealistisch niedrig sind. Und eine echte Vermögensteuer hat Österreich im Gegensatz zu vielen anderen Industriestaaten ohnehin nicht mehr.
Lohnsteuer: Gewinnsteuer
Es mag mehr oder weniger gute Gründe für diese extrem niedrige Besteuerung der Vermögen geben. Tatsache bleibt: Wenn man weniger Steuern von den Vermögen einhebt, muss man mehr Steuern von anderen Quellen schöpfen. Eine dieser Quellen ist, wie wir schon gezeigt haben, die wichtigste indirekte Steuer, die Mehrwertsteuer. Die zweite Quelle ist, wie wir nun zeigen werden, die Lohnsteuer.
Wenden wir uns den Steuern vom Einkommen zu. Hier ist es üblich, zwischen den Steuern auf Lohneinkommen (also Löhne, Gehälter und Pensionen), in Österreich Lohnsteuer genannt, und den Steuern auf Einkommen aus Unternehmen und Kapitalveranlagung, das sind in Österreich im Wesentlichen die veranlagte Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer der Kapitalgesellschaften und die Kapitalertragssteuer, zu unterscheiden. Einen ersten sehr groben Überblick gibt uns die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. In Österreich machten 2002 die Lohnsteuereinnahmen des Staates von den gesamten Arbeitnehmerentgelten immerhin 14% aus, die Gewinnsteuern aber nur 11% von den Betriebsüberschüssen (also Gewinnen) und Selbständigeneinkommen. Eine stärkere Steuerbelastung der (in der Regel im Einzelfall doch geringeren) Löhne, Gehälter und Pensionen als der (in der Regel wesentlich höheren) Gewinne und Unternehmereinkommen ist in einem angeblich progressiven (das heißt: die besser Verdienenden werden stärker belastet) Steuersystem geradezu grotesk.
Am interessantesten ist für Österreich aber ohne Zweifel der Vergleich der Einnahmen aus Gewinnsteuern einerseits und Lohnsteuer andererseits über eine lange Zeitperiode hinweg. Hier hat es wahrlich dramatische Veränderungen gegeben. Wir haben uns die Daten im Abstand von jeweils zehn Jahren angesehen und gehen dafür bis ins Jahr 1975 zurück. Als Gewinnsteuern haben wir definiert: die veranlagte Einkommensteuer für Unternehmer und Personengesellschaften (also Offene Handelsgesellschaft - OHG und Kommanditgesellschaft KG), die Körperschaftsteuer (das ist die gleiche Steuer für Kapitalgesellschaften wie Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GesmbH und Aktiengesellschaften - AG) und die Kapitalertragssteuer (also die Steuer, die auf Dividenden und Zinserträge eingehoben wird). Die Lohnsteuer ist die uns allen bekannte Steuer, die von Löhnen, Gehältern und Pensionen noch vor der Auszahlung eingehoben wird.
Und nun zu den Zahlen. So entwickelten sich die Staatseinnahmen aus den Gewinnsteuern einerseits und der Lohnsteuer andererseits (siehe Tabelle1: »Gewinnsteuern - Lohnsteuern«).
1
Gewinnsteuern
Lohnsteuer
Jahr
Mio. EUR
% der Staats-
einnahmenMio. EUR
% der Staats-
einnahmen
1975
2.093
17,4
2.166
18,0
1985
2.616
10,1
6.337
24,5
1995
5.736
15,2
10.917
28,8
2000
8.156
16,2
14.468
28,7
2005 (Budget)
7.550
13,4
17.000
30,2
Quelle: BMfF
Der Anteil der Lohnsteuer an den gesamten Steuereinnahmen steigt in 30 Jahren kontinuierlich von 18% auf über 30% an, während der Anteil der Gewinnsteuern zwar schwankt, aber insgesamt von 17,4% auf 13,4% gesunken ist. Dabei sind diese Zahlen noch zu Gunsten der Gewinnsteuern »geschönt«. Denn ab 1995 sind in ihnen sowohl die neu eingeführte Kapitalertragssteuer auf Zinsen und die Körperschaftsteuer auf den Gewinn der Oesterreichischen Nationalbank enthalten.
Lohnquote
Dieses Ergebnis kommt zustande, obwohl die Lohnquote spürbar gesunken ist - in den letzten zehn Jahren von über 70% auf 61%. Da hätte der Anteil der Lohnsteuer am direkten Steueraufkommen zurückgehen müssen, der Anteil der Gewinnsteuern hätte steigen müssen. Warum geschah das nicht? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
Als erstes wäre die Senkung der Steuersätze gerade für die Kapitalgesellschaften zu nennen. 1975 war der Höchstsatz in der Körperschaftsteuer noch der gleiche wie in der Lohnsteuer; inzwischen ist er nicht einmal mehr halb so hoch.
Aber die Steuerleistung hängt nicht nur vom Steuersatz, sondern auch und vor allem von der Steuerbasis, der Bemessungsgrundlage, ab. Anders ausgedrückt: Es kommt nicht nur darauf an, wie viel Steuer (welcher Prozentsatz, welcher Steuertarif) vom steuerpflichtigen Gewinn zu bezahlen ist, sondern wie dieser »steuerpflichtige Gewinn« berechnet wird. Österreichs Unternehmer haben - vielleicht sogar noch erfolgreicher als ihre ausländischen Kollegen - zahlreiche Begründungen dafür gefunden, worum Teile ihrer Gewinne vor Anwendung des Steuertarifs noch von der Bemessungsgrundlage abzuziehen sind.
Cayman Islands
Also: Erst wird versucht, einen eher niedrigen Gewinn auszuweisen. Dann werden alle Möglichkeiten ausgenützt, um von diesem niedrigen Gewinn noch erlaubte Abzüge zu machen. Was dann noch übrig bleibt, ist die Bemessungsgrundlage und erst von dieser wird die Steuer nach dem Steuertarif (das ist dann der Prozentsatz, also in Österreich bei der Körperschaftsteuer in Zukunft 25%) berechnet. Wen wundert es da, dass zahlreiche tatsächlich gut verdienende Unternehmen (wie in diesem Beitrag noch dargelegt werden wird) keine oder nur sehr wenig Körperschaftsteuer bezahlen.
Mit dem Ausland hängen aber auch noch weitere Gründe für die schwache Entwicklung der Steuerbemessungsgrundlage und damit der Gewinnsteuern zusammen. So hat Österreich mit vielen Ländern »Doppelbesteuerungsabkommen« abgeschlossen, die zu einer völlig ungerechtfertigten Steuervermeidung ausgenützt werden.
In dieses Auslandskapitel gehören aber auch die so genannten Steueroasen. Verschiedene karibische Staaten, aber auch einige zu Großbritannien gehörende Inseln nahe England leben weitgehend davon, als Tarnadressen für Firmen zu dienen, die zu Hause keine oder zumindest weniger Steuer zahlen wollen. Wer sich die Mühe macht, Details nachzugehen, wird sicher überrascht sein, wie viele österreichische Unternehmen Konzernfirmen in so wirtschaftlich für sie »bedeutenden« Standorten wie den Cayman Islands oder Guernsey haben.
Privatstiftungen
Rein inländisch ist der Luxus, den wir uns mit (Familien-)Privatstiftungen leisten. In früheren Zeiten (und in anderen Ländern auch heute) dienten Stiftungen vor allem dazu, wohltätige (z. B. kulturelle, künstlerische oder soziale) Zwecke zu fördern. Das war eine edle Sache, die wohlhabende Menschen taten, um einen Teil ihres Wohlstandes der Allgemeinheit zugute kommen zu lassen. Solche Stiftungen gibt es vereinzelt auch in Österreich noch immer - aber fast alle heutigen österreichischen Stiftungen dienen einem ganz anderen Zweck, nämlich der Vermeidung von Steuern. Wer sein Geld (oder das seiner ganzen Familie) in eine Stiftung einbringt, muss viel, viel weniger Steuern zahlen. Kämen diese Stiftungen wohltätigen Zwecken zugute, könnte man das vielleicht noch rechtfertigen. Aber die typische österreichische Stiftung hat einen ganz anderen Stiftungszweck: Begünstigte sind der Stifter und seine Familie. Die Stifter beziehen ihr Geld nicht mehr von ihrem Besitz; dieser gehört der Stiftung. Die Stiftung aber verwendet ihre Mittel für den »edlen Zweck«, ihren Stifter und seine Familie zu fördern - auf ewig. Nicht einmal ein kleiner Teil wird gemeinnützigen Aufgaben gewidmet.
Gerade weil die Unternehmer in Österreich so gern und so laut über ihre hohe Steuerbelastung jammern, mag es besonders interessant sein, sich anzuschauen, wie viel Steuern vom Ertrag und vom Vermögen große Unternehmen in Österreich tatsächlich bezahlen. Und zwar nicht irgendwelche statistische Durchschnittsberechnungen, sondern die konkreten Zahlen einzelner Unternehmen. Wir -haben uns diese Mühe gemacht. Wir -haben die Bilanzen einzelner Großfirmen - besonders solcher, deren Aktien an der Börse notieren - hergenommen und uns daraus einige Angaben genauer besehen.
Tatsächlich gezahlt
Vorerst haben wir das Eigenkapital betrachtet, damit man eine ungefähre Vorstellung von der Größe des Unternehmens hat. Dann haben wir uns den ausgewiesenen Gewinn (präzise den Ertrag der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit - EGT) hergenommen. Dabei ist jedem klar, dass dieser in der veröffentlichten Bilanz ausgewiesene Gewinn eine Untergrenze darstellt. Es ist nur jener Teil des tatsächlichen Gewinns, den man mit allen Bilanztricks nicht mehr wegbekommt; denn die Unternehmen wollen natürlich möglichst wenig Gewinn ausweisen, weil sie von diesem Gewinn einen (wenn auch, wie wir sehen werden, oft sehr kleinen) Anteil als Steuer an den Staat abführen müssen.
Dann haben wir uns die in der Bilanz festgehaltene Steuerleistung der Unternehmen angesehen und das Verhältnis dieser Steuerleistung zu den ausgewiesenen Gewinnen berechnet. Was herauskommt, ist der Anteil dieser Steuern an dem möglichst gering angegebenen Gewinn: Der Prozentsatz der Gewinnbesteuerung. Natürlich kann es hier kleinere Verzerrungen geben. Wenn der Gewinn stark schwankt (was er aber bei diesen Unternehmen eher nicht tut) kann es Ausschläge geben, weil die Unternehmen ihre Steuern (im Gegensatz zu Arbeitnehmern) erst später, oft sogar erst einige Jahre später bezahlen. Deshalb haben wir nicht nur die Bilanz eines Jahres genommen, sondern die Bilanz der letzten vier vorliegenden Jahre (also die Jahresbilanzen 2000-2003) addiert. Das Eigenkapital ist jenes des Jahres 2003, aber Gewinn und Ertragssteuern sind jeweils für vier Jahre.
Mehr Lohnsteuer als Gewinnsteuer
Wir haben aber auch versucht, noch etwas zu ermitteln: Wie viel Lohnsteuer zahlen die Arbeitnehmer dieser Unternehmen im Vergleich zu den Gewinnsteuern des Unternehmens selbst? Das geht aus der Bilanz nicht hervor. Der vom Unternehmen als Lohnsteuer für seine Arbeitnehmer ans Finanzamt abgeführte Betrag wird nicht ausgewiesen. Aber es gibt die Personalkosten in der Bilanz. Wenn man extrem vorsichtig annimmt, dass die Lohnsteuerleistung der Arbeitnehmer bei 12% der Personalkosten liegt, wird man sicher nicht zu hoch schätzen. Diese Kennziffer haben wir dann, wieder für die vier Jahre 2000 bis 2003, mit den Ertragssteuern verglichen.
In der Tabelle 2 die Ergebnisse für einige bedeutende Unternehmen (siehe Tabelle 2: »Eigenkapital - Gewinn/Ertragssteuern ...«).
2
Eigenkapital - Gewinn/Ertragsteuern und
geschätzte Lohnsteuer von Großunternehmen (in tausend EUR)
Unternehmen
Eigenkapital 2003
Gewinn 2000-2003
Ertragsteuer 2000-2003
Personalaufwand 2000-2003
absolut
% des Gewinns
absolut
geschätz. LohnSt.
BA-CA
5.815.000
2.469.000
411.000
17,6%
5.541.000
665.000
Uniqua
-
137.000
-15.000
0,0%
2.005.000
240.000
Berndorf
44.335
16.445
575
3,5%
6.991
839
Porr
228.800
47.187
2.573
5,5%
1.716.00
205.900
Schoeller Bleckmann
43.300
22.920
1.808
7,9%
199.600
23.950
BWT
76.560
31.680
-102
0,0%
278.100
33.370
Rosenbauer
57.170
14.060
781
5,6%
130.160
15.620
Andrits
198.100
84.640
10.960
12,9%
329.200
39.500
EVN
1.178.000
440.000
54.314
12,3%
661.600
79.390
Baumax
89.373
21.920
136
0,6%
190.600
22.870
Quelle: Bilanzdatenbank der Arbeiterkammer
Man sieht also: Die von uns untersuchten Unternehmen bezahlen keine oder nur sehr wenig Gewinnsteuern. In allen Fällen zahlen die Arbeitnehmer der Unternehmen mit Sicherheit mehr Lohnsteuer als ihr Arbeitgeber Gewinnsteuern bezahlt.
Sind das Extremfälle? Sicher nicht! In der Bilanzdatenbank der Arbeiterkammer kann man lange Listen von größeren Unternehmen einsehen, die keine Körperschaftsteuer bezahlen, die weniger als 5% ihres Gewinnes zahlen oder die zwischen 5% und 10% zahlen. Nach der kommenden Steuerreform - also ab den Bilanzen für 2005 - werden diese Listen mit Sicherheit noch viel länger werden. Boshafte Kritiker meinen sogar, die verbleibenden Körperschaftsteuerzahlungen von Großunternehmen in Österreich werde man dann wohl als freiwilligen Beitrag zum österreichischen Staatshaushalt anerkennen müssen.
Wie hat die jetzige Bundesregierung auf die langfristige Entwicklung der Steuern und die geringe Steuerleistung der Großunternehmen bei ihrer »größten Steuerreform aller Zeiten« reagiert? Sie hat zwar die Lohnsteuer ein wenig gesenkt.
Aber vor allem hat sie den Steuersatz bei der Körperschaftsteuer, also der -Gewinnsteuer für die Kapitalgesellschaften (das sind Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung) radikal abgesenkt und zwar von 34% auf 25%.
Nun brüstet sie sich im Ausland,
dass Österreich damit eine der niedrigsten Besteuerungen für Kapitalgesellschaften auf der ganzen Welt hat.
R E S Ü M E E
Welchen Schluss kann, soll, ja muss man aus all dem Gesagten ziehen? Das Gejammer über die hohe Besteuerung der österreichischen Unternehmen ist, jedenfalls so weit es die größeren Unternehmen betrifft, schlicht und ergreifend falsch. Sie werden weder im internationalen Vergleich noch - was vielleicht sogar aussagekräftiger ist - im längerfristigen Vergleich in Österreich selbst besonders stark besteuert. Statt die Steuern der Kapitalgesellschaften zu senken, hätte die Regierung besser daran getan, die Lohnsteuer zu senken. Man hätte versuchen können, wenigstens einen kleinen Teil der langfristigen Verschiebung von den Gewinnsteuern zu der Lohnsteuer wieder auszugleichen. Die Regierung hätte sich überlegen müssen, ob es nicht wenigsten zu einer bescheidenen Verschiebung von den indirekten zu den direkten Steuern kommen könnte. Sie hätte sich zu fragen gehabt, ob die wohlhabenden Österreicher wirklich zu arm sind, um von ihren vorhandenen Vermögen wenigstens ähnlich hohe Steuern zu zahlen wie in anderen vergleichbaren Industriestaaten.
Wie anfangs gesagt: Niemand zahlt gerne Steuern und jeder glaubt, er sollte weniger, der andere mehr zahlen. Gerechtigkeit ist ein schwer zu definierender Begriff. Aber wenn man international vergleicht und die Entwicklung in Österreich über die Jahrzehnte betrachtet, kann wohl niemand behaupten, dass die nun in Kraft getretene Steuerreform tatsächlich mehr Steuergerechtigkeit bringt. Sie verstärkt ganz im Gegenteil die steuerliche Privilegierung der Konzerne, der Bezieher höchster Einkommen und der Eigentümer der großen Vermögen.
Zum Beispiel?
Die gewerbetreibenden personalintensiven Betriebe, wo der Anteil der Lohnkosten an den Gesamtkosten sehr hoch ist. Sie erkennen, dass sie steuerlich wesentlich entlastet und nicht belastet würden, wie es fälschlicherweise jahrelang propagiert wurde.
Ein Gegenargument ist die drohende Abwanderung von Betrieben ...
Wir hatten bereits in der Steuerkommission des damaligen Finanzministers Rudolf Edlinger eine Arbeitsgruppe, die sich auch mit der Wertschöpfungsabgabe auseinandergesetzt hat. Darin waren Vertreter der Bundeswirtschaftskammer, der Industriellenvereinigung und des WIFO. Die Belastung der Betriebe durch diese Abgabe wurde klar errechnet. Und zwar in einer Modellvariante, in der der Familienlastenausgleichsfonds, der zurzeit bei 4,5% der Lohnsumme liegt, auf eine Wertschöpfungsabgabe umgestellt wird. Herausgekommen ist, dass die Belastung selbst im ungünstigsten Fall nicht so ist, dass die Betriebe abwandern würden. Das ist ein Schreckgespenst jener, die sich nicht mit den Details auseinandersetzen wollen.
Würde die Wertschöpfungsabgabe ausreichen, um den Sozialstaat zu finanzieren?
Sie würde zweifellos die Beitragsgrundlage zur Finanzierung des Sozialstaates erweitern. Es würde nicht mehr die gesamte Last auf der Lohn- und Gehaltssumme liegen. Wenn die Gesellschaft insgesamt durch höhere Produktivität reicher wird, muss es das Ziel sein, diese Steigerung zur Finanzierung des Sozialstaates heranzuziehen. Man kann die Menschen dann nicht mehr damit schrecken, dass wir immer älter werden und daher der Sozialstaat unfinanzierbar ist. Finanzierungsprobleme wird es immer geben, wenn eine Politik gemacht wird, wo 60.000 Vollzeitarbeitsplätze verloren gehen, wie in den letzten vier Jahren. Wenn mitten in einem weltweiten Abschwung die öffentlichen Investitionen heruntergefahren und die kleinen und mittleren Einkommen massiv belastet werden.
Die Widerstände werden auch mit der Gefahr des Verlustes internationaler Wettbewerbsfähigkeit argumentiert ...
Es wird ganz Europa nichts anderes übrig bleiben, als den Weg dieser Abgabe Schritt für Schritt zu beschreiten, wenn insgesamt die Lohn- und Gehaltssumme am Anteil des Volkseinkommens sinkt und die Gesellschaft insgesamt reicher wird.
Wenn wir jetzt Vorreiter bei der Gruppenbesteuerung neu spielen, wenn ein Steuersenkungswettlauf nach unten losgetreten wird und Milliardengeschenke ohne positive Beschäftigungsimpulse gesetzt werden, warum sollten wir nicht bei einer Abgabe, die positive Wirkung hätte, auch Vorreiter sein?
]]>Ein Beitragszahler ohne Beziehungen ist demnach in Österreich ein Bittsteller? »Es ist nicht entscheidend, ob die Gesellschaft insgesamt älter wird. Entscheidend ist, ob sie reicher wird. Und: Ob von diesem gesellschaftlichen Reichtum mehr zur gerechten Finanzierung des Sozialstaates herangezogen wird«, meint Georg Kovarik, Leiter des volkswirtschaftlichen Referats im ÖGB, ganz allgemein zur Frage der Beitragsfinanzierung. »Man kann die Menschen dann nicht mehr damit schrecken, dass sie immer älter werden.«
»Maschinensteuer«
Die Forderung nach einer neuen Form der Besteuerung, die ein getreueres Abbild der tatsächlichen Wirtschaftskraft eines Unternehmens und des Staates insgesamt gibt, ist nicht neu. Schon 1959 wurden in Deutschland die wirtschaftlichen Auswirkungen von Sozialabgaben auf lohnintensive Klein- und Mittelbetriebe untersucht. »Inwieweit ist es möglich, anstelle der Lohnsumme eine andere Bemessungsgrundlage für die Sozialabgaben einzuführen?« lautete die Fragestellung der Studie.
Am 10. Bundeskongress des ÖGB 1983 griff der damalige Sozialminister Alfred Dallinger die bundesdeutsche Diskussion auf und zog eine Änderung der Beitragsgrundlage der Dienstgeberabgaben zur Sozialversicherung in Erwägung. 1989 legte Dallinger einen Gesetzesentwurf zur Wertschöpfungsabgabe vor, die seither eine Reihe von Bezeichnungen erhielt, die ihr in den wenigsten Fällen gerecht werden. Von »Maschinensteuer«, »Experimentierfeld für linke Steuerideen« (Kronen Zeitung, »Der Unfug mit der Maschinensteuer«, 31. Jänner 1998), bis zur »Vertreibungssteuer« von Unternehmen aus Österreich reichen die Vorurteile, mit denen die Diskussion um eine gerechtere Steuerpolitik unterbunden wird. Auch Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer meldete sich - in der ORF-Pressestunde am vergangen 28. November - zu Wort: Mit derartigen »Uraltmodellen« könne man keinen Staat machen.
Uraltes Modell
Uralt ist tatsächlich die Finanzierung unseres Sozialsystems, das in der arbeitsintensiven Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstand. Damals machte es Sinn, als Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherung die Löhne und Gehälter heranzuziehen. Aber aus den Fabrikhallen, in denen anno dazumal tausende Arbeiter beschäftigt waren, wurden menschenleere, aber wertschöpfungsintensive und hochprofitable Produktionsstätten. Die Beitragsgrundlage ist nach wie vor die Bruttolohn- und Gehaltssumme. Mit ihr werden die Sozialversicherungsbeiträge (Pensionen, Gesundheit, Unfallkosten und Arbeitslosigkeit) finanziert. Ebenso die Wohnbauförderung, die Kommunalabgabe und der Beitrag für den Familienlastenausgleichsfonds (FLAF), aus dem unter anderem Familienbeihilfen und Karenzgeld berechnet werden.
Weiterentwicklung
Am 15. ÖGB-Bundeskongress 2003 stellte sich der ÖGB einmal mehr hinter die Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung von Sozial-, Gesundheits- und Pensionssystem. Seit Alfred Dallinger ist das Konzept weiterentwickelt worden. Die Modelle ähneln einander, Auffassungsunterschiede gibt es über die Schnelligkeit und Form der Einführung. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die Berechnung der Sozialabgaben nach der Lohnsumme den heutigen Wirtschaftsstrukturen nicht mehr gerecht wird. »Die Alternative ist die Wertschöpfungsabgabe«, meint Hans Kohlmaier, Vorsitzender des Zentralbetriebsrates der Hotel-Imperial-Gruppe.
Die Bezeichnung der Abgabe leitet sich davon ab, dass die Wertschöpfung eines Betriebes alternativ zur Lohn- und Gehaltssumme als Beitragsbasis für die Sozialleistungen dient. Georg Kovarik, Leiter des volkswirtschaftlichen Referats im ÖGB: »Damit wird die Bemessungsgrundlage breiter.
Die Leistungsfähigkeit des Unternehmens soll zum Gradmesser werden, nicht nur die Lohnsumme.« Die Komponenten der Wertschöpfung enthalten dann die Lohnsumme, Abschreibungen, Gewinne, Fremdkapitalzinsen, Mieten, Pachten und Steuern (siehe Kasten).
Immer mehr Stimmen, die kaum als linke Experimentierer bezeichnet werden können, reihen sich in den Chor der Befürworter, die bislang aus dem Bereich der Gewerkschaften und Sozialdemokratie kamen.
Tabubrüche
»ÖAAB bricht Tabu« titelte die »Presse« unter dem Schlagwort »Maschinensteuer« am 30. 1. 1998.
»Die mitgliederstärktste Teilorganisation der ÖVP befürwortet nun die Wertschöpfungsabgabe.« »Ja, das ist ein Tabubruch«, wurde der damalige ÖAAB-Generalsekretär Walter Tancsits zitiert. »Probieren wir es aus.« Jedenfalls habe der ÖAAB-Bundesvorstand »einhellig den Beschluss gefasst, die Wertschöpfungsabgabe beim Familienlastenausgleichsfonds einzuführen«.
Tanscits Begründung: »Um Rationalisierungen nicht nur über eine
Rationalisierung von Arbeitsplätzen attraktiv zu machen.« Die Reaktion des damaligen Wirtschaftskammer-Generalsekretärs Günther Stummvoll: »Es istlegitim, dass der ÖAAB eine andere Meinung hat. Sie ist aber nicht die der ÖVP.«
In der Presse vom 21. 9. 2004 will der nunmehrige Wirtschaftskammer-Generalsekretär Reinhold Mitterlehner bei der Krankenkassenfinanzierung »Systemflüchtlinge« einfangen - und denkt dabei an Sozialversicherungsbeiträge auf Mieten und Pachten.
»Das heißt anderswo ›Verbreiterung der Bemessungsgrundlage‹, ist der erste Schritt zur Wertschöpfungsabgabe und in erweiterter Form in den vergangenen Monaten in Österreich unter anderem von SP-Finanzsprecher Christoph Maznetter, dem ÖGB, der Arbeiterkammer, der steirischen Ärztekammer, VP-Arbeitnehmerchef Fritz Neugebauer, den Grünen und Attac gefordert worden«, schreibt Presse-Kommentator Josef Urschitz.
Nicht erzkapitalistisch
Nicht gerade ein erzkapitalistisches Konzept sei dies, aber im Prinzip ein grundvernünftiges.
Die Rahmenbedingungen seien unumstritten: Es gelte weiterhin ein Sozialsystem zu erhalten und die zu hohen Arbeitskosten zu senken. Wenn hier Konsens herrsche, sei der gedankliche Schritt zur Verbreiterung der Finanzierungsbasis nicht mehr weit.
Der große Nachteil, so Urschitz: Eine echte Wertschöpfungsabgabe, die Mitterlehner dezidiert ablehnt, würde kapitalintensive Branchen stark belasten, einen Teil der Industrie vertreiben und Österreich als Standort für Finanzinstitutionen unattraktiv machen.
»Die Steuern sind der Eckpunkt in einem Sozialstaat, von dem vieles abhängt: Die Frage der Pensionen, der Krankenkassen, der Arbeitslosenversicherung, der Bildung und der Infrastruktur«, meint Hans Kohlmaier. Beim 15. ÖGB-Bundeskongress forderte der Gewerkschafter der HGPD (Hotel, Gastgewerbe, persönliche Dienste) eine Neupositionierung der Gewerkschaften in Sachen Steuern. Der rege Widerhall führte zur Gründung der überfraktionellen Steuerplattform, die seither - auch im Internet - eine ebenso rege Diskussionsrunde führt. »Es sollte eine strategische Neuorientierung in der Arbeit des ÖGB sein und keine parteipolitische Sache.
Will man in sozialen Fragen etwas erreichen, muss zuerst die Steuerfrage in Angriff genommen werden. Wir glauben, dass dies in Form eines Aktionsbündnisses aller Parteien, aller Nichtregierungsorganisationen und aller interessierten Menschen geschehen und der ÖGB dabei eine führende Rolle spielen soll.« Als taktische Methode, so Hans Kohlmaier, wäre eine Volksabstimmung zielführend. Drei Forderungen stehen im Zentrum der Plattform: Die Wertschöpfungsabgabe, die das Feld der Gewinn-erzeugung, sprich Wertschöpfung abdeckt.
Die Tobin-Steuer, um den ausufernde Finanzspekulationen zu entgegnen und eine Energieabgabe zur ökologischen Lenkung und Umgestaltung. Sind all dies nur utopische Vorstellung von linken Experimentierern zu Lasten der Unternehmen?
Reformen
Das Wort »Reform« ist heute fast zum Synonym für Leistungskürzungen geworden. Die Eigenverantwortung des einzelnen Bürgers gilt als neue Prämisse, der Opa möge sich die »Designerbrille« selbst finanzieren. Glücksspiele boomen wie einst die Pyramidenspiele in Albanien. Tausende bangen dreimal die Woche an den Fernsehgeräten mit dem Mitbürger am Fragestuhl: Schafft es die Studentin mit dem Telefonjoker bei Armin Assinger? Die wirkliche Millionenshow findet hinter den Kulissen statt.
Mit Steuersenkungen unter dem -Vorwand der Standortsicherung werden Spitzenverdiener und Großunternehmer finanziert. Der Verzicht für den einzelnen Bürger scheint unausweichlich, die Belastungen der Unternehmen sind zu groß, der Sozialstaat ist unfinanzierbar. Das Gegenteil stimmt, meint ÖGB-Experte Georg Kovarik. Es gehe primär darum, die Steuergeschenke an die Großunternehmer zu finanzieren (siehe Interview).
Warum Wertschöpfungsabgabe?
Die hohe Besteuerung des Faktors Arbeit im Verhältnis zur Besteuerung des Faktors Kapital vermindert den Einsatz von Arbeit in der Produktion bzw. führt zur Ersetzung durch Maschinen. Die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung von Sozialleistungen - oft auch als »Umbasierung« der Sozialversicherungsbeiträge bezeichnet - kann aufkommensneutral erfolgen, erläutert Georg Kovarik. Ein erster Schritt wäre etwa eine Umbasierung der Beiträge zum FLAF, mit einer Senkung des Beitragssatzes von derzeit 4,5 auf 2,5%. Mehr Beiträge hätten kapitalintensive Branchen, wie Energiewirtschaft, Banken, Versicherungen und die Landwirtschaft, zu leisten. Entlastet würden Industrie und Gewerbe insgesamt, der Handel und der Bausektor. In einer WIFO-Studie aus 1997 wurde die Beschäftigungswirkung einer Umstellung der FLAF-Finanzierung untersucht. Mittelfristig, so das Ergebnis, könnte durch diese geringfügige Änderung 21.000 Arbeitsplätze entstehen.
»Eine vorerst aufkommensneutrale Wertschöpfungsabgabe würde auch zu einer Steigerung des Beitragsaufkommens führen, weil die erweiterte Bemessungsgrundlage rascher steigt als die in den letzten 15 Jahren sinkende Lohnsumme. Von einer adäquaten Mitfinanzierung des Sozialstaates könnten sich Unternehmen, die jetzt durch Rationalisierungsinvestitionen und Kündigungen sparen, nicht mehr so leicht drücken«, schreiben Günther Chaloupek, Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der AK und Georg Kovarik in einem Grundsatzpapier (siehe Internetseite der Steuerinitiative:www.steuerini.at)
Sparen bei Kranken
Schon im Jänner 2001 ließ Sozialminister Haupt anklingen, eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherung, sprich Wertschöpfungsabgabe, zu überlegen.
Auch er kann nicht linker Experimentierfreudigkeit bezichtigt werden. Der Anlass: Eine Unterredung im Rahmen der Gesprächsreihe von ÖGB-Präsident Verzetnitsch, um bei den Ministern die Forderungen der ÖGB-Urabstimmung zu deponieren. VP-Klubobmann Andreas Khol bremste: Haupts Ansicht sei eine Meinungsäußerung, aber keine Ankündigung einer konkreten Politik.
Im November 2004 forderte Werner Thum, Vorsitzender der ÖGB-Pensionisten, die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe. »Mit dem Gesundheitspaket beschert die Regierung den Menschen in Österreich die bisher größten Leistungskürzungen der Zweiten Republik.« Rund 300 Millionen Euro an neuen Belastungen plane die Regierung den Österreichern im Gesundheitswesen aufzubürden. »Zur Finanzierung des Gesundheitswesens fällt der Regierung nichts anderes ein als Leistungskürzungen und Selbstbehalte.«
Häufiges Gegenargument: Nirgends in Europa gäbe es eine Wertschöpfungsabgabe. In Dänemark gibt es sie seit 1988 in Form einer Arbeitsmarktabgabe.
Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung werden von der betrieblichen Wertschöpfung bemessen. In Österreich gibt es zwar keine Abgabe für Wertschöpfung.
Dafür gibt es eine so hohe Besteuerung der Arbeit wie sonst nur in Australien. In 14 OECD-Staaten ist eine Besteuerung der Lohnsumme überhaupt unbekannt.
»Der Faktor Arbeit muss entlastet werden. Immer weniger Menschen produzieren immer mehr. Es ist an der Zeit, europaweit über die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe nachzudenken«, meint ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch. In der vielfach von der Wirtschaft geforderten allgemeinen Lohnzurückhaltung liegt nicht die Lösung.
Der Reallohnanstieg in Europa lag zwischen 1991 und 2002 um etwa neun Prozentpunkte unter dem Produktionsanstieg. Dennoch wurden massiv Arbeitsplätze abgebaut. Und was dem einzelnen Betrieb vielleicht nützt, ist für die Volkswirtschaft schädlich.
Und schließlich: Wer soll all die billig produzierten Waren und Dienstleistungen kaufen, wenn die Einkommen sinken?
Der Teufelskreis von niedrigen Löhnen, wachsender Arbeitslosigkeit und steigenden sozialen Lasten ist durch den Rückzug des Staates nicht lösbar. Auch bei der Millionenshow kommen nur Wenige zum Zug.
I N F O R M A T I O N
Mythos Maschinensteuer
Was ist die Wertschöpfungsabgabe?
Sie leitet ihre Bezeichnung davon ab, dass die Wertschöpfung eines Betriebes alternativ zur Lohn- und Gehaltssumme als Beitragsbasis für Sozialleistungen dienen soll. Mit dem Anknüpfen an die Wertschöpfung wird die Bemessungsgrundlage breiter. Die Leistungsfähigkeit des Unternehmens soll zum Gradmesser werden, nicht allein die Lohnsumme.
Warum Wertschöpfungsabgabe?
Die hohe Besteuerung des Faktors Arbeit im Verhältnis zur Besteuerung des Faktors Kapital vermindert den Einsatz von Arbeit in der Produktion bzw. führt zu seiner Ersetzung durch Maschinen. Probleme bei der Finanzierung der Sozialversicherung haben dazu geführt, dass nach zusätzlichen und breiteren Finanzierungsquellen gesucht wurde. In Österreich kommt als spezieller Beweggrund dass, dass aus den lohnbezogenen Beiträgen zum Familienlastenausgleich in erheblichem Umfang auch Leistungen an Selbständige (Bauern und Gewerbetreibende) finanziert werden.
Ist die Wertschöpfungsabgabe ein Maschinenkiller?
Die Bezeichnung »Maschinensteuer« ist unzutreffend, da durch eine Wertschöpfungsabgabe zwar die Abschreibungen besteuert werden sollen, nicht aber einseitig Maschinenankäufe. Es geht also nicht um eine einseitige Belastung des Kapitals, sondern um eine gleichmäßige Belastung aller Komponenten der Wertschöpfung.
Quelle: ÖGB-Volkswirtschaftliches Referat
Wer Lohnraub will, soll das klar sagen. Der ÖGB und seine Gewerkschaften sind an einer sinnvollen Gestaltung der Arbeitszeit interessiert, aber nicht unter dem Titel ›mehr Arbeit - weniger Lohn‹«, erklärte ÖGB-Präsident Verzetnitsch. Er sprach von einem »Vorbeischleichen am Kollektivvertrag« und von einer »Einbahnstraße« und erklärte kategorisch: »Nicht mit uns!«
Der Partner von der Gegenseite, Christoph Leitl als Präsident der Wirtschaftskammer, mahnte als Antwort prompt eine Versachlichung der Diskussion ein und bat, von »emotionalen Argumenten« abzulassen. Christoph Leitl im O-Ton: »Es geht weder um Lohnraub, Feiertagsstreichung, Sonntagsarbeit, noch um eine generelle Arbeitszeitverlängerung, sondern um eine bessere Anpassung der Arbeitszeit an Auftragsspitzen und damit an die Erfordernisse des Marktes. Davon können alle Seiten nur profitieren, da nicht nur bestehende Arbeitsplätze gesichert und stabilisiert werden können, sondern auch das Entstehen neuer Arbeitsplätze zu erwarten ist.«
Dem ist mitnichten so, Herr Präsident Leitl, denn die seit Jahren geübte Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der damit verbundene Anstieg der Profite hat keineswegs dazu geführt, dass mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden. Im Gegenteil, die Unternehmen haben ihre Profite lieber in die Finanzmärkte gesteckt und Aktien gekauft (siehe den Schwerpunkt dieses Heftes). Wir haben eine so hohe Arbeitslosigkeit wie noch nie, aber alles, was wir zu hören bekommen, ist: »Gebt uns noch mehr - damit wir konkurrenzfähig bleiben können.« Ja, auf welche Lohnteile sollen wir denn noch verzichten? Hat Eure Gier denn nie ein Ende?
Endlose Gier zerfrisst die Gehirne
Tschuldigen, das ist mir so rausgerutscht - eine rein rhetorische Frage, ich weiß, dass es hier kein Ende gibt. In einem -Gespräch bei Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Bartenstein ist man übereingekommen, von einer Änderung des Arbeitszeitgesetzes abzusehen. Trotzdem bestehen die Wirtschaftsleute auf dem Modell Verankerung einer täglichen Normalarbeitszeit von 10, einer täglichen Höchstarbeitszeit von 12 Stunden und einem Durchrechnungszeitraum von zumindest einem Jahr, wenn nicht mehr (Formel 10/12/1-2), jetzt eben nicht mehr über ein Arbeitszeitgesetz, sondern über die Kollektivverträge.
KV-Verhandlungen gibt es derzeit viele, z. B. die im graphischen Gewerbe. Franz Bittner, der Vorsitzende der Druckergewerkschaft verweist zur Sache darauf, dass die derzeitige Flexibilisierungsdiskussion hervorgerufen sei durch die Wirtschaftskammerwahlen im März und erklärt: »Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl und Industriellenpräsident Veit Sorger beharren auf Jahresdurchrechnung-zeiträumen, die den Arbeitnehmern die meisten Überstundenzuschläge streichen würden. Lohnraub ist in unserer Republik angesagt. Der ÖGB und seine Gewerkschaften verwehren sich gegen einen solchen ›Lohnraub‹, wie es Präsident Verzetnitsch bezeichnet hat. Wird dieser geplante Lohnraub erfolgreich durchgesetzt, würde die Nettolohnquote noch mehr sinken, als sie bereits gesunken ist. Weiters würde sich die Konsumquote verringern (geringere Kaufkraft), die Sozialversicherung bekäme noch weniger Beiträge von denjenigen Versicherten, die noch Arbeit haben und die Arbeitslosigkeit würde weiter steigen. Eigentlich eine Entwicklung, die niemand haben möchte, auch nicht die Wirtschaft. Aber anscheinend geht es den Hardlinern nicht um das Gemeinwohl eines Staates, sondern um Gewinnmaximierung ihrer Betriebe und ihres persönlichen Einkommens.
Heiner Geissler von der CDU hat im Feber-Heft festgestellt, dass die Arbeiter in den Industriestaaten sich anonymen Mächten ausgeliefert fühlen, »die von Menschen beherrscht werden, denen die Gier die Gehirne zerfrisst«, um zum Schluss zu warnen: »Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.«
Siegfried Sorz
]]>Das Ende
Mit 1. 1. 2005 wurden auch die als sensibel eingestuften Warengruppen in das quotenfreie Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) der WTO übernommen. Sie werden in Zukunft wie alle anderen Waren (mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Produkte) behandelt. Das bedeutet, dass nationale Textil- und Bekleidungsmärkte nur noch durch Zölle geschützt werden dürfen und der kontrollierte Marktzugang durch mengenmäßige Beschränkungen (Quoten) nicht mehr möglich sein wird. (Der Textil- und Bekleidungssektor macht einen weltweiten Exportanteil von fast 6% aus.)
Die Schutzmechanismen des ATC werden durch die allgemeine Schutzregelung des GATT abgelöst. Importe dürfen dann beschränkt werden, wenn sie unverhältnismäßig ansteigen und im Inland ernsthaften Schaden verursachen.
In der WTO wurde bis zum letzten Augenblick verhandelt, um Übergangsregelungen und Schutzmechanismen für die geänderte Situation zu schaffen. Freilich wäre eine Verlängerung des Quotensystems nicht nur kleinen Entwicklungsländern eine große Hilfe gewesen.
Auch die größten Industrieländer müssen ihre unter Druck geratenen Industrieproduktionen verteidigen. Die USA und die EU haben Maßnahmen gegen die Handelsliberalisierung, vor allem gegenüber China, vorbereitet.
China
Seit dem WTO-Beitritt Chinas 2001 sind die Fronten jedoch verhärtet. Selbst Studien zur Folgenabschätzung in Entwicklungsländern und technische Unterstützung, um mit der geänderten Situation auf dem Welttextilmarkt besser umgehen zu können, wurden von China kategorisch abgelehnt. Dabei ist technische Hilfe beim Auslaufen des ATC in der »Doha-Entwicklungsagenda« der WTO explizit vorgesehen. Die Anwärter, darunter Kenia, Uganda, Zimbabwe, Nicaragua oder Bangladesch wurden dennoch beinhart von China und Indien abgewiesen. Peking spielt den Ball an die großen Industrieländer weiter. Für einen schmerzloseren Übergang in den freien Handel sollen diesen Ländern Zollreduktionen gewährt werden. In den USA stößt dieser Vorschlag allerdings auf taube Ohren. In der EU ist man eher bereit, den ärmsten Ländern entgegenzukommen. Allerdings wird das neue EU-Zollpräferenzsystem erst ab Mitte des Jahres in Kraft gesetzt. Leider wurde es in der Vergangenheit von den Entwicklungsländern wenig in Anspruch genommen, weil die Zollpräferenzen mit Sozial- und Umweltauflagen verbunden sind. Jedenfalls ist zu erwarten, dass große und billige Textilproduzenten die kleinen verdrängen werden.
Absatzmärkte durch Quoten
Vor allem für Entwicklungsländer war der Abbau der durch das frühere Multifaserabkommen geregelten Textilquoten eine wesentliche Voraussetzung für den Abschluss der Uruguay-Runde. Sie wollten die Abschaffung der Quoten, um ihren Marktzugang zu wichtigen Absatzmärkten wie Nordamerika, Kanada und die EU zu verbessern. Das Öffnen der Märkte hat zweifellos geholfen, aber entscheidend war der richtige Mix aus Marktöffnung und geregeltem Marktzugang durch Quotenvergabe.
Für viele Entwicklungsländer, vor allem die 49 am wenigsten entwickelten Länder (LDC), hat das Auslaufen des ATC schlimme Folgen. Im Laufe der Zeit konnten sich diese Länder nämlich durch das Quotensystem einen gesicherten und vorhersehbaren Marktzugang in die USA und die EU aufbauen und dadurch ihre schwache Textil- bzw. Bekleidungsindustrie ausbauen. So entstand eine Alternative zu den traditionell rohstofflastigen Exporten. Deshalb waren viele dieser Länder auch für die Verlängerung des Quotensystems.
Der Textil- und Bekleidungshandel ist für viele Entwicklungsländer lebenswichtig und bestimmt weitgehend ihre Exporteinnahmen: Die Hälfte der Textil- und 70% der Bekleidungsexporte kommen aus Entwicklungsländern - die großen Exporteure China und Indien miteingeschlossen. Es gibt aber auch kleine, extrem exportabhängige Textilerzeuger, deren Exporteinnahmen zum Großteil aus dem Textilsektor stammen. Bangladesh bezieht 77% seiner Exporteinnahmen aus dem Textil- und Bekleidungssektor, wo 40% der Arbeitsplätze mit geschätzten 1,8 Millionen Arbeitnehmern angesiedelt sind.
Es wird allgemein erwartet, dass diese Länder der Konkurrenz aus China, Indien und anderen Billigproduzenten nicht standhalten werden können.
Textilflut
Die chinesische Wirtschaft ist dynamisch und ihre Textilexporte sind enorm. Überangebot und Preisverfall sind die Folge - was Industrieländer und Entwicklungsländer gleichermaßen schmerzt. Als unmittelbare Folge des Auslaufens der ATC-Quoten rechnen US-amerikanische Wirtschaftsforscher des Institutes Bloomberg für 2005 mit einem Anstieg der chinesischen Textil- und Bekleidungsexporte um mindestens 24%. EU-Handelskommissar Peter Mandelson fürchtet, dass die chinesischen Textilexporte in den kommenden Jahren um 150% steigen könnten, was einem Weltmarktanteil bei Textilien von 50% entspricht. Die Erfahrungen der vorletzten Quotenabbauphase per 1. 1. 2002 haben gezeigt, dass China zulasten anderer Entwicklungsländer zum Nutznießer der Liberalisierung wurde. So stieg der Marktanteil Chinas für die freigegebenen Produktkategorien auf dem US-Markt von 9% (2001) auf 65% (2004); ähnliche Entwicklungen wurden auch in der EU festgestellt. Die chinesische Währung ist stark unterbewertet, Energie wird subventioniert und Fertigprodukte werden oft unter dem Einstandspreis der Vormaterialien verkauft. Die Ursachen für die Dominanz Chinas liegen aber auch in der Nichtbeachtung von Sozial- und Umweltstandards. Insbesondere in den freien Produktionszonen werden Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden pro Tag an sieben Tagen pro Woche mit nur zwei Urlaubstagen im Jahr kritisiert.
Indien
Für Indien wird bis 2008 ein jährliches Wachstum zwischen 8 und 10% für Textilexporte vorhergesagt. Im vergangenen Halbjahr haben die Auslandsaufträge um 25 bis 30% zugenommen. In manchen Fertigungen (z. B. Herrenbekleidung) müssen indische Hersteller bis zu 65% des Vorprodukts Baumwolle aus dem Ausland zukaufen - und das, obwohl Indien der weltweit größte Baumwollproduzent ist. Auch hier werden durch die Aufhebung der Quoten Anpassungen erforderlich. Um die Exporte steigern zu können, werden z. B. Investitionsbedingungen für Ausländer liberalisiert und die Beschränkung der Kleiderherstellung auf Kleinunternehmen abgeschafft.
Während China in der Großproduktion stark ist, liegt Indiens Stärke in der Kleinstrukturiertheit der Unternehmen und der damit verbundenen Flexibilität in der Erzeugung. Die Textilindustrie mit ihrem großen Beschäftigungspotenzial ist in Indien mindestens so wichtig wie die IT-Branche. Sie beschäftigt eine Million Menschen, der Textilbereich 35 Millionen. Durch die vorgelagerte Baumwollproduktion kommen weitere 45 Millionen Arbeitsplätze hinzu.
Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass China und Indien auf das termingerechte Auslaufen des ATC bestanden haben. China empfahl, die Anpassungskosten empfindlicher Entwicklungsländer durch Hilfsprogramme von Weltbank und Internationalem Währungsfonds und durch präferenzielle Zollbehandlung auszugleichen. Beides wurde in Angriff genommen, wird aber nicht ausreichen, um diese Länder entsprechend zu stärken. Die USA haben sich nicht für die Verlängerung des Quotensystems eingesetzt. Jedoch arbeiten die US-Behörden an der Verlängerung von bestehenden und an neuen Schutzmaßnahmen, wie Einfuhrbeschränkungen und Anti-Dumpingzölle.
Vorbereitung der EU
Die Textil- und Bekleidungsindustrie der EU-25 beschäftigte 2003 cirka 2,5 Millionen Arbeitnehmer. Die wirtschaftliche Situation des gesamten Sektors ist nach wie vor schwierig: Nach deutlichen Produktions- und Beschäftigungsrückgängen in den letzten drei Jahren ging die Produktion 2003 um weitere 4,4% und die Beschäftigung um 7,1% zurück. Die wichtigsten Gründe sind die Folgen der Konjunkturabschwächung auf den EU-Textilsektor und auf ihre Absatzmärkte sowie die Wechselkursentwicklung zwischen US-Dollar und Euro, die die EU-Exporte in den Dollar-Raum verteuern.
Die Liberalisierung hat in manchen Importländern zu Schwierigkeiten in der eigenen Textil- und Bekleidungswirtschaft geführt, was ein steiles Anwachsen von Anti-Dumping-Maßnahmen in der WTO nach sich gezogen hat.
Die EU
Die EU war 2002 mit einem Anteil von 15% weltgrößter Textilexporteur und mit 11% zweitgrößter Exporteur von Textilien und Bekleidung nach China. Umgekehrt war die EU 2002 mit rund 20% (nach den USA) auch zweitgrößter Importeur von Textilien und Bekleidung aus China. Die EU hat seit 1996 etwa die Hälfte seiner Quoten gegenüber China abgeschafft. Experten rechnen nach der Freigabe der Quoten mit einem Anstieg der chinesischen Importe in die EU von derzeit 24% auf 35%.
Noch während der letzten Tage des ATC sind in der EU und den USA bestehende Quoten gefallen. Bis dahin waren zwar zirka ein Drittel dieser Güter zollfrei importierbar, aber bei der Abschaffung der Quoten ließ man sich bis zum Äußersten Zeit. Nur gegenüber den 49 am wenigsten entwickelten Ländern der Welt (LDC) bestehen seitens der EU weder Zölle noch quotenmäßige Beschränkungen.
Diese zögerliche Anpassung könnte für so manchen Hersteller bereits in diesem Jahr ernsthafte Konsequenzen haben. Die Preise bis zuletzt durch Quoten geschützter Textil- und Bekleidungskategorien werden im bevorstehenden Verdrängungswettbewerb vermutlich schockartig sinken und in Folge das Aus für deren Herstellung bedeuten.
EU-Kommission
Deshalb versuchte die EU-Kommission im letzten Moment den drohenden Schaden zu begrenzen: Sie hat im Oktober letzten Jahres einen Maßnahmenkatalog für den reibungslosen Übergang in ein quotenfreies System ausgearbeitet. Da die Gefahr in erster Linie in China liegt, soll ein Monitoringsystem in einer Übergangsphase bis Ende 2005 die chinesischen Textil- und Bekleidungsimporte überwachen.
Das bedeutet, dass bis dahin Importe aus China in die EU einer Genehmigung bedürfen. Erst nach dieser einjährigen Übergangsfrist wird auf das endgültige zollabgabengestützte Überwachungssystem umgestellt. Die weiteren Kommissionsvorschläge umfassten: Förderung von Forschung und Innovation, Öffnung der Märkte im Rahmen der WTO-Verhandlungen, um den Zugang der europäischen Unternehmen zu Drittländern zu verbessern, Gewährleistung lebenslangen Lernens und der beruflichen Bildung, Einrichtung eines Textilfonds im Rahmen des Strukturfonds für unvorhergesehene Krisen und schließlich die Stärkung der Maßnahmen zur Bekämpfung von Nachahmung und Piraterie.
Auch das Allgemeine Zollpräferenzsystem der EU wird auf die neue Situation zugeschnitten. Länder wie China, Indien und Brasilien könnten aus dem System ausgeschlossen werden, sodass dann für diese Länder -keine Zollbegünstigungen mehr gewährt würden.
Gleichzeitig sollen kleine und schwache -Entwicklungsländer durch günstigere Ursprungsregelungen derart gefördert werden, dass sie gegenüber der chinesischen Konkurrenz bevorzugt werden.
Die neue EU-Verordnung soll ab Mitte 2005 in Kraft treten und insbesondere auf die prekäre Situation der Entwicklungsländer nach Auslaufen des
ATC reagieren.
Luxusartikel
Der ehemalige EU-Handelskommissar Pascal Lamy fasste die Reaktion der EU auf die Post-ATC-Ära so zusammen: Konzentration auf Luxusartikel und Aufrechterhaltung der Wettbewerbsvorteile bei EU-Markengütern.
Die betroffenen österreichischen bzw. EU-Industriebranchen sind zwar auf das Auslaufen der WTO-Quoten gut vorbereitet, etwa durch hohe Investitionen in Design, Qualität und modernste Maschinenparks, Auslandsverlagerung der Produktion oder Weiterbildungs-Programme. Dennoch können unmöglich alle Unternehmen der Bekleidungsindustrie zu Nischen-Produzenten oder Luxus-Anbietern werden. China kann nach langjährigem Know-how-Aufbau gute Qualität liefern.
Angesichts der unfairen Produktionsbedingungen in China, Indien und vielen anderen Ländern, ist es selbst für jene europäische Bekleidungshersteller, die bereits in den neu beigetretenen EU-Mitgliedsländern investiert haben und dort fertigen lassen, unter Kostengesichtspunkten schwer mitzuhalten.
In der Textil- und Bekleidungsbranche rechnet man mit einem Verlust von rund 30 Millionen Arbeitsplätzen in der EU, den EU-Beitrittsbewerbern, Nordafrika, Asien, Nord-, Mittel- und Südamerika und Afrika.
Aus diesen Gründen sind sich Arbeitgeberverbände und Arbeitnehmerorganisationen weitgehend über die Unterstützung der Kommissions-Maßnahmen einig. Allerdings ist die Priorisierung aus Arbeitnehmersicht eine andere.
Gerechtere Produktion
Welche Maßnahmen wären für ge-rechtere Produktion und fairen Handel nötig
I N F O R M A T I O N
Beschäftigung sinkt, Ertrag steigt
Im Jahr 2002 gab es in der österreichischen Textilindustrie rund 15.400 Beschäftigte weniger als im Jahr davor. Wirtschaftlich ging es aufwärts.
Der stete Beschäftigungsabbau konnte trotz besserer Erträge in der öster-reichischen Textilindustrie nicht aufgehalten werden. Denn wirtschaftlich ging es der Textilindustrie 2002 nach einem mageren Jahr 2001 etwas besser, zeigt die AK-Analyse »Die wirtschaftliche Lage der Textilindustrie« aus dem Jahr 2004.
So konnte der Jahresüberschuss von -5,4% in +0,4% umgewandelt werden. Die Branche hat an Krisensicherheit gewonnen. Optimismus herrscht vor allem bei den stärker in die Zukunft gerichteten Indikatoren. Unternehmensseitig wurde mehrheitlich eine Verbesserung der Geschäftslage infolge der Produktionssteigerung für die zweite Jahreshälfte 2004 erwartet. Die optimistischere Stimmung scheint sich jedoch nur sehr langsam in höheren Auftragsbeständen niederzuschlagen.
Die Maßnahmen des -Finanzausgleichs 2005 bis 2008
Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die finanziellen Auswirkungen der beschlossenen Maßnahmen für den neuen Finanzausgleich: (siehe Tabelle 1 »Die Maßnahmen im Überblick«).
Vereinbarte Maßnahmen
Im Rahmen des Finanzausgleichs 2005 in Millionen Euro 1
Maßnahmen zur Spitalsfinanzierung
maximal 300
Erhöhung Tabaksteuer (0,18 EUR/Packung)
90
Erhöhung Krankenversicherungsbeitrag - Befristung auf vier Jahre
(je 0,05 Prozentpunkte Dienstnehmer-/Dienstgeberbeitrag)120
Erhöhung Höchstbeitragsgrundlage (+ 90 EUR auf 3.540 EUR/Monat)
30
Erhöhung Spitalskostenbeitrag - Kann-Regelung - Ermächtigung für Länder zur Anhebung
max. 15
Erhöhung Rezeptgebühr (+0,10 EUR auf 4,45 EUR, auch für Generika)
10
Senkung der Zuschüsse für Sehbehelfe
35
Zusätzliche Finanzmittel (je 100 Millionen EUR Länder und Gemeinden)
200
Zusätzliche Transfers Landeslehrer
12
Gesamtvolumen
maximal
512
112 Millionen Euro jährlich mehr für die Länder
Der Bund gewährt den Ländern eine jährliche Bedarfszuweisung in der Höhe von jährlich 100 Millionen Euro. Zusätzlich werden den Ländern für den Bereich der Pflichtschulen jährlich 12 Millionen Euro im Zusammenhang mit Strukturproblemen bei sinkender Schülerzahl und sonderpädagogischem Sonderbedarf zur Verfügung gestellt, wobei nach zwei Jahren eine Evaluierung stattfinden soll.
Die Mittel aus der Wohnbauförderung (1,78 Milliarden Euro jährlich) bleiben den Ländern im bisherigen Ausmaß erhalten, sie sollen jedoch verstärkt für die Erreichung der Kyoto-Ziele herangezogen werden (thermisch-energetische Sanierung im Althausbestand, Anreize für den Wärmeschutz und effiziente Energiebereitstellung im Wohnungsneubau, Einsatz erneuerbarer Energieträger und Fernwärme). Über die damit einher-gehenden Einsparungen von Treibhaus-gasen sollen in zweijährigen Abständen Evaluierungen gemacht werden. Entsprechend ihrer Verwendung werden die -bisherigen Wohnbauförderungsmittel umbenannt in »Investitionsbeitrag für Wohnbau, Umwelt und Infrastruktur«.
Der abgestufte Bevölkerungsschlüssel
Den Gemeinden gewährt der Bund eine Bedarfszuweisung von 100 Millionen -Euro pro Jahr. Gleichzeitig kommt es zu gravierenden Änderungen beim abgestuften Bevölkerungsschlüssel. Für Gemeinden mit bis zu 10.000 Einwohnern wird der untere Vervielfältiger beim abgestuften Bevölkerungsschlüssel von 1? auf 11⁄2 erhöht. Das bewirkt eine Verschiebung der Finanzmasse von rund 114 Millionen Euro zu den Gemeinden bis 10.000 Einwohner. Im Gegenzug wird der Sockelbetrag (72,66 Euro/Einwohner) abgeschafft. Das bedeutet eine Gegenfinanzierung in der Höhe von 53 Millionen Euro. Dadurch schrumpft der Gewinn der Gemeinden bis 10.000 Einwohner auf 61 Millionen Euro. Das ist gleichzeitig jene Summe, die die Gemeinden über 10.000 Einwohner verlieren. Dieser Verlust wird durch die oben erwähnten Finanzzuweisungen abgegolten. Die verbleibenden 39 Millionen Euro werden vereinbarungsgemäß zwischen den Städten und Gemeinden unter 10.000 Einwohnern und über 10.000 Einwohner aufgeteilt (siehe Tabelle 2: »Vervielfacher des abgestuften Bevölkerungsschlüssels«).
Vervielfacher des abgestuften
Bevölkerungsschlüssels2
FAG 2001-2004
FAG 2005-2008
Gewinne Neuregelung
in Millionen Euro
Gemeinden bis zu 10.000 Einwohner (EW)
11/3
11/2
80,5
Gemeinden zwischen 10.001 und 20.000 EW
12/3
12/3
Gmeinden zwischen 20.001 und 50.00 EW
2
2
19,50
Gemeinden mit über 50.000 EW
21/3
2 1/3
Durch diese Vorgangsweise gehören zwar alle Gemeinden zu den Gewinnern der neuen Regelung, aber die Gemeinden unter 10.000 Einwohnern erhalten zusätzlich rund 80,5 Millionen Euro jährlich, während die größeren Städte über 10.000 Einwohner nur 19,5 Millionen pro Jahr bekommen.
Der neue Finanzausgleich nimmt damit nur sehr unzureichend Rücksicht auf die Finanzlage der österreichischen Gemeinden. Die Gemeinden erhalten zwar in Summe um 100 Millionen Euro mehr, aber das reicht nicht aus, um die in den letzten Jahren eingetretene Verschlechterung der Finanzlage zu kompensieren. Benachteiligt werden zudem die größeren Gemeinden und Städte, weil die Umverteilung zu den kleineren Gemeinden weiterhin anhält.
Anreize für überregionale Kooperationen
Die Erträge aus der Kommunalsteuer können durch vertragliche Vereinbarungen zwischen den Gemeinden geteilt werden. Damit wird ein Anreiz für überregionale Kooperationen gegeben. Bisher erschwerten die finanzausgleichsgesetzlichen Regelungen Betriebsansiedlungen. Belastungen und zu erwartende Einnahmen wurden immer zur Gänze der Standortgemeinde zugeordnet. Die Steuererträge verblieben aber nicht zur Gänze in der jeweiligen Gemeinde, sondern führten durch Einnahmenverluste über eine Erhöhung der Finanzkraft bzw. Mehrausgaben zu Verlusten aus dem interkommunalen Finanzausgleich. Diese Neuregelung und die damit verbundenen Anreize sind aus regionalpolitischer Sicht sehr zu begrüßen.
Siedlungswasserwirtschaft
Für die Siedlungswasserwirtschaft werden neue Zusagerahmen festgelegt. Dabei wird Bezug genommen auf die im Jahre 2003 durchgeführte Investitionskostenabschätzung für die aus der Umsetzung des Wasserrechts und der Wasserrahmenrichtlinie resultierenden Investitionserfordernisse.
Einheitlicher Verteilungsschlüssel
Die so genannten gemeinschaftlichen Bundesabgaben - mit Ausnahme der Werbeabgabe, der Grunderwerbsteuer und der Bodenwertabgabe - werden ab dem Jahr 2005 nach einem einheitlichen Verteilungsschlüssel basierend auf den Rechnungsabschlüssen 2004 erfolgsneutral aufgeteilt. Das entspricht einer langjährigen Forderung der Länder und Gemeinden. In Zukunft kommt es daher nicht mehr zu einer Verschiebung des Abgabenertrages zugunsten des Bundes und zulasten der Gemeinden und Länder, wenn der Bund im Verlauf einer Finanzausgleichsperiode Änderungen bei jenen Abgaben herbeiführt, an denen er mit einem höheren Schlüssel beteiligt war. Der Bund hat in der Vergangenheit steuerpolitische Maßnahmen wiederholt zu seinen Gunsten ausgerichtet, so etwa die Erhöhung der Mineralölsteuer im Zuge der Steuersenkung 2004.
Innerösterreichischer Stabilitätspakt
Die Finanzausgleichspartner haben im Rahmen des österreichischen Stabilitätspakts die Erreichung ausgeglichener Haushalte bis zum Jahr 2008 vereinbart. Dabei soll das Maastricht-Defizit des Bundes schrittweise von 2,4% des BIP im Jahr 2005 auf ein Defizit von 0,75% es BIP (2008) verringert werden. Im Gegenzug werden den Ländern für die Maßnahmen im Rahmen des neuen Finanzausgleichs steigende Stabilitätsbeiträge abverlangt. Die mit jeweils 0,6% des BIP auferlegten Beiträge für die Jahre 2005 und 2006 dürfen nicht unterschritten werden. Für die Jahre 2006 und 2007 erhöhen sich die Stabilitätsbeiträge auf 0,7 bzw. 0,75% des BIP. Dadurch geraten die Länder zum Teil unter erheblichen Druck. Das gilt z. B. für die Steiermark, die sich zumindest 2005 nicht in der Lage sieht, den anteiligen Überschuss zu erbringen. Sie will daher diesen Stabilitätspakt nicht unterzeichnen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass bei Fortdauer dieser Weigerung saftige Strafzahlungen im Finanzausgleichsgesetz festgesetzt wurden. Die Gemeinden müssen wie bisher länderweise ausgeglichene Haushalte haben. Die finanzielle Situation der Gemeinden wird sich dadurch weiter verschärfen (siehe Tabelle 3: »Maastrichtsalden gemäß österreichischem Stabilitätspakt«). Daraus folgt, dass die Erreichung eines ausgeglichenen Haushalts für den Gesamtstaat nicht einfach und vor allem nicht ohne Konsequenzen sein wird. Weitere Sparmaßnahmen werden zur Zielerreichung notwendig sein.
Maastrichtsalden
gemäß österreichischem Stabilitätspakt 2005 bis 20083
2005
2006
2007
2008
Bund
-2,4
-2,2
-1,4
-0,75
Länder
0,6
0,6
0,7
0,75
Gemeinden
0
0
0
0
Gesamtstaat
-1,9
-1,7
-0,7
0
Quelle: Österreichischer Stabilitätspakt 2005, Regierungsvorlage
Weiterhin kein aufgabenorientierter Gemeindefinanzausgleich
Durch die Änderungen beim abgestuften Bevölkerungsschlüssel wird die in den letzten Jahren zu beobachtende Nivellierungstendenz des Finanzausgleichs - also eine Umverteilung zu den kleineren Gemeinden - fortgesetzt. Völlig außer Acht gelassen werden zudem die steigenden Transferlasten der Gemeinden durch andere Rechtsträger (z. B. im Rahmen der Sozialhilfe oder bei den Krankenanstalten), die netto besonders die finanzstärkeren Gemeinden belasten. Eine Fortsetzung der Umverteilung zu den kleinen Gemeinden führt zu einer weiteren Schwächung der Finanzkraft der größeren Städte und Ballungsräume, in denen der Ausgabenbedarf für zentralörtliche und ballungsraumspezifische Aufgaben hoch ist. Gerade von diesen öffentlichen Leistungen in den Städten und Ballungsräumen profitieren auch die Umlandbewohner/-innen und Einpendler/-innen. Mit steigender Gemeindegröße steigen auch die Ausgaben für die Erledigung der Basisaufgaben an. Eine von der Arbeiterkammer Wien in Auftrag gegebene Studie1) hat einmal mehr gezeigt, dass der Finanzmittelbedarf mit der Gemeindegröße ansteigt. Mit anderen Worten: der abgestufte Bevölkerungsschlüssel hat weiterhin seine Berechtigung. Trotz dieser nicht ganz neuen Befunde orientiert sich die Finanzmittelverteilung der Gemeinden nach wie vor nicht an den tatsächlichen Aufgaben, sondern folgt der überholten Vorstellung der Einheitsgemeinde, wonach jede Gemeinde weitgehend ähnliche Aufgaben zu erfüllen hat.
Weitere Strukturreformen fehlen
Als Folge dieser Nivellierungstendenz und des Stabilitätspakts wird die Aufgabenerfüllung für die Gemeinden, insbesondere im Hinblick auf die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie im Hinblick auf deren Rolle als wichtigster Investor der öffentlichen Hand zunehmend schwieriger. Damit ist ein weiterer Rückgang der Investitionen - sie sind seit 1995 real gesunken - vorprogrammiert, und es ist mit Qualitätseinbußen bei den öffentlichen Leistungen zu rechnen.
Es fehlen aber weitere Strukturreformen, über die im Vorfeld der Verhandlungen sowie im Österreich-Konvent wiederholt gesprochen wurde. Das gilt insbesondere für die Entflechtung von Kompetenzen und Finanzierungsverantwortlichkeiten zwischen den Gebietskörperschaften. Von einer Zusammenführung der Einnahmen-, Ausgaben- und Aufgabenverantwortung fehlt jede Spur. Der Versuch des Bundes, die Steuerhoheit der Länder auszuweiten, ist kläglich gescheitert.
Das »Transferchaos« und die damit einher-gehende Tendenz zur Unwirtschaftlichkeit des Finanzausgleichs (Parallelförderungen, Ko-Finanzierungen als Mittel zur Abgangsdeckung, Tendenz zu Leistungsausweitungen) bleibt daher weiter bestehen.
Eine Änderung des Finanzausgleichs in Richtung verstärkter Ziel- und Managementorientierung war gar nicht erst Ziel der Verhandlungen.
Das Gesundheitspaket 2004
Zugleich mit dem neuen Finanzausgleich wird ein Gesundheitspaket beschlossen. Es besteht aus einem Finanzierungs- und einem Organisationsteil2). Im Rahmen des Finanzierungspakets (siehe Tabelle 1) werden den Ländern und Sozialversicherungsträgern zusätzlich 300 Mio. Euro zukommen. Die beschlossenen Maßnahmen entsprechen nicht zur Gänze dem Prinzip der solidarischen Finanzierung. Nach diesem Prinzip wäre das Gesundheitssystem über Beiträge oder Steuern zu finanzieren.
Nur einige der beschlossenen Finanzierungsmaßnahmen weisen diese solidarischen Elemente auf: die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge sowie die Anhebung der Höchstbeitragsgrundlage zur Krankenversicherung und der Tabaksteuer. Die Selbstbehalte (Spitalskostenkostenbeitrag, Sehbehelfe) werden von Arbeitnehmerseite wegen ihrer Verteilungswirkung (»Krankensteuer«) seit jeher abgelehnt.
Eine Zielsetzung des Gesundheits-pakets liegt darin, auch ausgabenseitige Sparmaßnahmen (Kostendämpfung, Effizienzsteigerung) im selben Umfang zu ergreifen. Die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge erfolgt daher nur befristet bis 2008. Dieses Finanzierungspaket erscheint zu knapp bemessen, bereits im Jahr 2006 ist erneut mit einer Finanzierungslücke im Gesundheitswesen zu rechnen.
In Anbetracht dieser zu erwartenden Finanzierungslücke und der gegebenen Erosion bei den Krankenversicherungsbeiträgen wären Schritte in Richtung einer Wertschöpfungsabgabe geboten. Problematisch wirkt sich auch aus, dass die Bundesregierung die gesetzliche Krankenversicherung seit einigen Jahren finanziell »aushungert«.
1) Bröthaler, J., Die Verwaltungsausgaben der österreichischen Gemeinden, Wien, Dezember 2004.
2) Auf die Organisationsreform wird hier nicht eingegangen.
I N F O R M A T I O N
Unterschiedliche Aufgabentypen von Gemeinden
Zu den Basisaufgaben zählen die von den Gemeinden aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen wahrzunehmenden behördlichen, dienstleistungsmäßigen und infrastrukturellen Kernaufgaben, die eine Grundversorgung der örtlichen Bevölkerung und der Wirtschaft gewährleisten (Kindergärten, Straßenreinigung, Kanäle etc.).
Zentralörtliche Aufgaben sind Leistungen der »zentralen Orte« für einen Nutzerkreis, der die Grenzen der Anbietergemeinde überschreitet und demnach auch Nutznießer/-innen im Umland zugute kommen (z. B. das Errichten und Betreiben von Krankenanstalten, Pflegeheimen für Betagte, Behindertenhilfe, Kinderheime, große Sportstadien, Kunst- und Kultureinrichtungen).
Die ballungsraumspezifischen Aufgaben umfassen spezielle Aufgaben der Gemeinden aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in den Ballungsräumen. Der Nutzerkreis umfasst sowohl die Einwohner/-innen der Kernstadt als auch die des verstädterten Umlandes (z. B. Sozial- und Gesundheitsämter, Ämter der Stadtplanung, Berufsfeuerwehren, Haupt- und Sonderschulen, Mülldeponien oder regionale Kläranlagen).
B E G R I F F E
Finanzausgleich:
darunter versteht man die Verteilung der so genannten gemeinschaftlichen Bundesabgaben auf die unterschiedlichen Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden). In einer ersten Stufe werden entsprechend ihren Aufgaben die gemeinschaftlichen Bundesabgaben zwischen dem Bund, der Summe der Bundesländer und der Summe der Gemeinden verteilt (vertikaler Finanzausgleich). Bisher erfolgte die Aufteilung nach fixen Prozentsätzen, ab 2005 nach einem einzigen einheitlichen Verteilungsschlüssel. In einem zweiten und dritten Schritt werden die so ermittelten Abgaben zwischen gleichrangigen Gebietskörperschaften (also zwischen Gemeinden sowie zwischen Ländern) verteilt, um einen regionalen Ausgleich zu erhalten (horizontaler Finanzausgleich). Dabei kommen verschiedene Aufteilungsschlüssel zur Anwendung (z. B.: Volkszahl, Steueraufkommen). Der Finanzausgleich wird im Finanzausgleichsgesetz geregelt. Daneben gibt es viele andere Gesetze, die für den Finanzausgleich bedeutsam sind (z. B. Umweltförderungsgesetz).
Abgestufter Bevölkerungsschlüssel:
Da die ungleiche Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur von Gebietskörperschaften gleicher Ebene Auswirkungen auf Steueraufkommen und Ausgabenbedarf haben, kommen bei der Verteilung des Steueraufkommens verschiedene Verteilungsschlüssel zur Anwendung. Die wichtigsten sind die Bevölkerungszahl und der abgestufte Bevölkerungsschlüssel, der einer Gebietskörperschaft mit höherer Bevölkerungszahl mehr Geldmittel zugesteht als einer mit niedrigerer Bevölkerungszahl. Hinter dieser Maßzahl für den Bedarf steht die mehrfach empirisch belegte Annahme, dass die Pro-Kopf-Ausgaben mit steigender Gemeindegröße zunehmen, also je Einheit öffentlicher Leistung höhere Ausgaben anfallen.
R E S Ü M E E
Der neue Finanzausgleich 2005 bringt zwar den Ländern und Gemeinden mehr Geld, gleichzeitig wird ihnen aber im Rahmen des österreichischen Stabilitätspakts ein Sparkurs verordnet, um im Jahr 2008 wieder einen ausgeglichenen gesamtstaatlichen Haushalt darstellen zu können. Bei den Ländern gehören nur jene zu den Gewinnern, die ihre bisherigen Überschüsse zur Erfüllung des österreichischen Stabilitätspakts nicht durch budgetäre Tricks erwirtschaftet haben.
Bei den Gemeinden wird die Umverteilung zu den kleinen Gemeinden unter 10.000 Einwohner fortgesetzt. Sie gehören zu den Gewinnern. Die Finanzsituation der größeren Gemeinden und Städte wird sich hingegen weiter verschärfen. Das gilt insbesondere für die im internationalen Wettbewerb stehenden größeren Städte und Ballungsräume, die bereits jetzt keinen Spielraum für Investitionen haben. Sie sind mit Sicherheit die Verlierer dieses Finanzausgleichs. Da die zusätzlichen Mittel für die Gemeinden angesichts ihrer angespannten Finanzsituation eher knapp bemessen sind und da die Spielräume bei den Gebühren bereits weitgehend ausgereizt sind, ist davon auszugehen, dass die Investitionen der Gemeinden weiter sinken werden. Das kann auf mittlere Sicht nicht ohne Konsequenzen auf die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und deren Qualität bleiben.
Der Finanzierungsteil des Gesundheitspakets bringt den Ländern und Sozialversicherungsträgern zwar zusätzliche Mittel, dennoch ist ab 2006 bereits wieder mit einer Finanzierungslücke zu rechnen. Die Maßnahmen des Finanzierungsteils entsprechen nur zum Teil dem Grundsatz einer solidarischen Finanzierung. Die Selbstbehalte (Spitalskostenbeitrag, Sehbehelfe) kommen einer »Krankensteuer« gleich und sind daher aus Arbeitnehmersicht abzulehnen. Eine sinnvolle Alternative bestünde in einer wertschöpfungsbezogenen Finanzierung der Krankenversicherung.
Die großen Strukturreformen sind in diesem neuen Finanzausgleich ausgeblieben. Das gilt sowohl für den seit Jahren beschworenen Grundsatz der Zusammenführung der Verantwortung für Einnahmen, Ausgaben und Aufgaben und eine damit verbundene Vereinfachung des Finanzausgleichs als auch für eine stärkere Ausrichtung an Zielen und Managementgrundsätzen. Weiters aufrecht erhalten wird die Fiktion von der Einheitsgemeinde, wonach jede Gemeinde unabhängig von ihrer Struktur ähnliche Aufgaben zu erfüllen hat. Das Prinzip, wonach jeder Bürger und jede Bürgerin gleich viel wert ist, ist zwar heute mehr denn je überholt, bleibt aber für diesen Finanzausgleich ein wichtiges Leitmotiv. Eine Verteilung der Mittel nach den tatsächlichen Aufgaben, die aus regional- und gesamtwirtschaftlicher Betrachtung weitaus sinnvoller wäre (aufgabenorientierter Finanzausgleich), wurde also weiter auf die lange Bank geschoben. Es ist wenig tröstlich, dass auch der Österreich-Konvent bei diesen wichtigen Strukturreformen keinen Konsens erzielen konnte. Es bleibt die Hoffnung auf den Finanzausgleich 2009.
Bemessungsgrundlage I | |
Zu versteuerndes Jahreseinkommen | Steuer |
bis 10.000 | 0 |
bei 25.000 | 5.750 |
bei 51.000 | 17.085 |
darüber | 50% des übersteigenden Betrages |
Was in Lissabon bis zum Jahr 2010 vereinbart und als Beschäftigungsziel festgeschrieben wurde: Im März 2000 lancierte der Europäische Rat in Lissabon ein ambitioniertes Programm mit ehrgeizigen Zielen für Wachstum und Beschäftigung. Die hohe Arbeitslosigkeit in der EU effektiv abzubauen und das Wachstum an Beschäftigung auf eine stabilere Grundlage zu stellen, das gehörte mit zum Masterplan für die Zukunft der EU-Politik der nächsten zehn Jahre.
Nationale Ziele
Alle EU-Länder wurden aufgefordert, ausgehend von ihren jeweiligen Ausgangslagen entsprechende nationale Ziele zur Erreichung der gesamteuropäischen Vorgaben festzulegen. So startete Griechenland etwa bei einer Beschäftigungsquote von 55,3%, in Dänemark waren es 76%. Damit war klar, dass nicht jedes Land 70% bis 2010 erreichen wird und somit jene Länder, die schon näher am Durchschnitt liegen, eine höhere Latte zu überspringen haben - soll das Gesamtziel erreicht werden.
Im Klartext: Auch jene Länder, die im Jahr 2000 bereits eine Beschäftigungsquote von über 70% hatten (wie etwa Schweden, Holland, Dänemark, England) oder knapp darunter lagen (Österreich, Portugal, Finnland) sollten einen entsprechend ambitionierten Beitrag zum Lissabon-Ziel liefern.
Österreich müsste demnach bis 2010 eine Beschäftigtenquote von 73,2% und eine solche der Frauen von 66,8% erreichen.
Mehr und auch bessere Beschäftigung
Doch Lissabon setzte nicht nur die Perspektive nach »mehr Beschäftigung« in die Welt, sondern auch die, wonach die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft vor allem über die Förderung von Innovation und eine »bessere Qualität der Arbeit« erreicht werden soll.
Investitionen in Humankapital, Forschung, Technologie und Innovation wurde somit dieselbe Priorität eingeräumt, wie arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Orientierungen. Dementsprechend wurden weitere quantitative Ziele festgelegt:
Ziele weit entfernt
In einem sind sich nahezu alle Kommentatoren mit Blick auf die Lissabonner Halbzeitbilanz einig: Sie fällt ernüchternd aus.1)
neue Arbeitsplätze in der EU-15 und 22 Millionen in der EU-25 geschaffen werden, mehr als 3 Millionen. im Jahr, so viel wie in der EU-15 im Jahre 2000, dem besten Jahr für Beschäftigung seit über einem Jahrzehnt.
Auch Österreich hinkt den Lissabonner Beschäftigungszielen hinterher. Das betrifft die Erhöhung des Beschäftigungsvolumens ebenso wie auch andere Ziele, wie etwa Bildung und Kinderbetreuung. In Österreich gibt es somit keinerlei Grund, sich zurückzulehnen und die bestehende beschäftigungspolitische Misere, wie etwa von der Regierungsbank so gern geschehen, mit dem Verweis auf den EU-Vergleich herunterspielen (siehe Infokasten: Lissabonner Beschäftigungsziele: So steht Österreich wirklich).
I N F O R M A T I O N
Lissabonner Beschäftigungsziele:
So steht Österreich da
Die EU-Kommission hat im Jahr 2000, als die Lissabon-Ziele festgelegt wurden, den -notwendigen Beitrag Österreichs zur Erreichung der EU-Beschäftigungsziele berechnet. Österreich müsste demnach bis 2010 eine Gesamtbeschäftigungsquote von 73,2% und eine solche der Frauen von 66,8% erreichen. Konkret hieße dies: Plus 200.000 Arbeitsplätze bis 2010.
Die Bilanz für Österreich fällt ernüchternd aus:
Österreich startete im Jahr 2000 bei einer Gesamtbeschäftigungsquote von 68,6% und bei den Frauen mit 59,6%. Tatsächlich wurde in der Gesamtbeschäftigung bislang nur ein Zuwachs um ganze 0,6% und bei den Frauen um 3,2% erreicht (Eurostat, 2003).
In Vollzeitäquivalenten berechnet sieht die Lage in Österreich weit kritischer aus, werden bei Eurostat doch sämtliche Formen der Teilzeit als Beschäftigung gerechnet). In Vollzeit gerechnet ist die Beschäftigung in Österreich seit 2000 insgesamt sogar gesunken: um ca. 24.000. Bei den Frauen ist sie, anders als etwa in Schweden, Finnland oder Dänemark, nur geringfügig gewachsen (Wifo, März 2004).
Ein Blick auf die Arbeitslosenquoten zeigt zusätzlich, dass sich Österreich entgegen dem EU-Trend entwickelt: Während EU-weit die Arbeitslosigkeit seit 1999 sinkt - konkret von 8,7 auf 8,1% - ist sie in Österreich um 0,5% gestiegen. Parallel zur mäßigen Steigerung der Beschäftigungsquote erleben wir einen Rekord der Arbeitslosigkeit nach dem anderen. Frauen zählen nach wie vor zu den Hauptleidtragenden. Im EU-Ranking verliert Österreich Platz für Platz.
Mit einer Betreuungsquote von knapp 9% bei den bis 3Jährigen (Statistik Austria 2002) gehört Österreich europaweit zu den Ländern mit dem größten Handlungsbedarf zur Erreichung des Zieles von 33% Betreuungsquote für Kinder dieser Altersgruppe. Ebenfalls niedrig ist die Versorgungsdichte für Schulkinder: Für lediglich 21,8% der 6- bis 9-Jährigen und 11,1% der 10- bis 14-Jährigen gibt es Betreuungsplätze.
(Alle Daten: AK Wien, Juni 2004)
EWSA: Verfehlte Wirtschaftspolitik
Zweifellos liegt die aktuelle Beschäftigungsflaute in der EU in hohem Maß
in der wirtschaftlichen Entwicklung -begründet. Lissabon stand unter der Annahme eines jährlichen BIP-Wachstums von 3% im Durchschnitt. Stattdessen hat sich die wirtschaftliche Lage seit 2000 jedoch rapide verschlechtert. Das Wachstum sank in den Folgejahren deutlich: 1,7% in 2001, 1,0% in 2002 und gar nur 0,8% in 2003.
Vor diesem Hintergrund scheint klar zu sein, dass die beschäftigungspolitischen Ziele nur dann erreicht werden können, wenn es gelingt, einen nachhaltigen konjunkturellen Aufschwung einzuleiten. Der EWSA knüpft an diesem Punkt an seine Anfang 2004 verabschiedete Stellungnahme zu den »Wirtschaftspolitischen Grundzügen der EU« an und stellt in seinem aktuellen Bericht zur Beschäftigungspolitik2) in erfreulicher Deutlichkeit abermals fest, dass für die Flaute der letzten drei Jahre vor allem der wachstumshemmende makroökonomische Rahmen in der EU verantwortlich ist und nicht etwa strukturpolitische Gründe.
Konsequenterweise wird im Bericht auch deutlich darauf hingewiesen, dass nur eine spürbare Belebung der großen Nachfragekomponenten Konsum (über Realeinkommens- und Beschäftigungswachstum) und Investitionen (privat wie öffentlich) die Kaufkraftschwäche in Europa auszugleichen vermag, um die europäische Wirtschaft zurück auf den Wachstumspfad zu bringen. (Siehe dazu auch den Beitrag von Thomas Delapina »EWSA für neue Wirtschaftspolitik« in »Arbeit&Wirtschaft« Mai 2004.)
Sozialabbau schafft keine Arbeitsplätze
Was Europa heute also in erster Linie braucht, das ist also die spürbare Belebung der Nachfragekomponenten, um die Kaufkraftschwäche in Europa auszugleichen. Darauf aufbauend kann ein intelligentes Design an Strukturreformen, das die Binnennachfrage nicht noch weiter schwächt, wichtige Impulse bei der Schaffung von Beschäftigung liefern. In diesem Sinn ist der Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, der Beseitigung von Qualifikationsdefiziten sowie der Integration benachteiligter Gruppen am Arbeitsmarkt der Vorzug vor Aufrufen zur Lohnmoderation, dem Abbau arbeitsrechtlicher Standards, dem Ausbau atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowie Leistungskürzungen im Sozialbereich zu geben.
Damit hebt sich dieser Bericht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in erfrischender Weise vom Mainstream der wirtschaftspolitischen Politikempfehlungen in den letzten Jahren ab, die uns wissen lassen wollen, dass vor allem strukturelle Faktoren (wie z. B. Lohnkartell der Gewerkschaften, rigide Arbeitsmarktregulierung, zu kurze Arbeitszeiten, Immobilität und Inflexibilität der Arbeitnehmer) am schwachen Beschäftigungswachstum schuld sind.
Auch in einem anderen Punkt lässt der Bericht mit deutlichen Worten aufhorchen: Das strategische Ziel von Lissabon besteht nicht in der Schaffung von Arbeitsplätzen um jeden Preis. Beim Lissabonner Prozess geht es nicht bloß um »Jobs, Jobs, Jobs«. Es geht um Beschäftigung als beste Prävention vor Armut und Ausgrenzung und somit vor allem auch um eine bessere Qualität der Arbeitsplätze. In diesem Sinn muss der europäische Weg zur Vollbeschäftigung mit angemessenen Löhnen, sozialer Sicherheit und hohen arbeitsrechtlichen Standards verbunden sein.
Forderungen des EWSA an die EU-Politik
An den bevorstehenden Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates im Mai 2005, der ebenfalls der Halbzeitbewertung der Lissabonner Strategie gewidmet sein wird, wendet sich der EWSA mit konkreten politischen und institutionellen Forderungen, um der europäischen Beschäftigungspolitik neue Dynamik zu verschaffen:
Gesunder makroökonomischer Kontext auf EU-Ebene: Dazu zählt vor allem eine Geldpolitik, die den Mitgliedstaaten bei wirtschaftlicher Stagnation Spielraum für konjunkturpolitisches Handeln in der Wirtschafts- und Finanzpolitik lässt. Dazu gehört auch, dass die Geld- und Haushaltspolitik Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung übernimmt und das auch Eingang in die Grundzüge der Wirtschaftspolitik findet.
1) Siehe dazu auch den Beitrag von Silvia Angelo und Norbert Templ »Ein Gipfel macht noch keinen Frühling« in »Arbeit&Wirtschaft« Juni 2004
2) Der Autor ist seit 2002 Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und zeichnete als Berichterstatter maßgeblich für die EWSA-Stellungnahme zu den Lissabonner Beschäftigungszielen verantwortlich.
F A Z I T
Es geht um die Glaubwürdigkeit der EU-Politk
Der Europäische Rat mag sich an diesen Empfehlungen orientieren oder auch nicht, gefordert ist er allemal. Schließlich droht dem gesamten Lissabon-Prozess vor dem Hintergrund der mageren Halbzeitbilanz der Verlust der Glaubwürdigkeit. Einer Strategie, die im Jahr 2000 europaweit auf große Zustimmung gestoßen ist und zur Hoffnung geführt hat, dass das Projekt einer erweiterten EU den Bürgerinnen und Bürgern spürbar näher gebracht werden kann.
Dieses Glaubwürdigkeitsproblem kann nur entschärft werden, wenn die Menschen in Europa darauf vertrauen können, dass alle politisch Verantwortlichen energisch daran arbeiten, die Lissabon-Strategie mit ihrer Gleichrangigkeit von Zielen (Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen, Stärkung des sozialen Zusammenhaltes sowie nachhaltige ökologische Entwicklung) konsequent umzusetzen.
Von Sach- zu Finanzinvestitionen
War im Zeitraum 1992 bis 2001 in der österreichischen Industrie ein Rückgang der Sachinvestitionen bei gleichzeitigem Anstieg der Finanzinvestitionen feststellbar,1) so kann für die letzten drei Jahre (2001 bis 2003) von einer weiteren Umschichtung von den Sach- zu den Finanzinvestitionen bei den untersuchten Industrieunternehmen ausgegangen werden.2)
Die Industrieunternehmen haben in den vergangenen drei Jahren (2001 bis 2003) zwar um knapp 33% mehr investiert. Dieser Anstieg geht aber in erster Linie von den Finanzinvestitionen aus, die sich nahezu verdoppelt haben (+98%), während die Sachinvestitionen vergleichsweise schwach zunahmen (+11,8%). Die Investitionen in immaterielle Vermögensgegenstände, also zum Beispiel Patente, Lizenzen, EDV-Software, gingen sogar zurück (-31%). Besonders im Jahr 2002 gingen die Sach- und immateriellen Investitionen deutlich zurück, während die Finanzinvestitionen stark zunahmen (siehe Grafik 1: "Investitionen«).
Wachstum der Finanzinvestitionsquote
Wenn die absoluten Investitionssummen verglichen werden, können diese noch durch einige Großunternehmen verzerrt dargestellt werden. Eine bessere Aussagekraft haben die Investitionsquoten. Die absoluten Investitionen werden dann zum Umsatz oder zur Betriebsleistung in Beziehung gesetzt. In diesen drei Jahren nahm die gesamte Investitionsquote um 2,6 Prozentpunkte zu. Dies bedeutet, dass die Investitionen an sich relativ stärker zunahmen als der Umsatz. Allerdings zeigt die Detailanalyse, dass die Finanz-investitionsquote um 2 Prozentpunkte wächst, während die Sachinvestitionsquote nur um 0,7 Prozentpunkte zunimmt. Die immaterielle Investitionsquote ging sogar um 0,1 Prozentpunkte zurück. Wird ein längerer Zeitraum berücksichtigt, zum Beispiel von 1992 bis 2003, dann fällt ein noch deutlicherer Trend zu Gunsten der Finanzinvestitionen auf: die gesamte Investitionsquote sinkt dann seit 1992 um 0,8 Prozentpunkte. Die Finanz-investitionsquote steigt aber um 1,2 Prozentpunkte, während die Sachinvestitionsquote um 2 Prozentpunkte sinkt und die Immaterielle Investitionsquote unverändert bleibt.
Investitionsmotiv
Bei den Investitionsmotiven der österreichischen Industrie für das Jahr 2004, die das WIFO regelmäßig untersucht, steht das Motiv des »Ersatzes alter Anlagen« mit 35,4% an erster Stelle vor dem »Rationalisierungsmotiv« in Höhe von 31,1%. Die »Kapazitätserweiterung« liegt mit 18,2% deutlich abgeschlagen, darüber hinaus nimmt es seit 2001 ab. Ein spürbarer positiver Beschäftigungseffekt dürfte wohl eher von den Erweiterungsinvestitionen zu erwarten sein. Jedenfalls ist somit klar, welche Motive von den Industrieunternehmen mit den - schwachen - Realinvestitionen verbunden werden.
Finanzinvestitionen - Finanzkapital
Wurden früher innerhalb der Finanzinvestitionen vorwiegend langfristige Wertpapiere gekauft, geht die Bedeutung dieser Wertpapiere in den vergangenen Jahren zurück. Zur Erklärung dieser Ursachen muss an die Abfertigungs- und Pensionsrückstellungen erinnert werden. Die Unternehmungen mussten für einen Teil der Abfertigungs- und Pensionsrückstellungen auf der Aktivseite der Bilanzen langfristige Wertpapiere des Anlagevermögens aufnehmen. Finanzinvestitionen der Vergangenheit wurden also zum Teil auch gesetzlich vorgeschrieben.
Zwar wollten manche Industrieunternehmen diesen scheinbaren Ballast nicht tragen, andererseits konnten sie sich -zumindest über Zinserträge oder Kurssteigerungen freuen, die durch diese Wertpapiere verdient wurden. Ein Teil des Finanzkapitals (Banken, Versicherungen), aber auch Privatpersonen hätten es aber durchaus lieber gesehen, wenn sie selbst unmittelbarer davon profitieren könnten. Nun, dies ist ihnen mit den Pensions- und Mitarbeitervorsorgekassen bis zu einem gewissen Grad durchaus gelungen. Während zum Beispiel Industrie-unternehmen Pensions- und Abfertigungsrückstellungen in Pensions- und Mitarbeitervorsorgekassen überführen, werden gleichzeitig diese Wertpapiere in Teile des Finanzsektors mit entsprechendem Einfluss auf den Kapitalmarkt ausgelagert. Auch nimmt der Wertpapierhandel in diesem Sektor vergleichsweise zu.
Die Industrieunternehmen investieren daher nicht wie früher in die zur Deckung der Abfertigungs- und Pensionsrückstellungen dienenden Wertpapiere. Außerdem soll nicht vergessen werden, dass die Industrieunternehmen den Beschäftigtenstand regelmäßig reduzieren. Selbst ohne Auslagerung in andere Finanzsektoren beschaffen sich die Industrieunternehmen weniger langfristige Wertpapiere, wenn wegen des niedrigeren Beschäftigtenstandes weniger Rückstellungen gebildet werden müssen.
Es hat sich hier im Konkurrenzkampf das unmittelbare Finanzkapital in der Form des Finanzsektors im engeren Sinn durchgesetzt. Der Zusammenhang zwischen Pension und Abfertigung einerseits, dem Profit - manchmal aber auch dem Verlust - durch Finanzveranlagungen andererseits, ist nunmehr unmittelbarer geworden. Auf wessen Kosten darf geraten werden!
Mehr Beteiligungen
Worin bestehen dann die Finanzinvestitionen für Industrieunternehmen in den letzten Jahren? Seit 2001 nehmen die Beteiligungsinvestitionen um rund 32% zu. Die Industrieunternehmen sind an neuen Tochterunternehmen interessiert. Manche Industrieunternehmen wollen offenbar nicht selbst ihre ursprüngliche Tätigkeit ausüben - dies zeigen die vernachlässigten Sachinvestitionen -, sondern beziehen Teile der Wertschöpfungskette von den neuen Konzernunternehmen. Zusätzlich lassen sich aber auch neue Gewinne in Form von Beteiligungserträgen erzielen!
Anstieg der Beteiligungserträge
Die Beteiligungserträge, also die Profite, die mit Tochtergesellschaften erzielt werden, steigen zwischen 2001 und 2003 bei den untersuchten Unternehmen um 57,6% an. Im Verhältnis zur Betriebsleistung (also im Wesentlichen der Umsatz) errechnet sich ein Zuwachs von 1,4%punkten, während die Beteiligungsaufwendungen nur um 0,4 Prozentpunkte anstiegen. Vom gesamten Gewinnzuwachs der Industrieunternehmen im Ausmaß von +2,2 Prozentpunkten geht allein ein Prozentpunkt auf die Tochterunternehmen zurück. So gesehen erhellt sich die Bedeutung der Finanzinvestitionen.
Daneben lässt sich allerdings auch eine wachsende Bedeutung von so genannten »Ausleihungen« feststellen. Diese stellen langfristige Kredite an andere Unternehmen dar. Auch hier kann eine Investitionsquote errechnet werden: diese steigt im Dreijahreszeitraum um 1,7 Prozentpunkte. Auffallend ist, dass höhere Kredite innerhalb des Konzernverbunds vergeben werden. Die Gründe mögen vielfältig sein. Natürlich können Kredite innerhalb der Konzerne zur Liquiditätsverbesserung vergeben werden. Allerdings steht hier nur ein kurzfristiger Charakter im Vordergrund.
Was steht dahinter?
Es darf vermutet werden, dass sich mit Hilfe der Ausleihungen auch Gewinne bzw. Verluste verschieben lassen. Kredite werden selbst innerhalb des Konzerns wohl kaum zinsenlos vergeben. Zwar erhalten die Kreditgeber Zinsen - aber zu welchem Zinssatz? Wird die unmittelbare Bankenkonkurrenz hinausgedrängt? Dann wird auch hier eine neue Funktion des Finanzkapitals sichtbar. Benötigen die anderen Konzernunternehmen zusätzliche finanzielle Mittel für Investitionen? Wenn, dann offenbar mehr für Finanz- als für Sachinvestitionen. Nutzen die Konzerne international unterschiedliche Steuersätze aus und verschieben daher Vermögensgegenstände sowie Erträge? Dies ist keine neue Strategie der Konzerne, eher wurde es ihnen - auch in Österreich - mit Steuergeschenken leicht gemacht, durch solche Strategien mehr Geld zu verdienen als durch Sachinvestitionen. Wohlgemerkt - verdient haben die Unternehmen auch durch Sachinvestitionen. Allerdings darf gefragt werden, welcher Arbeitsplatz durch - nennen wir es durchaus - Spekulationen langfristig geschaffen oder gar gesichert wird. Letztlich haben auch hier Gesetze die gewünschten Strategien beeinflusst.
Umschichtung vom Sach- zum Finanzanlagevermögen
Diese Investitionspolitik hat natürlich Auswirkungen auf das Vermögen der Unternehmen. Das gesamte Anlagevermögen sinkt zwischen 2001 und 2003 in Prozent der Bilanzsumme um 0,8 Prozentpunkte, wofür das Sachanlagevermögen wesentlich stärker verantwortlich war (-1,7 Prozentpunkte) als das Finanzanlagevermögen (-0,9 Prozentpunkte). Nur Firmenwerte im Zuge von Umstrukturierungen nahmen zu. Es wird mehrere Gründe für diese relative Umschichtung des Sachanlage zum Finanzanlagevermögen geben: Wachsende Bedeutung der profitablen Beteiligungen; Zukauf der Wertschöpfung von außen; Anlagenleasing. In den Neunzigerjahren wurde sichtbar, dass die Industrieunternehmen anstelle von Sachinvestitionen verstärkt das Anlagenleasing in Anspruch nahmen. So kann eine zu lange Bindung von Vermögensgegenständen verhindert werden. Auch könnte innerhalb des Konzerns das Anlagenleasing durch Finanztransaktionen gefördert worden sein (Verkauf von Anlagen an andere Konzernunternehmen mit entsprechender Aufwertung der Buchwerte bei gleichzeitigem »Zurückleasen« dieser Vermögensgegenstände; eventuell herbeigeführt auch durch international unterschiedliche Steuersätze).
Wie werden Investitionen finanziert?
Die Sach- und immateriellen Investitionen können zwischen 2001 und 2003 in allen drei Jahren aus dem Cash Flow (= Selbstfinanzierungskraft bzw. Nettogeldmittelfluss) finanziert werden. Im Dreijahresdurchschnitt errechnet sich ein Deckungsgrad von knapp 165%. Werden noch die Finanzinvestitionen hinzugezählt, dann errechnet sich im Dreijahresdurchschnitt ein Deckungsgrad von knapp 110%. Dies bedeutet, dass die -Unternehmen für höhere Sachinvestitionen sowie auch für höhere immaterielle Investitionen genügend selbsterwirtschaftete Mittel zur Verfügung gehabt hätten. Es hätten im Durchschnitt nicht einmal Kredite aufgenommen werden müssen. Allerdings wurden den Unternehmen die Finanzinvestitionen zunehmend wichtiger. Dennoch konnten sie alle Investitionen aus den selbstfinanzierten Mitteln abdecken. Bisweilen wird gefolgert, die Unternehmen können sich zusätzliche Investitionen nicht leisten.
Dies trifft bei der Mehrzahl der Unternehmen nicht zu (siehe Grafik 2: »Investitionsfinanzierung«). Wenn Arbeitsplätze abgebaut werden, dann verwundert es nicht, dass die Konsumausgaben nur schwach oder gar nicht wachsen. Auch die Lohnquote geht mittelfristig zurück. Darauf antworten dieselben Unternehmen mit einem Nachlassen der Sachinvestitionen und einem weiteren Druck auf die Arbeitsplätze. Wie durchbrechen aber die Industrieunternehmen diesen volkswirtschaftlich und auch betriebswirtschaftlich negativen Kreislauf selbst? Jedenfalls war es ihnen trotz schwacher Konjunktur bisher möglich, weiter steigende Gewinne zu erzielen.
Die Gewinne steigen
Wenn die Konjunktur die Unternehmen angeblich über sinkende Gewinne belastete, dann muss dem entgegengehalten werden, dass sich die betroffenen Industrieunternehmen und ihre Eigentümer/-innen auch in den vergangenen Jahren über steigende Gewinne freuen konnten. Der Jahresüberschuss steigt zwischen 2001 und 2003 im Verhältnis zur Betriebsleistung um 2,2 Prozentpunkte (Wachstum des absoluten Werts: +37,5%). Die Beteiligungserträge trugen einen Prozentpunkt zu diesem Anstieg bei. Die Gewinnausschüttungen stiegen um 1,3 Prozentpunkte. Selbst die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen hat sich verbessert. Die untersuchten Industrieunternehmen haben den Beschäftigtenstand zwischen 2001 und 2003 um 8,9% bzw. knapp 6700 Beschäftigte verringert (Gesamtindustrie: -4,7%). Immerhin mehr als zwei Drittel der Unternehmen haben den Beschäftigtenstand reduziert (siehe Grafik 3: »Beschäftigtenstand«).
Nun ist klar, dass auch steigende Sachinvestitionen keine Gewähr für einen Zuwachs an Beschäftigung oder Arbeitsplatzsicherheit bieten. Wenn das Rationalisierungsmotiv bei den Investitionen im Vordergrund steht und die Kapazitätserweiterung vernachlässigt wird, sinkt der Beschäftigtenstand selbst bei einer Zunahme an Sachinvestitionen. Allerdings stellt sich die Frage, welche Industriearbeitsplätze mit den gewachsenen Finanzinvestitionen zu erreichen wären! Beteiligungsinvestitionen können höchstens bei stark gestiegenen Sachinvestitionen der Tochterunternehmen mit entsprechendem Erweiterungsmotiv eine Ent-lastung am Arbeitsmarkt bewirken. Auch dies war aber nicht der Fall, da alle österreichischen Industrieinvestitionen in diesen drei Jahren um 3,8% bzw. die -Investitionen der gesamten Sachgütererzeugung um 10,3% zurückgingen. Wenn der Staatssektor überdies keinen Ausgleich schafft, sondern sogar noch weitgehende Verlustanrechnungen innerhalb des Konzerns zum Einsparen einer Körperschaftsteuerbelastung fördert, mag wohl kaum ein deutlicher Beschäftigungszuwachs erwartet werden. Im Gegenteil - die Finanzinvestitionen dürften somit noch attraktiver werden.
1) Siehe: Kraus, A.: Investitionspolitik der Industrie. Mehr Beteiligungen - weniger Sachinvestitionen - weniger Personal; AK Wien; April 2003. In dieser Studie konnten 143 operative Industrieunternehmen untersucht werden.
2) Siehe neue Studie der AK Wien: Kraus, A.: Investitionspolitik der Industrie. Von Sach- zu Finanzinvestitionen; AK Wien; Dezember 2004. Analysiert wurden 100 große und mittelgroße operative Industrieunternehmen, die in dem angeführten Zeitraum den Jahresabschluss veröffentlicht haben (die ansonsten gleichbleibende Zahl der untersuchten Unternehmungen ist in der jüngeren Studie etwas geringer, was mit der Veröffentlichung der Jahresabschlüsse bzw. auch mit dem Grad an Umstrukturierungen zusammenhängt).
R E S Ü M E E
Braves Realkapital - böses Finanzkapital?
Es werden Umschichtungen innerhalb des Kapitals erkennbar, die auch eine geänderte Funktion des Finanzkapitals zur Folge haben. Die Vergabe von Investitionskrediten des Finanzkapitals im engeren Sinn kam in den letzten Jahren insofern unter Druck, als die Industrieunternehmen die Investitionen im Durchschnitt aus den selbsterwirtschafteten Mitteln finanzieren konnten. Der Bankensektor trennt sich zunehmend von Beteiligungen, während die Industrieunternehmen selbst Finanzinvestitionen in Form von Beteiligungen vornehmen. Eine Entflechtung des Bankensektors vom Industriekapital, zum Beispiel an der Konzernspitze, verringert zusätzlich Abhängigkeiten bei der Konditionengestaltung im Falle von Investitionskrediten. Langfristige Kredite werden aber auch innerhalb der Industriekonzerne vergeben (»Ausleihungen«). Die Zinserträge bzw. Kursgewinne (aber auch Kursverluste) werden daher zu den Industriekonzernen verlagert. Auf der anderen Seite gewinnt der Finanzsektor im engeren Sinn durch Auslagerungen
von Abfertigungs- und Pensionsrückstellungen zu Gunsten von Mitarbeitervorsorge, Pensionskassen beziehungsweise Fonds. Diese Gewinne (aber auch Verluste) werden daher zum Finanzsektor im engeren Sinn verlagert. Die geänderten Funktionen wurden im Konkurrenzkampf herbeigeführt. Sie sollen aber nicht überdecken, dass der scheinbare Gegensatz Real-/Finanzkapital eben nur ein scheinbarer ist. Wenn der Industriemulti die Wahl hat, den Gewinn durch mehr Sach- oder durch mehr Finanzinvestitionen zu erreichen, dann wird er selbst diese Finanzinvestitionen vornehmen, sofern sie höhere Gewinne erwarten lassen. Die internationalen Konzerne haben die Funktionen des Finanzkapitals übernommen, egal ob es sich um Industrie, Handels oder andere Multis handelt. Der »braven« Sachinvestition steht daher die »böse« Finanzinvestition auch nur scheinbar gegenüber. Es ist dasselbe Kapital!
Wenn die Realinvestitionen steigen sollen, sind zunächst deutlich steigende Einkommen der Beschäftigten notwendig. Diese erhöhen den Privatkonsum und in weiterer Folge das Interesse an zusätzlichen Realinvestitionen. Allerdings sparen die Industrieunternehmen bei den Beschäftigten. Erhöhen sie den Druck auf die Einkommen der Beschäftigten, fällt ihnen letztlich diese Politik auf den Kopf. Wenn nichts gekauft werden kann, dann fehlen eines Tages auch die Profite für weitere Finanzinvestitionen.Steuerliche Förderungen von Finanzverlagerungen innerhalb eines Konzerns (zum Beispiel Anrechnung von Verlusten der Tochtergesellschaften) schaffen wohl kaum Interesse an -zusätzlichen Realinvestitionen mit positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Hier wird eher der Trend zu wachsenden Finanzinvestitionen gestärkt.
Die Lissabon-Strategie beurteilt Erfolg oder Misserfolg anhand von 14 Indikatoren für verschiedene Bereiche1). Letztlich kommt es aber für das Gesamtziel, das ein Aufholen des Rückstandes gegenüber den USA bedeutet, auf das Wirtschaftswachstum pro Einwohner an. Nachdem seit etwa drei Jahrzehnten der Wachstumsmotor der Wirtschaft immer wieder ins Stocken geraten ist und die Arbeitslosigkeit stark zugenommen hat, hat die Wirtschaftspolitik den Hebel für eine Behebung und Lösung dieser Problematik stets primär bei den Löhnen gesehen. Zuerst - in der Zeit der hohen Inflation - wurde die Mäßigung der Lohnforderungen von den Gewerkschaften verlangt, um die Lohnerhöhungen wieder besser mit dem Produktivitätsfortschritt in Einklang zu bringen und dadurch die Inflation wieder auf ein tragbares Ausmaß von zirka zwei bis drei Prozent zurückzuführen. Die Konzeption eines »inflationsfreien Wirtschaftswachstums« wurde auch von den Gewerkschaften mehr oder weniger akzeptiert unter der Prämisse, dass bei niedrigeren nominellen Lohnsteigerungsraten die Realeinkommen der Arbeitnehmer keine Einbuße erleiden würden und die Arbeitslosigkeit bei stärkerem Wachstum mittelfristig wieder abgebaut werden kann. Diese Erwartungen wurden allerdings von der tatsächlichen Entwicklung, welche die europäische Wirtschaft in den Neunzigerjahren genommen hat, enttäuscht.
Löhne zu hoch?
Zwar gelang es, die Inflation auf etwa 3% und später sogar auf weniger als 2% zu drücken. Eine nachhaltige Belebung des Wirtschaftswachstums blieb jedoch aus, und die Arbeitslosigkeit stieg bis weit in die Neunzigerjahre weiter an (bisheriger Höchstwert: 11,3% 1994), ohne dass es seither gelungen wäre, eine fühlbare Reduktion zu erreichen (derzeit immer noch fast 9%). In der in der EU-Kommission und in den politischen Kreisen vorherrschenden Sichtweise war die Erklärung für dieses Phänomen rasch gefunden: Wenn ein größerer Teil des Arbeitskräfteangebots keine Beschäftigung findet, dann sind die Löhne zu hoch. Zur Korrektur wurde eine allmähliche Anpassung durch fortgesetzte Lohnmoderation empfohlen, und zwar in der Weise, dass die Lohnerhöhungen eine Zeit lang im Schnitt jeweils unter der Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktivität bleiben sollten. Damit soll ein deutlich über der Lohnzunahme liegendes Wachstum der Unternehmensgewinne ermöglicht werden, aus dem eine steigende Investitionsquote finanziert werden kann - und mehr Investitionen sollten dem Wachstum wieder auf die Sprünge helfen.
Nachdem in den letzten eineinhalb Jahrzehnten die Wirtschaftspolitik diesen Ratschlägen weitgehend gefolgt ist und die Steuerpolitik die Gewinne zusätzlich entlastet hat, ist das Resultat allerdings neuerlich eindeutig negativ, wie zunächst am österreichischen Beispiel gezeigt werden soll.
Löhne und Gewinne seit 1992
Der durchschnittliche Lohn und Gehalt je Arbeitnehmer hat in Österreich im Zeitraum 1992 bis 2003 nominell um 28,2% zugenommen. Im Vergleich dazu ist das Volkseinkommen je Erwerbstätigen (Löhne plus Selbstständigeneinkommen plus Gewinne der Kapitalgesellschaften) deutlich stärker gestiegen, nämlich um 36,7%. Für sich gesehen weist die Nichtlohn-Komponente des Volkseinkommens eine viel kräftigere Zunahme auf als die Löhne, nämlich um 65,2% (siehe Grafik 1: »Löhne je Arbeitnehmer, Gewinne, Volkseinkommen je Erwerbstätigen 1992-2003«).
In der so genannten »funktionalen Einkommensverteilung«, also in den Anteilen von Löhnen und Gewinnen am Volkseinkommen, schlägt sich dies in einer sinkenden Lohnquote und in einer steigenden Gewinnquote nieder. Die Lohnquote sank von 72,7% im Jahr 1992 auf 69,5% 2003, wobei diese Werte den Rückgang sogar noch etwas untertreiben, da sie die Struktur der Erwerbstätigen längerfristig immer noch etwas zu den Arbeitnehmern verschiebt. Deren Zahl hat sich in dem betrachteten Zeitraum um fast 150.000 erhöht, während die Zahl der Selbständigen durch den anhaltenden Rückgang in der Landwirtschaft um 30.000 abgenommen hat. Die um diese Strukturverschiebung bereinigte Lohnquote ist noch um mehr als einen Prozentpunkt stärker gesunken (siehe Grafik 2: »Lohnquote 1992-2003«)
Falsch kalkuliert
Dem Kalkül der vorherrschenden wirtschaftspolitischen Schule entsprechend hätte das stark überdurchschnittliche Wachstum der Gewinne einen ebensolchen Zuwachs bei den Investitionen ermöglichen sollen, für deren Finanzierung ja wesentlich mehr Eigenmittel der Unternehmungen zur Verfügung gestanden sind. Genau dies ist allerdings nicht eingetreten, die Zunahme der Investitionen blieb weit hinter dem Gewinnwachstum zurück. Die Entwicklung unterliegt bei Investitionen naturgemäß stärkeren Schwankungen von Jahr zu Jahr, die im konkreten Fall auch durch befristete steuerliche Sonderförderungen von Investitionen zusätzlich verstärkt werden2). Insgesamt nahmen die Investitionen mit 37% signifikant weniger zu als das nominelle Bruttoinlandsprodukt (+49%) und blieben damit um 23%-Punkte hinter der Zunahme des Betriebsüberschusses zurück (siehe Grafik 3: »Zunahme von Investitionen und Gewinnen/Bruttobetriebsüberschuss 1992-2003«).
Im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist es üblich, mit Brutto- und nicht mit Nettoinvestitionen (letztere abzüglich Abschreibungen) zu rechnen. Den Bruttoinvestitionen müssen die Bruttobetriebsüberschüsse (Gewinne plus Abschreibungen) gegenübergestellt werden, da auch die Abschreibungen einen Finanzierungsbeitrag liefern.
Wo sind die Gewinne?
Daraus ergibt sich die Frage: Was haben die Unternehmungen mit den zusätzlichen Finanzmitteln gemacht, soweit sie nicht für reale Investitionen, also Maschinen, Anlagen und Bauten verwendet worden sind? Diese Frage lässt sich infolge der unzureichenden Datenlage nicht genau beantworten. Eine gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung, die sämtliche Zahlungsströme der Unternehmungen, der Haushalte und des Staates lückenlos erfasst, gibt es für Österreich nicht. Man kann dafür nur auf die Unternehmensbilanzen zurückgreifen, die aber nur die Kapitalgesellschaften erfassen, in denen aber manche Vorgänge anders berechnet oder abgebildet werden als in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (z. B. werden die Abschreibungen in der VGR unabhängig von den Bilanzen berechnet). Wenn die Gewinne der Unternehmungen steigen, die zusätzlichen Mittel aber nicht für reale Investitionen verwendet werden, so gibt es zwei alternative Verwendungsmöglichkeiten: Finanzinvestitionen oder Schuldentilgung. Analysen der AK Wien auf der Grundlage der Bilanzen von ca. 150 Kapitalgesellschaften im Sektor Industrie3) zeigen, dass beides stattgefunden hat. Die Mittelverwendung für Finanzanlagen (Bankguthaben, Wertpapiere, Beteiligungen an anderen Unternehmungen) hat im Zeitraum 1992-2003 ebenso überdurchschnittlich zugenommen wie die Verminderung der Schulden, die sich in einer deutlichen Erhöhung des Eigenkapitalanteils von anfänglich 30% auf über 40% am Ende der Periode niederschlägt.
In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge aber noch komplizierter und die (negativen) Wirkungen der nicht real investierten Gewinne größer als diese Zahlen erkennen lassen. Im gesamtwirtschaftlichen Einkommenskreislauf sind Einkommen, Nachfrage und Produktion immer gleich groß. Nicht in Nachfrage nach Investitions- oder Konsumgütern umgesetzte Gewinne führen postwendend zu einer Absenkung der Produktion, aber gleichzeitig auch zu einer Absenkung der im Produktionsprozess entstehenden Einkommen. Dieser Effekt, nämlich der Ausfall an Sozialprodukt (BIP) und Einkommen als Folge des Investitionsattentismus der Unternehmen, ist bedeutender, und er ist die Ursache unserer nun schon vier Jahre anhaltenden Wachstumsschwäche.
Streit im deutschen -Sachverständigenrat
Auch in Deutschland - ebenso wie in den meisten anderen EU-Ländern - hat sich seit mehr als zwei Jahrzehnten die Schere zwischen Löhnen und Unternehmensgewinnen immer weiter geöffnet, ohne dass dies zur Belebung des Wachstums und zur Verbesserung der Beschäftigungslage geführt hätte. Das hindert die Mehrheit des als offizielles Beratungsorgan der Regierung fungierenden »Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« nicht, unverdrossen immer wieder aufs Neue weitere Lohnzurückhaltung anzumahnen und als Therapie gegen die Stagnationskrankheit zu empfehlen. In mehreren Minderheitsvoten hat Professor Jürgen Kromphardt, der auf Vorschlag des DGB in den Sachverständigenrat nominiert wurde, dargelegt, warum ein Zurückbleiben des Lohnniveaus hinter der Produktivität nicht beschäftigungsfördernd sei, vielmehr zu diesem Zweck ein Anstieg der Reallöhne im Ausmaß der Produktivitätszunahme geboten ist. Die Lohnzurückhaltung führt unmittelbar zu einem Ausfall an Konsumnachfrage und damit an Einnahmen der Unternehmungen aus dem Verkauf von Konsumgütern. Deshalb haben die Unternehmen, »bei denen die zusätzlichen Gewinne anfallen, keinen Anreiz, mehr Investitionen durchzuführen, sodass auch die Investitionsgüterindustrie keine zusätzlichen Aufträge erhält. Wenn die Unternehmen die zusätzlichen Gewinne darauf am Kapitalmarkt anlegen, so könnten sich die Finanzierungsbedingungen anderer Unternehmen durch steigende Kurse und sinkende Zinssätze eventuell weiter verbessern, aber die entscheidende Voraussetzung für Erweiterungsinvestitionen, nämlich die Erwartung zusätzlich steigender Absatzmengen, wird dadurch nicht erfüllt. Diese Voraussetzung kann nicht durch das Argument ersetzt werden, Ersparnisse würden von den Kapitalmärkten regelmäßig in private und staatliche Nachfrage transformiert ... Gehen nämlich Produktion, Beschäftigung und Einkommen zunächst zurück, so entstehen erst gar keine zusätzlichen Ersparnisse, die in Nachfrage transformiert werden könnten.«4)
Wohlstand für alle!
Zuletzt hat sich Professor Peter Bofinger, der als Nachfolger Kromphardts in den Sachverständigenrat nominiert wurde, in diesem Gremium selbst und in seinem in den Medien viel beachteten Buch »Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle«5) vehement gegen die Leier zur Wehr gesetzt, dass es allen besser gehen wird, wenn eine Lohnsenkung - seit einiger Zeit im Gewand der Arbeitszeitverlängerung daher kommend - den Unternehmen höhere Gewinne ermöglichen würde. Einige Mitglieder des Sachverständigenrates reagierten darauf mit persönlichen Angriffen, was nicht gerade ein Anzeichen dafür ist, dass sie sich ihrer Sache besonders sicher sind.
Jedenfalls haben sich in den letzten Monaten Meldungen gehäuft, die darauf hinweisen, dass mangelnde Nachfrage und nicht schlechte Unternehmensgewinne der Grund der europäischen Konjunkturschwäche sind. Dass der europäische Exportboom 2004 sich nicht in einem beschleunigten Aufschwung 2005 fortsetzt, sondern das Wachstum bei 2% dahindümpelt, ist auf das anhaltend geringe Einkommenswachstum und die erhöhte Unsicherheit über die zukünftige Einkommenssituation zurückzuführen. Auf der anderen Seite tritt die Tatsache immer deutlicher ins allgemeine Bewusstsein, dass die Kassen der Unternehmen so voll sind wie schon lange nicht mehr. »Und sie schwimmen in Milliarden« übertitelte die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit«6) einen Beitrag, in dem das wachsende Missverhältnis zwischen Realinvestitionen und Finanzanlagen analysiert wird. »Das Gros der Aktiengesellschaften schwimmt in Geld, in Deutschland genau so wie in Amerika oder Japan. Flüssige Mittel von je einer Billion Dollar schieben die börsennotierten Konzerne diesseits und jenseits des Atlantiks vor sich her, aber in keinem dieser Länder setzen die Unternehmen wieder auf Expansionskurs ... Anstatt zu investieren, schütten sie das Geld an ihre Aktionäre aus - entweder in Form von Sonder-dividenden oder indirekt, indem sie eigene Aktien zurückkaufen und auf diese Weise den Börsenkurs nach oben treiben.« Die damit verbundenen Einkommens- und Vermögenszuwächse sind allerdings in hohem Maße auf die oberste Einkommensschicht konzentriert, sodass davon nur ein verhältnismäßig geringer Impuls auf den Konsum ausgeht, bzw. diese Wirkung mit einiger Verzögerung eintritt.
D E F I N I T I O N E N
Der Nettobetriebsüberschuss (= exklusive AfA) ist das Einkommen, das den Wirtschaftseinheiten aus der Eigennutzung ihrer Produktionsanlagen zufließt.
Das Selbständigeneinkommen sind die Ein-kommen der Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit.
Das Arbeitnehmerentgelt = Bruttolöhne und -gehälter + Sozialbeiträge der Arbeitgeber.
Die bereinigte Lohnquote ergibt sich durch Konstanthalten der Beschäftigtenstruktur 1995 (Faktor: unselbständig Beschäftigte 95/Erwerbstätige 95).
Das Nettonationaleinkommen (NNE, auch: »Volkseinkommen« genannt) umfasst die Lohnsumme, den Nettobetriebsüberschuss und die Selbständigeneinkommen (bereinigt um den Saldo aus Faktoreinkommen an das bzw. aus dem Ausland)
Konsequenzen für die Steuerpolitik
Woher können Impulse für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kommen, die zu einer höheren Wachstumsrate des BIP führen, und zwar so, dass dieser Impuls nicht in der darauffolgenden Periode wieder verloren geht, sondern dauerhaft zu einer Anhebung des Wachstumstempos und damit auch der Beschäftigung führt? Prinzipiell kommen dafür neben einer Erhöhung der staatlichen Nachfrage (öffentliche Investitionen und öffentlicher Konsum) Steuersenkungen in Frage, welche die Einkommen der Haushalte (vor allem der Arbeitnehmer) oder/und der Unternehmen erhöhen. Diese können, müssen aber nicht notwendigerweise für mehr privaten Konsum oder mehr Investitionen ausgegeben werden. Die Impulswirkung einer Steuersenkung wird umso größer sein, je mehr von dem zusätzlich verfügbaren Einkommen auch tatsächlich nachfragewirksam wird. Dazu gibt es in jüngster Zeit Erfahrungsbeispiele, die eine recht eindeutige Schlussfolgerung nahe legen.
In Deutschland hat die rot-grüne Regierung zu Beginn ihrer ersten Periode eine umfassende Steuerreform beschlossen, die massive Senkungen sowohl bei den Unternehmenssteuern als auch bei der Lohnsteuer vorsah. Unmittelbar am stärksten wurde diese Steuersenkung bei der Körperschaftsteuer wirksam. Vorübergehend wurden die Staatseinnahmen aus der Körperschaftsteuer sogar negativ (2001), das heißt dass die Rückvergütungen die Steuerzahlungen sogar übertrafen. Die Reform führte jedoch auch unter Berücksichtigung der Kompensationen im Bereich anderer Steuern dauerhaft zu einer massiven Entlastung vor allem der Kapitalgesellschaften. 2004 betrugen diese- Einnahmen rund 13 Milliarden Euro - 2000 waren es noch 23,5 Milliarden Euro gewesen. Es standen also den Unternehmungen in den letzten Jahren aus diesem Grund wesentlich mehr Finanzmittel zur Investitionsfinanzierung zur Verfügung. Die gesamten Investitionen der Unternehmungen entwickelten sich allerdings genau in die Gegenrichtung: von 2000 bis 2002 sanken sie nominell um fast 10%, auch danach blieben die Investitionen in Deutschland auf niedrigem Niveau.
Fehlende Nachfrage
Die Kapitalgesellschaften »schwimmen zwar in Milliarden«, aber sie investieren deshalb nicht mehr - weil es an Nachfrage für die Produkte fehlt. Wenn die Absatzerwartungen der Unternehmungen pessimistisch sind, bleibt eine Senkung der Unternehmenssteuern ohne Wirkung auf Wachstum und Beschäftigung - verschoben wird allerdings die Einkommensverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer.
Ein anderer Weg wurde in den USA beschritten. Die Steuersenkungen der Regierung von Präsident Busch kamen primär den Haushalten, längerfristig zwar vor allem den Beziehern hoher Einkommen zugute, kurzfristig besserten sie aber auch das verfügbare Einkommen aller Haushalte spürbar auf. Die Maßnahme hat sich als kurzfristig sehr wirksamer Impuls für den privaten Konsum erwiesen und wesentlich dazu beigetragen, dass die Wirtschaft der USA die Rezession 2001 rasch überwinden konnte und 2004 wieder doppelt so stark gewachsen ist als die europäische. Das Negativbeispiel Deutschland hat allerdings keinerlei Eindruck auf die -österreichische Regierung gemacht. Bei der Steuerreform 2005 hat sie ihre Dankesschuld an die Unternehmerseite für die politische Unterstützung in den vergangenen Jahren abgetragen und einen Großteil des vorgesehenen Entlastungsvolumens für eine Senkung des KöSt-Satzes von 34% auf 25% bzw. für die Einführung der so genannten »Gruppenbesteuerung« verwendet. Damit wurde die Chance vergeben, der privaten Konsumnachfrage durch eine stärkere Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer einen entsprechend kräftigen Impuls zu geben. Auch die Haushalte können - ähnlich den Unternehmungen - auf Erhöhungen ihrer verfügbaren Einkommen mit einer Erhöhung der Ersparnisbildung reagieren. Sie werden dies besonders dann tun, wenn ihre künftigen Einkommen unsicherer werden. In dieser Hinsicht hat die Politik durch Pensions- und andere Sozial-»Reformen« in den letzten Jahren das Ihrige dazu beigetragen, um die Kaufzurückhaltung zu fördern. Bei so vielen negativ wirksamen Einflüssen darf es eigentlich niemanden wundern, wenn die europäische Wirtschaft seit Jahren mehr oder weniger stagniert. Umgekehrt zeigt sich auch, wie wichtig es wäre, den Hebel auch bei einer stärkeren steuerlichen Entlastung der Arbeitnehmereinkommen anzusetzen.
Umdenken in der Verteilungspolitik ist überfällig!
Die Lohnpolitik ist prinzipiell eine Angelegenheit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und keine Regierungsaufgabe. Sehr wohl aber beeinflussen die von der Regierung zu verantwortenden Bereiche der Wirtschaftspolitik die Entwicklung der Effektivlöhne. Wie bereits ausgeführt, hat die Regierung in der Steuerpolitik wichtige Instrumente in der Hand, mit denen die Nettolohnentwicklung innerhalb der budgetären Spiel-räume gesteuert werden kann. Darüber hinaus gehen von einigen Politikbereichen direkt und indirekt Einflüsse auf die Effektivlöhne aus. Man denke etwa an die Arbeitsmarktpolitik, die durch Intensität und Umfang ihres Schulungs- und Weiterbildungsangebots die Chancen von Personen, nach Verlust des Arbeitsplatzes einen ihren Fähigkeiten entsprechenden neuen Arbeitsplatz zu finden, mitbestimmt, aber auch durch die Höhe der Ersatzquote der Arbeitslosenversicherung.
Arbeitszeitpolitik
Besonders relevant ist in jüngster Zeit die Frage der Arbeitszeitpolitik. Statt den Druck auf die Einkommen durch den Wegfall von Überstundenzuschlägen oder durch Arbeitszeitverlängerung bei gleichbleibendem Monatslohn durch -Änderungen des Arbeitszeitrechts zu -verstärken, wie dies die österreichische Regierung und auch die EU mit dem derzeit vorliegenden Entwurf einer neuen Arbeitszeitrichtlinie planen, sollte die -Politik sich darum bemühen, den vom Arbeitsmarkt ausgehenden Druck auf die Einkommen wegzunehmen, etwa durch eine strengere Regulierung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse.
Die Beispiele einiger europäischer Länder zeigen, dass stärkere Reallohnerhöhungen und höheres Wirtschaftswachstum durchaus Hand in Hand gehen können.
Durchschnittliches Wachstum pro Jahr von
1
BIP real
Reallöhne je Beschäftigten
1996-2000
2001-2004
1996-2000
2001-2004
Österreich
2,9
1,1
0,2
0,2
Deutschland
1,8
0,6
0,0
-0,2
EU 12
2,6
1,2
0,3
0,5
Großbritannien
3,2
2,4
2,3
2,9
Schweden
3,2
2,1
3,4
1,2
Quelle: EU-Kommission, Herbstprognose 2004
In der Periode 1996 bis 2000 erreichte das Wirtschaftswachstum in Österreich und in der Eurozone einen einigermaßen akzeptablen Wert, die Löhne haben in dieser Zeit praktisch stagniert (siehe -Tabelle 1). In den darauf folgenden vier Jahren ging das BIP-Wachstum bei anhaltender Lohnstagnation deutlich zurück. Großbritannien und Schweden haben in der ersten, aber vor allem in der zweiten Periode gemessen am BIP eine deutlich bessere Wirtschaftsentwicklung gehabt. In beiden Ländern sind die Reallöhne deutlich gestiegen, und zwar in beiden Perioden. Die bessere Entwicklung hat mittelfristig auch ein stärkeres Nachfragewachstum und damit auch ein deutlich besseres Wirtschaftswachstum ermöglicht.
1) Zu den gesamtwirtschaftlichen Indikatoren BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Kopf und Produktivität kommen Indikatoren für Beschäftigung, Bildung und Forschung, Wirtschaftsreform, sozialen Zusammenhalt und Umwelt.
2) In Österreich war - ursprünglich befristet mit Ende 2003 - eine besondere Investitionsförderung in Kraft (»Investitionszuwachs-prämie«), die dann auf das Jahr 2004 ausgedehnt wurde. Dies führte zum zeitlichen Vorziehen von Investitionen, wird sich allerdings im Jahr 2005 negativ auswirken, sodass in diesem Jahr die Investitionen der Unternehmungen nur sehr schwach steigen werden.
3) Siehe dazu den Beitrag von Alfred Kraus »Statt Realinvestitionen - mehr Finanzkapitel« auf Seite 14 in diesem Heft sowie seine beiden Untersuchungen über die »Investitionspolitik der Industrie« (April 2003 und Dezember 2004).
4) Aus dem Jahresgutachten 2003/04, Textziffer 659.
5) Verlag Pearson Studium, München, EUR 20,60.
6) »Die Zeit«, Ausgabe vom 7. Oktober 2004, Seite 21
R E S Ü M E E
Nicht nur aus verteilungspolitischen Gründen, sondern auch im Interesse eines stärkeren Wirtschaftswachstums und einer Verbesserung der Arbeitsmarktsituation haben die Gewerkschaften daher gute Gründe, bei den Kollektivvertragsverhandlungen Lohnerhöhungen im Ausmaß des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachses zu fordern. Dabei ist zu betonen, dass es gar nicht um eine ruckartige Lohnerhöhung geht, sondern um Größenordnungen, die die Lohnquote ebenso unverändert lassen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Exporte. Im Gegensatz zu einer immer noch vorherrschenden Ansicht wäre ein weiteres Zurückbleiben des Lohnniveaus hinter der Produktivität nicht beschäftigungsfördernd, vielmehr ist zu diesem Zweck ein Anstieg der Reallöhne im Ausmaß der Produktivitäts-zunahme geboten.
Die Arbeitnehmer habe dabei gar nichts dagegen, dass auch die Gewinne zunehmen und es den Unternehmen - oder wie ihre Interessenvertretung sagt: »der Wirtschaft« - noch besser geht.
Der umgedrehten Parole, dass erst die Unternehmensgewinne kräftig steigen müssen, damit es allen besser geht, können sich die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer allerdings nicht anschließen - denn die Erfahrungen der letzten Zeit sprechen eindeutig gegen diese propagandistische Behauptung.
Bezogen auf den Ausgleichzulagenrichtsatz von 708 Euro netto im Monat für allein stehende PensionistInnen zeigt sich, dass im Jahr 2002 zwei Drittel der gesamten Arbeitslosenleistungen unter dem sowieso niedrigen Niveau dieses Richtsatzes lagen.
Von den ArbeitslosengeldbezieherInnen erhielt fast die Hälfte eine Leistung unterhalb des Ausgleichszulagen-Einzelrichtsatzes, von den NotstandshilfebezieherInnen über vier Fünftel, wobei 75% der Männer und mehr als 90% der Frauen betroffen sind.
Hinter diesen Zahlen stecken hunderttausende Einzelschicksale. Offiziell waren im Winter rund 300.000 Menschen in Österreich arbeitslos.
Zusammen mit den in AMS-Schulung befindlichen Personen und den BezieherInnen von Karenz- oder Kinderbetreuungsgeld betrifft das rund 450.000 Menschen - das sind rund 15 Prozent der ArbeitnehmerInnen Österreichs!
]]>Die Neuregelung wurde damit begründet, dass es dem Ausgleichsfonds in der Vergangenheit nicht gelungen sei, für eine ausgeglichene Gebarung und Liquidität der Krankenkassen zu sorgen. Eine Neugestaltung müsse daher dem Ausgleichsfonds »ausreichend Finanzmittel für einen wirksamen Strukturausgleich und für die Honorierung der Erreichung wirtschaftlicher Ziele zuführen«.
Zu diesem Zweck wurde der von den Kassen in den Ausgleichsfonds zu entrichtende Beitragsatz für die Jahre 2003 und 2004 von zwei auf vier Prozent der Beitragseinnahmen (340 Millionen Euro) erhöht. Auch die Versicherungsanstalten der österreichischen Eisenbahnen und der öffentlich Bediensteten wurden beitragspflichtig. Dazu kamen verzinsliche Darlehen (rund 175 Millionen Euro), die dem Fonds von einzelnen Versicherungsträgern mit Rücklagen (unter anderen von den Gebietskrankenkassen Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg, und Oberösterreich) gewährt werden mussten.
Die Darlehen und die Einnahmen aus der Beitragserhöhung werden nach folgenden Grundsätzen auf die Kassen aufgeteilt:
Mit der Neuregelung verfolgte die Regierung in erster Linie das Ziel, einen Teil der Rücklagen der Kassen zur Verminderung des Kassendefizits abzuschöpfen. Da aber sowohl die Darlehen als auch die Einnahmen aus der Beitragserhöhung ab 2005 bis Ende 2009 vom Ausgleichsfonds wieder an die betroffenen Kassen zurückgezahlt werden müssen, ist sie keine nachhaltige Entlastungsmaßnahme.
Ganz im Gegenteil: Die Krankenversicherung respektive der Ausgleichsfonds werden in Zukunft beträchtliche Zusatzeinnahmen benötigen, um die Schulden bei den Kassen begleichen zu können. Durch die Auflösung der Rücklagen gewinnt die Regierung zwar Zeit, die notwendige Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist damit aber lediglich aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung wächst unvermindert weiter und wird 2006 bei 680 Millionen Euro liegen.
Verfassungsgerichtshof
Der Protest der betroffenen Kassen gegen diese Maßnahmen mündete schließlich in die Anfechtung beim Verfassungsgerichtshof. Das Ergebnis liegt jetzt vor: Die Neuregelung verstößt wegen Benachteiligung einzelner Krankenkassen (»Sonderopfer«) gegen den Gleichheitssatz und ist verfassungswidrig. Gleiches gilt für die Anhebung des Beitragssatzes.
Damit werden wichtige Teile der sechzigsten ASVG-Novelle aufgehoben, was bedeutet, dass die bisher verteilten Gelder (Darlehen und höhere Beiträge) refundiert werden müssen. Die Rückabwicklung wird zur Folge haben, dass die »reichen« Kassen wieder über hohe Rücklagen verfügen, »arme« Kassen - allen voran die Wiener Gebietskrankenkasse - hingegen werden, solange der Krankenversicherung nicht neue Einnahmen zugeführt werden, Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen müssen. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Situation untragbar ist.
Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes untersagt der Regierung bzw. dem Gesetzgeber, auf diese Rücklagen zu greifen. Umgekehrt ist die gesetzliche Krankenversicherung - unabhängig davon, wie sie organisatorisch (ob regional, nach Berufsgruppen oder zentral) aufgebaut ist - eine Solidargemeinschaft. Daher muss es auch Sache der Kassen sein, einander bei finanziellen Engpässen Beistand zu leisten. Dabei dürfen Rücklagen nicht nur auf eine effiziente Kassengebarung zurückgeführt werden, sondern können auch von unterschiedlichen Risikostrukturen in der Vergangenheit begünstigt worden sein.
Tatsache ist aber auch, dass schon kurzfristig der Finanzbedarf der Kassen nicht allein durch Rücklagen gedeckt werden kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich unabhängig vom Erkenntnis des Gerichtshofes die Frage, wie es mit der gesetzlichen Krankenversicherung weitergehen soll. Bei der Regierung liegt die Verantwortung für das Gesundheitswesen, deswegen hat sie dafür zu sorgen, dass die benötigten finanziellen Ressourcen für das Gesundheitswesen bereitgestellt werden. Die »Sozialversicherung« hat keine Gesetzgebungskompetenz.
Es ist nur zu hoffen, dass die Regierung am Prinzip der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung festhält.
]]>Eine in neuerer Zeit aufgekommene Variante obigen Vorgehens ist es, bestimmten Gruppen der Bevölkerung überfallsartig etwas wegzunehmen, während andere Gruppen mit Geschenken überhäuft werden.
Die Pensionsreform war jedenfalls ziemlich überfallsartig, und was uns dazu erzählt wurde, war auch, gelinde gesagt, nicht ganz einwandfrei.
Man könnte die Frage allerdings auch stärker formulieren: Lügt Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, oder hat er nur die Unwahrheit verbreitet?
Wenn die Arbeiterkammer aufzeigt, wie es bei den Pensionen wirklich aussieht, so kommt ihm das jedenfalls alles andere als gelegen. Und wenn einem ein Argument nicht gelegen kommt, kann man immer noch in der alten Trickkiste wühlen und zum Beispiel mit einem Argument zur Person anstatt zur Sache argumentieren. Das empfiehlt ja schon Arthur Schopenhauer in seiner »Eristischen Dialektik«, der Kunstgriff ist aber klassisch und war schon bei den Sophisten beliebt.
Ein ehrenwerter Mann
Es ist aber auch zu peinlich: da hat der Herr Bundeskanzler, guten Glaubens, das wollen wir ihm einmal zubilligen, denn er ist doch ein ehrenwerter Mann, einen Text unterschrieben. Da steht in einer Broschüre der Bundesregierung zur Pensionsreform (ein Teil daraus ist auf Seite 38 dieses Heftes im Faksimile abgebildet): »Die Übergangszeiten sind langfristig, damit sich alle auch auf die Änderung einstellen können. Außerdem haben wir für Bezieher von kleinen Pensionen und für Frauen mit Kindern besondere Maßnahmen getroffen, die in Zukunft Nachteile ausgleichen werden.«
Weiter unten heißt es dann noch: »Die maximal möglichen Verluste durch alle Maßnahmen werden auf 10% begrenzt. In den ersten Jahren liegen sie bei ca. 3% (Frauen) bzw. bei 5% (Männer). Diese möglichen Verluste kann man durch eine eigene private Zusatzpension ausgleichen, die vom Staat gefördert wird. Zusätzlich gibt es auch noch die betriebliche Mitarbeitervorsorge.«
Darunter steht ein Schriftzug: Dr. Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler (und daneben noch ein gewisser Mag. Herbert Haupt).
Der gute Mann ist sicherlich falsch informiert worden. Er hat wirklich geglaubt, dass die Verluste der Pensionisten wirklich nicht höher als drei bis fünf Prozent sind.
Was macht er jetzt, wo sich das herausstellt. Sagt er vielleicht: »Liebe Bürgerinnen, liebe Bürger, es tut mir sehr leid, wir haben uns geirrt. Wir werden aber alles daransetzen, um das auszubessern und unsere Versprechung einzuhalten.«
Panikmache
Nein, der gute Mann macht das anders. Er sagt: »Stimmt alles nicht, die Berechnungen dar Arbeiterkammer sind falsch! Das ist eine Lügenkampagne, das ist Panikmache …«
Natürlich, auch eine Möglichkeit. Dazu haben wir jetzt einen Originalbescheid der Pensionsversicherungsanstalt abgebildet. Lügt die jetzt auch noch, Herr Bundeskanzler? Aber das sind doch diejenigen, die die Pensionen ausrechnen und zuweisen.
W. Schüssel hat als Regierungschef die Letztverantwortung - er kann sie nicht jetzt auf andere abschieben oder behaupten, das seien nur Einzelfälle.
Es handle sich aber eben nicht um Einzelfälle, sondern um tausende betroffene Menschen, sagte AK Präsident Herbert Tumpel in einer Pressekonferenz gemeinsam mit dem ÖGB.
Fritz Verzetnitsch forderte einmal mehr die Rücknahme der Reform von 2003 und die Umsetzung des ÖGB-Stichtagsmodells für die Pensionsharmonisierung.
Was letzen Endes weiter geschieht, können auch wir mitentscheiden: als Wähler.
Siegfried Sorz
]]>Die »ungeheuerliche Falschinformation« bestand darin, dass anhand von Bescheiden der Pensionsversicherungsanstalt die sofortigen Wirkungen der »Pensionsreform 2003« aufgezeigt wurden:
Und bei all diesen Kürzungen ist der zusätzliche Verlust aus der Streichung der ersten Pensionsanpassung noch gar nicht mitgerechnet.
Was jetzt mit einem Pensionsbescheid nach dem anderen belegt wird, hat die AK bereits vor der Beschlussfassung im Parlament am 11. Juni 2003 aufgezeigt und mit zahlreichen Fallbeispielen belegt.
Bundeskanzler Schüssel behauptet …
Bundeskanzler Schüssel behauptete demgegenüber noch in seiner Rede im Nationalrat am Tag der Beschlussfassung, dass die Berechnungen der AK falsch seien.
Belegen konnte er diese Behauptung naturgemäß nicht. Unter dem Titel »Was die Reform zur Pensionssicherung wirklich bringt« erklärte die Bundesregierung dann in einer »Informationsbroschüre« (siehe Faksimile), dass die maximalen Verluste in den ersten Jahren ca. 3% bei Frauen und ca. 5% bei Männern betragen werden. Dazu wurde noch mitgeteilt, dass man diese möglichen Verluste durch eine private Zusatzpension ausgleichen könnte.
Die Behauptung mit den maximalen Verlusten von 3% bzw. 5% war von Anfang an falsch und ist inzwischen auch mit etlichen Pensionsbescheiden widerlegt. Und der Hinweis auf den möglichen Verlustausgleich durch eine private Vorsorge kann von den Kürzungsopfern wohl nur als glatte Verhöhnung empfunden werden.
Tatsache ist, dass vor allem sehr viele Männer, die schon früh in das Berufsleben eingestiegen sind, bereits in diesem Jahr der maximale Pensionsverlust trifft. Und ohne den »Verlust-Deckel« würden die Kürzungen vielfach noch höher ausfallen.
Die drastischen Sofortkürzungen sind die logische Konsequenz der »Pensionsreform 2003«, die bei Langzeitversicherten gleich in der Anfangsphase zu doppelten Kürzungen führt. Zuerst werden die maximal erwerbbaren Steigerungsprozente vor Abzug der Abschläge mit 80 limitiert (es sei denn, es wird bei Zugrundelegung von 1,78% pro Jahr ein höherer Wert erreicht) und in einem zweiten Schritt werden die erhöhten Abschläge abgezogen.
Die Wahrheit ist …
Kürzungen bis zum 10%-»Verlust-Deckel« werden deshalb bereits in diesem Jahr bei Männern, die eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer in Anspruch nehmen, keineswegs nur Einzelfälle betreffen, sondern eher die Regel darstellen. Auch Invaliditätspensionisten mit vielen Versicherungsjahren werden in vielen Fällen schon heuer Kürzungen in diesem Ausmaß hinnehmen müssen.
Selbst jene Männer, die unter die groß propagierte »Schutzbestimmung« der sogenannten »Hacklerregelung« fallen und die nach 45 oder mehr Beitragsjahren mit 60 Jahren in Pension gehen, werden bereits dieses Jahr drastische Pensionskürzungen in Kauf nehmen müssen. Insgesamt muss damit gerechnet werden, dass allein bei den Männern 7000 bis 10.000 Neupensionisten, die im Jahr 2004 ihre Pension beantragen, von Kürzungen im Ausmaß von rund 10% betroffen sein werden.
Bei den Frauen wird es 10% Kürzungen vorerst noch deutlich seltener geben. Jene Frauen, die unter die so genannte »Hacklerinnen-Regelung« fallen, werden in der Anfangsphase von der Pensionsreform sogar profitieren. Dramatisch anders sieht es für Frauen mit Kindern aus, die bald nach der Geburt wieder ins Erwerbsleben eingestiegen sind und viele Versicherungsjahre erworben haben (aber die Vorgaben für die »Hacklerinnen-Regelung« nicht ganz erfüllen). Bei einem Pensionsantritt mit z. B. 57 Jahren, droht bereits im Jahr 2004 eine 10%-Sofortkürzung.
W. Schüssel: »Wir haben uns Mühe gemacht …«
Ganz anders sieht das alles aus, wenn man den Ausführungen von Bundeskanzler Schüssel glaubt: »Wir haben uns die Mühe gemacht und haben die ersten zwei Monate durchgerechnet. Bisher waren da etwa 10.000 Neupensionisten, die haben Anträge gestellt und es ist herausgekommen, zwei Drittel davon haben überhaupt keine Kürzungen und im Durchschnitt haben Frauen etwa eineinhalb Prozent weniger als vor der Reform und Männer etwas über drei Prozent« (Wolfgang Schüssel im ZIB 1 Interview am Freitag, den 5. März 2004, unmittelbar vor den Landtagswahlen in Kärnten und Salzburg).
Was Wolfgang Schüssel nicht dazu gesagt hat und vielleicht auch gar nicht wusste, ist, dass bei diesen Zahlen offensichtlich auch all jene Neupensionen mitgerechnet wurden, für die das neue Recht noch gar nicht zur Anwendung kommen konnte. (Wenn die Anspruchsvoraussetzungen für eine Alterspension bis spätestens 31. 12. 2003 erfüllt waren, bleibt die alte Rechtslage anwendbar. Dies trifft zwangsläufig für die meisten Neuzuerkennungen zum Stichtag 1. Jänner 2004 zu.) Wahr ist, dass auch nach dieser Auswertung nahezu jeder zweite Mann, der bereits von der Pensionsreform betroffen ist, Kürzungen von 10% oder knapp darunter in Kauf nehmen musste.
Und es wird nicht viel Zeit vergehen, bis der bei weitem überwiegende Teil der Männer mit der 10%-Kürzung Rechnung muss. Auch bei den Frauen wird der 10%-Verlust bereits in wenigen Jahren der Regelfall sein.
Die auf jeder Hochglanzbroschüre der Regierung groß herausgestrichenen »Abfederungsmaßnahmen« ändern dann für die meisten Frauen nicht das Geringste!
Härtefonds ist Verhöhnung!
Als letztes Mittel zur Kaschierung der hohen Pensionsverluste blieb der Regierung zuletzt nur mehr der »Härtefonds«. Der Verweis auf diesen Fonds ist aber für die Opfer der 10%-Sofortkürzungen ebenso eine Verhöhnung wie der Verweis auf die Möglichkeit der privaten Altersvorsorge.
Ein bezeichnendes Beispiel für die argumentative Zuflucht zum Härtefonds hat vor kurzem Sozialminister Haupt geliefert. Als die AK eine 10%-Kürzung bei einem Niedrigpensionsbezieher öffentlich machte, verwies der Sozialminister prompt auf den Fonds.
Wenn man den Härtefonds berücksichtigt, gäbe es keinen Verlust mehr (APA 2. März 2004). Dazu ist fürs erste festzustellen, dass es keinerlei Rechtsanspruch auf eine Leistung aus dem Fonds gibt.
Vor allem aber ist völlig klar, dass die lebenslangen Pensionsverluste nicht mit einer Einmalzahlung aus dem Härtefonds ausgeglichen werden können.
Lügenkampagne: Wer lügt worüber?
Selbst bei einer relativ niedrigen Pension kann sich der Pensionsverlust schnell auf 27.000 Euro und mehr aufsummieren. Die Fondszahlungen sind demgegenüber mit maximal 1500 Euro begrenzt. Und wer eine Bruttopension über 1015 Euro bezieht, kann nach den Richtlinien des Härtefonds von vornherein keine Unterstützungsleistung erhalten. Offensichtlich ist der Sozialminister der Meinung, dass sofortige 10%-Kürzungen bei Pensionen über 1015 Euro keinerlei Härte darstellen können.
Es spricht Bände, wenn Mitglieder einer Bundesregierung seriöse Sachinformation der Interessensvertretungen der Arbeitnehmer gezielt als Lügenkampagne denunzieren oder die Bedeutung von Pensionskürzungen mit dem Verweis auf einen völlig unzureichenden Härtefonds herunterspielen.
Eine solche Vorgangsweise entbehrt jeder Redlichkeit, fügt sich aber gut ein in die seit einem Jahr von der Regierung praktizierte Öffentlichkeitsarbeit zur »Pensionsreform 2003«.
Rückblick
Am 31. März 2003, also fast genau vor einem Jahr, schickte die Regierung den Gesetzesentwurf zur »Pensionsreform 2003« in Begutachtung.
Fassungslosigkeit machte sich breit, als ÖGB und AK die ersten Fallbeispiele durchrechneten: Sofort-Kürzung der Neupensionen um bis zu knapp 20%, Kürzung der Pensionen der Jüngeren um durchschnittlich 30% bis 40% und in vielen Fällen lagen die Kürzungen noch deutlich darüber. Dazu kam noch die Abschaffung aller vorzeitigen Alterspensionen ohne jede Rücksichtnahme auf die prekäre Arbeitsmarktsituation.
In den erläuternden Bemerkungen des Sozialministers wurde gleichzeitig eingestanden, dass der Pensionsaufwand in der gesetzlichen Pensionsversicherung in den kommenden Jahren ohne jede Reform zurückgegangen wäre.
Das hinderte die Regierung aber nicht daran, gleichzeitig eine akute, dramatische Finanzierungskrise zu beschwören und das frontale Zusammenstutzen der gesetzlichen Pensionsversicherung ohne jede Rücksicht auf den Vertrauensschutz in Angriff zu nehmen.
Wäre es nicht zu den größten Widerstandsaktionen des ÖGB seit Jahrzehnten gekommen, so hätte die Regierung die Demontage eines Kernstücks des österreichischen Sozialstaats mit ziemlicher Sicherheit durchgezogen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Deshalb ist es wichtig, die ursprünglich geplanten aberwitzigen Kürzungen nicht so schnell wieder zu vergessen.
Auch wenn die Betreiber dieses Projektes nun plötzlich so tun, als hätten sie mit dem geplanten Pensions-Kahlschlag nie etwas zu tun gehabt.
Die Pension fliegt: als Abfangjäger!
Wie wir wissen, musste die Regierung letztlich um einiges zurückstecken. Eine 10-Prozent-Deckelung der Verluste und etwas längere Übergangsfristen bei der Abschaffung der vorzeitigen Alterspensionen mussten zugestanden werden. Die schon im Grundansatz völlig verfehlte »Pensionsreform 2003« wurde dadurch aber nicht akzeptabel.
Sie ist und bleibt eine unsoziale Geldbeschaffungsaktion des Finanzministers auf dem Rücken der Arbeitnehmer. Und der hat das »eingesparte« Geld inzwischen auch schon wieder ausgegeben - für unsinnig teure Abfangjäger und für Steuergeschenke an Großkonzerne!
Inzwischen versucht die Regierung mit dem Schlagwort »Harmonisierung der Pensionssysteme« vom Pensionsdesaster abzulenken, das die »Reform 2003« hinterlassen hat.
Doch auch für die längst überfällige Harmonisierung ist die 2003er-Reform ein Stolperstein, über den nun nur schwer hinwegzukommen sein wird.
Für den ÖGB ist jedenfalls klar: Zuerst die ASVG-Pensionen um 10 Prozent kürzen und dann auf dieser Basis in ferner Zukunft harmonisieren - so kann es nicht sein.
Dass es bei gutem Willen auch ganz anders gehen würde, hat der ÖGB mit seinem Modell der »Österreich-Pension« vorgezeigt (siehe »Arbeit&Wirtschaft« vom Dezember 2003, Seite 26, Schwerpunktbeitrag »Die Alternative zum Pensionsrecht« von Richard Leutner, - www.arbeit-wirtschaft.at/aw_12_2003/index.html)
F A L L 1
Frau Maria K., voller Verlust bereits im Februar 2004. Und das bei langer Versicherungszeit und baldigem Wiedereinstieg nach der Karenz!
Kaufmännische Lehre mit 14, vollzeitbeschäftigt, 1 Kind, Wiedereinstieg als Vollzeitbeschäftigte nach nur 7 Monaten Karenz, insgesamt 42 Versicherungsjahre. Aufgrund eines Firmenkonkurses seit Mitte 2000 arbeitslos. Pensionsantritt mit 56 Jahren und 4 Monaten am 1. 2. 2004.
Pensionshöhe Rechtslage 31. 12. 2003
Laut Pensionsbescheid: EUR 1332,26 Bruttopension
Pensionshöhe nach Pensionsreform 2003
Laut Pensionsbescheid: EUR 1201,15 Bruttopension
Ergebnis:
Besonders bitter ist dieser finanzielle Verlust, da Frau K. aufgrund einer Vorausberechnung vom Herbst 2003 noch mit einer Pension von EUR 1332,- gerechnet hat. Nun muss sie plötzlich nach einem langen Arbeitsleben diese drastische Kürzung hinnehmen.
Der Fall zeigt, dass auch viele Frauen mit Kindern von Beginn an voll verlieren. Da die Pension von Frau K. über den Grenzen für den Härtefonds liegt, erhält sie nicht einmal eine bescheidene Einmalzahlung aus diesem Fonds.
Besondere Skurrilität:
Wäre Frau K. länger bei ihrem Kind zu Hause geblieben, wäre ihr Verlust im Vergleich zur Rechtslage 2003 geringer; das heißt, die Pensionsreform 2003 bestraft Wiedereinsteigerinnen mit höheren Verlusten.
F A L L 2
Herr Heinz M., voller Verlust bereits im Februar 2004. Begann sehr früh zu arbeiten, kann erst nach 61 mit fast 47 Versicherungsjahren in Pension gehen, 10% Pensionsminus.
Berufseinstieg vor 15 (Lehrling), Antritt einer vorzeitigen Alterspension mit 61 Jahren 4 Monaten am 1. Februar 2004. Insgesamt liegen zum Stichtag 46,833 Versicherungsjahre vor. Herr M. wurde mit 59 arbeitslos und kann deshalb wegen wenigen fehlenden Beitragsmonaten die »Hacklerregelung« nicht in Anspruch nehmen. Anstatt bereits vor
16 Monaten mit 60 Jahren und 80% in Pension zu gehen, musste er bis Februar 2004 zuwarten, wird zusätzlich von der Pensionsreform 2003 getroffen und verliert voll.
Pensionshöhe Rechtslage 31. 12. 2003
Laut Pensionsbescheid: EUR 2299,77 Bruttopension
Pensionshöhe nach Pensionsreform 2003
Laut Pensionsbescheid: EUR 2030,26 Bruttopension
Nach Anwendung des Verlustdeckels:
(90% von EUR 2299,77) EUR 2069,79 Bruttopension
Ergebnis:
F A L L 3
Herr Peter D., »Hacklerregelung« schützt nicht vor massiven Pensionsverlusten! (Vorausberechnung der PVA)
Berufseinstieg mit 15 (Lehrling). Pensionsantritt mit 60 Jahren am 1. 5. 2004 auf Basis der sogenannten »Hacklerregelung« (mehr als 45 Beitragsjahre). Insgesamt liegen zum Stichtag 45,667 Versicherungsjahre vor.
Pensionshöhe Rechtslage 31. 12. 2003
Laut Vorausberechnung: EUR 2237,48 Bruttopension
Pensionshöhe nach Pensionsreform 2003
Laut Vorausberechnung: EUR 2042,96 Bruttopension
Ergebnis:
Heute leben Herr M. und seine Frau von seinen 990 Euro Notstandshilfe. Zum finanziellen Abstieg kommt große Wut über die Ungerechtigkeit nach einem langen Arbeitsleben. Das Leben von Herrn M. wird von der Südautobahn und der Tangente begleitet. 36 Jahre seines Lebens ist er täglich die Südosttangente hinauf und bei Vösendorf herunter gefahren.
Zu »seiner« Firma, dem Baumaschinenunternehmen Terra, wo er nach der Automechanikerlehre als Baumaschinenmonteur begonnen und bis November 2000 beschäftigt war. Einen Tag nach seinem 56. Geburtstag kam für ihn das »Aus«.
Seither leben Herr und Frau M. in einem kleinen Schrebergartenhaus, einen Steinwurf von der Südosttangente entfernt.
Paradies
»Kommen Sie weiter, in unser kleines Paradies«, sagt Herr M. ohne jede Ironie und öffnet die Tür zu seinem kleinen Häuschen mit zugebauter Veranda, das er mit seiner Frau bewohnt. Etwa 150 Meter östlich ragt die Schallschutzmauer der Tangente meterhoch in den Winterhimmel. Das ständige Brummen des Verkehrs ist für Herrn M. fast »wie Meeresrauschen«. Nur wenn der Verkehrsfluss stockt, wirds ein wenig unangenehm. Dafür haben die M.s gleich hinter dem Maschendrahtzaun ihres winzigen Schrebergartens freies Gelände, das sich bis zum Praterstadion zieht. Noch, denn demnächst soll dort eine U-Bahn gebaut werden, aber all das scheint ihm nichts auszumachen, denn kaum ist die Türe zu, ist es ruhig wie in einem Büro nach Dienstschluss.
Dienstschluss
Für Hans M. war Ende 2000 Schluss. Den Tag der Ankündigung weiß er noch, und nicht nur deshalb weil sie ihm an seinem Geburtstag, dem 20. Oktober, unterbreitet wurde. Dass die Baumaschinenfirma Terra, ein Familienbetrieb, verkauft werden sollte, war der Belegschaft bekannt gewesen. Hatte der Chef doch in einem Rundbrief die Mitarbeiter informiert und »speziell den Langjährigen versichert, dass er froh sei, weil ein Österreicher übernimmt und alle bleiben können«. Der Abschied wurde in kleinen Dosen gegeben und schmerzt heute noch. Bis März 2001 könne er bleiben, hieß es zuerst, bis er im November 2000 plötzlich »freigestellt« wurde. Er hätte etwas Abwegiges über die Firma gesagt, erfuhr Herr M. auf Umwegen von Kollegen. Den neuen Geschäftsführer hatte er nur flüchtig am Gang gesehen.
»Für mich ist eine Welt zusammengestürzt, denn ich habe mit Leib und Seele für die Firma gelebt«, erzählt Hans M.. Vom Baumaschinenmonteur hatte er sich hochgearbeitet, den Fuhrpark übernommen und schließlich vom Test, Verkauf und Transport der Maschinen bis hin zu den Transportgenehmigungen für überschwere Fahrzeuge alles geregelt. Immerhin rund 70 Maschinen pro Jahr wurden mit Hilfe von Hans M. an Kunden aus Österreich, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien verkauft. »Kostensparend«, sagt M., »weil ich habe immer so gearbeitet, als gehöre die Firma mir«.
Qualität chancenlos
In der Branche, wo »einer den anderen kennt«, wusste man auch um die Qualitäten des arbeitsamen Herrn M.. »Hans, du kannst zu uns kommen«, hieß es dann auch am Anfang seiner Arbeitslosigkeit. Und schließlich: »Herr M., so passen Sie nicht in unser Konzept.« Denn nicht mehr und nicht weniger als 1800 Euro netto wollte der damals mittlerweile 57-Jährige von einer neuen Firma. In ähnlicher Höhe wäre auch seine Pension gewesen, die er ab heuer bezogen hätte, »wenn die Pensionsreformen nicht gewesen wären.« Und in ähnlicher Höhe waren damals auch die Fixkosten des Ehepaares, samt Wohnung, Schrebergarten, Auto, Versicherungen und Bausparverträgen für die Kinder.
Heute fährt der ehemalige Gutverdiener Herr M. mit dem Fahrrad seine Einkaufsrunden zu den diversen Supermärkten der Umgebung und schaut, wo es preisgünstige Angebote gibt. »Ich fahre im Kreis, zum Hofer und zum Lidl, und ich spare wo es geht.« An ihm spart der Staat einiges, rechnet er vor. Eigentlich hatte er mit einer Pension mit 60 gerechnet, doch dann kam die erste Pensionsreform. »Normalerweise hätte so ich mit 60 Jahren in Pension gehen können. Bekommen hätte ich um die 1800 Euro netto. Wenn man nun die Jahre multipliziert, die ich jetzt in der Notstandshilfe warten muss, bis ich in Pension gehen kann, kommt einiges zusammen, was ich verliere.«
532 Versicherungsmonate bei der Firma Terra sind auf seinen Versicherungsauszug vom Dezember des Vorjahres vermerkt.Bis zu seiner Arbeitslosigkeit hatte er mit Ausnahme der Bundesheerzeiten immer gearbeitet. »Insgesamt habe ich 42 Jahre lang einbezahlt und nicht wenig. Auch die Provisionen, wenn ich ein Fahrzeug verkauft habe, wurden schließlich versteuert«, erzählt er. »Aber mein Glück war, dass ich so lange bei der Firma gewesen bin und ein Jahr Abfertigung bekommen habe. Davon habe ich das Schrebergartenhaus umgebaut, sodass wir die alte Wohnung aufgeben und hierher ziehen konnten.«
Wenn er von seinem »Pech« erzählt, darf der Nachsatz: »Aber zum Glück …« nicht fehlen. Leider habe seine Frau nie eine bezahlte Arbeit gehabt, erzählt er zum Beispiel, sonst hätten sie heute auch ein bisschen mehr. Mit dem gut verdienenden Ehemann hatte Frau M. auch nie Anspruch auf Karenzgeld, als die beiden Kinder zur Welt kamen. »Aber zum Glück sind wir immer noch verheiratet. Die meisten meiner Bekannten haben das nicht geschafft.«
Herr M. war 56,5 Jahre, als er - Anfang 2001 - in die Arbeitslosigkeit entlassen wurde. Für die vorzeitige Alterspension wegen Arbeitslosigkeit war er zu jung. Zum Arbeiten war er zu teuer oder »zu alt«. Auch für die vorzeitige Alterspension wegen langer Versicherungsdauer kam er nicht in Frage.
Betrogen
Hans M. hat das Gefühl, betrogen worden zu sein. »Wenn einer eine private Pensionsversicherung abschließt, die bis zu einer bestimmten Frist läuft und plötzlich heißt es: Ätsch, wir haben es uns anders überlegt, jetzt musst du noch sechs Jahre warten, zinsenlos, bis du dein Geld bekommst<, das geht doch auch nicht«, vergleicht er, aber zum Glück habe er sein Mountainbike. Radfahren in der Natur kostet fast nichts und wenn er seinen Termin am Arbeitsmarktservice wahrnimmt, dient das Mountainbike als Hauptthema beim kurzen Gespräch mit seinem Berater. »Was sollen wir sonst auch reden, ich bin ja jetzt überhaupt nicht mehr vermittelbar«, sagt der mittlerweile 60-Jährige.«.
Höhere Arbeitslosenrate
Hans M. ist einer von vielen, die schon von der ersten Pensionsreform 2000 betroffen waren. Schon damals verzeichnete die Arbeiterkammer einen überdurchschnittlich hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit der über 55-Jährigen. Besonders dramatisch war (und ist) die Entwicklung bei 60-jährigen Männern: Zwischen Oktober 2000 und Oktober 2001 stieg der Arbeitslosenquote von 7,5% auf 19,1% an. Nebeneffekt: »Es kann davon ausgegangen werden, heißt es in der AK-ONLINE vom August 2002 (»Auswirkungen der Pensionsreform 2000«), »dass auch ein Teil der stark gestiegenen Jugendarbeitslosigkeit auf die Pensionsreform zurückzuführen ist. Es wird geschätzt, dass mindestens 2000 Jugendliche durch die erhöhte Altenbeschäftigung in die Arbeitslosigkeit abgedrängt wurden.« Befürchtungen, die sich zu bewahrheiten scheinen. So geht die AK davon aus, dass heuer die Arbeitslosenquote von sieben Prozent im Vorjahr noch übertroffen wird. Mit zusätzlich 10.000 Arbeitssuchenden sei zu rechnen, so AK-Präsident Herbert Tumpel. Dadurch würde die Jahresarbeitslosenquote auf 7,4 Prozent steigen. Die Gründe sieht der AK-Präsident in der Anhebung des Pensionsantrittsalters durch die Pensionsreform und der verfehlten Reform der Altersteilzeit.
Keine Armut
Von Altersarmut ist die Familie M. nicht betroffen. Zum Glück gab es die Abfertigung und dadurch den feinen Verandazubau zum Häuschen, sodass an den Festtagen auch die Kinder und die Enkel Platz haben. Das Alter merkt
man dem schlanken Sechziger nicht an und wenn er nicht gerade über seine Firma und sein »Pech« erzählt, könnte man ihn durchaus für zufrieden halten. Für diesen Eindruck sorgt er auch selber. »Wie es einem Pensionisten halt so geht«, sagt er zum Beispiel zu einem Bekannten am Telefon, »du weißt ja, immer viel zu tun.« Es muss nicht jeder wissen, dass einer nach 42 Jahren Arbeit in der Notstandshilfe ist. Trotzdem erwartet Herr M. mit Bangen seine Pension. Denn soviel weiß er jetzt schon: Er wird 10 Prozent verlieren, wenn er am 1. März 2007 mit 62 Jahren und 4 Monaten seine Pension antreten wird. Bis dahin wird Herr M. 47,5 Versicherungsjahre erworben haben.
Sein Prozentsatz am 1. 3. 2007, laut Berechnung der Arbeiterkammer: 571 Versicherungsmonate mal 1,78% durch 12 ergibt 84,7 an Steigerungspunkten. Der Abschlag errechnet sich nach folgender mathematischer Formel:
32 mal 0,35 = 11,2%
84,7 weniger 11,2% ergibt 75,21%
Das sind 6 Prozent Verlust allein aus den Steigerungspunkten. Dazu kommen um vier Jahre mehr an Durchrechnung. Für Herrn M. werden die »besten« 19 Jahre - in seinem Fall von 1982 bis 2000 - durchgerechnet werden. Das bedeutet, dass er wieder einmal doppelt verliert. Einerseits werden um vier Jahre mehr durchgerechnet, was zu mindestens vier Prozent zusätzlichem Verlust führt. Andererseits bricht sein Einkommen 2001 ab, wodurch seine Bemessungsgrundlage ohnehin schon deutlich entwertet wird.
Was diese Bundesregierung »für« Herrn M. getan hat, haben die AK-Experten Erik Türk und Wolfgang Panhhölzl errechnet: Sein Pensionsalter wurde um zweieinhalb Jahre angehoben und seine Pension um 10 Prozent gekürzt. Und: Durch die Kombination von späterem Pensionsantritt und vollen Pensionsverlusten wurde in keiner Weise auf seinen Vertrauensschutz Rücksicht genommen.
R E S Ü M E E
Hans M. versteht die Welt nicht mehr. Von der hoch bezahlten Fachkraft wurde er binnen kurzem zum Bezieher der Notstandshilfe. Die ist zwar höher als die Armutsgrenze. Aber das hat er sich dennoch nicht verdient, ist der 60-Jährige überzeugt. Nicht allein um sein Geld fühlt sich der ehemalige Baumaschinenmonteur betrogen. Er fragt sich: Wem bleiben eigentlich die Früchte seines Arbeitslebens?
Der Tarif sieht sehr einfach aus, deshalb behauptet die Regierung, dass künftig jeder die Steuer auf einem Bierdeckel ausrechnen kann. In Wahrheit weiß man mit diesen Angaben nur, dass die Abgabe an den Finanzminister bei 25.000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen 5750 Euro beträgt. Bei 51.000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen beläuft sie sich auf 17.085 Euro. Wer ein anderes Einkommen hat, muss sich einer anderen Formel bedienen (siehe Tabelle »Bemessungsgrundlage II«).
Bemessungsgrundlage II | |
Zu versteuerndes Jahreseinkommen | Steuer |
bis 10.000 | 0 |
bis 25.000 | (Einkommen - 10.000) x 5750 15.000 |
bis 51.000 | (Einkommen - 25.000) x 11.335 + 5.750 26.000 |
Bei einem Jahreseinkommen von beispielsweise 24.000 sind - dieser mathematischen Formel zu Folge - 5.366,66 Euro an Steuern zu bezahlen. |
Der Teil des Einkommens, der 51.000 Euro übersteigt, wird mit 50 Prozent besteuert. Für Arbeitnehmer müssen vom Berechnungsergebnis noch der Arbeitnehmerabsetzbetrag (54 Euro) und der Verkehrsabsetzbetrag (291 Euro), gegebenenfalls auch der Alleinverdiener- bzw. der Alleinerzieherabsetzbetrag samt Kinderzuschlägen, abgezogen werden. Für Pensionisten ist der Pensionistenabsetzbetrag zu berücksichtigen. Der allgemeine Absetzbetrag entfällt.
Wir glauben nicht, dass sich alle Arbeitnehmer das auf einem Bierdeckel ausrechnen können. Die meisten werden schon bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage Schwierigkeiten haben, bevor sie überhaupt zur Formel kommen.
Zur Errechnung der Bemessungsgrundlage kann Folgendes vom Jahresbruttobezug abgezogen werden:
+ Hinzugerechnet werden Sachbezüge, wie etwa die Nutzung des Firmenwagens und Ähnliches.
Weil uns klar ist, dass jetzt und auch in Zukunft diese Rechenoperationen nur von Spezialisten mit einer Tabelle oder einem elektronischen Rechner richtig bewältigt werden können, haben wir für Sie ausgerechnet, was Sie sich von 2004 auf 2005 an Lohnsteuer ersparen werden. Dabei wurden keine steuerfreien Bezüge und keine besonderen Freibeträge oder Absetzbeträge unterstellt (siehe Tabelle »Lohnsteuerrechner«).
Lohnsteuerrechner Angestellter ohne Alleinverdiener- Alleinerzieherabsetzbetrag laufende Abrechnung ohne Negativsteuer |
||||
Bruttogehalt monatlich |
LST 2004 laufend |
LST 2005 laufend |
Nettodifferenz monatlich |
2004 zu 2005 Nettodifferenz jährlich |
1000 | 0,00 | 0,00 | 0,00 | 0,00 |
1100 | 20,46 | 0,00 | 2›0,46 | 245,52 |
1200 | 52,04 | 23,10 | 28,94 | 347,28 |
1300 | 83,63 | 54,55 | 29,08 | 348,96 |
1400 | 115,22 | 86,01 | 29,21 | 350,52 |
1500 | 146,81 | 117,46 | 29,35 | 352,20 |
1600 | 176,76 | 148,91 | 27,85 | 334,20 |
1700 | 205,48 | 180,36 | 25,12 | 301,44 |
1800 | 234,20 | 211,82 | 22,38 | 268,56 |
1900 | 262,92 | 243,27 | 19,65 | 235,80 |
2000 | 291,63 | 274,72 | 16,91 | 202,92 |
2100 | 320,35 | 306,17 | 14,18 | 170,16 |
2200 | 349,07 | 337,63 | 11,44 | 137,28 |
2300 | 383,51 | 369,08 | 14,43 | 173,16 |
2400 | 420,84 | 400,53 | 20,31 | 243,72 |
2500 | 458,17 | 431,98 | 26,19 | 314,28 |
2600 | 495,50 | 465,22 | 30,28 | 363,36 |
2700 | 532,84 | 501,00 | 31,84 | 382,08 |
2800 | 570,17 | 536,77 | 33,40 | 400,80 |
2900 | 607,50 | 572,54 | 34,96 | 419,52 |
3000 | 644,84 | 608,31 | 36,53 | 438,36 |
3100 | 682,17 | 644,08 | 38,09 | 457,08 |
3200 | 719,50 | 679,85 | 39,65 | 475,80 |
3300 | 756,83 | 715,62 | 41,21 | 494,52 |
3400 | 794,17 | 751,39 | 42,78 | 513,36 |
3500 | 835,58 | 791,07 | 44,51 | 534,12 |
3600 | 880,84 | 834,67 | 46,17 | 554,04 |
3700 | 921,84 | 878,27 | 43,57 | 522,84 |
3800 | 962,84 | 921,86 | 40,98 | 491,76 |
3900 | 1003,84 | 965,46 | 38,38 | 460,56 |
4000 | 1044,84 | 1009,05 | 35,79 | 429,48 |
4100 | 1085,84 | 1052,65 | 33,19 | 398,28 |
4200 | 1126,84 | 1096,25 | 30,59 | 367,08 |
4300 | 1167,84 | 1139,84 | 28,00 | 336,00 |
4400 | 1208,84 | 1183,44 | 25,40 | 304,80 |
4500 | 1249,84 | 1227,03 | 22,81 | 273,72 |
4600 | 1290,84 | 1270,63 | 20,21 | 242,52 |
4700 | 1331,84 | 1314,23 | 17,61 | 211,32 |
4800 | 1372,84 | 1357,82 | 15,02 | 180,24 |
4900 | 1416,14 | 1402,36 | 13,78 | 165,36 |
5000 | 1466,14 | 1452,36 | 13,78 | 165,36 |
5100 | 1516,14 | 1502,36 | 13,78 | 165,36 |
Es fällt auf, dass gerade bei einem Durchschnittseinkommen um etwa 2000 Euro monatlich brutto die Entlastungen sehr klein werden. Im Bereich zwischen 1900 bis 2300 Euro sinken die monatlichen Entlastungen auf unter 20 Euro im Monat, im Extremfall sogar auf 10 Euro.
Ob es Zufall ist, dass gerade hier sehr viele Arbeitnehmer zu finden sind? 640.000 Arbeitnehmer und Pensionisten werden jedenfalls nach den Plänen der Bundesregierung mit diesen sehr geringen und kaum wahrnehmbaren Steuersenkungen leben müssen.
Budgetwirkung:
Minus 900 Millionen Euro Lohnsteuer, Minus 200 Millionen Euro veranlagte Einkommensteuer.
Eine Lohnsteuersenkung von 900 Millionen Euro ist jedenfalls nicht die »größte Steuerreform aller Zeiten«, sondern eine der geringsten Lohnsteuerentlastungen in den letzten 20 Jahren. Wirklich »groß« ist die Reform nur bei den Unternehmenssteuern.
Allein die kalte Progression seit der letzten Steuersenkung 2000 macht ungefähr 900 Millionen Euro aus, sodass diese Lohnsteuersenkung nicht viel mehr als die Korrektur der kalten Progression2) ist.
Familienpaket
Bei Familien soll es Zuschläge zum Alleinverdienerabsetzbetrag bzw. zum Alleinerzieherabsetzbetrag geben, der derzeit bei 364 Euro liegt. Und zwar: 130 Euro für das erste Kind, 175 Euro für das zweite und 220 Euro für das dritte und für jedes weitere Kind.
Gleichzeitig soll die Zuverdienstgrenze von 4400 auf 6000 Euro angehoben werden. Die Gesamtkosten werden mit 230 Millionen Euro angegeben.
Dieser Reformteil soll auf 2004 vorgezogen werden. Nach dem nun vorliegenden Gesetzesentwurf soll eine Berücksichtigung in der Lohnverrechnung bei entsprechender Antragstellung ab Juli 2004 möglich sein. Der Dienstgeber kann im Dezember eine Aufrollung durchführen, womit die Kinderzuschläge für die erste Jahreshälfte berücksichtigt werden können.
Für Personen mit geringem Einkommen werden die Kinderzuschläge auch als Negativsteuer (Barauszahlung) im Wege der Veranlagung zur Auszahlung gelangen.
Völlig unverständlich ist aus unserer Sicht, dass nur Kinder von Alleinverdienerfamilien begünstigt sein sollen.
Über 800.000 Kinder, deren Eltern zusammen zum Familienunterhalt beitragen müssen oder wollen, haben davon nichts. Wir halten das schlicht für ungerecht.
Budgetwirkung:
Minus 250 Millionen Euro.
Erhöhung Pendlerpauschale
Sowohl die »kleine« als auch die »große« Pendlerpauschale soll um jeweils 15 Prozent erhöht werden. Aus unserer Sicht ist das absolut ungenügend:
Ein Pendler, der das Auto für die Fahrt zur Arbeitsstätte braucht, hat seit dem Jahr 2000 allein durch Abgabenerhöhungen tiefer in die Tasche zu greifen (siehe Tabelle »Pendlerbelastung«).
Pendlerbelastung (Bei 50 km einfacher Fahrtstrecke) |
|
Erhöhung der motorbezogenen Versicherungssteuer für ein 90 PS Auto ab Juni 2000 7,84 Euro monatlich |
431,20 |
Diesel, Verbrauch 7 l pro 100 km; 20.000 km jährlich ab 2004 | 34,20 |
Erhöhung Vignette ab 2001 um 32,6 Euro jährlich | 130,40 |
Summe | 595,80 |
Die jährliche Mehrbelastung beträgt allein aus Abgabenerhöhungen 160,80 Euro. Dazu muss man noch Preissteigerungen bei Servicearbeiten, beim Benzin oder bei den Haftpflichtprämien zählen.
Die entsprechende Pendlerpauschale beträgt 768 Euro jährlich. Eine 15-prozentige Erhöhung macht 115,20 Euro aus und deckt nicht einmal die Abgabenerhöhungen. Die »große« Pendlerpauschale für dieselbe Fahrtstrecke beträgt 1470 Euro. Eine 15-prozentige Erhöhung würde 220,50 Euro ausmachen.
Die große Pendlerpauschale ist aber - zum Beispiel im Großraum Wien - praktisch nur zu bekommen, wenn man in der Nacht fährt.
Budgetwirkung:
Minus 20 Millionen Euro.
Völlig unverständlich ist uns, warum der Regierung die Subvention des Diesels für Landwirte 50 Millionen Euro wert ist und die beruflich anfallenden Kosten einer ungleich größeren Anzahl von Pendlern nur mit 20 Millionen Euro berücksichtigt werden sollen.
Kirchenbeitrag
Die Absetzbarkeit des Kirchenbeitrags (für staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften) wird von 70 auf 100 Euro erhöht.
Budgetwirkung:
Minus 30 Millionen Euro.
Körperschaftsteuer
Die Körperschaftsteuer wird von 34 auf 25 Prozent gesenkt. Das bewirkt einen Steuerausfall von 1,1 Milliarden Euro. Gleichzeitig wird die begünstigte fiktive Eigenkapitalverzinsung und die Übertragungsmöglichkeit stiller Reserven gestrichen, sodass der Steuerausfall insgesamt 975 Millionen Euro beträgt.
Die Einführung einer Gruppenbesteuerung wird zusätzliche 100 Millionen Euro kosten, die Lockerungen bei versicherungstechnischen Rückstellungen weitere 25 Millionen Euro. Nach dem mittlerweile vorliegenden Begutachtungsentwurf wird die Möglichkeit, auch Verluste aus dem Ausland zu verrechnen bzw. Firmenwertabschreibung in der Gruppe vornehmen zu können, unserer Meinung nach einen wesentlich höheren Steuerausfall bewirken.
Die dramatische Senkung der Körperschaftsteuer wird mit dem Steuerwettlauf in den östlichen Nachbarstaaten begründet. Die Bundesregierung hält das zur Sicherung der Arbeitsplätze in Österreich notwendig.
Dazu nur zwei Fakten:
Faktum Nummer eins ist, dass die effektive Körperschaftsteuerbelastung im Vergleich zu den EU-15-Staaten in Österreich bereits eine der niedrigsten ist. Die Bundesrepublik Deutschland, die 2001 durch ihre Körperschaftsteuerreform einen Totalausfall produziert hat, hat die Industrie nicht zum Erblühen gebracht, sondern die Gemeindefinanzen derart ruiniert, dass über Jahre mit einer Investitionsschwäche des öffentlichen Sektors und damit mit einer Wachstumsschwäche in der BRD zu rechnen ist. Auch ist nicht davon auszugehen, dass mit einer kaputten öffentlichen Infrastruktur der Standort Deutschland attraktiver wird. Bildung oder Infrastruktur sind wohl für den Wirtschaftsstandort wichtiger als einige Prozentpunkte Unterschied bei der Körperschaftsteuer.
Faktum Nummer zwei: Die Körperschaftsteuer stellt im Normalfall nur einige Prozentpunkte der Kosten eines Industrieunternehmens dar. Bereits ohne wissenschaftliche Analyse kann man erkennen, dass das wohl nicht der entscheidende Standortfaktor für eine Industrieinvestition ist. Gerade die skandinavischen Staaten mit relativ hohen Steuerbelastungen weisen in den letzten Jahren die besten ökonomischen Erfolge aus.
Wer dazu Näheres wissen will, kann unsere Broschüre »Fakten und Analysen zur Körperschaftsteuer in Österreich und im internationalen Vergleich« bestellen. (AK Wien, Abteilung Steuerrecht, Telefon 01/501 65/207).
Gibt es auch Verlierer?
Durch die Tarifsenkung allein gibt es keine Verlierer. Die Regierung stellt den Sachverhalt nun so dar, als ob die Lohnsteuer die einzige Steuer sei.
Völlig vergessen wird auf die Steuererhöhungen im Bereich der Energieabgaben, der Sozialversicherungsbeiträge und Gebühren.
Es gibt jedenfalls zunächst eine ganz große Verlierergruppe: nämlich die rund 2,2 Millionen Arbeitnehmer und Pensionisten, die bereits vor der Steuerreform 2004 keine Lohnsteuer bezahlt haben.
Diese sind nämlich nur belastet, oder zumindest - weil die Regierung keine Erhöhung der Negativsteuer vornehmen will - nicht entlastet.
Aber auch ein Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkommen und regulären Lebensverhältnissen wird im Saldo nicht entlastet.
Im Gegenteil, wie ein wahrlich nicht übertriebenes Beispiel zeigt (siehe Tabelle »Abgabenbelastung«).
Abgabenbelastung Angestellter - Bruttomonatseinkommen 2000 Euro |
||
Steuersenkung 2005 | +16,91 | |
Sozialversicherungs-Beitragserhöhung 0,3 % (abzüglich Steuerminderungseffekt) |
-3,81 | |
Motorbezogene Versicherungs-Steuererhöhung für PKW 90 PS | -7,84 | |
Mineralölsteuererhöhung | ||
Diesel Verbrauch 7 l/100 km | ||
1.000 km/Monat | -1,68 | |
Vignettenpreiserhöhung/Monat | -2,72 | |
Elektrizitätsabgabenerhöhung | -3,00 | |
Mineralölsteuererhöhung Heizölverbrauch 3.000 l/Jahr | -7,48 | |
Monatliche Mehrbelastung durch Steuererhöhungen der ÖVP-FPÖ Regierung 2000 bis 2005 |
-26,53 | |
Trotz der Steuersenkung bleibt eine Mehrbelastung von | -9,62 |
Auswirkungen der Steuerreform für Arbeitnehmer und Unternehmer |
||
Maßnahmen | Arbeitnehmer Pensionisten |
Unternehmen |
Millionen EUR | ||
Lohn-/Einkommensteuersenkung 2004 | 350 | 30 |
Halbsatz nicht entnommener Gewinn *) | 400 | |
einheitlicher Krankenversicherungsbeitragssatz | -50 | -50 |
Entfall Arbeitslosenversicherungs-Beiträge für ältere Arbeitnehmer | 50 | 50 |
Freizeitunfallversicherung | -100 | |
höhere Krankenversicherungsbeiträge Pensionisten | -210 | |
Energiesteuer-/Mineralölsteuer-Erhöhungen 2004 | -210 | -170 |
Konjunkturbelebungspaket II (I-Prämie, Forschungsförderung, Lehrlingsprämienerhöhung) |
350 | |
Lohn-/Einkommensteuersenkung 2005 | 900 | 200 |
Familienpaket | 200 | 50 |
Anhebung Pendlerpauschale | 20 | |
Kirchenbeiträge | 25 | 5 |
Körperschaftsteuersenkung/Streichung Eigenkapitalverzinsung | 975 | |
Gruppenbesteuerung | 100 | |
Lockerung Rückstellungen bei Versicherungen | 25 | |
Agrardiesel | 50 | |
Summe | 975 | 2015 |
*) Wertansatz der Bundesregierung; die AK rechnet mit Ausfällen bis zu 600 Millionen Euro |
1) Grenzstufensteuertarif, auch Grenzsteuersatz. Der Einkommensteuertarif war ein so genannter Stufentarif. Bei Überschreiten einer Tarifstufe war nur der »oberste Einkommensteil« mit dem höheren Prozentsatz, dem so genannten Grenzstufentarif zu versteuern (nämlich zu 21, 31, 41 oder 50 Prozent.
2) Kalte Progression, Ausdruck der Umgangssprache, misst den Anstieg der steuerlichen Realbelastung, die bei Progressionstarif auf die inflationär bedingte Ausweitung der Bemessungsgrundlage (Einkommen, Vermögen) zurückzuführen ist. Definition lauf Grüske/Recktenwald: Wörterbuch der Wirtschaft, 7. Auflage 1975
R E S Ü M E E
Umverteilung nach oben
Die Frage zu den verteilungspolitischen Folgen ist eindeutig zu beantworten. Denn fasst man die Budgetwirkungen der einzelnen Punkte der Steuerreformen 2004 und 2005 zusammen, ergibt sich eine Schieflage zugunsten der Unternehmer, die wohl keines Kommentars mehr bedarf. Von einer Entlastung 50:50, wie sie die Regierung versprochen hat, kann jedenfalls keine Rede sein (siehe Tabelle »Arbeitnehmer - Unternehmer«).
Unmittelbar aus den gröbsten Mängeln dieser Steuerreform leiten AK und ÖGB folgende Forderungen ab:
Stagnationsphase der Wirtschaft nach der Jahrhundertwende
Entscheidend für die Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie der Einkommensverhältnisse der Arbeitnehmer ist das Wirtschaftswachstum, das heißt die Entwicklung der gesamten Produktion von Gütern und Dienstleistungen (»BIP« = Bruttoinlandsprodukt). Vom guten Anfangsjahr 2000 abgesehen, ist das neue Jahrhundert bisher enttäuschend verlaufen. Im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2003 erreichte der Zuwachs des realen BIP nur 1,6 Prozent, im Unterschied zu durchschnittlich 2,6 Prozent in den vier Jahren davor, oder 2,3 Prozent im Durchschnitt der neunziger Jahre 1990 bis 1999. War das Wirtschaftswachstum des Jahres 2000 mit 3,4 Prozent noch durchaus respektabel gewesen, so sind die letzten drei Jahre tatsächlich die längste Phase einer wirtschaftlichen Stagnation in der gesamten Nachkriegsgeschichte gewesen, und das nicht nur in Österreich. Besonders stark war Deutschland von der europäischen Wachstumsschwäche betroffen, aber auch in Österreich blieb das Wachstum unter dem EU(15)-Durchschnitt (siehe Grafik 1: »BIP-Wachstum Österreich und EU 1996 bis 2003«).
»Treffsicherheit«
Dass Österreich beim Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren nicht einmal mit dem nur sehr mäßigen EU-Durchschnitt Schritt halten konnte, ist der einseitig orientierten Wirtschaftspolitik der Regierung zuzuschreiben, die der raschen Erreichung des Ziels »Null-Defizit« den Vorrang vor allen anderen Zielsetzungen, also auch vor Wachstum und Beschäftigung eingeräumt hat - ohne diese Ziel letztlich zu erreichen. Im Zuge des forcierten Defizitabbaus in den Jahren 2001 bis 2002 wurden die Steuern auf breiter Front (nicht nur die Lohnsteuer, sondern auch verschiedene Verbrauchsteuern und Gebühren) erhöht und Sozialleistungen gekürzt (so genanntes »Treffsicherheits-Paket«, Pensionsreformen). Der Einkommens- und damit Nachfrageausfall führte zu fühlbaren Einbußen bei Wachstum und Beschäftigung. Die in einer Phase sinkender Beschäftigung dringend gebotene Intensivierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik unterblieb, die Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation wurde passiv hingenommen.
Geringe reale Lohn- und Gehaltszuwächse
Kumuliert betrug der Einkommenszuwachs vor Steuern und Sozialabgaben pro Arbeitnehmer in den vier Jahren 2000 bis 2003 nominell 8,8 Prozent. Nach Abzug der Inflation, von der ein gar nicht so geringer Teil auf Steuer- und Gebührenerhöhungen zurückzuführen ist, verbleibt ein Realeinkommensanstieg von nur 2,1 Prozent, der sich durch steigende steuerliche Abzüge noch weiter auf 1,9 Prozent reduziert (siehe Tabelle 1: »Lohnanstieg«).
Die in den Kollektivvertragsabschlüssen vereinbarten Lohnerhöhungen ergaben gemessen mit dem in seiner Gewichtung allerdings veralteten Index der Kollektivvertragslöhne für die Jahre 2000 bis 2003 eine etwas stärkere Zunahme (9,7 Prozent). Das deutet darauf hin, dass die Marktvorgänge auf dem Arbeitsmarkt (Arbeitsplatzwechsel, Änderung der Beschäftigtenanteile der einzelnen Branchen) die Einkommensentwicklung negativ beeinflusst haben. Nach sozialer Stellung unterschieden zeigt sich, dass die Arbeiterlöhne am meisten gestiegen sind, etwas weniger, aber immer noch über der Inflationsrate die Angestelltengehälter. Die Zunahme der Beamteneinkommen blieb hinter der Inflationsrate zurück, erst 2003 gab es hier ein gewisses Aufholen (siehe Grafik 2: »Tariflöhne- und Verbraucherpreisindex 1998 bis 2003«).
Der vom Markt ausgehende Druck auf die Entwicklung der Löhne lässt sich an den Überzahlungen im Bereich der Industrie ablesen, für den statistische Daten vorliegen.
Die Effektivlöhne der Industriearbeiter lagen 1998 noch um 20,9 Prozent über den Kollektivvertragslöhnen, 2002 betrug dieser Abstand nur noch 17,4 Prozent. Bei den Gehältern der Industrieangestellten war diese Differenz mit zuletzt 22 Prozent etwas größer und nur leicht rückläufig.
Höchste Einkommen nach Wirtschaftsklassen
Nach Wirtschaftsklassen betrachtet, erzielten im Jahr 2002 männliche Beschäftigte die höchsten Einkommen in der Bank- und Versicherungsbranche mit einem mittleren Einkommen (»Median«) von 2938 Euro monatlich (gerechnet 14mal im Jahr), gefolgt von der Energie- und Wasserversorgung (2920 Euro) und mit größerem Abstand von den Wirtschaftsklassen Papier, Druck und Verlag (2418 Euro) sowie Elektrotechnik (2416 Euro). Für die weiblichen Beschäftigten ist ebenfalls das Bank- und Versicherungswesen die am besten bezahlende Branche (1870 Euro), danach die Energie- und Wasserversorgung (1779 Euro) und der öffentliche Dienst (eine exakte Zahl ist für 2002 nicht verfügbar) sowie die chemische Industrie (1737 Euro).
Auffallend ist ein deutliches Einkommensgefälle von der Sachgütererzeugung zu den Dienstleistungsbranchen, besonders ausgeprägt bei den Männern: der weitaus überwiegende Teil der männlichen Beschäftigten in der Sachgütererzeugung arbeitet in Branchen mit überdurchschnittlicher Entlohnung, während in den Dienstleistungsbranchen die Bezahlung nur im Bank- und Versicherungswesen über dem Durchschnitt liegt, sonst überall mehr oder weniger deutlich darunter.
Bei den weiblichen Beschäftigten sind diese sektoralen Differenzen weniger stark ausgeprägt. Insgesamt wirkt sich die langfristig beobachtbare Verschiebung der Wirtschaftsstruktur daher insofern zu Ungunsten der Arbeitnehmer aus, als die Beschäftigung in der Sachgütererzeugung zurückgeht und die Beschäftigungszunahme vor allem in Branchen mit unterdurchschnittlicher Entlohnung erfolgt. Um so wichtiger ist daher die solidarische Lohnpolitik der Gewerkschaften, die das Ziel verfolgt, mit den jährlichen Kollektivvertragsabschlüssen über die Kaufkraftsicherung hinaus für alle Beschäftigten einen möglichst gleichmäßigen Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszunahme zu erreichen.
Ungleichheit der Einkommensverteilung nimmt zu
Neben dem wirtschaftlichen Strukturwandel wirkt die zunehmende Arbeitslosigkeit auf eine Vergrößerung der Einkommensunterschiede hin, da Personen mit geringerer Qualifikation und Entlohnung deutlich überproportional von der Arbeitslosigkeit betroffen sind und sich dort das Verhältnis von Angebot und Nachfrage am deutlichsten zu Ungunsten der Arbeitnehmer verschiebt. Es ist bereits im letzten Bericht (1999) eine leichte Zunahme der Ungleichheit der Verteilung der Löhne und Gehälter festgestellt worden, die sich auch über den Zeitraum von 1998 bis 2002 fortgesetzt hat.
Ein grobes Maß der Einkommensunterschiede ist der so genannte »Quartilsabstand«. Dazu wird die Gesamtheit der ihrer Größe nach gereihten Einkommensbezieher in vier gleich große Gruppen geteilt und der Unterschied zwischen dem obersten und dem untersten Viertel berechnet. Für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer exklusive Beamte betrug das untere Quartil in Prozent des oberen Quartils 1998 52,4 Prozent, 2002 nur noch 51,6 Prozent. Diese Zunahme der Ungleichheit ist zwar nicht dramatisch, bei Anhalten dieser Tendenz driften aber die Einkommen längerfristig weiter auseinander. 1995 lag der entsprechende Wert noch bei 53,5 Prozent. Dass die Tendenz für Männer weniger stark ausgeprägt ist als für die Frauen, ist nicht zuletzt auch auf die starke Zunahme der Teilzeitarbeit bei den Frauen in den letzten Jahren zurückzuführen.
Vergleich mit USA und Großbritannien
Im Vergleich mit den USA und mit Großbritannien, wo in den letzten zwanzig Jahren die Einkommensungleichheit unter den unselbständig Beschäftigten massiv zugenommen hat, ist die Entwicklung in Österreich immer noch sehr moderat, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern (z. B. Deutschland, Holland, skandinavische Länder).
Hier zeigt sich, welchen Unterschied es ausmacht, wenn die Gewerkschaften über die Kollektivverträge die Lohnentwicklung maßgeblich mitgestalten können, und welche Einkommensabsicherungen die sozialen Sicherungssysteme leisten, insbesondere die Arbeitslosenversicherung.
Einkommensunterschiede Männer/Frauen
Ohne Berücksichtigung der Veränderungen der Arbeitszeiten zeigt sich etwa seit 1995 eine gewisse Zunahme des Einkommensabstandes zwischen Männern und Frauen, während sich bis dahin der Abstand verringert hatte. 2002 lag das mittlere Einkommen der Arbeiterinnen bei 61,5 Prozent des Lohnes der männlichen Arbeiter. Bei den Angestellten lag diese Relation bei 59,5 Prozent, lediglich bei den Beamten kamen die Frauen mit fast 95 Prozent knapp an die Einkommen der Männer heran.
Die Daten des für 2001 vorliegenden »Einkommensberichts« von Statistik Austria erlauben einen Vergleich der Einkommen von ganzjährig Beschäftigten mit mehr als 35 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit nach den Funktionen im Beruf. Sie sind also eine Annäherung an den »Vergleich von Frauen- und Männereinkommen bei gleichen Arbeitsbedingungen« (siehe Tabelle 2).
Während die Einkommensnachteile der Frauen in den unbereinigten Daten bei 40 Prozent der Männereinkommen bewegen, betragen sie in dieser Betrachtung zwischen 13 Prozent und 32 Prozent (die FacharbeiterInnen sind in der Erhebung nur sehr schwach vertreten). Dies ist um so dramatischer, als dabei bereits ein Großteil der »Erklärungen« wie Arbeitszeitunterschiede und unterschiedliche Arbeitsanforderungen ausgeschaltet wurden. Es ist also von einem Einkommensnachteil von 20 Prozent auszugehen, der nur auf das Geschlecht zurückzuführen ist. Ein Einkommensnachteil von 10 Prozent kann als absolute Untergrenze gelten.
Betrachtet man die arithmetischen Mittelwerte der Einkommen und berechnet man die hypothetischen Durchschnittseinkommen der Frauen, die sich ergäben, wenn sie sich auf die einzelnen Funktionen so verteilen würden wie die Männer, so liegt dieses hypothetische Durchschnittseinkommen um 27 Prozent unter jenem der Männer.
Zunahme der Teilzeitarbeit von Frauen
Im Bereich der Arbeitszeit gibt es in den letzten Jahren ziemlich spektakuläre Veränderungen bei der Teilzeitarbeit (Arbeitszeit mehr als 12 und weniger als 36 Stunden wöchentlich) und bei der Lage der Arbeitszeit. Im Jahr 2002 waren bereits fast 470.000 Personen teilzeitbeschäftigt, davon waren 420.000 Frauen. In Prozent aller Beschäftigten (»Teilzeitquote«) ergab sich eine Zunahme von 10,6 Prozent 1995 auf 15,1 Prozent 2002. Dass die Teilzeitarbeit überwiegend weiblich ist, zeigt sich an der hohen Teilzeitquote der Frauen von 31,8 Prozent 2002 (1995: 24 Prozent).
Stagnierende Beschäftigung bedeutet steigende Arbeitslosigkeit
Seit der zunehmenden Differenzierung der Arbeitszeitformen wird auch die Lage der Arbeitszeit genauer erhoben. Regelmäßig am Samstag arbeiten etwa 20 Prozent der Beschäftigten, am Sonntag etwa 10 Prozent (Angaben für 2002). Zugenommen hat seit 1997 die Arbeit am Abend zwischen 20 und 22 Uhr, nämlich von 304.000 auf 430.000 Beschäftigte.
Bei der schwachen Wirtschaftsentwicklung, die Österreich in den letzten drei Jahren hatte, ist die Stagnation der Beschäftigung eine praktisch unausweichliche Konsequenz. Die offiziellen Zahlen über eine steigende so genannte »Gesamtbeschäftigung« geben hier insofern ein falsches Bild, als darin die KindergeldbezieherInnen enthalten sind, deren Zahl nach der Ausweitung der Ansprüche auf diese Leistung stark gestiegen ist. Maßgeblich ist die »Produktivbeschäftigung«, das sind alle tatsächlich in Arbeit stehenden Personen, und deren Zahl hat seit 2000 um 6200 zugenommen (+0,2 Prozent), also stagniert. Im selben Zeitraum hat das Arbeitskräfteangebot nicht unerheblich zugenommen, und zwar vor allem aus zwei Gründen:
Insgesamt ergab sich daher bei annähernd gleich bleibender Beschäftigung eine massive Zunahme der Arbeitslosigkeit. Im Jahresdurchschnitt wurde 2003 mit 240.000 der höchste Wert nach 1945 registriert, das sind gegenüber dem Jahr 2000 um 45.800 oder 23,5 Prozent mehr. Durch die stark erhöhte Zahl der nicht als Arbeitslose erfassten Schulungsteilnehmer unterschätzen diese Zahlen sogar das Ausmaß der Verschlechterung. Die Zahl der von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen ist dabei deutlich höher: 2002 waren dies 751.600 (Daten 2003 noch nicht verfügbar), nach 688.900 im Jahr 2000.
Die Arbeitslosenrate gemessen an der Zahl der unselbständig Beschäftigten stieg von 5,8 Prozent im Jahr 2000 auf 7 Prozent 2003. Dass die Arbeitslosenrate nach Eurostat-Definition mit 4,5 Prozent (2003) im Vergleich zu den anderen EU-Ländern und zum EU-Durchschnitt von 8,1 Prozent immer noch niedrig ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Arbeitsmarktlage in Österreich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert hat (siehe Grafik 4: »Arbeitslosenraten 2000 bis 2003«).
Nach Wirtschaftssektoren und Branchen betrachtet setzte sich gerade in der Phase der Stagnation die bereits erwähnte Umschichtung von der Sachgütererzeugung zu den Dienstleistungen (Tertiärsektor) beschleunigt fort. 2003 waren nur noch 28,2 Prozent aller Arbeitnehmer in der Sachgütererzeugung beschäftigt, der seit 2000 46.500 Beschäftigte verloren hat. Fast 71 Prozent arbeiten in dem in sich sehr heterogenen Dienstleistungsbereich, um 52.000 mehr als 2000. Die fortgesetzte Expansion des Tertiärsektors ermöglicht eine weitere Zunahme der Frauenbeschäftigung um 33.500 von 2000 bis 2003, während die Zahl der männlichen Arbeitnehmer um 27.300 zurückging.
Innerhalb des Tertiärsektors war die Beschäftigung in den beim Einkommen an der Spitze liegenden Branchen Bank- und Versicherungswesen und öffentliche Verwaltung rückläufig. Die Beschäftigung im Handel stagnierte, Beschäftigungszunahmen gab es bei den unternehmensbezogenen Dienstleistungen, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Unzureichende Lohnsteuersenkung nach Belastungswelle
Die einseitige Fixierung der gesamten Wirtschaftspolitik der ÖVP-FPÖ-Regierung auf das Ziel Nulldefizit hat zu einer stark prozyklischen Budgetpolitik geführt. Vor allem durch Steuererhöhungen wurde das Budgetdefizit des Gesamtstaats parallel zu der 2001 voll einsetzenden Konjunkturabschwächung mit mehr oder weniger Gewalt auf Null gedrückt. Die finanziellen Belastungen der Arbeitnehmer erreichten in den Jahren 2001 und 2002 jeweils etwa zwei Milliarden Euro, wobei Entlastungen (z. B. Kindergeld) berücksichtigt und die Wirkung der Pensionsreform nicht eingerechnet ist. Auch angesichts einer sich ständig weiter verschlechternden Konjunktur- und Arbeitsmarktsituation konnte sich die Regierung nicht zu nennenswerten Konjunkturimpulsen aufraffen. Die 2004 wirksam werdende Lohn- und Einkommensteuersenkung wird durch die »Gegenfinanzierungen« (neuerliche Energiesteuererhöhung, Anhebung von Sozialversicherungsbeiträgen) überkompensiert. Dem konjunkturpolitisch dringend gebotenen Vorziehen der im Regierungsprogramm für 2005 angesagten »großen« Steuerreform hat sich die Regierung endgültig widersetzt.
Die nun bekannt gewordenen Maßnahmen dieser Steuerreform 2005 haben noch vorhandene positive Erwartungen auf Arbeitnehmerseite schwer enttäuscht und die Befürchtungen hinsichtlich einer interessenpolitisch extrem einseitigen Orientierung der Regierung bestätigt, ja übertroffen. Unter dem Vorwand einer angeblichen gefährlichen Konkurrenzierung des Wirtschaftsstandortes Österreich durch die Niedrigsteuerpolitik der Slowakei wird nun die Körperschaftssteuer um mehr als ein Viertel, nämlich von 34 auf 25 Prozent gesenkt. Damit bleiben von dem im Budgetprogramm mit 2,5 Milliarden Euro festgesetzten Spielraum für eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer nur noch 1,1 Milliarden Euro übrig. Das heißt, dass die vorangegangenen Belastungen der Unternehmungen zu weit mehr als 100 Prozent wieder rückgängig gemacht werden, bei den Arbeitnehmern aber kaum mehr als die Hälfte. Ein großer Teil der Arbeitnehmer wird gar nicht oder nicht nennenswert von der angeblich »größten Steuerreform aller Zeiten« profitieren.
Wenn eine bloß verteilungspolitische Bewertung der Steuerreform zweifellos zu einseitig wäre: auch unter konjunktur- und wachstumspolitischen Gesichtspunkten erscheint diese Steuerreform verfehlt. Sie bringt nicht die kurzfristig so notwendige Stärkung der Nachfrage und sie bietet keinen Anreiz für mehr Investitionen oder mehr zukunftsorientierte Aufwendungen der Unternehmungen für Forschung und Entwicklung oder Aus- und Weiterbildung.
Verschlechterungen bei den sozialen Sicherungseinrichtungen
Die beschäftigungspolitische Strategie der Regierung ist seit 2000 auf der einen Seite durch eine rezessionsverschärfende Fiskalpolitik und auf dem Arbeitsmarkt durch eine tendenzielle Verschlechterung von sozialen Sicherungseinrichtungen gekennzeichnet, durch die der Druck auf Arbeitskräfte, die ihren Arbeitsplatz verlieren, verstärkt wird, zu ungünstigeren Bedingungen eine neue Arbeit anzunehmen. Die Ersatzquote des Arbeitslosengeldes wurde leicht abgesenkt, eine Valorisierung während des Bezuges findet nicht mehr statt. Zwischen 1999 und 2002 ist das durchschnittliche Arbeitslosengeld (Taggeld) real um 1,9 Prozent gesunken, die Notstandshilfe sogar um 4,6 Prozent.
Während die Aufwendungen für Arbeitslosengeld und Notstandshilfe infolge der höheren Arbeitslosenzahlen zugenommen haben, ist im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik die so dringend geforderte Intensivierung der Maßnahmen unterblieben. Die Zahl der geförderten Arbeitslosen hat mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht Schritt gehalten. Maßnahmen zur beruflichen Orientierung, zur Unterstützung der Arbeitssuche und zur Vermittlung reiner Anpassungsqualifikationen überwiegen, echte berufliche Umschulung findet immer weniger statt. Die ohnehin bescheidene Steigerung des Budgets der aktiven Arbeitsmarktpolitik 2002/03 war nur vorübergehend, 2004 fällt ihr Finanzierungsvolumen wieder zurück auf den Stand von 1999/2000, als die Arbeitslosigkeit noch deutlich geringer war.
Bei der schlechten Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre hatte die Erhöhung des Pensionsalters eine Zunahme der Arbeitslosigkeit zur Folge und dadurch eine Verschiebung der Kosten vom Pensionssystem in das System der Arbeitslosenversicherung. Zwar ist erstmals seit vielen Jahren die Zahl der Frühpensionen gesunken. Zugleich ist aber auch die Zahl der Arbeitslosengeld- und NotstandshilfebezieherInnen sowie der BezieherInnen von Pensionsvorschüssen deutlich angestiegen. Dem Rückgang von 11.000 Frühpensionen seit 1999 stand bis 2002 ein Zuwachs von 17.000 Arbeitslosenleistungen (inklusive Pensionsvorschüsse) gegenüber. Nicht berücksichtigt ist hier der Zuwachs von Leistungen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Insgesamt bedeutet diese Entwicklung, dass zuletzt mehr unselbständig Erwerbstätige auf Sozialleistungen angewiesen waren und durch die Verlagerung vom Pensionssystem hin zur Arbeitslosenversorgung das Versorgungsniveau von tausenden Menschen gesunken ist.
Einen beachtlichen Zuwachs an LeistungsbezieherInnen brachte die Verlängerung des Karenzgeldes bzw. die Einführung des Kinderbetreuungsgeldes mit sich. Bis Ende 2003 hat sich deren Zahl (netto) um annähernd 60.000 erhöht. Dies brachte zwar eine Entlastung am Arbeitsmarkt mit sich, hat aber die Chancen der betroffenen Frauen auf einen baldigen Wiedereinstieg verschlechtert, wenn auch nicht ganz so dramatisch, wie ursprünglich befürchtet worden war.
Ein eindrucksvolles Beispiel für langfristig positive Effekte der Sozialpolitik ist der Rückgang der Zahl der Arbeitsunfälle von 121.100 im Jahr 1999 auf 107.500 im Jahr 2002. Damit setzte sich hier insgesamt und besonders erfreulicherweise auch bei der Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle der seit Mitte der neunziger Jahre beobachtbare Trend fort.
R E S Ü M E E
Die Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Österreich steht nach der Wende zum 21. Jahrhundert im Zeichen der Stagnation. Die ohnehin recht bescheidene Zunahme des Durchschnittseinkommens wurde durch die Steuererhöhungen im Jahr 2001 empfindlich reduziert. Die Arbeitsmarktsituation drückte auf die Lohnentwicklung und hatte auch ein gewisses Zurückbleiben der unteren Einkommen hinter dem Durchschnittseinkommen zur Folge. Die maßgeblich von den Kollektivvertragsabschlüssen bestimmte Lohnentwicklung hat allerdings ein deutlicheres Auseinanderklaffen verhindert. Die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen haben leicht zugenommen - eine Entwicklung, die weitgehend auf die starke Zunahme der Teilzeit bei Frauen zurückzuführen ist.
Fühlbar verschlechtert hat sich die Lage der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die massive Zunahme der Arbeitslosigkeit bei stagnierender Beschäftigung. Die Regierung hat bewusst darauf verzichtet, hier gegenzusteuern, sie hat durch die forcierte Budgetkonsolidierung in einer Phase des Konjunkturabschwungs und der Wachstumsschwäche die Lage sogar noch verschärft. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wurde nicht den gestiegenen Erfordernissen entsprechend intensiviert. Die Erhöhung des Pensionsalters und die Senkung der Ersatzquote bei der Arbeitslosenversicherung hat den Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt verstärkt. Eine Ausweitung im Bereich der Sozialleistungen gab es nur durch die Reform beim Kindergeld.
Grob enttäuscht wurden letztendlich auch alle Hoffnungen auf Seiten der Arbeitnehmer, die von der groß angekündigten Steuerreform in der zweiten Legislaturperiode der ÖVP-FPÖ-Regierung wenigstens eine gewisse Korrektur der wirtschafts- und verteilungspolitischen Orientierung erwartet hatten. Die Steuerreform 2005 kommt nicht nur aus beschäftigungspolitischer Sicht zu spät, sondern begünstigt durch die Senkung der Körperschaftsteuer extrem einseitig die Unternehmungen und nimmt bei den Arbeitnehmern gerade einmal die Einkommensverluste durch die »kalte Progression« zurück. Aus dieser Bewertung ergibt sich die Forderung nach einer grundlegenden Neuausrichtung der Budget-, Steuer-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, für die Arbeiterkammer und ÖGB seit Jahren eintreten. Sie werden dies auch künftig tun und ihre Alternativen in die öffentliche Diskussion einbringen.
Was ist zu tun? Die Regierung sagt ja, ihr sind die Hände gebunden, wenn die internationale Konjunktur nicht anspringt.
Tumpel: Das ist nur eine Ausrede! Natürlich sind wir in Österreich nicht unberührt von der weltweiten wirtschaftlichen Lage. Aber die Regierung kann selbst für mehr Arbeit in Österreich sorgen - wenn sie will. 30.000 zusätzliche Arbeitsplätze sind sehr rasch möglich, wenn die Regierung die kleinen und mittleren Einkommen steuerlich entlastet und mehr Geld in den Ausbau von Straße, Schiene und Telekommunikation investiert. Wir brauchen diese 30.000 Arbeitsplätze ganz dringend - weil heuer wird ein schlimmes Jahr auf dem Arbeitsmarkt. Und diese Entwicklung zeichnet sich schon lange ab. Seit mehr als drei Jahren steigt die Zahl der Menschen, die dringend Arbeit suchen - Monat für Monat. Die Arbeitslosigkeit ist das größte Problem, das Österreich derzeit hat. Daher auch meine zentrale Forderung an die Regierung: Schafft endlich Arbeit!
Aber angeblich, sagt zumindest die Regierung, haben wir in Österreich ja trotz steigender Arbeitslosigkeit Rekordbeschäftigung und liegen auch international gut.
Tumpel: Beides stimmt nicht. Von Rekordbeschäftigung kann gar keine Rede sein, wir haben keine Rekordbeschäftigung in Österreich - das bestätigt auch das Wirtschaftsforschungsinstitut. Und international liegt Österreich bei der Beschäftigung weit weg von der Spitze.
Aber mir geht es auch nicht um irgendwelche internationalen Schönheitswettbewerbe, mir geht es darum, dass wir in Österreich was gegen die Arbeitslosigkeit tun. Und da passiert viel zu wenig. Der offizielle angebliche Beschäftigungszuwachs geht zu 90 Prozent auf die neuen Kindergeldregeln zurück - mehr Frauen und Männer können länger das Kindergeld beziehen. Und diese Personen werden in der Statistik als Beschäftigte gezählt, wenn sie zum Kindergeld was verdienen, werden sie sogar doppelt gezählt. Das hat mit einer Rekordbeschäftigung aber nichts zu tun. Seit dem Jahr 2000 sind in Österreich 61.000 Vollzeit-Arbeitsplätze verlorengegangen. Teilzeitjobs ersetzen immer öfter Vollzeitarbeitsplätze. Das zeigt ganz deutlich: Wir brauchen mehr Arbeitsplätze, mehr Beschäftigung.
Zu mehr Beschäftigung soll, sagt die Regierung, ja die Steuerreform führen.
Tumpel: Nicht einmal in der Theorie. Das ist eine Steuerreform für große Unternehmen und Bauern, aber ganz sicher nicht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Steuerreform geht in die falsche Richtung. Sie kommt zu spät, sie entlastet die kleinen und mittleren Einkommen nicht und sie bringt praktisch nichts für mehr Beschäftigung. Für Großunternehmen wird die Steuer gesenkt, obwohl kaum wo in Europa Unternehmer tatsächlich so wenig Steuern zahlen wie in Österreich. Ein Durchschnittsverdiener bekommt 2005 weniger als 20 Euro Entlastung heraus. Für mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Pensionisten gibt’s überhaupt keine Steuerentlastung, sondern nur Belastungen - wie die höhere Steuer auf Heizöl, Gas oder Kohle oder die höheren Krankenversicherungsbeiträge. Für über 800.000 Kinder in Familien, wo beide Elternteile arbeiten gehen müssen, damit das Geld ausreicht, bringt diese Reform überhaupt nichts. Auf der anderen Seite bekommt ein Generaldirektor, der allein mehr verdient als ein Arbeiterehepaar zusammen, den höheren Alleinverdienerabsetzbetrag. Die Bauern bekommen zig Millionen Euro für den billigeren Diesel. Hunderttausende Pendler werden mit einer Mini-Entlastung abgespeist. Das sind die Fakten. Das soll eine faire Steuerreform sein? Das ist keine Steuerreform, die diesen Namen auch verdient. Ich will eine Steuerreform, die die kleinen und mittleren Einkommen wirklich entlastet. Das ist fair und gerecht nach all den Belastungen der vergangenen Jahre. Und das kurbelt die Wirtschaft an und schafft Arbeitsplätze! Der Vergleich ist eindeutig: Die Steuerreform der Regierung bringt nur 0,4 Prozent zusätzliches Wachstum und maximal 5000 Arbeitsplätze. Zwei Milliarden Entlastung für die kleinen und mittleren Einkommen, so wie sie AK und Gewerkschaften fordern, bringen, zusammen mit zusätzlichen Investitionen in die Infrastruktur, 1,5 Prozent zusätzliches Wachstum und 30.000 Arbeitsplätze. Das ist eine Steuerreform, wie sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen und wie ich sie von der Regierung verlange.
Besonders die Jungen haben es derzeit auf dem Arbeitsmarkt nicht leicht.
Tumpel: Ja, und das macht mich sehr betroffen. Wir haben 30 Jahre lang praktisch keine Jugendarbeitslosigkeit gehabt in Österreich. Und jetzt so etwas! Zehntausende Junge haben keine Arbeit und keine Chance auf eine gscheite Ausbildung, mit der sie eine gute Zukunft auf dem Arbeitsmarkt haben. Die Wirtschaft bietet immer weniger Lehrstellen an - wenn ein junges Mädchen in Wien EDV-Technikerin lernen möchte, bekommt sie zu hören: geh halt nach Tirol - dort brauchen’s eh Lehrlinge im Fremdenverkehr. Was muss sich ein Jugendlicher denken, wenn er was Gscheites lernen will und dann bekommt er so was zu hören. Oder die Mädchen und Burschen bekommen nach langem Suchen zwar irgendeine Lehrstelle, aber nicht die, die sie wollten und nicht die, die ihre Eltern für sie wollten.
So kann es nicht weitergehen. Die Wirtschaft kann nicht immer weniger ausbilden und dann laut über einen angeblichen Facharbeitermangel jammern. Und auch da ist die Regierung gefordert. Für die Mädchen und Burschen, die keine Lehrstelle im Betrieb finden brauchen, wir genug und sichere Plätze im Auffangnetz für die Jugendausbildung. Die Jungen und ihre Eltern brauchen die Sicherheit, dass sie eine gute Ausbildung bekommen. Die Regierung muss auch dafür sorgen, dass es genug Plätze an den berufsbildenden Schulen gibt. Wenn sich an Schulen mit einem EDV-Schwerpunkt viermal, fünfmal, sechsmal so viele Junge anmelden, wie es in der ganzen Schule überhaupt Plätze gibt, kann man nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen. Ich fordere ein Zukunftspaket für die Jungen, damit sie die bestmögliche Ausbildung bekommen können. Wer bei der Bildung kürzt, nimmt den Jungen wichtige Chancen für die Zukunft.
Die AK hat das Recht auf Teilzeit, wie es die Regierung will, heftig kritisiert.
Tumpel: Ja, weil dieses so genannte Recht drei von vier Frauen ausschließt. Weil es nur in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten gelten soll - und das auch erst nach drei Jahren im Betrieb. Ich will ein Elternpaket mit ausreichend Kinderbetreuungsplätzen in guter Qualität, einem wirklichen Recht auf Teilzeit für die Eltern kleiner Kinder und familienfreundlichen Arbeitsplätzen - mit Betriebskindergärten, einer Mitgestaltungsmöglichkeit bei der Arbeitszeit für Eltern und Unterstützung für Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteiger, etwa bei Bildungsmaßnahmen.
Bildung, Weiterbildung wird ja für alle Arbeitnehmer immer wichtiger.
Tumpel: Natürlich - und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wissen das ganz genau. Vier von fünf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sagen: Weiterbildung ist für mich wichtig. Und es werden immer mehr. Aber nur ein Drittel der Arbeitnehmer kommt im Betrieb bei der Weiterbildung zum Zug. Die so genannten Älteren, Frauen oder weniger Qualifizierte haben überhaupt fast keine Chance auf eine Weiterbildung im Unternehmen. Dabei wäre das ganz wichtig: Eine einzige Stunde EDV-Kurs kann schon so viel kosten, wie eine Arbeiterin an einem ganzen Tag verdient. Für viele ist das unerschwinglich. Und in dieser Situation hat die Regierung das Budget für die Weiterbildung um ein Viertel gekürzt - das ist unverantwortlich. Gerade jetzt, wo die Lage auf dem Arbeitsmarkt so schwierig ist, brauchen alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Chance zur Weiterbildung. Die Unternehmen und die Regierung müssen was tun. Weil eines ist klar: Gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Nulltarif wirds nicht geben.
Es scheint, als wollte die Wirtschaft diese angeblich fehlenden Fachkräfte lieber aus dem Ausland importieren.
Tumpel: Den Eindruck hab ich auch. Vielen kann es mit der EU-Erweiterung und der Öffnung des Arbeitsmarktes gar nicht schnell genug gehen. Da wird behauptet, es fehlen Fachkräfte und daher müssen die Grenzen gleich ganz aufgemacht werden. Wir haben nicht zu wenig Fachkräfte, wir haben zu viele Arbeit Suchende. Wenn Fachkräfte fehlen sollten, dann höchstens die, die salopp gesagt, einige in der Wirtschaft so gerne hätten: 35-jährige gut ausgebildete Männer, die bereit sind, für den halben Lohn doppelt so lange zu arbeiten.
Im Klartext: Mit der Osterweiterung wird der Druck auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steigen. Ich höre immer - es wird ja niemand kommen, nicht einmal die Ostslowaken wandern in die Westslowakei. Wir haben uns das ganz genau angeschaut. Wenn ein Ostslowake nach Bratislava wandert, kann er sein Gehalt "ver-1,6-fachen". Wenn er die paar Kilometer nach Wien weiterfährt, kann er sein Gehalt versechsfachen. Natürlich besteht für viele der Anreiz, in Österreich zu arbeiten. Wir brauchen daher Schutz für den Arbeitsmarkt: Wir brauchen dringend Maßnahmen, die den organisierten illegalen Schwarzunternehmern das Handwerk legen. Das sind keine einzelnen schwarzen Schafe. Das ist organisierter, systematischer Sozialbetrug. Da werden Kolleginnen und Kollegen um ihren Lohn betrogen, für den sie hart gearbeitet haben. Da werden die Krankenkassen um Millionen betrogen - alleine die bei der Gebietskrankenkasse Wien ausständigen Beitragszahlungen der Bauwirtschaft machen über 164 Millionen Euro aus. Die Regierung macht viel zu wenig. Bis 2006 werden 70.000 Arbeitnehmer aus dem Ausland in Österreich arbeiten. Das alles vor dem Hintergrund einer Arbeitsmarktlage, wie sie dramatischer kaum sein kann.
Wir haben jetzt schon zu viele Praktikanten aus Osteuropa, die als billige Regalschlichter und Künettengräber eingesetzt werden und in Wahrheit nichts lernen und ungarische Grenzgänger, die nicht, wie vorgesehen, nur im Burgenland arbeiten, sondern für österreichische Frächter als billige Lkw-Lenker quer durch ganz Europa fahren. Mit noch mehr Praktikanten, Grenzgängern, Saisoniers und weiteren Beschäftigungsabkommen unterläuft die Regierung die Übergangsfrist zum Schutz des österreichischen Arbeitsmarktes völlig. Es darf aber nicht sein, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Verlierer der Erweiterung werden. Und die Regierung macht auch sonst nichts, um Österreich auf die Erweiterung vorzubereiten. Wir brauchen dringend einen Ausbau von Straße und Schiene, damit Österreich bei der Erweiterung nicht im Verkehr erstickt. Außer einem Generalverkehrsplan, der das Papier nicht wert ist, ist nichts passiert. Wir brauchen dringend mehr Geld für die Aus- und Weiterbildung. Es reicht nicht, immer nur von den Chancen der Erweiterung zu reden. Die Regierung muss auch den Risiken vorbeugen.
Die Erweiterung dient ja jetzt auch als Argument für die Senkung der Unternehmenssteuern.
Tumpel: Ja, und das ist völlig absurd. Zuerst haben die Wirtschaftsvertreter gejubelt, dass mit der Erweiterung angeblich alles wunderbar wird. Jetzt drohen sie damit, in die Erweiterungsländer abzuwandern, wenn für sie in Österreich nicht die Unternehmenssteuern gesenkt werden. Dabei ist die effektive Körperschaftssteuer, die die Unternehmen unterm Strich wirklich zahlen, kaum wo niedriger als in Österreich.
Meine Hauptkritik ist, dass die Körperschaftssteuer einfach so mit der Gießkanne gesenkt wird. Da wird nicht geschaut, ob die Unternehmen investieren, ob sie was tun für die Ausbildung oder die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, ob sie den Jungen eine Chance geben. Das ist einfach ein warmer Geldregen für die Unternehmen. Die österreichische Regierung muss sich darüber hinaus in Brüssel auch für einheitliche Unternehmenssteuern einsetzen. Es kann nicht sein, dass in Brüssel alles und jedes geregelt wird, aber bei den Unternehmenssteuern jeder machen kann, was er will. Österreich zahlt als Nettozahler viele hundert Millionen, damit Länder wie die Slowakei den Anschluss an die EU schaffen können. Und was machen die Slowaken? Sie nutzen das Geld, um mit einem Steuerwettbewerb nach unten österreichische Unternehmen anzulocken. Das muss schleunigst gestoppt werden. Es kann ja nicht sein, dass am Ende nur mehr die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den vollen Steuersatz zahlen!
Kollege Tumpel, du bist seit 1997 Präsident der Arbeiterkammer. Was sind die wichtigsten Veränderungen in dieser Zeit und was sind die Herausforderungen für die Zukunft?
Tumpel: Die wichtigste Veränderung ist, dass die Arbeitnehmer mit einer Bundesregierung konfrontiert sind, die sie einseitig belastet. Aber wir in der AK suchen uns keine Regierung aus. Wir vertreten ganz konsequent die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Unsoziale Unfallrentensteuern, eine so genannte Pensionsreform, die schon im ersten Jahr gerade den so genannten Hacklern zehn Prozent Pension wegnimmt, eine Alibi-Steuerreform, eine völlig verfehlte Arbeitsmarktpolitik - wir zeigen das klar und konsequent auf. Wir sind aber auch ein moderner Dienstleister, auf den sich unsere Mitglieder verlassen können. Wir von der AK treten in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften dafür ein, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur Rechte haben, sondern auch Recht bekommen. Betriebsräte, Gewerkschafter, wir in der AK - wir wissen, welche Probleme die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben und die Arbeitnehmer wissen: Wir sind für sie da! Wer die AK als starke Interessenvertretung will, muss sie wählen! Die AK Wahl 2004 - das ist unsere Wahl!
ZUR PERSON HERBERT TUMPEL
Beharrlichkeit für Arbeitnehmeranliegen
Herbert Tumpel, geboren 1948, ist seit 1997 Präsident der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien und Präsident der Bundesarbeitskammer.
Tumpel ist ausgebildeter Textilingenieur und studierter Nationalökonom und begann 1973 als Mitarbeiter im volkswirtschaftlichen Referat des ÖGB, dessen Leitung er 1983 übernahm. 1987 wurde Herbert Tumpel Leitender Sekretär des ÖGB, zuständig für Grundsatzfragen und Finanzen.
Der AK-Präsident - Eigendefinition: beharrlich, wenn es um die Anliegen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht - entspannt beim Laufen, Kochen und Lesen.
Die große Herausforderung
Nun stehen aber gerade einige harte Herausforderungen an: Wenn das Lissabon-Ziel der Vollbeschäftigung erfüllt werden soll, müssten bis 2010 - man möchte fast sagen: theoretisch! - in der EU-25 insgesamt noch 22 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Schaffung dieser Arbeitplätze ist eng mit der Investition in Humankapital verbunden, wie sie der ESF vorsieht. Doch das Beschäftigungs- und Armutsgefälle zwischen den Regionen ist immer noch groß und wird sich nach der Erweiterung verdoppeln. Es werden auch in Brüssel immer mehr Stimmen laut, die die Erfüllung der Lissabonziele als unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen für nicht machbar erklären.1)
Die Erweiterung im Mai wird unter dem Budgetrahmen stattfinden, der 1999 in Berlin beschlossen wurde. Die EU wird danach jedoch nicht mehr 15, sondern 25 Mitglieder zählen, und bis zu einer EU mit 28 Mitgliedern ist es nicht mehr weit. Das bedeutet einen Gebietszuwachs von mehr als einem Drittel und ein Viertel mehr Einwohner.
Damit wird auch die Zahl der Menschen, die in Regionen mit Entwicklungsrückstand leben, stark wachsen, nämlich von derzeit unter 70 Millionen auf 125 Millionen. Zugleich werden sich auch die Einkommensunterschiede vergrößern und die sozialen Unterschiede verschlimmern. Die Kaufkraft in den neuen Mitgliedsländern liegt bekanntlich deutlich unter dem derzeitigen EU-Durchschnitt.
Was kann der ESF?
Der Europäische Sozialfonds ist das wichtigste Finanzinstrument, mit dem die EU ihre beschäftigungspolitischen Ziele in konkrete Maßnahmen umsetzt. Er ist der älteste der so genannten Strukturfonds und wurde bereits 1957 im Vertrag von Rom verankert. Mit ESF-Mitteln wird seit über 40 Jahren in Programme investiert, die den Menschen helfen sollen, ihre Fertigkeiten und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu entwickeln.
Investition in Humankapital, also Ausbildung, Weiterbildung, Anpassungsfähigkeit und so fort, ist die Hauptaufgabe des ESF, zusammen mit der Umsetzung der Europäischen Beschäftigungsstrategie, die auf die Reform und Modernisierung der Arbeitsmärkte abzielt. Weitere Aufgaben sind Hilfestellungen bei der Armutsbekämpfung und die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt.
Die Programme, die die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen entwickeln oder wiederherstellen sollen, werden von den Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission erstellt und über Vermittler im öffentlichen und privaten Sektor umgesetzt. Zu diesen Vermittlern gehören unter anderen die Sozialpartner, also auch Gewerkschaften und Betriebsräte.
Während der Programmperiode von 2000 bis 2006 kommen 62,5 Milliarden Euro zum Einsatz. Dazu kommen noch 3 bis 4 Milliarden Euro für die neuen Mitgliedsstaaten für den Zeitraum von 2004-2006. Der ESF trägt zur Zeit etwa ein Drittel zur Gesamtsumme der insgesamt vier großen europäischen Strukturfonds2) bei.
Die Strukturfonds haben drei Ziele. Ziel 1 und 2 sind Regionen zugeordnet, das heißt Gebieten mit Entwicklungsrückstand und solchen mit strukturellen Schwierigkeiten. So hat das Burgenland Ziel-1-Status und damit Anspruch auf Fördermittel, die helfen sollen, den wirtschaftlichen Rückstand aufzuholen. Die Zahl dieser Ziel-1-Gebiete wird jedoch, wie erwähnt, ab Mai sprunghaft zunehmen.
Ziel 3, das den größten Anteil der ESF-Förderungen beansprucht, bezieht sich auf Themenbereiche, nämlich Beschäftigung, Ausbildung und Bildung. Der ESF finanziert auch die Gemeinschaftsinitiative EQUAL: Sie dient dazu, neue Wege gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung von ArbeitnehmerInnen und Arbeitsuchenden zu erproben.
EU-Projekte im ÖGB
Im EU-Projektbüro, das alle von der EU geförderten Projekte des ÖGB und der Gewerkschaften koordiniert, erfolgt auch die Koordination der Mitarbeit des ÖGB an EQUAL: der ÖGB ist an 24 der österreichweit 58 Entwicklungspartnerschaften - Netzwerke aus Teilprojekten - beteiligt und spielt vor allem in den Partnerschaften wie »Miteinander arbeiten und leben«, »Sensi_Tec« und »MIDAS« eine wesentliche Rolle.
Die Osterweiterung wird hier sehr positiv erlebt und gibt Anlass zu Optimismus. Elisabeth Mitter, verantwortlich für EQUAL im ÖGB, hält fest: »Netzwerke werden nach der Erweiterung wichtiger denn je werden. Wir arbeiten schon jetzt bei zahlreichen Projekten sehr intensiv mit den Beitrittsländern zusammen, ab Mai wird sich diese Zusammenarbeit noch verstärken.« Die Befürchtung, dass die Finanzmittel den Bedarf nach der Erweiterung nicht mehr abdecken könnten, teilt Mitter nicht: »Für gute Projekte wird es genauso wie bisher genügend Mittel geben.«
1) Darunter Wim Kok, Vorsitzender der Task Force »Beschäftigung«, deren Bericht vom letzten November pessimistisch ausfiel.
2) Die vier Strukturfonds sind: 1. Europäischer Sozialfonds ESF; 2. Europäischer Fonds für regionale Entwicklung EFRE; 3. Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft EAGFL; 4. Das Finanzierungsinstrument für die Ausrichtung der Fischerei FIAF.
I N F O R M A T I O N
EQUAL im ÖGB: ÖGB-Homepage unter
www.oegb.at
Europäische Kommission - Generaldirektion (GD) Beschäftigung und Soziales:
europa.eu.int/comm/employment_social/index_de.html
ESF Österreich:
www.esf.at
Schneewittchen
»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Aufrichtigste im ganzen Land?«
»Frau Königin, das seid ihr. Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, ist allerdings eine, die ist noch viel aufrichtiger als ihr«, heißt es doch schon beim Schneewittchen. Oder so ähnlich jedenfalls.
»Alle Kreter lügen, sagte der Kreter Epimenides.« Dieses berühmte Paradoxon wird durch das so freimütige und offenherzige Geständnis von Frau Benita würdig und trefflich ergänzt. Wie dürsten wir doch alle nach der Wahrheit und wie haben wir doch alle diese tägliche Lügerei satt bis obenhin.
Speziell wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden ja täglich mit Lügen gefüttert wie die Stopfgänse. Alle meinen es so gut mit uns und wollen uns helfen bei den Pensionen und bei der Krankenversicherung, beim Kündigungsschutz und bei den Kollektivverträgen, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bei den Selbstbehalten im selben Fall. Alle wollen sie nur unser Bestes. Selbstbehalte bei den Arzneimitteln oder bei der Krankenhauspflege, Abschläge bei den Pensionen und Erhöhung von Gebühren - alles nur für uns und unser Wohl.
Was die lieben Leute nicht alles tun für uns. Bei der Krankenkasse bemühen sie sich wirklich und bald werden sie es schaffen, uns bei jedem Arztbesuch zwanzig Prozent Selbstbehalt aufzuhalsen. Ist das nicht eine Freude?
Übrigens, wissen Sie, liebe Leserin, warum unsere Wirtschaft nicht so wächst, wie sie sollte, warum der Aufschwung nur so »flach« verläuft?
Nein? Ich sag's Ihnen, denn ich hab's vor kurzem in einem Leitartikel in der altehrwürdigen gutbürgerlichen Zeitung »Die Presse« gelesen.
Da wären Sie sonst nie draufgekommen: Es ist der »absurde Kündigungsschutz«.
Es ist ja auch wirklich absurd, dass die armen Unternehmerinnen und Unternehmer die Leute nicht einfach auf die Straße stellen können. Da gibt es ganz lästige Kündigungsfristen und außerdem ist da immer noch eine Abfertigung zu zahlen. Ist doch wirklich absurd, nicht?
Billige und Willige
Wie die Kurve des Aufschwungs plötzlich steil ansteigen würde, wenn man jeweils eine teure Arbeitskraft durch eine oder zwei billigere ersetzen könnte. Bei einer Arbeitslosenrate von fast 8 Prozent gibt es ja genug billige und willige. Und wenn’s hart auf hart kommt, könnte man vielleicht auf eine »schwarze« Arbeitskraft zurückgreifen, nicht wahr? Solange die Strafen so gering und die Kontrollen so wenig sind, geht das ja wirklich sehr gut und profitabel.
Wir Lohnabhängigen kriegen es doch täglich eingebläut, was jetzt für uns gelten soll: Tief ducken und hoffen, dass es uns nicht trifft.
Oder gleich ein Kerzerl bei Sankt Florian: »Beschütz mein Haus, zünd' das vom Nachbarn an!«
Duckmäuserei und Muckertum
Was, aufmucken wollen Sie und die Leute über ihre Rechte aufklären? Etwa gar einen Betriebsrat gründen? Mitbestimmung? Einspruch erheben bei Kündigungen oder Entlassungen? Die Lohnabrechnung überprüfen und die Anwendung des Kollektivvertrages? Über die Einhaltung von Pausen und von Schutzbestimmungen wollen sie reden?
Aufbegehren wollen Sie, vielleicht noch gemeinsam mit anderen, kollektiv?
Ja, daran erkenne ich unsere Leserinnen. Die lassen sich nicht unterkriegen, halten nichts von Duckmäuserei und Muckertum. Die wissen auch, warum sie wählen gehen. Warum es wichtig ist. Warum es nicht den Anderen überlassen werden sollte. Die geben nicht auf - trotz allem. Die schicken auch noch die hin, die Zweifel haben.
Einer von uns sagt immer: »Wer nicht Politik machen will, mit dem wird Politik gemacht.« So ist es.
Deswegen: Wählen gehen! Mitreden! Aufmucken! Und Spaß dran haben ...
Siegfried Sorz
]]>Als wir ankamen, ging gerade die Sonne auf, und es wurde ein ziemlich heißer Tag. Staatsgäste aus aller Welt waren gekommen, von Hillary Clinton bis Fidel Castro, um an der Angelobung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Südafrikas teilzunehmen. Und - so wie ich - Vertreter/innen von Anti-Apartheid-Bewegungen, die seit Jahrzehnten den Kampf der unterdrückten Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung um volle Bürgerrechte unterstützt hatten. Gegen Mittag an diesem 10. Mai 1994 legte der ehemalige Staatsfeind Nr. 1 seinen Amtseid ab: Nelson Rohlihlala Mandela.
Einen Tag später gab er die Zusammensetzung seiner Regierung bekannt, verfassungskonform aus Persönlichkeiten aller Parteien mit mehr als 10% Wählerstimmenanteil gebildet: African National Congress (der ehemaligen Befreiungsbewegung, die allein mehr als 63% der Stimmen erhalten hatte), Nasionale Party und Inkatha Freedom Party. Damit begann vor 10 Jahren das antirassistische Experiment Südafrika.
Geschichte der Diskriminierung
Eine Geschichte der Diskriminierung hatte in den Jahrhunderten zuvor der Geschichte Südafrikas ihren Stempel aufgedrückt: Ab 1652 hatten Einwanderer/innen aus Holland am Kap der Guten Hoffnung ein System der Leibeigenschaft und Sklaverei errichtet. Ab dem beginnenden 19. Jahrhundert und vor allem seit der Entdeckung der großen Diamanten- und Goldlagerstätten nach 1870, hatte Großbritannien begonnen, die einheimische Bevölkerung durch hohe Geldsteuern und Absiedlung in Reservate zur Annahme kaum bezahlter Lohnarbeit in den Bergwerken zu zwingen. Und ab 1948 hatte die von ideologischem Rassismus geprägte Nationalpartei all diese vorhandenen Mechanismen der Diskriminierung in ein System der so genannten Apartheid (»Getrenntheit«) kodifiziert, dessen Verwandtschaft mit den Nürnberger Rassegesetzen des Nationalsozialismus nicht zu leugnen ist: Klassifizierung aller Menschen Südafrikas in drei gesetzlich definierte Rassengruppen, Europäer, Afrikaner und Asiaten; Reservierung allen fruchtbaren Landes, qualifizierte Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten ausschließlich für »Europäer«; zwangsweise Umsiedlung von »Afrikanern« in entlegene, meist unfruchtbare Gebiete; Aberkennung politischer Mitspracherechte für »Nicht-Europäer« - kein Wahlrecht, keine politischen Parteien, teilweise auch ihre Gewerkschaften verboten. Diskriminierung war Grundgesetz im damaligen Südafrika. Durch den beharrlichen Widerstand der Bevölkerung und durch internationale Solidarität aber war dieses System Anfang der 1990er-Jahre zusammengebrochen, Verhandlungen mit dem aus »lebenslänglicher« Haft entlassenen Mandela und der von ihm geführten Befreiungsbewegung hatten die ersten demokratischen Wahlen vom April 1994 ermöglicht. Mit Spannung wurden nun die ersten Schritte der neuen Regierung erwartet.
Rückblickend ist heute zu sagen, dass dieses erste Jahrzehnt der demokratischen gesellschaftlichen Transformation Südafrika in wesentlichen Bereichen verändert hat. Hier läuft ein Projekt des Aufbaus einer nicht-diskriminierenden Gesellschaft, zu welchem in anderen Ländern kaum etwas Vergleichbares existiert und das in vieler Hinsicht Lehrbuchcharakter auch für die industrialisierten Länder des Nordens - inklusive die Europäische Union - besitzt: Wie gehen wir um mit Rassismus und Vergangenheitsbewältigung, wie und durch welche Wirtschaftspolitik können soziale Grundrechte verwirklicht werden? Die Bilanz dieser ersten zehn Jahre des Abbaus rassistischer Strukturen und ausbeuterischer Verhältnisse in Südafrika seit 1994 kann sich durchaus sehen lassen.
Auf staatlicher Ebene wurden stabile demokratische Institutionen geschaffen, die sich der Verwirklichung des verfassungsrechtlich verankerten Nichtdiskriminierungsgebots widmen; die politische Gewalttätigkeit der letzten Jahre des Apartheidregimes wurde beseitigt, Todesstrafe und Folter abgeschafft, rechtstaatliche Verhältnisse im Justizwesen geschaffen. Die kulturelle und religiöse Vielfalt des Landes und seiner Bevölkerung wird nicht nur respektiert, sondern aktiv gefördert - was nicht zuletzt in der Anerkennung von elf (!) Amtssprachen zum Ausdruck kommt. Ein Prozess aktiver Vergangenheitsbewältigung wurde in Angriff genommen. Menschenrechtsverbrechen der Apartheidzeit (wie die systematische Folter und Ermordung politisch Andersdenkender, die medizinischen Experimente an »Schwarzen«, die Mitverantwortung von Konzernen, Medien und Kirchen an der Apartheid) wurden nicht unter den Teppich gekehrt, sondern in einem jahrelangen, in voller Öffentlichkeit stattfindenden Prozess aufgearbeitet und bewertet. Wichtigstes Element dabei war die vom früheren anglikanischen Erzbischof von Kapstadt und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu geleitetete Wahrheits- und Versöhnungskommission - eine Einrichtung ohne Parallele in der deutschen und österreichischen Geschichte nach 1945.
Restitution und Umverteilung
Aufgehoben wurden die wirtschaftlich unterentwickelten Reservate (»Homelands«) und damit die gesetzlich festgelegte Teilung in »europäischen« und »nicht-europäischen« Grundbesitz (87% der Fläche Südafrikas waren zuvor für die »weiße« Bevölkerungsminderheit reserviert gewesen); neun neue Provinzen sowie zahlreiche neue Gemeinden wurden geschaffen, um bisher nach Rassen getrennte und somit unterschiedlich geförderte Zonen in integrierte Entwickungsregionen zu verwandeln. Eine einheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik für das ganze Land wurde konzipiert - angesichts der südafrikanischen Geschichte keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
Ein breit angelegter Prozess der Restitution von apartheid-enteignetem Grund und Boden samt Landreform wurde gestartet, in dessem Rahmen bis heute etwa drei Millionen Hektar Land umverteilt oder entschädigt wurden; das entspricht etwa einem Drittel der Fläche Österreichs. Dieser (im Gegensatz zum benachbarten Zimbabwe) transparent und daher nur langsam vor sich gehende Restitutionsprozess, in dessem Rahmen fast siebzigtausend (Sammel-)Anträge zu behandeln sind, soll nach den Vorstellungen der Regierung in den kommenden Jahren abgeschlossen werden; die spektakulärsten Fälle von Zwangsumsiedlung unter dem Apartheidregime (wie jene aus dem District Six in Kapstadt, die der Makululeke aus dem Kruger-Nationalpark oder des Dorfes Mogopa im westlichen Gauteng) wurden bereits durch die Übergabe von Besitzurkunden an die Nachkommen der seinerzeit vertriebenen Familien abgeschlossen.
Volle Gewerkschaftsfreiheit
Mit der Garantierung voller demokratischer Rechte für die gesamte Bevölkerung ging auch die Herstellung voller Gewerkschaftsfreiheit Hand in Hand. Drei große Gewerkschaftsverbände - der dem ANC nahestehende Congress of South African Trade Unions (COSATU), die Federation of Unions of South Africa (FEDUSA) sowie der National Council of Trade Unions (NACTU) - vertreten heute die Interessen der Beschäftigten; alle drei Organisationen gehören wie der ÖGB dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) an. Ein neues Arbeitsrecht wurde seit 1994 geschaffen, Grundlagen eines funktionsfähigen sozialen Dialoges zwischen Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und wichtigen Nichtregierungsorganisationen (etwa den Jugendverbänden) wurden gelegt. Durch die Verstaatlichung der Mineralienreserven des Landes und Konzessionserteilung nur an Firmen mit einem Mindestanteil an »schwarzen« Aktionären wurden darüber hinaus auch erste Schritte zur Umgestaltung der einseitig von »Europäern« dominierten Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln getätigt.
Katastrophale soziale Hinterlassenschaft
Welchen Einfluss hatten all diese Reformen auf die konkrete Lebenssituation der Bevölkerung? Von Anfang an hatte sich die Regierung Mandela mit einer katastrophalen sozialen Hinterlassenschaft der Apartheidära konfrontiert gesehen. Etwa ein Viertel der Bevölkerung war obdachlos oder lebte in unzureichenden Wohnverhältnissen (in Zelten oder Wellblechhütten), zwei Drittel hatten keinen Zugang zu elektrischer Energie oder sauberem Wasser, etwa die Hälfte der Bevölkerung im wirtschaftlich potentesten Land Afrikas war unterernährt. Und: Armut betraf ausschließlich Menschen »schwarzer« Hautfarbe - ein deutlicher Ausdruck der entlang der »Rassengrenze« wirksam gewesenen Umverteilungspolitik des Apartheidsystems.
Zwar kann von einem endgültigen Durchbruch bei der Armutsbekämpfung in diesem ersten Jahrzehnt seit der Befreiung noch keine Rede sein. Erfolgen in einzelnen Bereichen, die im übrigen auch in einer merkbaren Verbesserung des so genannten Gini-Koeffizienten zum Ausdruck kommen, mit dem die Verteilungsgerechtigkeit einer Gesellschaft gemessen wird, steht die bisher ungelöste Schwierigkeit einer nachhaltigen Finanzierung sozial- und gesundheitspolitischer Maßnahmen gegenüber.
Essen und Gesundheit
Schon in den ersten Wochen seiner Amtszeit hatte Mandela die Bereitstellung einer täglichen kostenlosen Mahlzeit für Schulkinder sowie kostenlose Gesundheitsversorgung für schwangere Frauen und Kinder bis zum fünften Lebensjahr angeordnet; finanziert wird dieses Programm aus dem vorwiegend durch Spenden südafrikanischer Unternehmer und ausländischer Entwicklungshilfe gespeisten Mandela-Kinderfonds.
Aus Budgetmitteln wurde ein massives Programm zur Armutsbekämpfung gestartet, in dessen Rahmen unter anderem bisher vernachlässigte städtische und ländliche Regionen mit Elektrizität, sauberem Trinkwasser etc. versorgt wurden - eine fühlbare Verbesserung der alltäglichen Lebensqualität; 3,8 Millionen Haushalte wurden im Rahmen dieses Programms an Elektrizität und sauberes Trinkwasser angeschlossen. Seit 1994 wurden in den ländlichen Regionen des Landes 486 neue Gesundheitsstationen errichtet, täglich werden 4,5 Millionen Gratismahlzeiten an Schulkinder abgegeben, etwa eine Million neuer Wohneinheiten wurde errichtet (was allerdings wesentlich unter dem geschätzten Bedarf von etwa 10 Millionen liegt) etc.
Wiederintegrierung in die Weltwirtschaft
Diesen nicht zu unterschätzenden Erfolgen im Sozialbereich stehen allerdings wirtschaftspolitische Schwierigkeiten gegenüber, die eine nachhaltige Sicherung und Ausweitung dieser sozialen Transformation bisher behindert haben. Nach Jahren außenwirtschaftlicher Isolation infolge der von der internationalen Gemeinschaft aus Protest gegen die Apartheid verhängten Sanktionen stand Südafrika 1994 vor der Notwendigkeit einer Wiederintegrierung in die Weltwirtschaft. Damit waren das Land und die weitreichenden Transformationspläne seiner neugewählten und von gewaltigen Erwartungen begleiteten Regierung allerdings auch mit dem neoliberalen Zeitgeist der Globalisierung konfrontiert: Privatisierungen der verstaatlichen Wirtschaft waren schon in den letzten Jahren der Apartheid eingeleitet worden, die Belastung der südafrikanischen Volkswirtschaft durch Auslandsschulden (zu deren Rückzahlung sich die neue Regierung bekannte) war hoch, und nun kamen noch die Herausforderungen einer Liberalisierung des Außenhandels gemäß den Spielregeln der neu errichteten Welthandelsorganisation (WTO) hinzu.
Arbeitslosigkeit und Aids
Südafrikas wohl zu rasche Akzeptanz dieses globalen Rahmens ließ eine von vielen unterschätzte Auslandsabhängigkeit seiner Volkswirtschaft erkennen. Hatte schon die Amtsübernahme Mandelas dazu geführt, dass Milliarden US-Dollar offenbar aus politischen Gründen aus dem »neuen« Südafrika abgezogen wurden, so gab die Berufung des ersten Zentralbankgouverneurs »schwarzer« Hautfarbe im Sommer 1998 Anlass zu Devisenspekulationen und zu einem schlagartigen Währungsverfall von 20 Prozent. Ökonomisch erwies sich die südafrikanische Exportwirtschaft in vielen Bereichen als entweder zu wenig konkurrenzfähig oder als dem europäischen Protektionismus im Agrarbereich nicht gewachsen. Der seitens der Europäischen Gemeinschaft mit großer Propaganda angekündigte Freihandelsvertrag fiel für die südafrikanische Wirtschaft enttäuschend aus, Investitionsanreize der Regierung führten zwar zu einem Anstieg der kurzfristigen, kaum aber zu langfristigen und beschäftigungsrelevanten Investitionen. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit (um die 40 Prozent) hat sich somit nicht verringert. Gleichzeitig brachte die verheerende HIV/Aids-Epidemie, die erst in den letzten Jahren in ihren vollen Tragweite zum Bewusstsein kam, auch eine schwere Belastung der staatlichen Gesundheitsausgaben mit sich - von den humanitären und bevölkerungspolitischen Konsequenzen gar nicht zu reden.
Neuer Wirtschaftskurs
Mandelas Nachfolger als Staatspräsident, Thabo Mbeki, hat daher in den letzten Monaten die Weichen wieder zugunsten eines keyesianistischen wirtschaftspolitischen Kurses gestellt.
Begünstigt durch die merklich gesunkene Auslandsverschuldung und angesichts einer international zunehmenden Erkenntnis des offensichtlichen Scheiterns der neoliberalen Wirtschaftsmodelle Großbritanniens und der Vereinigten Staaten sollen nun das Tempo der Privatisierung gebremst und die Außenhandelsbeziehungen mit anderen Ländern der Dritten Welt (etwa Brasilien, Indien oder China) stärker ausgebaut werden.
Ein gewaltiges Programm öffentlicher Arbeitsbeschaffung soll in den kommenden Jahren eine Million neuer Arbeitsplätze schaffen, die Infrastruktur (auch im Bahnbereich) soll ausgebaut, die Ausgaben aus dem Budget für Bildung, Soziales und Gesundheit sollen erhöht und durch eine verstärkte Einbeziehung von NGOs effizienter eingesetzt werden.
Rückbesinnung auf die eigenen ökonomischen Kräfte anstatt des ergebnislosen Hoffens auf ausländische Investoren scheint nun die Devise.
R E S Ü M E E
Südafrika wird nicht nur in Bezug auf die Bewältigung von Rassismus und der enormen menschenrechtlichen Belastung der Vergangenheit, sondern auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht zu einem »Laboratorium«, dessen Bedeutung über das Land selbst und seinen afrikanischen Kontext weit hinausreicht. Ob sich Wirtschaftspolitik an der Verwirklichung sozialer Grundrechte oder an kurzfristigen Gewinninteressen orientierten sollte (und welche wirtschaftspolitische Strategie der Erreichung welches dieser beiden Ziele angemessen ist), ist heute eine Frage von globaler Relevanz - nicht zuletzt für die internationale Gewerkschaftsbewegung. Daher müssen auch wir an einem Erfolg des Modells »Neues Südafrika« interessiert sein. Daher verdient der Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung Südafrikas, wie er an jenem erinnerungswürdigen Tag des Jahres 1994 seinen Anfang genommen hat, auch weiterhin unsere Solidarität und Unterstützung.
Zwei wesentliche Neuerungen, die mit dem ASchG gekommen sind, seien kurz angerissen: Die Richtlinien der EU stehen alle unter dem Motto »weniger Staat, mehr privat«, also mehr Eigenverantwortung des Einzelnen. Im Arbeitnehmerschutz hatte dies zur Folge, dass die wesentlich verstärkte Eigenverantwortung des Arbeitgebers für einige Verunsicherung sorgte. Die neue Philosophie wird vor allem durch die weitgehende Umdefinierung der gesetzlichen Grundlagen weg von klaren Anforderungen und Detailregelungen hin zu Schutzzielen erkennbar. Begriffe wie »ausreichend«, »entsprechend«, »wenn es die betrieblichen Verhältnisse erfordern« oder »erforderlichenfalls« sind gängig und keine Seltenheit.
Logische Konsequenz dieses Ansatzes war die gesetzliche Forderung an den Arbeitgeber, seine Arbeitsplätze zu »evaluieren«, das heißt, die Gefahren im Zusammenhang mit der Arbeit zu ermitteln, zu beurteilen und Maßnahmen gegen sie festzulegen. Die Brisanz dieser Forderung liegt darin, dass dieser Prozess dokumentiert werden muss und somit auch - vom Arbeitsinspektor, oder im schlimmsten Fall einem Staatsanwalt -schriftlich eingefordert und überprüft werden kann.
Der Arbeitgeber wurde also durch das ASchG zu »aktivem Tun« verpflichtet, das bloße Einhalten von gesetzlichen Mindestanforderungen allein ist nicht mehr möglich. Wie will man auch die Forderung, eine ausreichende Anzahl geeigneter Löscheinrichtungen bereitzustellen, einfach »einhalten«? Bildlich gesprochen stand der Unternehmer plötzlich vor der Notwendigkeit, sich mit der Evaluierung quasi seinen eigenen Bescheid zu erstellen - schriftlich, nachvollziehbar, überprüfbar und somit auch angreifbar.
Das zweite schwierig umzusetzende Novum war die Forderung nach sicherheitstechnischer und arbeitsmedizinischer Betreuung für alle Betriebe, nicht nur für Großbetriebe. Diese Forderung hatte starke organisatorische Anstrengungen auf betrieblicher Seite, bei Behörden, Interessenvertretungen und AUVA zur Folge. Die AUVA hat diesbezüglich eine eigene Organisationseinheit geschaffen. Die »Präventionszentren« (AUVAsicher) bieten auf Anfrage die Betreuung von Kleinbetrieben mit bis zu 50 Arbeitnehmern kostenlos an.
Zukünftige Herausforderungen
Seitdem sind einige Jahre vergangen und die Richtlinien wurden in Österreich weitgehend umgesetzt. Begriffe wie »Arbeitsplatzevaluierung«, »Schutzziele«, »Kleinbetriebsbetreuung« oder »Risikoanalyse« sind keine Fremdwörter mehr.
Doch Stillstand ist Rückschritt, und auch die Europäische Kommission sowie die Agentur wollen den Arbeitnehmerschutz weiterentwickeln und an neue Gegebenheiten anpassen. Im März vorigen Jahres veröffentlichte die Kommission eine Mitteilung zur »Anpassung an den Wandel von Arbeitswelt und Gesellschaft: eine neue Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2002-2006«. In diesem Dokument werden die Weichen für die zukünftige Marschrichtung im europäischen Arbeitnehmerschutz gestellt.
EU-Umfrage zu Arbeitsbedingungen
Die europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen mit Sitz in Dublin führte heuer eine Umfrage in den Mitgliedsstaaten durch, die eine Zunahme der arbeitsbedingten Gesundheitsprobleme, die Intensivierung der Arbeit und flexible Beschäftigungsformen ergab. Resümee: die Anforderungen, Gefahren und Belastungsfaktoren verschieben und verändern sich, aber es ist im Ganzen keine subjektive Verbesserung der Arbeitsbedingungen festzustellen.
Es wurde eindringlich vor der falschen Annahme gewarnt, dass Arbeitsbedingungen sich quasi von selbst verbessern und ein einmal erreichter Standard »automatisch« dort bleibt, wo er ist. Stillstand ist Rückschritt - ein altes Schlagwort, aber nach wie vor gültig.
Arbeitsbedingungen im Wandel
Ohne alte und wichtige Themen wie Maschinensicherheit, Elektroschutz oder Lärmschutz in den Hintergrund drängen zu wollen, muss man feststellen: Die Schwerpunkte der Präventionsarbeit verlagern sich und neue Themen gewinnen an Bedeutung. Themen wie Stress, Mobbing, Belastungen des Bewegungs- und Stützapparates, Ergonomie oder neue Arbeitsstoffe werden forciert. Kleinunternehmen, die demographische Entwicklung, neue Beschäftigungs- und Ausbildungsformen rücken in den Mittelpunkt der Überlegungen.
Die Präventionskultur soll sich wandeln: Weg von der Belehrung hin zur Sensibilisierung und Motivierung. Natürlich muss es auch weiterhin Experten für die verschiedenen Fachbereiche geben, aber der Trend muss eindeutig zu einer Ausbildung gehen, die auf Risikobewusstsein und Eigenverantwortung angelegt ist. Überzeugen statt überreden muss das Schlagwort sein.
Im Folgenden einige allgemeine Ideen darüber, welche Themen und Schlagworte in den nächsten Jahren von der EU und der Agentur forciert werden sollen.
Soziale Risiken
Geht es im klassischen technischen Ansatz der Prävention vor allem darum, gefährdende Situationen durch sichtbare technische Schutzmaßnahmen zu vermeiden oder einzudämmen, ist der heutige Ansatz wesentlich weiter gefasst: Ziel ist die Verbesserung des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens bei der Arbeit. Der Faktor Mensch rückt in den Mittelpunkt, gefährdende Faktoren wie Zeitdruck, zu wenig, zu viel oder schlechte Information, Stress, Mobbing oder Alkoholprobleme werden thematisiert.
Neue Risiken - Neue Ansätze
Neue Schwerpunkte und Ziele verlangen einen geänderten und erweiterten Ansatz für die zukünftige Präventionsarbeit. So wird ein neuer, interdisziplinärer Ansatz weiter forciert werden müssen, in dem Technik, Arbeitsmedizin, Psychologie, aber auch Wirtschafts- und Sozialwissenschaft koordiniert und ergänzend zusammenarbeiten müssen. Arbeitnehmerschutz darf in den Köpfen der Betroffenen kein isoliertes und schon gar kein lästiges Thema sein. Das Verständnis dafür, dass Präventionskultur im Betrieb ein harmonischer, unverzichtbarer und notwendiger Teil des Ganzen ist, muss transportiert werden. Das erklärte Ziel ist es, dass Arbeitnehmerschutz zu einem natürlichen Bestandteil und Kriterium bei betrieblichen Entscheidungen wird.
Systeme statt Einzellösungen
Hier knüpft nahtlos das Konzept an, die Präventionsarbeit weg von der Behandlung von Einzelfällen hin zu systematischen Systemen zu entwickeln. Es müssen in verstärktem Ausmaß Organisations-, Management- und Methodikthemen forciert werden, von Einzelfällen gelöste Prozesse für bestimmte Branchen und Betriebsgrößen entwickelt werden. Diese Arbeitnehmerschutzsysteme bzw. integrierte Systeme von Sicherheit, Qualität und Umweltschutz sollen auch auf europäischer Ebene entwickelt werden.
Die kleineren Betriebe waren lange ein Stiefkind der Prävention, die Arbeit beschränkte sich fast ausschließlich auf mittlere und große Unternehmen. Die besonderen Anforderungen und Ansprüche von Kleinbetrieben waren mit früheren Strukturen schwer bis gar nicht zu befriedigen.
Neue Zielgruppe Kleinbetriebe
Da jedoch die überwiegende Mehrzahl der europäischen Betriebe in diese Kategorie fallen, kann ein Ausblenden dieser Problematik auf Dauer nicht verantwortet werden. Die Forderung nach Berücksichtigung von Kleinunternehmen zieht sich seit langem wie ein roter Faden durch viele Bereiche der EU, im Arbeitsschutz wurde bereits 1995 ein »Handbuch für eine Selbstüberprüfung über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz« herausgegeben.
Kosten und Nutzen
Häufig scheitern innovative und gute Präventionskonzepte an der Unwilligkeit der Unternehmer, in Sicherheit zu investieren. Der soziale und menschliche Zugang allein reicht oft leider nicht aus, die Sache muss auch finanziell vertretbar sein. Deshalb ist es der Kommission ein Anliegen, die »Kosten der Nichtqualität«, also die direkten und indirekten Kosten, die durch arbeitsbedingte Unfälle und Krankenstände anfallen, möglichst objektiv zu erforschen und den betrieblichen Entscheidungsträgern zu vermitteln. Erhöhte Produktivität und verbesserte Wettbewerbsfähigkeit gehen Hand in Hand mit guten Arbeitsbedingungen und einer gesunden und motivierten Belegschaft.
Arbeitnehmerschutz ist auch keine »Insellösung«, sondern ein integrierter Bestandteil des gesamten betrieblichen Geschehens.
Alle Beteiligten und Betroffenen müssen in die Prävention eingebunden werden. Arbeitnehmerschutz ist nicht nur Angelegenheit von einigen wenigen Experten.
So wird von der Kommission in der Einleitung der Mitteilung über die Gemeinschaftsstrategie festgehalten: »Die Politik der Gemeinschaft muss daher im Rahmen einer Regierungsführung, die sich auf die Teilnahme aller stützt, sämtliche Akteure einbeziehen - Behörden, Sozialpartner, Unternehmen, öffentliche und private Versicherer usw.«
Durch eine breit gefächerte Anhörung und vertretbare Berücksichtigung unterschiedlicher Zugänge soll eine möglichst weite Akzeptanz erreicht werden, was auch in Sachen Verbreitung der Inhalte wesentliche Vorteile bringt.
Letztlich ist die Forderung nach einer möglichst breiten Basis auch eine logische Konsequenz aus dem Wunsch, den Arbeitnehmerschutz aus seiner Isolation herauszulösen und als Bestandteil der Betriebskultur zu etablieren.
]]>VfGH-Urteile
Vom VfGH aufgehobene Gesetze im Bereich der Sozialversicherung:
16. 3. 2001: Die Ambulanzgebühr wird wegen nicht ordnungsgemäßer Kundmachung aufgehoben. Reparaturfrist und neue Beschlussfassung.
17. 12. 2002: Die Besteuerung der Unfallrenten wird wegen fehlender Übergangsfristen als verfassungswidrig aufgehoben.
27. 6. 2003: Die im Herbst 2000 beschlossene Neuregelung der Hinterbliebenenpensionen wird als verfassungswidrig angesehen.
10. 10. 2003: Der VfGH kippt die Reform des Hauptverbandes.
13. 3. 2004: Teile des Ausgleichsfonds der Sozialversicherungsträger werden als verfassungswidrig aufgehoben.
VfGH-Entscheid: Alle wesentlichen Elemente des im Jahr 2002 von der Regierung beschlossenen Modells zur Sanierung der Krankenkassen wurden als verfassungswidrig erkannt und aufgehoben: die Neuregelung des Ausgleichsfonds, die Zielvereinbarungen, die Erhöhung der Beiträge, die »Zwangsdarlehen« und die Einbeziehung von vier weiteren Krankenkassen in den Fonds.
Der Ausgleichsfonds soll der unterschiedlichen Versichertenstruktur der verschiedenen Kassen Rechnung tragen. Denn Kassen in den Bundesländern, in welchen es mehr Menschen mit niedrigen Einkommen, mehr Arbeitslose oder Pensionisten gibt, haben eine vergleichsweise schlechtere Finanzsituation. Daher haben alle Gebietskrankenkassen 2% ihrer Beitragseinnahmen in den Ausgleichsfonds gezahlt, der derartige Unterschiede in der Versichertenzusammensetzung teilweise ausgeglichen hat.
Im Jahr 2002 wurden die Kassen der Bauern, der Eisenbahner und der öffentlich Bediensteten in den Ausgleichsfonds integriert mit der Folge, dass etwa die Rücklagen der Eisenbahner abgezogen wurden und die Kasse der Bauern, die nie Einzahlungen in den Ausgleichsfonds geleistet hat, auf einmal große Zuflüsse aus dem Fonds erhalten hat. Des Weiteren wurde der Beitragssatz für die Zahlungen in den Fonds von 2% auf 4% angehoben und Zahlungen in den Fonds nicht nur von der Versichertenzusammensetzung abhängig gemacht, sondern auch davon, ob die Kassen die Vorgaben des Hauptverbandes umsetzen oder nicht.
VfGH: »Die Neuregelung des Ausgleichsfonds durch die Einbeziehung weiterer Krankenkassen (konkret: die Versicherungsanstalt Öffentlich Bediensteter, die der Eisenbahner, die der Gewerblichen Wirtschaft und die der Bauern) führt zu systemimmanenten Benachteiligungen bzw. Begünstigungen einiger Krankenkassen.«
Höhere Beitragssätze
Schon höhere Beitragssätze in einzelnen Krankenkassen bzw. zusätzliche Einnahmequellen (wie etwa Selbstbehalte) haben zur Folge, dass sie im Ausgleichsfonds-System stärker belastet werden. Die Erhöhung des Beitrags von 2% auf 4% wurde als verfassungswidrig aufgehoben, weil die Mittel u. a. für die Zahlungen im Zusammenhang mit der Zielerreichung verwendet werden sollten.
Unklarheiten über den Charakter und die Regelungen zu den Zielvereinbarungen - die eigentlich keine Vereinbarungen sondern Vorgaben sind - wurden ebenso als verfassungswidrig erkannt wie die Verpflichtung mancher Kassen, dem Fonds Zwangsdarlehen zu gewähren.
Die aufgehobenen Regelungen dürfen nicht mehr angewandt werden. Auf ihrer Grundlage sind bisher 561 Millionen Euro geflossen. Rückzahlungen werden die Folge des Urteils sein.
Es stellt sich die Frage, wie die defizitären Kassen die aus dem Fonds erhaltenen Beträge zurückzahlen sollen.
Hinweise wie jene der Ministerin, die meinte, der Obmann der Wiener Kasse solle »in sich gehen und überlegen, was schiefgegangen ist«, werden dem Ernst der Lage nicht wirklich gerecht, zumal der Gesetzgeber dieses Problem geschaffen hat und nicht die Gebietskrankenkassen.
Neuerungen im Gesundheitswesen 2004
Für alle ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen wird seit Jahresbeginn in der Krankenversicherung ein »Zusatzbeitrag für Freizeitunfälle« von 0,1% eingehoben. Dieser ist allein von den Versicherten zu bezahlen, der Dienstgeberbeitrag ist davon nicht betroffen! Es handelt sich um eine Beitragssatzerhöhung ohne neue Leistungen, denn Freizeitunfälle waren schon bisher versichert.
Für Angestellte beträgt der Dienstnehmerbeitrag in der Krankenversicherung ab heuer 3,7%, also um 0,3% mehr als im Vorjahr. Für ASVG-PensionistInnen werden die KV-Beiträge 2004 und 2005 um jeweils 0,5% erhöht. Hinzu kommt der erwähnte »Zusatzbeitrag für Freizeitunfälle«, womit 4,35% (2004) bzw. 4,85% (2005) zu bezahlen sind.
Wenn Christoph Leitl vorschlägt, die Kassen sollen bei drohender Zahlungsunfähigkeit kurzfristig Kredite aufnehmen, so stellt dies lediglich einen teuren Aufschub, aber keinesfalls eine Lösung des Problems dar.
Explodierende Gesundheitsausgaben?
Trotz der schwierigen Finanzsituation der Krankenkassen muss eines festgehalten werden: Die Gesundheitsausgaben in Österreich sind im internationalen Vergleich der Industrieländer relativ gering. Die gesamten Gesundheitsausgaben (öffentliche und private) lagen im Jahr 2001 in Österreich bei 7,4% des BIP. Spitzenreiter waren die USA mit 13,7%, die Schweiz und Deutschland lagen bei 10,4%.
Auch im Zeitvergleich ist die Ausgabenentwicklung keineswegs dramatisch.
Das österreichische Finanzierungsproblem resultiert aus der Entwicklung, dass die Einnahmen hinter den Ausgaben zurückbleiben. Das liegt auf der Einnahmenseite an Faktoren wie der hohen Arbeitslosigkeit und dem Verlust an gut bezahlten Vollzeitarbeitsplätzen. Seit dem Jahr 2000 sind 61.000 Vollzeit-Arbeitsplätze verlorengegangen. Gleichzeitig stiegen die Teilzeitstellen um 65.000. Auf der Ausgabenseite wirken vor allem die Medikamentenkosten als Preistreiber. Der steigende Anteil älterer Menschen zusammen mit neuen Behandlungsmethoden hat ebenfalls erhöhte Kosten zur Folge.
Von 1997 bis 2002 stiegen:
Ausgabenbegrenzung?
Eine Koppelung der Ausgaben an die Einnahmen, die von Gesundheitsministerin Rauch-Kallat vorgeschlagen wurde, liefe auf weitere Belastungen für kranke Menschen hinaus. Diese tragen aber keine Schuld an der ungünstigen Einnahmen-Ausgabenentwicklung der Krankenkassen.
Darüber hinaus hat die Regierung selbst durch einige Maßnahmen den Krankenkassen Finanzierungsquellen »abgedreht« (siehe Kasten).
Verländerung oder Vereinheitlichung?
Die Regierung plant nun eine völlige Neuordnung des Gesundheitswesens: Unter dem Schlagwort »Gesundheitsagenturen« sollen zwei Ziele umgesetzt werden:
Eine weitere »Verländerung« des Gesundheitswesens wäre eine bedenkliche Entwicklung. Denn das hieße, dass Gebietskrankenkassen mit gleichen Beitragssätzen verstärkt unterschiedliche Versicherungsleistungen erbringen würden.
Die Sozialversicherung verliert im Rahmen der geplanten Gesundheitsagenturen ihre Gestaltungsmöglichkeiten und wird auf eine reine »Vollziehung« der Vorgaben der Gesundheitsagentur reduziert. Die Planungs- und Steuerungsbeschlüsse der Agentur sind für die Sozialversicherung verbindlich. Es ist aufgrund der letzten VfGH-Urteile (Hauptverband, Krankenkassenausgleichsfonds) nicht davon auszugehen, dass diese Konstellation verfassungskonform ist, weil jene selbstverwalteten Kassen, die die Leistungen finanzieren, keine Gestaltungsmöglichkeiten auf den Leistungskatalog hätten.
Die Gesundheitsagentur soll folgendermaßen beschickt werden:
Das ergibt wieder eine Mehrheit für Schwarz-Blau. In den Krankenkassen richtet sich die Entsendung der Vertreter der ArbeitnehmerInnen nach den Ergebnissen der AK-Wahl. Diese fände in der Zusammensetzung der Gesundheitsagenturen keinerlei Entsprechung mehr.
Gesundheitsagenturen
Ministerin Maria Rauch Kallat will die Gesundheitsagenturen im Herbst beschließen lassen. Das Thema sei mit den Finanzausgleichsverhandlungen verknüpft, die bis Ende des Jahres neu geregelt werden müssen.
Die Gesundheitsagenturen würden die gesamten Mittel in den Bundesländern zusammenfließen lassen und damit die gesamte Gesundheitsversorgung finanzieren.
Dies würde zu einer Kompetenzverteilung weg von der Sozialversicherung führen, welche nicht gerechtfertigt wäre. Die Verwaltungskosten der Landesfonds haben sich 1997 bis 2001 verdreifacht, die der Kassen sind nur um 7% gestiegen.
Laut Franz Bittner, Chef der Wiener Kasse, zahlen Bund, Länder und Gemeinden nur 26% der Krankenhausausgaben, hätten jedoch in der Gesundheitsagentur eine Mehrheit (Wirtschaftsblatt vom 18. 3. 2004). Wenn man auch die niedergelassenen Ärzte berücksichtigt, finanziert die Krankenkasse etwa zwei Drittel der Kosten.
In diese Kerbe schlägt auch Hans Sallmutter. »Die Sozialversicherungen würden so nur noch die Ausgaben abwickeln, können aber die Verwendung der Mittel, die Leistungen und die Verhandlungen mit den Vertragspartnern nicht mehr gestalten«, so Sallmutter. »Länder und Gemeinden sind Anbieter von Spitälern und haben ein Interesse, dass hier mehr Geld hineinfließt.«
Strukturausgleich
Eine zusätzliche Verländerung kann aber nicht die Antwort auf die Herausforderungen im Gesundheitswesen sein. Denn je nach Höhe der Einkommen, dem Verhältnis zwischen Beschäftigten zu Arbeitslosen und Pensionisten haben die Kassen eine gute oder schlechte Finanzsituation. Eine Form des Risikostrukturausgleiches wäre hier durchaus notwendig, wenn man den Weg einer Zusammenlegung der Kassen nicht gehen will. Das VfGH-Urteil schreibt vor, den Ausgleichstopf zwischen unterschiedlichen Kassen aufzuheben (Bauern und Gebietskrankenkassen), nicht jedoch zwischen den Gebietskrankenkassen selbst.
Privatisierung?
Die Gesundheitsagenturen könnten sich auch als Weg zu einer weiteren Privatisierung der Gesundheitsausgaben entpuppen. So ist im diesbezüglichen Papier zu diesem Thema schon vom »Einkauf von Leistungen am Gesundheitsmarkt« die Rede. Der Wirtschaftsbund fordert in diesem Zusammenhang eine schrittweise Privatisierung von Spitälern und eine Zurückdrängung der Arbeitnehmervertreter in den Krankenkassen.
Derzeit werden die Gesundheitsausgaben zu 68,5% öffentlich (Sozialversicherung, Bund, Länder, Gemeinden) und zu 31,5% privat getragen.
Sinnvolle Reformvorschläge
Gesundheitsministerin Rauch-Kallat will die öffentlichen Gesundheitsausgaben bei 5,5% des BIP einfrieren. Das bedeutet, dass der zu erwartende zusätzliche Bedarf an Leistungen des Gesundheitswesens automatisch von den Betroffenen selbst aufgebracht werden muss und damit kein Solidarausgleich stattfindet. Die Probleme würden zunehmend auf jeden Einzelnen abgewälzt werden.
Sinnvolle Gesundheitsreformen müssen sowohl bei den Einnahmen als auch bei den Ausgaben ansetzen, ohne Grundlagen wie einen gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen und Solidarausgleich durch die Pflichtversicherung in Frage zu stellen. Eine verstärkte Finanzierung des Systems über Selbstbehalte ist unsozial und daher abzulehnen. Selbstbehalte belasten sozial schwache und krankheitsanfällige Menschen überproportional.
Maulkorberlässe für die Sozialversicherung
Die Regierung verbietet den SV-Trägern per Gesetz die freie Meinungsäußerung:
Schritt 1: SV-Träger dürfen Informationen an die Versicherten nur nach Absprache mit den betreffenden Ministerien aussenden. (Hintergrund: Die SV-Träger haben die Versicherten kritisch über den »Unsinn« der Ambulanzgebühren informiert, zu deren Umsetzung sie gezwungen wurden.)
Schritt 2: SV-Träger müssen die Versicherten im Auftrag des Ministeriums in dessen Sinne informieren.
Schritt 3: Auch die neuerliche Deckelung der Verwaltungskosten auf Basis 1999 kommt einer Knebelung der Entscheidungsmöglichkeiten der Sozialversicherungsträger gleich.
Probleme der derzeitigen Struktur
Im gegenwärtigen Gesundheitssystem gibt es eine Vielzahl an Akteuren, Leistungsfinanciers und Leistungserbringern. Hier ein Mehr an Koordination und ganzheitlichem Denken einzuführen wäre durchaus sinnvoll. Doch nicht jeder Vorschlag, der dies offiziell zum Ziel hat, würde die Situation optimieren.
Ein wesentlicher Grundsatz sollte sein, dass die Leistungsfinanciers im Rahmen der Selbstverwaltung auch eine Gestaltungsmöglichkeit haben. Im Modell der Gesundheitsagenturen sind die Krankenkassen, die den weitaus größten Teil der Finanzmittel stellen, völlig unterrepräsentiert und würden de facto auf die Vollziehung beschränkt werden.
Ein systemischer Schwachpunkt des derzeitigen Gesundheitssystems ist die duale Finanzierung.
Die Spitäler werden über Länderfonds von der Sozialversicherung, dem Bund, den Ländern und Gemeinden finanziert.
Die niedergelassenen Ärzte werden von den Krankenkassen finanziert.
Das führt zu Schnittstellenproblemen und Versuchen, sich gegenseitig Kosten zuzuschieben. Da die Zahlungen der Kassen für die Spitäler gedeckelt und pauschaliert sind, während jeder Arztbesuch über die Einzelabrechung Mehrkosten verursacht, ist für die Kassen eine ambulante Behandlung in einer Krankenanstalt finanziell schonender.
Umgekehrt wollen die Länder mehr an Behandlung von den Ambulanzen zu den Ärzten verlagern, weil für sie dadurch keine finanziellen Belastungen entstehen würden.
Hier wäre eine ganzheitliche Struktur ein Fortschritt, wenn sie nicht zu einer Entmachtung der Krankenkassen führt, sondern zum Ziel hat, das gegebene System zu optimieren. Auf keinen Fall dürfte eine neue Struktur als Mittel zur Privatisierung des Gesundheitswesens instrumentalisiert werden.
Was getan werden soll:
Generika sind wirkstoffgleiche »Nachbau-Medikamente« von Präparaten, deren Patentschutzfrist abgelaufen ist. (Der Anteil der Generika beträgt in Österreich 11%, in Deutschland hingegen 52%.)
Verbreitung der Bemessungsgrundlage - Wertschöpfungsabgabe
Doch selbst wenn notwendige Optimierungen im System erfolgen, ist eine Erhöhung der Finanzmittel für das Gesundheitswesen notwendig, will man den Weg zur Zweiklassengesellschaft im Bereich der Gesundheitsversorgung nicht gehen. Die Forderung nach einer Wertschöpfungsabgabe wird nun auch vom Präsidenten der Wiener Ärztekammer, Walter Dorner, unterstützt. Die Vertreter der Wirtschaft, Christoph Leitl, und der Industrie, Lorenz Fritz, haben erwartungsgemäß sofort abgeblockt.
Die Gesundheitsexpertin des IHS, Maria Hofmacher, meint zwar auch, dass kurzfristig über eine Optimierung der Versorgungskette etwas eingespart werden könne, die Finanzierungslücke grundsätzlich aber einnahmenbedingt ist. Seit Mitte der 80er-Jahre nehmen die Kosten stärker zu als die Einnahmen. Die Schere geht immer weiter auseinander. An einer Erhöhung der Beiträge oder der Bemessungsgrundlage führt daher kein Weg vorbei.
Ungleiche Chancen
Die Kosten für das Gesundheitswesen hängen aber auch davon ab, ob wir in einer krankmachenden Gesellschaft leben. Gesundheit hängt neben dem individuellen Verhalten auch von zahlreichen sozialen Faktoren ab, die ihrerseits auch das individuelle Verhalten prägen:
Der Zustand der Wohnungen, die Qualität der Ernährung, Bewegung, Konsum von Nikotin, Alkohol, Bildung und Erziehung, das alles sind Faktoren, die in verschiedenen sozialen Schichten sehr unterschiedlich sind und den Gesundheitszustand beeinflussen.
Ungleiche Chancen in der Gesellschaft spiegeln sich auch im Gesundheitszustand und der Lebenserwartung wider. Weniger Gebildete und arme Menschen werden öfter und schwerer krank als gebildete und reiche. Das Sterberisiko von Pflichtschulabgängern ist bei Männern zwischen 36 bis 64 um 109% höher als bei Akademikern; bei Frauen ist die Sterblichkeit der Pflichtschulabgängerinnen um 50% höher als bei Akademikerinnen.
Eine Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus und der Lebensbedingungen verbessert den Gesundheitszustand und entlastet damit das Gesundheitswesen langfristig. Auch die Arbeitsbedingungen und die soziale Sicherheit wirken sich aus. Menschen werden durch Mobbing, Stress, Überanstrengung oder etwa »unsichere« Arbeitsplätze krank. Man muss derartige Faktoren als Teil des Komplexes Gesundheit sehen.
Der britische Wissenschafter Richard Wilkinson hat festgestellt, dass Menschen in Ländern mit geringeren Einkommensunterschieden eine höhere Lebenserwartung haben.
Bemühungen um eine nachhaltige Konsolidierung des Gesundheitswesens müssen daher auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen als gesundheitsbestimmende Faktoren berücksichtigen.
Regierung hungert Krankenkassen aus
Durch eine Reihe von Maßnahmen hat die Regierung die Einnahmen der Krankenkassen unter anderem reduziert:
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat Mitte März die Neuregelung des Ausgleichsfonds der Krankenkassen aufgehoben. Das Problem der Finanzierung des Gesundheitswesens ist damit wieder höchst aktuell. Es müssen sehr schnell nachhaltige Lösungen gefunden werden.
VfGH-Urteile
Vom VfGH aufgehobene Gesetze im Bereich der Sozialversicherung:
16. 3. 2001: Die Ambulanzgebühr wird wegen nicht ordnungsgemäßer Kundmachung aufgehoben. Reparaturfrist und neue Beschlussfassung.
17. 12. 2002: Die Besteuerung der Unfallrenten wird wegen fehlender Übergangsfristen als verfassungswidrig aufgehoben.
27. 6. 2003: Die im Herbst 2000 beschlossene Neuregelung der Hinterbliebenenpensionen wird als verfassungswidrig angesehen.
10. 10. 2003: Der VfGH kippt die Reform des Hauptverbandes.
13. 3. 2004: Teile des Ausgleichsfonds der Sozialversicherungsträger werden als verfassungswidrig aufgehoben.
VfGH-Entscheid: Alle wesentlichen Elemente des im Jahr 2002 von der Regierung beschlossenen Modells zur Sanierung der Krankenkassen wurden als verfassungswidrig erkannt und aufgehoben: die Neuregelung des Ausgleichsfonds, die Zielvereinbarungen, die Erhöhung der Beiträge, die »Zwangsdarlehen« und die Einbeziehung von vier weiteren Krankenkassen in den Fonds.
Der Ausgleichsfonds soll der unterschiedlichen Versichertenstruktur der verschiedenen Kassen Rechnung tragen. Denn Kassen in den Bundesländern, in welchen es mehr Menschen mit niedrigen Einkommen, mehr Arbeitslose oder Pensionisten gibt, haben eine vergleichsweise schlechtere Finanzsituation. Daher haben alle Gebietskrankenkassen 2% ihrer Beitragseinnahmen in den Ausgleichsfonds gezahlt, der derartige Unterschiede in der Versichertenzusammensetzung teilweise ausgeglichen hat.
Im Jahr 2002 wurden die Kassen der Bauern, der Eisenbahner und der öffentlich Bediensteten in den Ausgleichsfonds integriert mit der Folge, dass etwa die Rücklagen der Eisenbahner abgezogen wurden und die Kasse der Bauern, die nie Einzahlungen in den Ausgleichsfonds geleistet hat, auf einmal große Zuflüsse aus dem Fonds erhalten hat. Des Weiteren wurde der Beitragssatz für die Zahlungen in den Fonds von 2% auf 4% angehoben und Zahlungen in den Fonds nicht nur von der Versichertenzusammensetzung abhängig gemacht, sondern auch davon, ob die Kassen die Vorgaben des Hauptverbandes umsetzen oder nicht.
VfGH: »Die Neuregelung des Ausgleichsfonds durch die Einbeziehung weiterer Krankenkassen (konkret: die Versicherungsanstalt Öffentlich Bediensteter, die der Eisenbahner, die der Gewerblichen Wirtschaft und die der Bauern) führt zu systemimmanenten Benachteiligungen bzw. Begünstigungen einiger Krankenkassen.«
Höhere Beitragssätze
Schon höhere Beitragssätze in einzelnen Krankenkassen bzw. zusätzliche Einnahmequellen (wie etwa Selbstbehalte) haben zur Folge, dass sie im Ausgleichsfonds-System stärker belastet werden. Die Erhöhung des Beitrags von 2% auf 4% wurde als verfassungswidrig aufgehoben, weil die Mittel u. a. für die Zahlungen im Zusammenhang mit der Zielerreichung verwendet werden sollten.
Unklarheiten über den Charakter und die Regelungen zu den Zielvereinbarungen - die eigentlich keine Vereinbarungen sondern Vorgaben sind - wurden ebenso als verfassungswidrig erkannt wie die Verpflichtung mancher Kassen, dem Fonds Zwangsdarlehen zu gewähren.
Die aufgehobenen Regelungen dürfen nicht mehr angewandt werden. Auf ihrer Grundlage sind bisher 561 Millionen Euro geflossen. Rückzahlungen werden die Folge des Urteils sein.
Es stellt sich die Frage, wie die defizitären Kassen die aus dem Fonds erhaltenen Beträge zurückzahlen sollen.
Hinweise wie jene der Ministerin, die meinte, der Obmann der Wiener Kasse solle »in sich gehen und überlegen, was schiefgegangen ist«, werden dem Ernst der Lage nicht wirklich gerecht, zumal der Gesetzgeber dieses Problem geschaffen hat und nicht die Gebietskrankenkassen.
Neuerungen im Gesundheitswesen 2004
Für alle ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen wird seit Jahresbeginn in der Krankenversicherung ein »Zusatzbeitrag für Freizeitunfälle« von 0,1% eingehoben. Dieser ist allein von den Versicherten zu bezahlen, der Dienstgeberbeitrag ist davon nicht betroffen! Es handelt sich um eine Beitragssatzerhöhung ohne neue Leistungen, denn Freizeitunfälle waren schon bisher versichert.
Für Angestellte beträgt der Dienstnehmerbeitrag in der Krankenversicherung ab heuer 3,7%, also um 0,3% mehr als im Vorjahr. Für ASVG-PensionistInnen werden die KV-Beiträge 2004 und 2005 um jeweils 0,5% erhöht. Hinzu kommt der erwähnte »Zusatzbeitrag für Freizeitunfälle«, womit 4,35% (2004) bzw. 4,85% (2005) zu bezahlen sind.
Wenn Christoph Leitl vorschlägt, die Kassen sollen bei drohender Zahlungsunfähigkeit kurzfristig Kredite aufnehmen, so stellt dies lediglich einen teuren Aufschub, aber keinesfalls eine Lösung des Problems dar.
Explodierende Gesundheitsausgaben?
Trotz der schwierigen Finanzsituation der Krankenkassen muss eines festgehalten werden: Die Gesundheitsausgaben in Österreich sind im internationalen Vergleich der Industrieländer relativ gering. Die gesamten Gesundheitsausgaben (öffentliche und private) lagen im Jahr 2001 in Österreich bei 7,4% des BIP. Spitzenreiter waren die USA mit 13,7%, die Schweiz und Deutschland lagen bei 10,4%.
Auch im Zeitvergleich ist die Ausgabenentwicklung keineswegs dramatisch.
Das österreichische Finanzierungsproblem resultiert aus der Entwicklung, dass die Einnahmen hinter den Ausgaben zurückbleiben. Das liegt auf der Einnahmenseite an Faktoren wie der hohen Arbeitslosigkeit und dem Verlust an gut bezahlten Vollzeitarbeitsplätzen. Seit dem Jahr 2000 sind 61.000 Vollzeit-Arbeitsplätze verlorengegangen. Gleichzeitig stiegen die Teilzeitstellen um 65.000. Auf der Ausgabenseite wirken vor allem die Medikamentenkosten als Preistreiber. Der steigende Anteil älterer Menschen zusammen mit neuen Behandlungsmethoden hat ebenfalls erhöhte Kosten zur Folge.
Von 1997 bis 2002 stiegen:
Ausgabenbegrenzung?
Eine Koppelung der Ausgaben an die Einnahmen, die von Gesundheitsministerin Rauch-Kallat vorgeschlagen wurde, liefe auf weitere Belastungen für kranke Menschen hinaus. Diese tragen aber keine Schuld an der ungünstigen Einnahmen-Ausgabenentwicklung der Krankenkassen.
Darüber hinaus hat die Regierung selbst durch einige Maßnahmen den Krankenkassen Finanzierungsquellen »abgedreht« (siehe Kasten).
Verländerung oder Vereinheitlichung?
Die Regierung plant nun eine völlige Neuordnung des Gesundheitswesens: Unter dem Schlagwort »Gesundheitsagenturen« sollen zwei Ziele umgesetzt werden:
Eine weitere »Verländerung« des Gesundheitswesens wäre eine bedenkliche Entwicklung. Denn das hieße, dass Gebietskrankenkassen mit gleichen Beitragssätzen verstärkt unterschiedliche Versicherungsleistungen erbringen würden.
Die Sozialversicherung verliert im Rahmen der geplanten Gesundheitsagenturen ihre Gestaltungsmöglichkeiten und wird auf eine reine »Vollziehung« der Vorgaben der Gesundheitsagentur reduziert. Die Planungs- und Steuerungsbeschlüsse der Agentur sind für die Sozialversicherung verbindlich. Es ist aufgrund der letzten VfGH-Urteile (Hauptverband, Krankenkassenausgleichsfonds) nicht davon auszugehen, dass diese Konstellation verfassungskonform ist, weil jene selbstverwalteten Kassen, die die Leistungen finanzieren, keine Gestaltungsmöglichkeiten auf den Leistungskatalog hätten.
Die Gesundheitsagentur soll folgendermaßen beschickt werden:
Das ergibt wieder eine Mehrheit für Schwarz-Blau. In den Krankenkassen richtet sich die Entsendung der Vertreter der ArbeitnehmerInnen nach den Ergebnissen der AK-Wahl. Diese fände in der Zusammensetzung der Gesundheitsagenturen keinerlei Entsprechung mehr.
Gesundheitsagenturen
Ministerin Maria Rauch Kallat will die Gesundheitsagenturen im Herbst beschließen lassen. Das Thema sei mit den Finanzausgleichsverhandlungen verknüpft, die bis Ende des Jahres neu geregelt werden müssen.
Die Gesundheitsagenturen würden die gesamten Mittel in den Bundesländern zusammenfließen lassen und damit die gesamte Gesundheitsversorgung finanzieren.
Dies würde zu einer Kompetenzverteilung weg von der Sozialversicherung führen, welche nicht gerechtfertigt wäre. Die Verwaltungskosten der Landesfonds haben sich 1997 bis 2001 verdreifacht, die der Kassen sind nur um 7% gestiegen.
Laut Franz Bittner, Chef der Wiener Kasse, zahlen Bund, Länder und Gemeinden nur 26% der Krankenhausausgaben, hätten jedoch in der Gesundheitsagentur eine Mehrheit (Wirtschaftsblatt vom 18. 3. 2004). Wenn man auch die niedergelassenen Ärzte berücksichtigt, finanziert die Krankenkasse etwa zwei Drittel der Kosten.
In diese Kerbe schlägt auch Hans Sallmutter. »Die Sozialversicherungen würden so nur noch die Ausgaben abwickeln, können aber die Verwendung der Mittel, die Leistungen und die Verhandlungen mit den Vertragspartnern nicht mehr gestalten«, so Sallmutter. »Länder und Gemeinden sind Anbieter von Spitälern und haben ein Interesse, dass hier mehr Geld hineinfließt.«
Strukturausgleich
Eine zusätzliche Verländerung kann aber nicht die Antwort auf die Herausforderungen im Gesundheitswesen sein. Denn je nach Höhe der Einkommen, dem Verhältnis zwischen Beschäftigten zu Arbeitslosen und Pensionisten haben die Kassen eine gute oder schlechte Finanzsituation. Eine Form des Risikostrukturausgleiches wäre hier durchaus notwendig, wenn man den Weg einer Zusammenlegung der Kassen nicht gehen will. Das VfGH-Urteil schreibt vor, den Ausgleichstopf zwischen unterschiedlichen Kassen aufzuheben (Bauern und Gebietskrankenkassen), nicht jedoch zwischen den Gebietskrankenkassen selbst.
Privatisierung?
Die Gesundheitsagenturen könnten sich auch als Weg zu einer weiteren Privatisierung der Gesundheitsausgaben entpuppen. So ist im diesbezüglichen Papier zu diesem Thema schon vom »Einkauf von Leistungen am Gesundheitsmarkt« die Rede. Der Wirtschaftsbund fordert in diesem Zusammenhang eine schrittweise Privatisierung von Spitälern und eine Zurückdrängung der Arbeitnehmervertreter in den Krankenkassen.
Derzeit werden die Gesundheitsausgaben zu 68,5% öffentlich (Sozialversicherung, Bund, Länder, Gemeinden) und zu 31,5% privat getragen.
Sinnvolle Reformvorschläge
Gesundheitsministerin Rauch-Kallat will die öffentlichen Gesundheitsausgaben bei 5,5% des BIP einfrieren. Das bedeutet, dass der zu erwartende zusätzliche Bedarf an Leistungen des Gesundheitswesens automatisch von den Betroffenen selbst aufgebracht werden muss und damit kein Solidarausgleich stattfindet. Die Probleme würden zunehmend auf jeden Einzelnen abgewälzt werden.
Sinnvolle Gesundheitsreformen müssen sowohl bei den Einnahmen als auch bei den Ausgaben ansetzen, ohne Grundlagen wie einen gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen und Solidarausgleich durch die Pflichtversicherung in Frage zu stellen. Eine verstärkte Finanzierung des Systems über Selbstbehalte ist unsozial und daher abzulehnen. Selbstbehalte belasten sozial schwache und krankheitsanfällige Menschen überproportional.
Maulkorberlässe für die Sozialversicherung
Die Regierung verbietet den SV-Trägern per Gesetz die freie Meinungsäußerung:
Schritt 1: SV-Träger dürfen Informationen an die Versicherten nur nach Absprache mit den betreffenden Ministerien aussenden. (Hintergrund: Die SV-Träger haben die Versicherten kritisch über den »Unsinn« der Ambulanzgebühren informiert, zu deren Umsetzung sie gezwungen wurden.)
Schritt 2: SV-Träger müssen die Versicherten im Auftrag des Ministeriums in dessen Sinne informieren.
Schritt 3: Auch die neuerliche Deckelung der Verwaltungskosten auf Basis 1999 kommt einer Knebelung der Entscheidungsmöglichkeiten der Sozialversicherungsträger gleich.
Probleme der derzeitigen Struktur
Im gegenwärtigen Gesundheitssystem gibt es eine Vielzahl an Akteuren, Leistungsfinanciers und Leistungserbringern. Hier ein Mehr an Koordination und ganzheitlichem Denken einzuführen wäre durchaus sinnvoll. Doch nicht jeder Vorschlag, der dies offiziell zum Ziel hat, würde die Situation optimieren.
Ein wesentlicher Grundsatz sollte sein, dass die Leistungsfinanciers im Rahmen der Selbstverwaltung auch eine Gestaltungsmöglichkeit haben. Im Modell der Gesundheitsagenturen sind die Krankenkassen, die den weitaus größten Teil der Finanzmittel stellen, völlig unterrepräsentiert und würden de facto auf die Vollziehung beschränkt werden.
Ein systemischer Schwachpunkt des derzeitigen Gesundheitssystems ist die duale Finanzierung.
Die Spitäler werden über Länderfonds von der Sozialversicherung, dem Bund, den Ländern und Gemeinden finanziert.
Die niedergelassenen Ärzte werden von den Krankenkassen finanziert.
Das führt zu Schnittstellenproblemen und Versuchen, sich gegenseitig Kosten zuzuschieben. Da die Zahlungen der Kassen für die Spitäler gedeckelt und pauschaliert sind, während jeder Arztbesuch über die Einzelabrechung Mehrkosten verursacht, ist für die Kassen eine ambulante Behandlung in einer Krankenanstalt finanziell schonender.
Umgekehrt wollen die Länder mehr an Behandlung von den Ambulanzen zu den Ärzten verlagern, weil für sie dadurch keine finanziellen Belastungen entstehen würden.
Hier wäre eine ganzheitliche Struktur ein Fortschritt, wenn sie nicht zu einer Entmachtung der Krankenkassen führt, sondern zum Ziel hat, das gegebene System zu optimieren. Auf keinen Fall dürfte eine neue Struktur als Mittel zur Privatisierung des Gesundheitswesens instrumentalisiert werden.
Was getan werden soll:
Generika sind wirkstoffgleiche »Nachbau-Medikamente« von Präparaten, deren Patentschutzfrist abgelaufen ist. (Der Anteil der Generika beträgt in Österreich 11%, in Deutschland hingegen 52%.)
Verbreitung der Bemessungsgrundlage - Wertschöpfungsabgabe
Doch selbst wenn notwendige Optimierungen im System erfolgen, ist eine Erhöhung der Finanzmittel für das Gesundheitswesen notwendig, will man den Weg zur Zweiklassengesellschaft im Bereich der Gesundheitsversorgung nicht gehen. Die Forderung nach einer Wertschöpfungsabgabe wird nun auch vom Präsidenten der Wiener Ärztekammer, Walter Dorner, unterstützt. Die Vertreter der Wirtschaft, Christoph Leitl, und der Industrie, Lorenz Fritz, haben erwartungsgemäß sofort abgeblockt.
Die Gesundheitsexpertin des IHS, Maria Hofmacher, meint zwar auch, dass kurzfristig über eine Optimierung der Versorgungskette etwas eingespart werden könne, die Finanzierungslücke grundsätzlich aber einnahmenbedingt ist. Seit Mitte der 80er-Jahre nehmen die Kosten stärker zu als die Einnahmen. Die Schere geht immer weiter auseinander. An einer Erhöhung der Beiträge oder der Bemessungsgrundlage führt daher kein Weg vorbei.
Ungleiche Chancen
Die Kosten für das Gesundheitswesen hängen aber auch davon ab, ob wir in einer krankmachenden Gesellschaft leben. Gesundheit hängt neben dem individuellen Verhalten auch von zahlreichen sozialen Faktoren ab, die ihrerseits auch das individuelle Verhalten prägen:
Der Zustand der Wohnungen, die Qualität der Ernährung, Bewegung, Konsum von Nikotin, Alkohol, Bildung und Erziehung, das alles sind Faktoren, die in verschiedenen sozialen Schichten sehr unterschiedlich sind und den Gesundheitszustand beeinflussen.
Ungleiche Chancen in der Gesellschaft spiegeln sich auch im Gesundheitszustand und der Lebenserwartung wider. Weniger Gebildete und arme Menschen werden öfter und schwerer krank als gebildete und reiche. Das Sterberisiko von Pflichtschulabgängern ist bei Männern zwischen 36 bis 64 um 109% höher als bei Akademikern; bei Frauen ist die Sterblichkeit der Pflichtschulabgängerinnen um 50% höher als bei Akademikerinnen.
Eine Verbesserung des allgemeinen Bildungsniveaus und der Lebensbedingungen verbessert den Gesundheitszustand und entlastet damit das Gesundheitswesen langfristig. Auch die Arbeitsbedingungen und die soziale Sicherheit wirken sich aus. Menschen werden durch Mobbing, Stress, Überanstrengung oder etwa »unsichere« Arbeitsplätze krank. Man muss derartige Faktoren als Teil des Komplexes Gesundheit sehen.
Der britische Wissenschafter Richard Wilkinson hat festgestellt, dass Menschen in Ländern mit geringeren Einkommensunterschieden eine höhere Lebenserwartung haben.
Bemühungen um eine nachhaltige Konsolidierung des Gesundheitswesens müssen daher auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen als gesundheitsbestimmende Faktoren berücksichtigen.
Regierung hungert Krankenkassen aus
Durch eine Reihe von Maßnahmen hat die Regierung die Einnahmen der Krankenkassen unter anderem reduziert:
Die Wirtschaftspolitik der EU …
Was sind nun die Grundpfeiler der Konzeption der Wirtschaftspolitik, wie sie seit Jahren weitgehend unverändert von EU-Kommission und Europäischem Rat gepredigt werden?
Kurz zusammengefasst könnte man sagen, die »Grundzüge der Wirtschaftspolitik« der EU beruhen auf drei Säulen:
Erstens soll die makroökonomische Politik (also die drei großen Bereiche Budgetpolitik, Geldpolitik und Lohnpolitik) für Stabilität sorgen;
zweitens sollen so genannte Wirtschaftsreformen zu besser funktionierenden Märkten (Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkte) und damit zu besserer Wettbewerbsfähigkeit führen, und
drittens muss die wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit gebührend berücksichtigt werden, um zu gewährleisten, dass die Bemühungen auch längerfristig die gewünschten Resultate bringen.
… als Bremse für Wachstum und Beschäftigung
Was steckt hinter diesen - auf den ersten Blick gar nicht so unvernünftig erscheinenden - Empfehlungen? Zuerst zu den drei großen makroökonomischen Politikbereichen:
Unter einer »stabilitätsorientierten Budgetpolitik« versteht die EU vor allem, dass die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes strikt eingehalten werden müssen. In der Ausgabe vom Jänner 2004 (Seite 20) erschien in »Arbeit&Wirtschaft« ein ausführlicher Beitrag von Thomas Lachs, in welchem die ökonomischen Unsinnigkeiten dieses Paktes - der im Übrigen ein reiner »Stabilitätspakt« ist, denn mit »Wachstum« hat er kaum zu tun - ausführlich dargestellt werden. Das Grundproblem dieses Paktes liegt darin, dass dem Ziel, ausgeglichene öffentliche Haushalte (oder gar Budgetüberschüsse) zu erreichen, gegenüber dem Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum absolute Priorität eingeräumt wird. Der Pakt verpflichtet die Finanzminister auch dann zum Sparen, wenn aufgrund niedriger privater Nachfrage besonderer Bedarf danach bestünde, dass durch öffentliche Ausgaben die Nachfrage, also Konsum und Investitionen und damit Wachstum und Beschäftigung, stimuliert werden. Das Grundübel des Paktes besteht im Ignorieren eines fundamentalen Zusammenhanges: Bei schwachem Wirtschaftswachstum fallen auch die Steuereinnahmen des Finanzministers niedriger aus und das Budgetdefizit steigt. Wenn dann das Defizit aber reduziert werden soll, müssen Staatsausgaben gekürzt werden, was dämpfend auf die Nachfrage wirkt und damit das Wachstum weiter bremst - also ein Teufelskreis!
Schrittchen und Schritte
Wie sich die EU eine »stabilitätsorientierte Geldpolitik« vorstellt, wurde uns in den letzten Jahren von der Europäischen Zentralbank (EZB) demonstriert. Geldwertstabilität um jeden Preis heißt das Ziel, Inflationsbekämpfung steht im Zentrum, auch wenn es nichts zu bekämpfen gibt. Als 2001 weltweit die Konjunktur einbrach und sich davon in der Folge in Europa bis heute nicht nachhaltig erholte, wagte die EZB erst viel zu spät und zu zaghaft einige kleine Zinssenkungsschrittchen, nachdem die Nachfrage und das Vertrauen der Investoren längst abgesackt waren.
Was die Lohnpolitik betrifft, so fordern die »Grundzüge«, dass die Nominallohnerhöhungen mit Preisstabilität und Produktivitätsgewinnen vereinbar sind. Dieser im Grunde nicht unvernünftige Ansatz wird in den nachfolgenden Sätzen jedoch mit Ausdrücken wie »moderat«, »zurückhaltend« oder »bescheiden« präzisiert, und spätestens wenn gefordert wird, dass die Lohnerhöhungen eine Erholung der Gewinne ermöglichen sollen, wird klar, dass es dabei nicht um eine »produktivitätsorientierte Lohnpolitik« geht, sondern vielmehr um eine Umverteilungsstrategie zu ungunsten der Arbeitnehmer.
Irrglaube
Hinter den in den »Grundzügen« geforderten so genannten Wirtschafts- und Strukturreformen, die zum besseren Funktionieren der Märkte beitragen sollen, verbirgt sich nichts Anderes als der Ruf nach Liberalisierung, Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung. Wir haben es also wieder einmal mit dem weit verbreiteten neoliberalen Irrglauben zu tun, dass Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit auf zu starre Arbeitsmärkte und auf zu großzügige Sozialsysteme zurückzuführen seien. Denn »Arbeit müsse sich wieder lohnen«, meinen die »Grundzüge«, und dazu müssen die Arbeitsmärkte flexibler und »relativ großzügige Sozialleistungssysteme oder Vorruhestandsanreize« zurechtgestutzt werden. In der Terminologie der »Grundzüge« liest sich dies so: »Die Ausgestaltung und Handhabung für Leistungsbezugsvoraussetzungen verbessern, um die Arbeitsaufnahme zu fördern; die Struktur der Lohnersatzrate prüfen; die Höhe, die Bezugsdauer und/oder die Bedürftigkeitskriterien für den Fall von Leistungen überdenken.«
Kinderbetreuung und Teilzeit
Gerechterweise muss man hinzufügen, dass dieses Kapitel der »Grundzüge« durchaus auch positive Empfehlungen enthält, wie zum Beispiel: Es wird die Notwendigkeit von ausreichenden Kinderbetreuungseinrichtungen betont, um insbesondere Frauen die Arbeitsaufnahme zu erleichtern; es werden Teilzeitjobangebote für diejenigen gefordert, die dies wünschen (also ausdrücklich auf freiwilliger Basis!); größerer Zusammenhalt und die Einbindung der Sozialpartner bei Reformen sei wichtig.
Es wird auch die Bedeutung von Investitionen, insbesondere in Wissen und Innovation betont sowie die Rolle der EU-Ebene für Investitionen in Schlüsselbereiche der Infrastruktur wie etwa die transeuropäischen Netze. Auch die Forderung nach universeller Verfügbarkeit und hoher Qualität von Leistungen der Daseinsvorsorge ist voll zu unterstützen.
Auch im dritten großen Abschnitt, nämlich über die Nachhaltigkeit, gibt es Licht und Schatten. Positiv ist etwa, dass erkannt wird, dass bezüglich der sozialen Nachhaltigkeit Arbeit und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen den besten Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung darstellt, oder dass die Modernisierung der Sozialschutzsysteme unter Wahrung eines angemessenen Niveaus der sozialen Sicherung erfolgen muss. Auch Forderungen zur ökologischen Nachhaltigkeit, wie etwa nach einer konsequenteren Anwendung des Verursacherprinzips und mehr Kostenwahrheit im Verkehrssektor sind zu begrüßen.
Dreigleisig
Zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit verweisen die »Grundzüge« auf die im Jahr 2001 in Stockholm beschlossene dreigleisige Strategie: Steigerung der Beschäftigungsquote, Verringerung der Staatsverschuldung sowie Reformen der Renten- und Gesundheitssysteme. In dieser allgemeinen Form erscheinen die Ansätze sinnvoll, natürlich kommt es letztendlich auf die Details an. Dazu ein Beispiel: eine Erhöhung des effektiven Renteneintrittsalters kann sinnvoll sein, aber nur wenn sie freiwillig erfolgt und entsprechende Arbeitsplätze vorhanden sind.
Denn sonst bedeutet dies bloß steigende Altersarbeitslosigkeit oder Rentenkürzungen. Erfreulich ist, dass im Gegensatz zu früher nicht mehr auf eine Umstellung der Rentenfinanzierungssysteme weg vom (öffentlichen) Umlageverfahren auf ein (privates) Kapitaldeckungsverfahren gedrängt wird. Die negative Entwicklung der Aktienmärkte und damit der privaten Pensionsvorsorgen in den letzten Jahren scheinen also nicht ohne Einfluss geblieben zu sein.
Abschließend fordern die »Grundzüge« speziell für das Euro-Gebiet eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik, was in einer Währungsunion eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Stagnation ist auch Stabilität!
Diese seit Jahren unveränderte Konzeption der europäischen Wirtschaftspolitik wird vom EWSA zu Recht als erfolglos bezeichnet. Zu Beginn dieses Jahrhunderts waren weltweit alle Wirtschaftsräume von einem massiven Konjunktureinbruch betroffen. In den USA und in Japan gelang rasch eine Wiederbelebung, da die Wirtschaftspolitik entschlossen und massiv die Nachfrage ankurbelte. Die US-Zentralbank senkte die Leitzinsen von 6,5 Prozent im Jahr 2000 auf ein Prozent, und der Budgetsaldo drehte sich von einem Plus von 1,1 Prozent des BIP im Jahr 2000 auf ein Minus von über fünf Prozent im Jahr 2003. Damit wurde den Investoren und Konsumenten klar gemacht, dass eine Krise ohne Rücksicht auf Budgetdefizite oder steigende Inflation verhindert werden soll.
Die EU dagegen verzichtete als einziger großer Wirtschaftsraum auf eine aktive makroökonomische Politik, welche die Nachfrage und damit Wachstum und Beschäftigung ankurbelt. Die EU setzte weiterhin auf eine einseitig angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, also eine stabilitätsfördernde Wirtschaftspolitik mit kostensenkenden Flexibilisierungsmaßnahmen.
So eine Politik wirkt allerdings wachstumsdämpfend, und sie kann den herrschenden Mangel an Nachfrage, vor allem von Investitionen, nicht beheben. Wenn durch niedrige Einkommen und hohe Arbeitslosigkeit die Nachfrage der Haushalte schwach ist, werden auch noch so günstige Angebotsbedingungen und niedrige Kosten die Unternehmer nicht zum Investieren bringen. An wen sollten sie ihre Produkte verkaufen?
Somit trug die europäische Wirtschaftspolitik wesentlich dazu bei, dass auch heuer die Arbeitslosenzahlen wieder ansteigen und Europa als einziger großer Wirtschaftsraum nach drei Jahren extrem niedrigen Wachstums noch immer keinen Wiederaufschwung geschafft hat. Diese Stagnation kann doch nicht die von der EU gewünschte »Stabilität« sein?
EWSA fordert aktive Wachstumspolitik
Der EWSA analysiert in seiner Stellungnahme: Die bisherige angebotsorientierte Politik der EU vernachlässigte die Tatsache, dass sich im Wirtschaftskreislauf Angebot und Nachfrage die Waage halten müssen. Daher bedarf es einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik und einer Beseitigung der innereuropäischen Blockaden für eine nachhaltige Belebung von Wachstum und Beschäftigung. Wir brauchen eine aktive, auf Nachfragewachstum ausgerichtete und koordinierte Politik mit dem erklärten Ziel der Vollbeschäftigung. Die EU muss sich wieder auf ihre internen Kräfte stützen und darf nicht - wie bisher - passiv darauf warten, dass man an der Wachstumsbelebung der übrigen Welt als »Trittbrettfahrer« (in Form von höheren Exporten) mitnaschen kann.
Von der Budgetpolitik fordert der EWSA, dass diese klar den Zielen Wachstum und Beschäftigung anstatt einem diffusen Stabilitätsbegriff verpflichtet sein soll. Zusätzliches Sparen bei niedrigem Wirtschaftswachstum wird als kontraproduktiv abgelehnt. Die undifferenzierte Betrachtung von Budgetsalden (Nulldefizit, oder höchstens drei Prozent des BIP pro Jahr) soll durch eine bessere Analyse von strukturellen und qualitativen Aspekten ersetzt werden. Denn es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob ein Defizit durch höhere Repräsentationsausgaben verursacht wird oder etwa durch Infrastrukturinvestitionen. Wenn letztere, zum Beispiel Schulen, mehreren Generationen zugute kommen, wäre es im Sinne der Generationengerechtigkeit auch anzustreben, diese Kosten über mehrere Generationen zu verteilen. Jedenfalls müsste der Stabilitäts- und Wachstumspakt so neu interpretiert werden, dass die Haushaltspolitik auf unterschiedliche Wirtschaftslagen auch angemessen reagieren kann. Denn ein Schuldenabbau ist sicherlich anstrebenswert, doch wird dieser durch eine rasch wachsende Wirtschaft viel leichter erreicht werden als durch knausrige Finanzminister.
Geldpolitik
Auch die Geldpolitik darf nicht isoliert nur die Inflationsdämpfung als einziges Ziel verfolgen. Der EWSA verlangt, die Europäische Zentralbank (EZB) auf ein viel weiter gefasstes Stabilitätsziel zu verpflichten, das neben der Geldwertstabilität auch die Stabilität von Wachstum, Vollbeschäftigung und des Systems des sozialen Zusammenhaltes beinhaltet. Eine in diesem Sinne verantwortungsvolle und pragmatische Geldpolitik hätte - wie in den USA - schon im Falle eines sich androhenden Abschwunges entschlossen gegensteuern müssen. Zinssenkungen erst ein halbes Jahr nach Eintreten eines Abschwunges sind nicht hilfreich, wenn die Zuversicht der Investoren gestützt werden soll.
Zur Lohnpolitik stellt der EWSA fest, dass Löhne nicht nur als Kostenfaktor der Unternehmen gesehen werden dürfen. Denn diese einseitige Sicht übersieht, dass im Wirtschaftskreislauf Löhne auch den größten Bestimmungsfaktor der Inlandsnachfrage darstellen. Eine ausgeprägte Lohnzurückhaltung schwächt also die Gesamtnachfrage und damit Wachstum und Beschäftigung. Eine verantwortungsvolle Lohnpolitik muss daher gleichermaßen Verantwortung für die Angebotsseite (Kosten- und Preisentwicklung) und für die Nachfrageseite (Konsum, Wachstum) übernehmen. Eine mittelfristige Orientierung des Lohnzuwachses am jeweils nationalen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt und der Inflation entspräche am besten der Balance zwischen ausreichender Nachfrageentwicklung und Wahrung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit.
Effiziente Koordinierung fehlt
Mittlerweile existiert zwar eine gemeinsame europäische Währung, aber eine dazu passende gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik fehlt. Die Notwendigkeit einer gegenseitigen Abstimmung von Haushalts-, Geld- und Lohnpolitik wird zwar in Sonntagsreden, bei Ratsgipfeln und auch in den »Grundzügen« immer wieder betont, doch blieb der so genannte »Köln-Prozess« des makroökonomischen Dialoges bislang unbedeutend. Denn effektive Koordinierung zwischen den Akteuren (Regierungen, EZB, Sozialpartner) kann es nicht geben, solange gepredigt wird, die Geldpolitik habe ausschließlich auf Geldwertstabilität und die Haushaltspolitik habe ausschließlich auf stabile Staatsfinanzen zu achten. Was soll dann noch koordiniert werden, wenn diesen Politikbereichen die Verantwortung für die realwirtschaftliche Entwicklung, also für Wachstum und Beschäftigung, abgesprochen wird?
Natürlich muss dabei die volle Unabhängigkeit der Akteure, der Tarifparteien ebenso wie der EZB, gewahrt bleiben. Dennoch müssen alle drei Akteure ihre Verantwortung für die europäische Wirtschaft wahrnehmen und bereit sein zu einem offenen, permanenten Dialog über die Einschätzung der Wirtschaftslage und der Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik.
Reformen und Nachhaltigkeit
Da sich die Hauptkritik des EWSA gegen den sogenannten makroökonomischen »Policy-mix« richtet, wird auf die beiden anderen Themenkreise, nämlich Wirtschaftsreformen und Nachhaltigkeit, hier weniger ausführlich eingegangen. Eine Reihe der in den »Grundzügen« vorgeschlagenen Maßnahmen wird vom EWSA durchaus begrüßt, doch weist der Ausschuss mit deutlichen Worten darauf hin, dass dabei gewisse Grundsätze eingehalten werden müssen.
Wahrung der sozialen Balance
So müssen alle Modernisierungsschritte unter voller Einbindung der Sozialpartner erfolgen, die soziale Balance müsse gewahrt bleiben, fundamentale Interessen der Beschäftigten müssen berücksichtigt und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit gewährleistet werden. Weiters distanziert sich der Ausschuss deutlich von Forderungen nach einem Rückzug des Staates und nach einer generellen Reduktion staatlicher Eingriffe.
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)
Die Stimme der organisierten Zivilgesellschaft in Brüssel
Der EWSA wurde durch die Römischen Verträge im Jahr 1957 als beratendes Organ ins Leben gerufen. Er repräsentiert die großen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen und soll mit seinen Stellungnahmen die Europäische Kommission, den Europäischen Rat und das Europäische Parlament beraten. Er ist somit eine wichtige Stimme der Sozialpartner und der sonstigen wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen im Beschlussfassungsprozess der Gemeinschaft und ein wesentliches Vertretungsorgan der organisierten Zivilgesellschaft in der EU.
Der EWSA hat zur Zeit 222 Mitglieder (nach der Erweiterung 317), die paritätisch in drei große Gruppen aufgeteilt sind: Arbeitgeber (Gruppe 1), Arbeitnehmer (Gruppe 2 - steht in enger Zusammenarbeit mit dem EGB) und Verschiedene Interessen (Gruppe 3 - dazu zählen z. B. Vertreter der Bereiche Landwirtschaft, Freie Berufe, aber auch Konsumenten- und Umweltschutz, Sozial- und Familienverbände, Wissenschaft usw.). Österreich entsendet 12 Mitglieder in den Ausschuss.
Die Mitglieder werden von den nationalen Regierungen (nach Abstimmung mit den repräsentativen Verbänden) vorgeschlagen und vom Rat der Europäischen Union auf vier Jahre ernannt (Wiederernennung ist zulässig); sie sind unabhängig und weisungsfrei. Ihre Tätigkeit ist unentgeltlich, die Mitglieder gehen ihren beruflichen Tätigkeiten in den Heimatländern nach und kommen nur zu den Sitzungen des Ausschusses nach Brüssel.
Im Ausschuss bestehen sechs Fachgruppen zu folgenden Themengruppen:
ECO: Wirtschafts- und Währungsunion, Kohäsion
INT: Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch
TEN: Verkehr, Energie, Infrastruktur, Informationsgesellschaft
NAT: Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz
REX: Außenbeziehungen
Die Entwürfe für Stellungnahmen werden in kleinen Studiengruppen unter Federführung eines Berichterstatters verfasst. Diese werden dann in der entsprechenden Fachgruppe und danach im Plenum diskutiert und verabschiedet und anschließend dem Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament übermittelt sowie im Amtsblatt veröffentlicht. Der Ausschuss muss sich um Konsens bzw. Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Interessen bemühen. Denn je höher der Grad der Zustimmung bei der Verabschiedung ist, desto größer ist die Chance, dass der Inhalt der Stellungnahme auch Berücksichtigung findet.
Durch diesen Ausschuss bringen die unterschiedlichen repräsentativen Interessengruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in institutionalisierter Form gebündelt ihren praxisnahen Sachverstand und ihre Standpunkte in den europäischen Entscheidungsprozess ein. Nähere Infos gibt es auf der EWSA-Webseite:www.esc.eu.int
I N F O R M A T I O N
Österreichische Arbeitnehmervertreter im EWSA
Die Interessen der österreichischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im EWSA werden derzeit von folgenden KollegInnen vertreten:
Eva Belabed (Leiterin der Abteilung Europapolitik der AK-Oberösterreich), Fachgruppen INT und REX
Thomas Delapina (Mitarbeiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft der AK-Wien), Fachgruppen ECO und TEN
Wolfgang Greif (Internationaler Sekretär der Gewerkschaft der Privatangestellten), Fachgruppen SOC und ECO
Angela Pfister (Mitarbeiterin des Volkswirtschaftlichen Referates des ÖGB), Fachgruppen TEN und REX
Gustav Zöhrer (Internationaler Sekretär der Gewerkschaft Metall-Textil), Fachgruppen SOC und INT
R E S Ü M E E
Sozialpartner fordern einhellig Neuorientierung
Diese Stellungnahme des EWSA zu den »Grundzügen der Wirtschaftspolitik« der EU ist vor allem deshalb ein bemerkenswertes Dokument, weil ganz wesentliche Kritikpunkte und Argumentationen, die seit vielen Jahren von Arbeitnehmervertretern vorgebracht werden, erstmals auf europäischer Ebene praktisch einvernehmlich von allen großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen unterstützt werden, also auch von der überwiegenden Mehrheit der Arbeitgeberseite im EWSA.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die bisherige Wirtschaftspolitik der EU ist gescheitert. Die unausgewogene, da rein angebotsseitige Politik bemüht sich seit Jahren erfolglos um eine Wiederbelebung des Wachstums, die in Lissabon für das Jahr 2010 gesteckten Ziele werden so kaum erreicht werden. Eine nur auf Stabilität ausgerichtete und damit restriktiv wirkende Geld- und Haushaltspolitik, kombiniert mit kostensenkenden Flexibilisierungsmaßnahmen, reicht nicht aus, um Wachstum und Beschäftigung zu schaffen, da sie den Nachfragemangel nicht beheben kann.
Gefordert ist daher eine grundlegende Neuorientierung des Policy-mix, eine auf Expansion ausgerichtete, koordinierte Wirtschaftspolitik, die aktiv die andauernde Nachfrageschwäche bekämpft. Nur wenn alle Akteure der Wirtschaftspolitik glaubhaft die Ziele Wachstum und Vollbeschäftigung anstreben, wird das Vertrauen von Konsumenten und Investoren so weit gestärkt werden, dass sich auch die Nachfrage wieder belebt.
Der Autor ist seit 1995 Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, und er war als Berichterstatter zu den »Grundzügen der Wirtschaftspolitik« maßgeblich für diese Stellungnahme des EWSA verantwortlich.
]]>1. Kurswechsel in der Budgetpolitik
Die heftige Kritik des Ecofin-Rates am österreichischen Stabilitätsprogramm im März 2000 wurde von der schwarz-blauen Regierung zum Anlass genommen, eine neue budgetpolitische Ära einzuleiten. Das »Nulldefizit« und seine Erreichung innerhalb von nur zwei Jahren wurde zur obersten wirtschaftspolitischen Priorität erklärt.
Vom »Nulldefizit« als oberster Priorität über den Haushaltsausgleich im Konjunkturzyklus ...
In einer aus öffentlichen Mitteln finanzierten Kampagne »Zukunft ohne Schulden« versuchte die Regierung der Bevölkerung permanent zu vermitteln, dass der Staat vor dem Bankrott stünde und daher ein Sanierungsfall sei. Diese Argumentation hatte natürlich eine Schlagseite, weil der Staat keineswegs vor dem Bankrott stand und weil den Schulden Vermögenswerte gegenüberstehen, die erheblich zur Wohlfahrtssteigerung in Österreich beigetragen haben und die auch von unseren Kindern und Kindeskindern genutzt werden können. Im BIP-pro-Kopf Vergleich lag Österreich im europäischen Spitzenfeld (siehe Tabelle 1: »Maastrichtdefizite und -überschüsse in den Stabilitätsprogrammen«).
Tabelle 1 Maastrichtdefizite und -überschüsse in den Stabilitätsprogrammen in % des BIP |
||||||||||
1998 | 1999 | 2000 | 2001 | 2002 | 2003 | 2004 | 2005 | 2006 | 2007 | |
November 1998 | -2,2 | -2,0 | -1,7 | -1,5 | -1,4 | |||||
März 2000 | -2,0 | -1,7 | -1,5 | -1,4 | -1,3 | |||||
November 2000 | -1,4 | -0,75 | 0,0 | 0,0 | 0,0 | |||||
November 2001 | 0,0 | 0,0 | 0,0 | 0,2 | 0,5 | |||||
März 2003 | -0,6 | -1,3 | -0,7 | -1,5 | -1,1 | -0,4 | ||||
November 2003 | -0,1 | -1,3 | -0,7 | -1,5 | -1,1 | -0,4 | ||||
tatsächliches Ergebnis*) | -2,4 | -2,3 | -1,5 | 0,2 | -0,2 | -1,1 | ||||
*) 2003 vorläufiges Ergebnis Quelle: Österreichische Stabilitätsprogramme, BMF |
Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt war der abrupte budgetpolitische Kurswechsel nicht gerechtfertigt, weil damals die Erreichung eines ausgeglichenen Haushalts noch als mittelfristiges Ziel angesehen wurde. Auch ökonomisch lässt sich nach Ansicht prominenter Ökonomen der »Nulldefizit-Kurs« nicht begründen. Es verbleibt also die politische Begründung, derzufolge mit der permanenten Forderung nach einem Sparkurs und nach dem Ende des Schuldenmachens in der Bevölkerung die Opferbereitschaft erzeugt werden soll, um die Zustimmung zum nachfolgenden Sparkurs und Rückbau des Staates zu erhalten.
Im Rahmen der österreichischen Strategie zur nachhaltigen Entwicklung der Regierung vom Mai 2002 wurde der starre »Nulldefizit-Kurs« fallen gelassen. Das starre »Nulldefizit«-Ziel hat ausgedient, ab sofort werden ausgeglichene öffentliche Haushalte über den Konjunkturzyklus angestrebt. Diese Kurskorrektur spiegelte sich auch in den Stabilitätsprogrammen vom März und November 2003 wider (siehe Tabelle 1).
... zur Zurückdrängung des Staates durch die »Politik der leeren Kassen«
Ein zentrales Element solider öffentlicher Finanzen ist in dieser Nachhaltigkeitsstrategie die Senkung der Abgabenquote bis 2010 auf unter 40% des BIP. Bei ausgeglichenen Haushalten führt die Realisierung dieser Zielsetzung zu Ausgabenkürzungen bzw. Gebührenerhöhungen, die alle bisherigen Budgetkonsolidierungen weit übertreffen. Selbst der konservative Wirtschaftsprofessor Erich W. Streissler bezeichnete diese Zielsetzung als »... einen der größten und unwahrscheinlichsten Witze der Geschichte«. Eine Strategie, die lediglich darauf abzielt, dem Staat durch Steuersenkungen die finanziellen Mittel zu entziehen, führt durch das »Diktat der leeren Kassen« sehr rasch zu einem »mageren« Staat und damit zu einer Absage an den Wohlfahrtsstaat. Der damit einhergehende Rückzug des Staates lässt befürchten, dass er zu Lasten der sozial Schwächeren geht, da die erforderlichen Ausgabeneinschränkungen - im Ausmaß von 17 bis 20 Milliarden Euro - sozial Schwache weit stärker betreffen als Reiche. Der Slogan Grassers »Weniger Steuern - Mehr fürs Leben«, mit dem er die Senkung der Abgabenquote den Menschen schmackhaft machen will, dürfte für viele Menschen nachteilige Folgen haben. Das gilt insbesondere für die unteren EinkommensbezieherInnen. Denn sie profitieren von den Steuersenkungen im Regelfall wenig, während bei ihnen das Haushaltseinkommen durch die öffentlichen Ausgaben gesenkt wird.
Die »Politik der leeren Kassen« löst somit jene budgetpolitische Ära ab, in der der Staat eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion ausübte, sei es durch die Bereitstellung öffentlicher Güter, die Herstellung einer gerechten Verteilung oder die Stabilisierung des Wirtschaftswachstums.
Der Staat wird nach dem neuen Verständnis immer mehr wie ein Unternehmen betrachtet. Demzufolge wird der Staat zunehmend nach privatwirtschaftlichen Kalkülen geführt bzw. werden Aufgaben oder bisher öffentliche Unternehmen an Private übertragen. Begründet wird das mit dem Argument, dass der Markt effizienter sei als der Staat. Natürlich ist Staatsversagen ernst zu nehmen, es kann aber auch nicht so sein, dass Marktversagen und dessen gravierende Folgen dabei geflissentlich übersehen werden.
2. Beurteilung der Budgets 2000 bis 2004
Die folgende Darstellung behandelt nur die Bundesbudgets der Jahre 2000 bis 2004.
2.1 Das Budget 2000
Das Budget 2002 wurde innerhalb nur weniger Wochen erstellt. Entgegen der Ankündigung den Defizitabbau über Sparmaßnahmen auf der Ausgabenseite erreichen zu wollen, lag das Schwergewicht auf einnahmenseitigen Maßnahmen. Zur Entlastung des Bundeszuschusses zur Pensionsversicherung (mehr als eine Milliarde Euro) wurde auf die Reservetöpfe (Familienlastenausgleich, Arbeitslosenversicherung, Unfallversicherung, Insolvenzentgeltsicherung) zurückgegriffen. Darüber hinaus wurden die Ermessensausgaben stark gekürzt und ein Personalabbauprogramm eingeleitet. Einnahmenseitig wurden erste Steuer- und Gebührenerhöhungen - zynisch als »Steueranpassungen« bezeichnet - beschlossen (Tabaksteuer, motorbezogene Versicherungssteuer, Elektrizitätsabgabe, höhere Gebühren für Reisepässe etc.). Durch diese Maßnahmen wird die noch von der rot-schwarzen Koalitionsregierung 1999 beschlossene Steuersenkung einschließlich des Familienpakets zu etwa zwei Drittel wieder rückgängig gemacht. Ergänzend spielen auch Einmalmaßnahmen (erhöhte Dividenden der OeNB, Versteigerung der Mobiltelefon-Lizenzen, Liegenschaftsverkäufe) eine große Rolle.
Der Budgetvollzug konnte unter konjunkturpolitisch guten Bedingungen durchgeführt werden. Die nachfragestimulierenden Effekte überwiegen durch die Steuerreform der Vorgängerregierung, so dass vom Budget 2000 trotz guter Konjunktur expansive Effekte ausgingen.
Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht wirkten sich die Personalreduktion, die Kürzung der Ermessensausgaben, der Verzicht auf substanzielle Maßnahmen zugunsten älterer ArbeitnehmerInnen, Frauen, Wiedereinsteigerinnen sowie Langzeitarbeitsloser und das Fehlen von Mitteln zur Fortsetzung des Auffangnetzes jugendlicher SchulabgängerInnen negativ aus.
Untere Einkommen überproportional belastet
Aus verteilungspolitischer Sicht hat eine Verschiebung der Steuerbelastung von der Lohn- und Einkommensteuer zu den Verbrauchssteuern stattgefunden. Durch die Erhöhung zahlreicher Verbrauchssteuern wurden die unteren Einkommen überproportional belastet. Zudem gingen von den Steuer- und Gebührenerhöhungen inflationserhöhende Effekte aus.
2.2 Das Doppelbudget 2001/2002
Zum Zeitpunkt der Erstellung des Doppelbudgets 2001/2002 wurden die Konjunkturaussichten noch günstig beurteilt. Die Erreichung des »Nulldefizits« schien somit in eine konjunkturell günstige Phase zu fallen. Für das Jahr 2001 wurde daher ein umfangreiches Konsolidierungsprogramm beschlossen.
Abgabenquote in Rekordhöhe ermöglicht »Nulldefizit«
Ausgabenseitig sollten bis zum Ende der Legislaturperiode (2003) rund 11.000 Planstellen - getarnt als Verwaltungsreform - abgebaut werden. Schulen und Universitäten waren zwar ausgenommen, es wurden aber äquivalente Sparmaßnahmen ergriffen. Weitere wichtige Maßnahmen waren eine Pensionsreform, mit der das Antrittsalter stufenweise angehoben wurde, inklusive einer Anhebung von Pensions(sicherungs)beiträgen und die Fortsetzung der Abschöpfung von Fondsüberschüssen zur Entlastung der Pensionsversicherung. Auf der Einnahmenseite kam es zu Steuererhöhungen für Unselbstständige und Unternehmungen, zur Erhöhung von Steuervorauszahlungen und zur Einführung von Zinsen für Steuerrückstände. Insbesondere die letzten beiden Maßnahmen waren dafür verantwortlich, dass das angestrebte »Nulldefizit« für den Staat bereits ein Jahr früher erreicht wurde als geplant. Kaum merkbare Steuererhöhungen wurden für Vermögende beschlossen (Privatstiftungen, Erbschafts- und Schenkungssteuer). Diese Steuererhöhungen führten ja bekanntlich zur höchsten Abgabenquote der zweiten Republik (45,4% des BIP). Das Budget enthielt weiterhin Maßnahmen mit Einmaleffekten (OeNB-Gewinnabfuhr, Veräußerungserlöse von Liegenschaften).
Vorwiegend ein Sozialabbauprogramm
Einen besonderen Stellenwert hatten die so genannten Maßnahmen zur Erhöhung der »sozialen Treffsicherheit« (darunter die Besteuerung der Unfallrenten, die mittlerweile teilweise rückgängig gemacht wurde, Belastungen für Arbeitslose, Einführung der Studienbeiträge, Einschränkungen der Mitversicherung in der Krankenversicherung). Es handelte sich dabei vorwiegend um ein Sozialabbauprogramm.
Das umfangreiche Sparpaket für die Budgets 2001 und 2002 führte nach Schätzungen des WIFO zu Wachstumseinbußen von je einem Viertel-Prozentpunkt, aus der Steigerung der Rohölpreise resultierte eine weitere Wachstumsdämpfung. Das Budget 2001 war somit deutlich nachfragedämpfend angelegt. Die bereits beschlossene Preiserhöhung der Autobahnvignette hat die Inflation weiter angeheizt. In verteilungspolitischer Hinsicht kommt der Leiter des WIFO, Helmut Kramer, zu folgendem Ergebnis: »Im unteren Drittel der Einkommensverteilung übertrifft die durch diese Maßnahmen ab Mitte 2000 wirksame Mehrbelastung die vorhergehende Entlastung aus der Lohnsteuersenkung deutlich.« Und weiters: Durch die Änderung des Einkommenssteuerrechts ab 2001 büßen somit sowohl aktive Arbeitnehmer als auch Pensionisten der mittleren Einkommenskategorie (bis etwa ATS 42.000)1) am meisten von Vorteilen aus der Steuerreform 2000 wieder ein. Zusammenfassend meint er: »Die Konsolidierungsmaßnahmen trafen und treffen ab Anfang 2001 besonders die Bezieher niedriger (nicht unbedingt der niedrigsten) und mittlerer Einkommen, die ein Jahr zuvor stärker begünstigt erschienen.« Der Konsolidierungsbeitrag der Reichen und Superreichen bleibt sehr bescheiden.
Saldenfetischismus
Das Konsolidierungsprogramm 2001 prägte auch das Budget 2002, das ebenfalls restriktiv angelegt war. Die Abschöpfungen aus der Arbeitslosenversicherung an den Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger erreichten ein Rekordniveau, sodass Gelder für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen fehlten. Echte Schwerpunktsetzungen sind - abgesehen von der Einführung des Kinderbetreuungsgeldes - nicht erkennbar, da die Budgetansätze des Jahres 2001 in weiten Bereichen einfach übernommen wurden. Das Budget 2002 ist erneut ein Beleg dafür, dass Saldenfetischismus Vorrang vor gestaltender Wirtschafts- und Sozialpolitik hat. Ablesbar ist das auch an den zukunftsorientierten Ausgaben, die ja von der Regierung als prioritär eingestuft waren. Die Mittel für die Schulbildung werden eingefroren, die Höherdotierung der Investitionen für die Universitäten reichten nicht für einschneidende Verbesserungen. Die im Offensivprogramm auch schon 2001 vorgesehenen Mittel waren schon damals erkennbar zu gering, um die Forschungsquote auf 2,5% des BIP anzuheben.
Konjunkturabschwächung lange Zeit kein Thema
Am schwersten wiegt jedoch, dass die Regierung sich lange Zeit weigerte, den Konjunkturabschwung zur Kenntnis zu nehmen und konjunkturstabilisierende Maßnahmen einzuleiten. Sie reagierte vielmehr mit Realitätsverweigerung und hielt lange Zeit am »Nulldefizitkurs« fest. Im Dezember 2001 wurde unter dem Druck steigender Arbeitslosigkeit zwar das Konjunkturbelebungspaket I beschlossen, es beinhaltete aber vorwiegend Maßnahmen, die mit kurzfristiger Konjunkturpolitik nichts zu tun haben. Wenn trotz des Wachstumsrückgangs im Jahr 2001 früher als erwartet ein geringfügiger Haushaltsüberschuss erreicht wurde, so war das vor allem auf die unerwartet hohen Einnahmen aus der Einführung der Besteuerung von Steuerrückständen und die Überschüsse der Länder- und Gemeindebudgets zurückzuführen.
Da sich die oft angekündigte konjunkturelle Erholung auch bis zum Spätsommer 2002 nicht einstellte, wurde erneut ein Konjunkturbelebungspaket beschlossen, das vor allem Steuer- und Abgabenerleichterungen im Ausmaß von 562 Millionen Euro mit sich brachte (Investitionszuwachsprämie, befristete vorzeitige Abschreibung, Forschungsfreibetrag(-prämie), Bildungsfreibetrag(-prämie), Lehrlingsprämie, Lohnnebenkostensenkung für Lehrlinge etc.). Wenngleich beiden Paketen in Summe gesamtwirtschaftliche Effekte zugesprochen werden können, so muss doch betont werden, dass angesichts der langen Dauer der Stagnation auch dieses Paket aus wachstums- und beschäftigungspolitischer Sicht unzureichend war. Die Forderungen der Oppositionsparteien, der Gewerkschaft und der Arbeiterkammer nach einer vorgezogenen Steuerreform und einer Intensivierung öffentlicher Infrastrukturinvestitionen blieben ohne Wirkung.
2.3 Das Doppelbudget 2003/2004
Obwohl Österreich in den Jahren 2001, 2002 und 2003 durch eine ungewöhnlich lange Phase der Stagnation gegangen ist - im Durchschnitt betrug das Wachstum nur 1% pro Jahr, in der EU hingegen 1,2% pro Jahr - und die aufgrund der zu restriktiven Fiskalpolitik zum Teil hausgemachten Wohlfahrtsverluste dieser schleichenden Wirtschaftskrise jenen der großen Rezessionen der Nachkriegszeit (1975, 1981/82, 1993) entsprachen, sprach Finanzminister Grasser in seiner Budgetrede von hervorragenden Ausgangsbedingungen.
Einem schwach expansiv wirkenden Budget 2003 folgt das Sparbudget 2004, das die Basis für die Steuerreform im Jahr 2005 schaffen sollte. Mit diesen Budgets reagierte Österreich weiterhin nicht annähernd ausreichend auf die wichtigste Ursache dieser Wachstumsschwäche, nämlich auf den gravierenden Mangel an Binnennachfrage. Ohne wirtschaftspolitische Impulse kann sich die konjunkturelle Lage nicht durchgreifend verbessern.
Weiterhin fehlende Konzepte für Wachstum und Beschäftigung
Die Budgets der Jahre 2003 und 2004 lassen eher einen orientierungslosen Zick-Zack-Kurs der Regierung erkennen als ein zukunftsweisendes Konzept zur Schaffung von Wachstum und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Auswirkungen der ersten Etappe der Steuerreform (2004) verpuffen, weil den Steuersenkungen Steuer- und Abgabenerhöhungen gegenüberstehen (Mineralölsteuer, Energieabgabe, Krankenversicherung). Auch das im Spätherbst 2003 beschlossene Konjunkturbelebungspaket III (Wachstums- und Standortpaket) bringt wenig unmittelbar konjunkturwirksame Maßnahmen mit sich.
Wenn es überhaupt Wachstumswirkungen auslöst, dann am ehesten aufgrund der Investitionen in Forschung und Entwicklung.
Bei den angekündigten Infrastrukturinvestitionen handelt es sich nicht um zusätzliche Investitionen, sie waren schon im Regierungsprogramm angekündigt.
Weitere Belastungen für ArbeitnehmerInnen, Entlastungen für Unternehmen
Im Gegensatz zum Budget 2003 brachte das Budgetjahr 2004 erhebliche strukturelle Änderungen mit sich. Kernstücke der Sparmaßnahmen sind die »Pensionssicherungsreform«, moderate Pensionsanpassungen für die Jahre 2004 und 2005, die Erhöhung der Abgaben in der Krankenversicherung, die erste Etappe der »größten Steuerreform aller Zeiten« sowie Entlastungen der Lohnnebenkosten für ältere ArbeitnehmerInnen.
Trotz der ersten Etappe der Steuerreform und des Konjunkturbelebungspakets III werden durch das Budget 2004 keine expansiven, die Nachfrage stabilisierenden Effekte ausgelöst.
Aus verteilungspolitischer Sicht zeigt sich, dass durch dieses Maßnahmenpaket die ArbeitnehmerInnen/PensionistInnen mit ansteigender Tendenz belastet werden, während die Unternehmen zwar zunächst belastet, in den darauffolgenden Jahren aber deutlich entlastet werden.
Wenn der Finanzminister in seiner Budgetrede von einem Zukunftsbudget gesprochen hat, so lassen sich erneut die Schwerpunkte Bildung, Forschung, Wissenschaft und Infrastrukturinvestitionen nicht erkennen. Die Mittel für Forschung und Entwicklung werden zur Realisierung der angestrebten Zielsetzung neuerlich nicht ausreichen. Den Schulen steht real weniger Geld zur Verfügung.
Die Mittel für die Universitäten lagen im Budget 2003 unter denen des Vorjahres. Mit der Ausgliederung der Universitäten per 1. Jänner 2004 stehen den Universitäten wieder mehr Mittel zur Verfügung, allerdings weniger als die Einnahmen aus den Studienbeiträgen. Die Regierungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die Ausgaben für Familien und das Heer. Zusammen mit der Entscheidung über den Ankauf von Abfangjägern wird den Rüstungsausgaben in den kommenden Jahren mehr Bedeutung zugemessen als den tatsächlichen Zukunftsausgaben (Bildung, Forschung, Infrastrukturinvestitionen) und den Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.
3. Die »größte« Steuerreform der 2. Republik?
Zusammen mit der ersten Etappe der Steuerreform 2004 wird die Steuerreform 2005 ein Entlastungsvolumen von 3 Milliarden Euro haben. So gesehen handelt es sich tatsächlich um die »größte« Reform. Misst man sie jedoch daran, was sie den ArbeitnehmerInnen bringt, dann ist sie sehr klein. Die Steuersenkungen 2004 und 2005 sind im Bereich der Lohnsteuer mit etwa 1,3 Milliarden Euro im Vergleich zu früheren eher bescheiden. Gerade im mittleren Einkommensbereich (1900 bis 2300 Bruttomonatseinkommen) mit sehr starken Besetzungszahlen (640.000 Personen) fallen die Entlastungen mit unter 20 Euro monatlich eher dürftig aus. Nach Berechnungen der Arbeiterkammer Wien deckt das Entlastungsvolumen gerade den Effekt der kalten Progression seit der Steuersenkung 2000 und die seither vorgenommenen Lohnsteuererhöhungen ab, sodass dieser Entlastungseffekt rasch verpuffen wird.
Massive Umverteilung zu den Unternehmen
Ganz im Gegensatz dazu gibt es dauerhafte und massive Steuersenkungen bei der Körperschaftsteuer. Die Absenkung des Steuersatzes von 34% auf 25% bringt den Kapitalgesellschaften einen Entlastungseffekt von einer knappen Milliarden Euro. Dazu kommen zusätzliche Begünstigungen durch eine neue Gruppenbesteuerung. Keine Entlastung gibt es für jene ArbeitnehmerInnen, die auch schon vor den Reformen keine Lohnsteuer gezahlt haben. Das betrifft beachtliche 2,2 Millionen Menschen. Sie werden durch die Sparpakete der Vergangenheit nur belastet. Rechnet man die Entlastungen bzw. Belastungen der Steuerreformmaßnahmen 2004 und 2005 zusammen, dann werden die Unternehmen etwa doppelt so stark entlas tet wie die ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen. Von einer fairen Verteilung der Steuerentlastung kann also keine Rede sein.
Aus konjunkturpolitischer Sicht kommt die Steuerreform viel zu spät, sie entlastet im unteren und mittleren Einkommensbereich viel zu wenig und bringt daher keinen Impuls für die Beschäftigung. Die Körperschaftsteuerentlastung bringt konjunkturpolisch wenig, weil sie entweder gespart oder für Ausrüstungsinvestitionen mit hohem Importanteil verwendet wird. Eine große Chance zur Stärkung der Massenkaufkraft wurde daher vertan.
4. Wer sind die Gewinner bzw. Verlierer der budgetpolitischen Maßnahmen?
Abschließend ist natürlich aus ArbeitnehmerInnensicht von besonderem Interesse, wer die Gewinner bzw. die Verlierer aller budgetpolitischen Maßnahmen in den letzten Jahren waren (siehe Tabelle 2: »Belastungen und Entlastungen budgetärer Maßnahmen 2000 bis 2005«).
Tabelle 2 Belastungen und Entlastungen budgetärer Maßnahmen 2000 bis 2005 in Millionen Euro |
||
ArbeitnehmerInnen PensionistInnen |
UnternehmerInnen | |
Sparpakete 2000 und 2001*) | 3.023 | 565 |
Sparpaket 2003 Budgetbegleitgesetz 2003**) | 882 | –224 |
steuerliche Entlastungen durch die Konjunkturbelebungspakete I - III***) | –743 | |
Entlastungen durch die Steuerrreform 2005 | –1.140 | –1.390 |
Gesamtsumme der Be- und Entlastungen | 2.765 | –1.791 |
+ bedeutet Belastung, - bedeutet Entlastung *) Unter Berücksichtigung von Entlastungen wie z. B. Kinderbetreuungsgeld. **) Unter Berücksichtigung der 1. Etappe der "größten" Steuerreform. ***) Durchschnitt der Jahre 2003 bis 2006. |
Tabelle 2 zeigt, dass in Summe gesehen die ArbeitnehmerInnen zu den großen Verlierern zählen, während die Unternehmer vor allem wegen der Steuerreform 2005 und der Konjunkturbelebungspakete die großen Gewinner sind.
Bei den ArbeitnehmerInnen werden die Entlastungen aus der Steuerreform bei weitem überkompensiert durch die zahlreichen Belastungen der letzten Jahre. Unter den ArbeitnehmerInnen verlieren jene besonders stark, die von den Steuersenkungen nicht profitieren, aber von den Belastungen voll getroffen werden, darunter vor allem AlleinerzieherInnen, Teilzeitbeschäftigte und PensionistInnen.
Keine Rede also von den Versprechungen in der Budgetrede 2003/2004, wo Grasser »die Entlastung des Bürgers« angekündigt hatte. Weit und breit nichts zu merken von »Weniger Steuern - Mehr fürs Leben«. Die anfängliche Sparpolitik und die damit einhergehende höchste Abgabenquote wurden also dafür benutzt, um die größte Umverteilungsaktion zugunsten der UnternehmerInnen zu finanzieren.
1) Das sind 3052 Euro.
R E S Ü M E E
Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick
Der Übergang Österreichs zu einer Budgetpolitik mit »Nulldefiziten« und die praktisch ausschließliche Konzentration darauf haben den Konjunkturabschwung durch eine fast durchgängig prozyklische Politik verschärft. Die Folge waren zum Teil hausgemachte Wohlfahrtsverluste. Das schwache Wachstum war begleitet von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Konjunkturpakete wurden sehr zögerlich beschlossen und beinhalteten kaum kurzfristig wirksame Maßnahmen zur Überwindung der Nachfrageschwäche. Bis heute fehlen Wachstumsinitiativen, die zu einer durchgreifenden konjunkturellen Erholung führen können.
Die Konzentration auf den Budgetsaldo hat den Blick für die Budgetstrukturen verstellt. Die in der Strategie von Lissabon eingeforderte Qualität der öffentlichen Finanzen insbesondere in Bezug auf die Zukunftsbereiche Bildung, Wissenschaft und Forschung spiegelt sich in den Budgets der vergangenen Jahre nicht wider, obwohl es sich dabei um prioritäre Schwerpunktsetzungen der Regierung handelte. Prioritäre Ziele der Regierungspolitik waren die Förderung der Familien und die Landesverteidigung sowie die Steuerentlastung, der eine Reihe von Sparmaßnahmen vorgeschaltet war.
Aus verteilungspolitischer Sicht haben die Konsolidierungsmaßnahmen der ersten Phase besonders die BezieherInnen niedriger und mittlerer Einkommen betroffen. Das Sparpaket 2003/2004 führte zu weiteren massiven Belastungen, die durch die Steuersenkungen 2004 und 2005 nur partiell ausgeglichen werden. Am stärksten betroffen sind die niedrigsten Einkommen, die davon nicht profitieren, aber auch die mittleren Einkommen. Aus horizontaler Sicht werden die ArbeitnehmerInnen massiv belastet, während den Unternehmen die bisher größte Steuerentlastung zugestanden wird. Angelegt ist diese Umverteilung in der Steuerreform 2005, die nicht nur aus verteilungspolitischer, sondern auch aus wachstums- und beschäftigungspolitischer Sicht zu kritisieren ist, weil durch die Steuerentlastung die Masseneinkommen in zu geringem Ausmaß und zu spät entlastet werden.
Die von der Regierung angestrebte nachhaltige Sanierung der Staatsfinanzen konnte bisher nicht erreicht werden. Da die Steuerreform 2004 teilweise defizitfinanziert ist, sind weitere Sparpakete in den nächsten Jahren nicht ausgeschlossen; ganz sicher dann nicht, wenn die Abgabenquote bis 2010 tatsächlich auf 40% des BIP gesenkt werden sollte. Die damit einhergehende »Politik der leeren Kassen« offenbart, worum es Schwarz-Blau wirklich geht: um die weitere Zurückdrängung des Staates zulasten der Einkommensschwachen.
Wann bist du Minister geworden?
Ettl: Anfang 1989 wurde ich Minister für Gesundheit und Öffentlichen Dienst, wie das damals geheißen hat. Ich hatte ja schon vorher sehr mit Rehabilitation und Spitälern zu tun wegen meiner Funktion als Vorsitzender des Sektionsausschusses Unfallversicherung im Hauptverband der Sozialversicherung.
1992 bin ich als Minister ausgeschieden und wieder zurück in die Gewerkschaft. Meine europäische Laufbahn habe ich 1995 als Mitglied im Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Union begonnen. Seit 1996, gleich mit den ersten Wahlen nach dem Beitritt Österreichs, bin ich Mitglied im Europäischen Parlament.
Zu deiner Tätigkeit als EU-Abgeordneter: Derzeit ist es doch mehr so, dass soziale Rechte abgebaut werden und die Gewerkschaften eher mit dem Rücken zur Wand stehen. Wir bemühen uns zwar, mehr Soziales da reinzubringen …
Ettl: Das ist zu pessimistisch. Marktwirtschaft und Wettbewerb haben eine starke Dominanz innerhalb der heutigen 15 Mitgliedsstaaten. Dieser Trend wird sich auch durch die Erweiterung nicht stark verändern. Das ist wohl zu befürchten. Das hat aber sehr viel mit den nationalen Regierungen zu tun. Zwar hat das Europäische Parlament schon viel Mitentscheidungsrecht bei der Gesetzgebung, aber der Europäische Rat - also die Regierungen Europas beeinflussen die EU immer noch sehr stark.
Ja und was macht das Parlament, wenn wie derzeit in allen Ländern die Arbeitslosenzahlen steigen und überall die sozialen Errungenschaften abgebaut werden? Ist das nicht das neoliberale Modell, das hier - auch durch die EU - propagiert wird?
Ettl: Gegen das neoliberale Modell zu kämpfen sehe ich als eine unserer Aufgaben im Parlament. Vor ein paar Jahren hatten wir in der EU schon einmal die Tendenz in Richtung 20 Millionen Arbeitslose. Derzeit liegen wir zwischen 13 und 14 Millionen Arbeitslose. Das ist immer noch viel zu viel, aber dennoch deutlich weniger. Das Parlament hat gut mit den europäischen Gewerkschaften zusammengespielt und Gegenmaßnahmen eingefordert. So hat 1997 die Beschäftigung - die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - einen neuen Stellenwert in der europäischen Politik bekommen. Damals wurde beschlossen, dass wir in der EU eine Koordinierung der nationalen Beschäftigungspolitik brauchen. Dies soll durch die Beschäftigungsleitlinien erreicht werden. Leider klappt das mit der Umsetzung dieser Leitlinien noch nicht in allen Mitgliedsstaaten. Es mangelt an Geld und vor allem an politischem Willen. Aber die entscheidenden Impulse kommen von der Europäischen Union - sie wurden erkämpft und parlamentarisch erstritten.
Also du siehst dich wirklich als Arbeitnehmervertreter …
Ettl: Ich sehe mich als österreichischer und auch europäischer Gewerkschafter. In den Ausschüssen, in denen ich arbeite, Soziales und Beschäftigung und Wirtschaft und Währung, setze ich mich für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Mir geht es um ein soziales Europa, das nicht nur Arbeitstitel sein soll. Darum, dass Soziales dem Wirtschaftlichen gleichgestellt wird.
Wir haben immer wieder über die EU berichtet, über die Lissabon-Strategie. Auf dem Papier liest sich das ja sehr schön …
Ettl: Derweil sind die in Lissabon beschlossenen Ziele noch viel zu sehr Papier, das ist richtig. Die Lissabon-Strategie ist wahrscheinlich eine der intelligentesten Entscheidungen, die in der EU in den letzten Jahren getroffen wurde. Es geht dabei um den industriellen Wandel, eine andere Beschäftigungspolitik, eine neue Bildungspolitik. Das Schlagwort der »europäischen Wissensgesellschaft« kommt nicht von ungefähr. Ziel ist bis 2010 mit 25 Mitgliedsstaaten, mit 450 Millionen Einwohnern zum größten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Das heißt aber auch, dass wir unseren relativen Wohlstand so ausbauen müssen, dass alle davon profitieren. Wenn uns das nicht gelingt, gilt für die ganze europäische Politik, dass sie gescheitert ist.
Also wir waren bei Lissabon und den Vorsätzen, die mit Beschäftigung, mit dem Abbau der Arbeitslosen zu tun haben. Das sind ja sehr ehrgeizige Ziele bis 2010.
Ettl: Die Lissabon-Strategie gliedert sich in zwei Etappen, es gibt Zwischenziele, die bis 2005 erreicht werden sollen - wie etwa die Erhöhung der Beschäftigungsquote auf 67 Prozent bis 2005, auf 70 Prozent dann bis 2010. Heute sind wir sehr weit davon entfernt. Das liegt, wie schon erwähnt, am mangelnden Willen der Mitgliedsstaaten. Denn die Umsetzung ist deren Aufgabe.
Lebenslanges Lernen ist angesagt. Das gilt sowohl für Facharbeiter wie auch für Universitätsabgänger. Wir müssen unsere Bildungssysteme umbauen. Grundvoraussetzung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von morgen oder eigentlich schon von heute ist Flexibilität. Die soll von der Ausbildungsseite her mitbekommen. Parallel dazu muss das soziale Fundament für die sich stark verändernde Industrie- und Beschäftigungspolitik neu justiert werden. Während ein Teil der Politiker Europas - quer durch alle Parteien - auf absolute Reduktion der Arbeitskosten, der Sozialkosten etc. setzt, gibt es noch andere Philosophien, von denen wir viel lernen könnten und die den für Arbeitnehmer entstehenden Druck abschwächen.
So haben z. B. Schweden, Finnland, Dänemark einen ganz anderen Zugang zu Sozialer Sicherheit als das beispielsweise in Deutschland oder bei unserer eigenen Regierung der Fall ist. Der ehemalige - übrigens konservative - Regierungschef Finnlands ist davon überzeugt, dass die von ihm durchgeführten Reformen nur darum erfolgreich waren, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine Ängste haben mussten, in ein soziales Loch zu fallen, wenn sie einmal keinen Arbeitsplatz hatten. Am Beispiel Finnlands zeigt sich damit deutlich, dass ein gesichertes soziales Fundament und eine gute Ausbildung die Mobilität und Flexibilität der Arbeitnehmer erhöhen. Jede Politik, die Ängste produziert hat sich nie mit sozialen Konflikten und Problemen auseinandergesetzt. Und wir als Gewerkschafter, als gewerkschaftliches Netzwerk im Europäischen Parlament arbeiten auf Reformen mit ausreichender sozialer Absicherung hin. Wir müssen überlegen, wie wir uns den neuen Herausforderungen stellen.
Neue Herausforderungen, die auch Auswirkungen auf Beschäftigung haben. Am ersten Mai erweitert sich die Europäische Union von 15 Mitgliedsstaaten auf 25. Das löst viele Ängste in der Bevölkerung aus.
Ettl: Die Erweiterung löst viele Ängste aus. Aber es gibt auch Hoffnung. Die »Neuen« sind in einer etwas schwierigeren Situation. Sie haben einen enormen Anpassungsdruck an die Wettbewerbssituation in der EU. Das bedeutet Umbau der Industrie und teilweiser Verlust von Arbeitsplätzen.
Was ich damit sagen will, ist, dass neue Mitgliedsländer zwar schon vieles in Richtung Anpassungsprozess geleistet haben, und das gibt Hoffnung, dass da in Zukunft ein neuer Schwung kommt. Aber bei der Beschäftigung, da klappt es noch nicht so richtig. Die neuen Mitgliedsländer haben ein doppelt so hohes Wirtschaftswachstum wie der Durchschnitt der EU-15. Dieses Wachstum sollte eigentlich auch mehr Beschäftigung bringen. Da aber die Produktivität sehr stark gestiegen ist, gibt es keinen wirklichen Beschäftigungszuwachs. Für Österreich heißt das, dass wir die Entwicklung der Arbeitsmärkte bei uns und in den angrenzenden neuen Mitgliedsländern genau beobachten müssen. Auf Druck der Gewerkschaften und des Europäischen Parlaments wurden bis zu sieben Jahre gehende Übergangsfristen im Bereich Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgesetzt. Das kann helfen, die bestehenden Probleme - Stichwort Lohndumping und Arbeitsmigration - zu überwinden.
Voraussetzung ist aber, dass in den sieben Jahren auch tatsächlich etwas getan wird. Wir haben jetzt schon das Problem der Schwarzarbeiter ...
Ettl: Ja, ein Schwarzarbeitsgesetz ist schon längst überfällig. Wieso das die Regierung nicht beschließen lassen will, ist mir einfach schleierhaft. Auch die Überarbeitung der Entsenderichtlinie steht an. Die würde sicherstellen, dass die Arbeitnehmer, die vorübergehend in einem anderen EU-Land arbeiten, nach dem jeweiligen nationalen Recht behandelt werden. Die Arbeitsmärkte müssen kontrollierbar und überschaubarer werden - auf beiden Seiten der noch bestehenden Grenze. Grenzübergreifende Kooperationen sind notwendig - nach dem Motto: »Gemeinsam sind wir stark.« Der ÖGB lebt das ja auch vor mit den grenzübergreifenden Gewerkschaftskooperationen in Ungarn und Tschechien … Aber das wahrscheinlich größte Problem der EU beim Erweiterungsprozess ist die schlechte interne - institutionelle - Vorbereitung. Wir haben immer noch Einstimmigkeit in vielen Fragen im Rat, das heißt, wenn ein Staat was nicht will, dann kann er die Entscheidung blockieren. Das muss dringend aufgehoben werden.
Deswegen auch der Konvent und die Neuausrichtung der EU? Welche Schritte sind notwendig, um die EU handlungsfähiger zu machen?
Ettl: Ja, ja. Die Ergebnisse des Konvents lindern die Probleme, aber sie lösen sie noch nicht. Am Beispiel der Steuerpolitik, die ist so ein Produkt der Einstimmigkeit im Rat. Die völlig unterschiedlichen Steuererfassungssysteme in der Europäischen Union lassen viel zu viel Raum für Steuerwettbewerb. Das saugt Staaten finanziell aus und schränkt außerdem die Möglichkeiten für staatliche Leistungen ein. Das bedeutet dann auch, dass sich die Staaten dann von öffentlichen Dienstleistungen usw. verabschieden müssen. Einige malen sich das auch wunderbar aus. Immer mehr privatisieren unter dem Deckmantel des Wettbewerbsrechts der EU. Im Europäischen Parlament gibt’s eine überwiegende Mehrheit die sagt, dass die öffentlichen Leistungen ein wesentlicher Bestandteil eines sozialen Europas sind. Das betrifft sowohl soziale Leistungen, aber auch Wasserversorgung oder Nahverkehr, die von den Städten und Gemeinden erbracht werden.
Und wie ist das mit der Nettozahlerfunktion vereinbar. Ist es denn nicht so, dass wir als Nettozahler Dinge mitfinanzieren?
Ettl: Zur Nettozahlerfrage: Natürlich sind die leistungsfähigsten Staaten in der Europäischen Union Nettozahler, wie etwa Deutschland. Es ist aus meiner Sicht völlig unangebracht, wenn der österreichische Oberbuchhalter, unser Herr Finanzminister, den deutschen Finanzminister auch noch runtermacht wegen der Nichteinhaltung der Defizitregelung. Die Deutschen haben große Schwierigkeiten und können den Stabilitätspakt nicht erfüllen - aber die haben auch erst vor 10 Jahren neue Bundesländer aufgenommen - und das kostet Geld. So wie die Erweiterung der Union Geld kostet. Das Geld kommt in der Zukunft zurück, weil wir wirtschaftlich durch die Erweiterung wachsen. Davon profitieren dann zuerst die an die neuen Staaten angrenzenden Länder wie Österreich. Natürlich muss man erst sehen, wie viel Gelder in Zukunft in Europa bereitgestellt werden können. Wir brauchen neue Umverteilungsmechanismen in der EU. Die Fragen, die gestellt werden müssen, sind: Wie viel ist noch leistbar? Wie viel können die Nettozahler zu dieser Verteilung beitragen - unter Beibehaltung des Eurostabilitätspakts? Aus meiner Sicht ist das Problem, dass die viel zu unflexiblen Vorschriften des Stabilitätspaktes kaum mehr Spielraum lassen, in wirtschaftlich schwierigen Situationen entgegenzusteuern. Das ist das Problem. Und der Steuerwettbewerb.
Nicht das Einzige, was die Bürger bewegt. Es heißt, da gibt es so genannte
Spesenritter unter den EU-Abgeordneten. Vielleicht sollten wir dazu auch was sagen.
Ettl: Hm, ja … Wir - die Europaparlamentarier haben das Problem schon seit längerem erkannt. Wir haben ein Zulagensystem, das nicht überschaubar ist. Wir haben Reisekostenpauschalen für den Flugverkehr, die besser anders geregelt werden sollten. Das wollen wir auch und wir haben uns dafür auch stark gemacht. Gescheitert ist die vom Parlament vorgeschlagene Regelung schlussendlich im Rat. Die Neuregelung hatte ein einheitliches Gehalt und Abrechnung der Spesen nach tatsächlich angefallenen Kosten zum Inhalt. Leider hat dafür im Rat die notwendige Mehrheit gefehlt. Obwohl das viel überschaubarer gewesen wäre.
Als europäische Abgeordnete können wir keinen Zusatzberuf haben, keine Zusatzfunktion haben. Weil es zeitlich nicht vereinbar ist. Wenn man die Tätigkeit als Parlamentarier ernst nimmt, entspricht der Arbeitsaufwand ungefähr dem eines Ministers bei uns.
Trotzdem … Derzeit wird in manchen Medien kolportiert, dass die EU-Abgeordneten in der Mehrzahl ihre Tätigkeit nicht so ernst nehmen. Wenn es ums Aufdecken geht in der EU, dann denke ich zwar eher an den Abgeordneten Bösch, der ja Betrügereien im EU-Dschungel sehr effizient aufgedeckt hat und auch im Haushaltskontrollausschuss sitzt.
Ettl: Der Abgeordnete Bösch hat, wenn’s ums Aufdecken von Skandalen in der Europäischen Union geht, ausgezeichnete Arbeit geleistet. Er hat ja auch OLAF - die Betrugsbekämpfungseinheit der EU miteingerichtet. Dann haben wir noch den Europäischen Rechnungshof, der uns kontrolliert - und unsere Zulagen. Wir haben ein Statut, das sehr großzügig ist und das einfach auch geändert gehört. Das ist gar keine Frage.
Grundsätzlich würde ich ja meinen, dass die EU trotz allem ein positives Projekt ist …
Ettl: Die EU ist das größte und wichtigste Projekt seit Jahrhunderten. Sowohl friedenspolitisch, als auch, wenn es um die Zusammenarbeit verschiedener Kulturen und Völker geht. Europa braucht die EU vor allem für die Zukunft. Wichtig ist, sicherzustellen - und da sind wir mitten in der Ausgestaltung - dass ist derzeit die einzige Chance für die Zukunft - gerade, weil wir so stark mit der Globalisierung zu kämpfen haben. Für mich als Arbeitnehmervertreter stellt die EU - das Europäische Parlament in starker Zusammenarbeit mit den Europäischen Gewerkschaften - eine Möglichkeit dar, für soziale Wärme in Europa zu sorgen.
Das heißt, die Leute sollen auf jeden Fall am 13. Juni zur Wahl gehen.
Ettl: Ja und am Rande bemerkt: Zwischen 70 und 80 Prozent aller Entscheidungen die für uns in Österreich wichtig sind, werden vom Europäischen Parlament direkt oder indirekt beeinflusst. Das heißt, die EU geht uns alle an. Das Europäische Parlament geht uns alle an. Nicht wählen zu gehen, heisst, die Entscheidung für die EU aus der Hand zu geben, das wäre ein fataler Fehler. Denn die EU, das sind wir alle.
Kollege Ettl wir danken für das Gespräch.
]]>In unserer Sprache gibt es immer noch genug Falschmünzerei, Falschwörter sind gang und gäbe. Ein Beispiel gefällig: Was heißt »Flexibilisierung des Arbeitsmarktes«, vielleicht auch noch in Kombination mit »Differenzierung der Lohnstrukturen«?
Ganz einfach: dabei handelt es sich um erleichterte Kündigung und Niedriglöhne unter dem Kollektivvertrag.
Es handelt sich also nicht um die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen, sondern um billigere Arbeitsplätze. Die Kündbarkeit nach »hire and fire« gilt als Flexibilisierung, Niedriglöhne nennt man »Differenzierung der Lohnstrukturen«.
Ein besonders interessantes Vokabel ist die »Eigenverantwortung«. Im Prinzip ist damit gemeint, dass der Arbeitnehmer gefälligst allein bezahlen soll, was bisher als Lohbestandteil zur Hälfte vom Arbeitgeber eingezahlt - und später vom Staat bzw. der Sozialversicherung wieder ausgezahlt wurde. Wenn Arbeitnehmer künftig nicht schlechter versorgt sein wollen, zum Beispiel bei Krankheit oder bei den Pensionen, sollen sie die Differenz selber aufbringen. Es geht also nicht darum, die »Lohnnebenkosten« zu senken, sondern sie den »Arbeitnehmern« aufzuladen.
Es geht um Lohnsenkung, und damit das nicht so harsch klingt, spricht man von einer Senkung der »Nebenkosten« des Lohnes.
Was möchten Sie als Nebenkosten ansehen? Urlaub? Weihnachten? Den Anteil des Arbeitgebers an der Pensionsversicherung oder der Krankenversicherung? Oder vielleicht nur ein bisschen Unfallversicherung, Insolvenzentgelt oder Weiterbeschäftigung im Krankheitsfall?
Wer gibt eigentlich Arbeit und wer nimmt sie? Derjenige, der seine Arbeit hergibt, heißt bei uns »Arbeitnehmer«, der sie nimmt, heißt »Arbeitgeber«.
Ich zitiere aus dem »Falschwörterbuch« von Ivan Nagel, erschienen im Berliner Taschenbuch Verlag, in dem der Autor auch versucht, die historischen Zusammenhänge dieses Begriffspaares aufzuklären:
»Der Unternehmer stellte die Arbeit als seine gnädige Gabe hin, der Arbeiter nahm das Geschenk dankend entgegen, wissend, dass seine Arbeit ihm nicht gehörte - weshalb die Schenkung jederzeit rückgängig gemacht werden konnte. Heute ist das Begriffspaar ein vertrautes Gebrauchsobjekt unseres Alltages; und doch ist es eigentlich veraltet. Es könnte manchen auf die Idee bringen, dass der Arbeitgeber schuld daran sei, wenn er keine Arbeit mehr gibt - dem Arbeitgeber die Arbeit nimmt.«
Zurück zu den Lohnkosten. Das Prinzip wäre also: »Machen wir die Reichen noch ein bisschen reicher und hoffen wir, dass dabei Arbeitsplätze entstehen.«
Aber heute spricht man nicht von den »Reichen«, es ist nur von den »Besserverdienenden« die Rede. Von den Armen oder »Schlechterverdienenden« hört man wenig.
Diejenigen, die doch davon sprechen, die sich für die Gerechtigkeit einsetzen, zum Beispiel bei den Löhnen, für die hat man viele Ausdrücke.
Die Rede ist von den »Blockierern«, »Bremsern« oder »Besitzstandwahrern«. Wissen Sie schon, wer gemeint ist?
Ja, ja, es sind die Gewerkschaften und die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter.
Apropos, schaun Sie doch einmal auf die Seite gegenüber. Dort stehen die Ergebnisse der Wahlen in den Arbeiterkammern. Für mich beweisen diese Ergebnisse unter anderem auch, dass das Konzept der täglichen Desinformation nicht aufgeht.
Wir werden uns weiter beschäftigen mit »Schlechterverdienenden«, mit Minilöhnen von Ungelernten, mit dem Arbeitslosengeld der Arbeitslosen, mit dem Minipensionen der Mindestrentner und - mit der Solidarität, nicht nur als Prinzip, sondern in der täglichen praktischen Anwendung.
]]>Als Oberst der Streitkräfte war er einer der Anführer einer Volkserhebung im Januar 2000, die einen unfähigen Präsidenten gestürzt hatte. Seine Regierung wurde unterstützt von der großen Bewegung der Indigenas (Indios), den Gewerkschaften und der politischen Linken. Doch die Hoffnungen schwanden noch im ersten Amtsjahr.
Heute ist die Mehrheit der Bevölkerung ärmer denn je, die einstigen Alliierten stehen in Opposition zu Gutierrez. Es wächst die Sorge, Ecuador könnten den Weg des blutigen gesellschaftlichen Konflikts gehen wie sein Nachbarstaat Kolumbien.
Ecuador ist ein schönes Land, Alexander von Humboldt hat es in seiner großen Reisebeschreibung im 19. Jahrhundert gewürdigt. Auf relativ kleiner Fläche vereint das Land schneebedeckte Sechstausender und Pazifikstrände, immergrüne Regenwälder und saftige Viehweiden, Kartoffelfelder und tropische Fruchtplantagen - und als Zugabe die Galapagos-Inseln. Zu den Naturschönheiten kommt eine freundliche Bevölkerung, die insbesondere im Hochland rings um die Hauptstadt Quito von den Indigenas (Indios) dominiert wird.
Kinderarbeit
Doch das hässliche Gesicht der Armut wird immer offensichtlicher: Kinderarbeit in fast allen Restaurants, in den Bussen, auf den Märkten. Kein Wunder: der Mindestwarenkorb beläuft sich auf 378 US-Dollar im Monat, der familiäre Durchschnittsverdienst nur auf 253 (Zahlen von Dezember 2003), da müssen halt alle dazuverdienen. Etwa 80 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze.
Dollarisierung und Überleben
Die Wirtschaftskrise in dem Andenstaat sollte durch die »Dollarisierung« überwunden werden. Der Sucre wurde vor vier Jahren durch den US-Dollar abgelöst. Gutierrez hatte sich erst skeptisch demgegenüber geäußert, verkauft die Dollarisierung nun allerdings als Erfolg. Immerhin sei das Land noch zahlungsfähig, heißt es. Dies stimmt. Allerdings nur, da den Zinszahlungen für die mehr als 16 Milliarden Dollar Auslandsschulden Vorrang gegenüber sozialen Investitionen gegeben wird. Ein Großteil der Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer kann nur überleben, da mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ins Ausland geflüchtet sind und von da Gelder (2003 etwa 1,6 Milliarden Dollar) an ihre Familien schicken. Und selbst dieses Modell ist nur möglich, weil die Preise für Erdöl, dem wichtigsten Exportgut Ecuadors, überdurchschnittlich hoch sind. Eine Normalisierung des Ölpreises - und Ecuador stünde vor dem Kollaps.
Faschistische Elemente
Angesichts dieser Krise kann es kaum verwundern, dass selbst die viel gepriesene Friedfertigkeit Ecuadors auf der Kippe steht: Spätestens seit dem Anschlag auf Leonidas Iza am 1. Februar dieses Jahres muss eine Übertragung des »schmutzigen Krieges« gegen Oppositionelle, wie es aus dem Nachbarland Kolumbien nur zu bekannt ist, ernsthaft befürchtet werden. Iza ist der Vorsitzende des mächtigen Indioverbandes CONAIE, der die Regierung zunächst gestützt hatte. »Wir konnten Gutierrez nicht richtig einschätzen, insofern war es ein Fehler, diese Regierung erst zu ermöglichen. Ohne die Indigenas und sozialen Bewegungen wäre Gutierrez nichts ins Amt gekommen, heute zeigen sich faschistische Elemente in seiner Regierung. Das ist natürlich ein herber Rückschlag«, sagt er mir im Gespräch. Wer denn wohl hinter dem Attentat gesteckt habe, das auf ihn vor dem Hauptsitz der CONAIE verübt wurde? »Das können Gruppen sein, die der Regierung sehr nahe stehen. Hier gab es bereits versteckte Andeutungen zu dem Aufbau paramilitärischer Gruppen. Es könnten auch ausländische Kräfte sein, beispielsweise die USA. Es kann auch die Regierung selbst sein.«
I N T E R V I E W
Rosen und Gewerkschaftsrechte
Interview mit Jaime Arciniega, Vorsitzender des ecuadorianischen Gewerkschaftsbundes CEOSL
Arbeit&Wirtschaft: Ihre Gewerkschaft hat anfangs die Regierung Gutierrez unterstützt. Wie kam es dazu?
Jaime Arciniega: Unsere Organisation unterstützte Gutierrez im Wahlkampf und auch in den ersten Monaten seiner Regierung, denn er hatte sich gegen die Korruption ausgesprochen, wollte die nationale Industrie stärken, neue Arbeitsplätze schaffen und die Kinderarbeit überwinden. Mein Vorgänger im Amt des Gewerkschaftsvorsitzenden zog als Berater in den Präsidentenpalast ein. Gutierrez versprach alles …
… hat aber nichts gehalten.
Das ist leider richtig, inzwischen ist Gutierrez auf eine ultrarechte Position eingeschwenkt. Er will die Gewerkschaften niederringen und den öffentlichen Sektor abschaffen. Unsere Bevölkerung hat der Präsident völlig vergessen, er sichert nur die Privilegien seiner Familie. Seine alten militärischen Freunde sind in hohe Ämter gerückt, für die sie keine Qualifikation haben.
Was ist also die Perspektive für diese Regierung?
Die Regierung macht die Gesetze gegen die Arbeiter, für das Großkapital. Es wäre besser, der Präsident würde bald zurücktreten. Es sieht aber so aus, als wolle er an seinem Amt festhalten. Es mehren sich anonyme Drohungen und erste Attentate gegen oppositionelle Kräfte, auch gegen die Gewerkschaften. Die Situation in Ecuador ist im Moment sehr unsicher und besorgniserregend.
Kann die internationale Öffentlichkeit für die Verteidigung der Gewerkschaftsrechte und der Demokratie in Ecuador von Nutzen sein?
Ja, sicher. Wir haben in den vergangenen Jahren sehr gute Erfahrungen mit der Solidarität von Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen aus den USA in Bezug auf die Situation in der ecuadorianischen Bananenindustrie gemacht. In den USA werden diese Bananen überwiegend verkauft, deshalb haben die Unternehmen auf die Kritik dort reagiert. Wir konnten einzelne konkrete Erfolge in den Plantagen erzielen, selbst der Bananen-König und ehemalige Präsidentschaftskandidat Noboa spürt den Druck. Es wäre gut, ähnliche Initiativen zum Beispiel in Bezug auf die Blumenindustrie zu starten. Wir haben mehr als 300 Blumenplantagen in Ecuador, aber nur in dreien existiert eine Gewerkschaft. Wir haben beim Arbeitsministerium den Antrag auf eine Branchengewerkschaft für die Blumenindustrie gestellt, der aber abgelehnt wurde. Regierung und Unternehmer stecken unter einer Decke, die Korruption ist enorm. Es wäre gut, wenn sich hierzu in Europa, wo ja viele unserer schönen Rosen verkauft werden, deutliche Kritik in der Öffentlichkeit erheben würde.
(Das Interview führte Frank Braßel im März in Quito.)
Alle Versprechen gebrochen
Die CONAIE wie auch die Linkspartei MPD und der Gewerkschaftsverband CEOSL (siehe Interview) zogen sich nach 200 Tagen wieder aus der Regierung zurück. Präsident Gutierrez hatte nicht ein Versprechen erfüllt. Statt eine sozial ausgewogene Wirtschaftspolitik zu führen, gaben schnell die Neoliberalen den Ton an.
Statt gegen die immensen Auslandsschulden und die knallharten Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorzugehen, zeigt Gutierrez blinden Gehorsam. Und statt die US-Militärbasis in Manta nur auf Aktionen zur regionalen Drogenbekämpfung zu begrenzen, wie es der Vertrag vorsieht, wird Ecuador immer mehr zum Element der Regionalisierung des kolumbianischen Bürgerkriegs.
Das gilt für das Agieren des US- und offenbar auch des kolumbianischen Geheimdienstes im Lande und der zunehmenden Gewaltwelle.
Gutierrez entwickelt sich zu einem selbstherrlichen Präsidenten, der sich mit einer kleiner Gruppe von ehemaligen Militärfreunden und Familienangehörigen umgibt. So löste ihn sein jüngerer Bruder Gilmar Ende Februar als Vorsitzender seiner Partei ab, der »Patriotischen Gesellschaft«. Gutierrez reagiert zunehmend gereizt auf niedrige Umfragewerte und Kritik in den Medien.
»Das Land will positive Nachrichten, will Optimismus. Alle unsere Anstrengungen werden nutzlos sein ohne die Hilfe der Massenmedien. Deshalb Schluss mit den Skandalberichten«, forderte er in aggressivem Tonfall Anfang März.
Autoritärer, arroganter Führer
Offenbar hat sich ein neuer autoritärer, arroganter Führer installiert. Die Opposition plädiert für den Sturz Gutierrez’, doch die Frage ist: Welche realistischen Alternativen gibt es, gegen die reaktionären Eliten und gegen die Macht Washingtons eine wirklich alternative Regierung aufzubauen?
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre stimmen wenig optimistisch.
Vermutlich werden auch in den kommenden Jahren Armut, Kinderarbeit, Korruption und zunehmende Gewalt die Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung belasten.
I N F O R M A T I O N
CEOSL - Central Ecuatoriana de Organizaciones Sindicales Libres = Bund der freien Gewerkschaften Ecuadors
MPD - Movimiento Popular Democratico = Demokratische Volksbewegung
Der Weg zur treffgenauen Schulung
Treffgenaue Schulungen, die zu den jeweiligen Zielgruppen passen, fallen natürlich nicht vom Himmel. Individuelle, innovative und die Chancengleichheit fördernde Angebote sind nicht einfach zu entwickeln. Es ist viel Vorarbeit notwendig, um bei den tatsächlichen Potenzialen der Beschäftigten anzusetzen und diese bewusst zu machen. Verschiedene Forschungs-, Trainings- und Beratungsinstitutionen arbeiten als Team im Rahmen einer »EQUAL«-Entwicklungspartnerschaft zusammen.
Wissenschaftliche Vorarbeit
Bevor die Arbeit in den Betrieben beginnen konnte, musste überlegt werden, wie man die Vielfalt in der Belegschaft am besten erhebt und die Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen feststellt. Das ZSI, das Zentrum für soziale Innovation, hat diese Aufgabe in unserem Projekt übernommen und das Thema »Diversity« arbeitsmarktpolitisch aufbereitet, Diversity-Management-Studien und
-konzepte in anderen Ländern recherchiert, Good-Practice-Beispiele erhoben, Überlegungen zu einem Messinstrumentarium angestellt und Diversity-Merkmale zusammengestellt. Dabei war »Gender« - also die gesellschaftlich geprägte Geschlechterrolle - eine wesentliche Dimension der Analyse. In der Rahmenanalyse wurde versucht, Vielfalt in der Belegschaft auf breiter Basis zu erfassen und die Chancen, aber auch die Probleme, die sich daraus ergeben können, zu berücksichtigen.
Die Betriebsanalyse
Auf diesen Untersuchungen basierend, führt der Verein für Betriebssozialarbeit die eigentliche Betriebsanalyse durch. Sie besteht aus einer IST-Analyse der betrieblichen Kennzahlen, Angaben zur Beschäftigtenstruktur und einer Befragung, in der diese Daten ergänzt werden. Für diese Befragung wurden spezielle Erhebungsinstrumente entwickelt, um diversity-spezifische Aspekte gut herausarbeiten zu können. Es werden personenzentrierte Interviews an Hand eines teilstandardisierten Leitfadens geführt, der an firmenspezifischen Fragestellungen ausgerichtet ist. Die Fragen betreffen die Unternehmenssituation, firmenspezifische Spannungsfelder, die nationale und kulturelle Vielfalt der Firma, die Weiterbildung der Belegschaft, das Personalmanagement und die Arbeitszufriedenheit.
Bereits bei der Befragung wird darauf geachtet, dass die Befragten eine für die Diversität im Betrieb repräsentative Stichprobe darstellen. Aufgrund der IST-Anlayse und der Befragung kann ein bestimmter Schulungsbedarf abgeleitet werden, der dann in Vorschlägen zur Qualifizierung mündet. Diese Vorschläge sind für die jeweilige Firma »maßgeschneidert«. Gemeinsam mit den Pilotunternehmen werden aus den Vorschlägen jene ausgesucht, die in den laufenden Prozess passen und auf die betrieblichen Teilprojekte abgestimmt sind.
Das bedeutet auch, dass es in jedem der fünf Pilotbetriebe andere Schulungsmaßnahmen, Interventionen und Handlungsfelder geben wird. Diese Analysephase ist beim ersten Pilotbetrieb bereits abgeschlossen, beim zweiten Betrieb ist sie gerade im Gange.
Die Schulungen
Die Schulungen sollen sowohl die Führungsebene als auch die Beschäftigten für das Thema Diversity sensibilisieren und zu einer positiven Bewertung von Unterschieden führen. Bei den Schulungen sind das BEST Institut für berufsbezogene Weiterbildung und Personaltraining und der Verein zur Förderung von Gleichstellung, Vereinbarkeit und Diversity aktiv.
Aus dem ersten Betrieb, der Firma Flowserve, der die Analysephase bereits abgeschlossen hat und wo schon Schulungen stattgefunden haben, liegen bereits erste Ergebnisse vor. Dort hat sich ein Schwerpunkt im Hinblick auf »Soft Skills«, also die Schulung von sozialen Kompetenzen, ergeben.
Bei »Flowserve« gibt es Trainings zur Führungsentwicklung, bei denen Führungsaufgaben geklärt werden und am »Wie« der Vermittlung dieser Aufgaben gearbeitet wird. Die Trainings finden in Form von Seminaren und Kleingruppencoachings statt, wobei auf den Erfahrungsaustausch besonderer Wert gelegt wird. Weiters gibt es ein Projekt zur Einschulung neu Eingestellter, da die Unternehmensanalyse in diesem Bereich einen konkreten Handlungsbedarf ergeben hat. Das kreative Potenzial der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter soll der Lösungsfindung und damit der Akzeptanz der gefundenen Lösung sehr zugute kommen.
Diversity-Kompetenz
Der Transfer von Diversity-Kompetenzen wird ein weiterer Schwerpunkt des Trainings der Führungskräfte sein. Er richtet sich an Führungskräfte, Personalverantwortliche und den Betriebsrat. Der produktive Umgang und das produktive Managen von Diversitäten im Unternehmen stellt Führungskräfte, Personalverantwortliche und Betriebsräte als die Vertretung der Beschäftigten vor große Herausforderungen und bedingt den gezielten Aufbau von Kompetenzen sowie entsprechende Sensibilisierungsschritte. Das Sensibilisierungstraining baut auf den Ergebnissen der Betriebsanalyse auf und soll helfen, die Diversity-Perspektive in die Führungsarbeit, die Personalentwicklung und die Betriebsratsarbeit zu integrieren und Diversity-Maßnahmen umzusetzen.
Neben der Schulung der Führungskräfte ist auch die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von zentraler Wichtigkeit. Hier heißt das wichtigste Thema Teamentwicklung. Es geht dabei um die Bearbeitung von Konflikten, um die Etablierung einer anderen Konfliktkultur durch die Förderung von Akzeptanz und Wertschätzung diversity-spezifischer Unterschiede um die Verbesserung der Gesprächskultur im Hinblick auf Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Beschäftigtengruppen und um die entsprechende Motivation.
Die vielfältigen sozialen Ebenen der Beschäftigten und deren weiteres Umfeld stehen im Zentrum der Zusammenarbeit der Fachhochschule für Sozialarbeit in St. Pölten mit der Caritas und Südwind. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Diversity-Potenzialen sollen speziell unterstützt werden. Es wird Hilfe bei beruflichen und sozialen Anliegen angeboten, und die unterschiedlichen Kulturen im Betrieb sollen in Form eines Betriebsjournals dargestellt werden.
Projektbegleitung und Evaluation
Damit die sieben Akteure, die in diesem Projekt aktiv werden, das gemeinsame Ziel nie aus den Augen verlieren, hat das Österreichische Institut für Raumplanung die wissenschaftliche Projektbegleitung übernommen. Es erstellt eine Ziel- und Bedarfsanalyse, überprüft die Zielkonsistenz und Zielkohärenz, vergleicht die Zielformulierungen im Antrag mit der aktuellen Operationalisierung und gibt Feedback zur Abstimmung der Ziele zwischen den Modulen. So trägt es zur Verschränkung von Lernprozessen bei und spiegelt Ergebnisse zurück.
Auswahl der Betriebe
Für das Projekt wurden Betriebe mit 70 bis 200 Beschäftigten ausgewählt, in denen Personengruppen arbeiten, die sich durch Geschlecht, Alter, Ausbildung, kulturelle und soziale Herkunft, körperliche oder psychische Disposition unterscheiden. Im Projekt »Managing Diversity« wird das Schulungs- und Beratungsprogramm in fünf Betrieben vom Industrieunternehmen bis zum Krankenhaus angeboten.
Die Schulungen bei Flowserve haben im November 2003 begonnen, ab Februar starten die Schulungen im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern, im Frühjahr ist der Schließanlagenhersteller EVVA an der Reihe. Zwei weitere Betriebe werden gestaffelt folgen.
Die beteiligten Firmen
Flowserve ist ein Pumpenerzeuger mit Sitz in Niederösterreich und ist ein Tochterunternhemen der Flowserve Corporation mit Sitz in Dallas, Texas. Das Unternehmen beschäftigt 14.000 Personen in 56 Ländern. Am Standort Brunn am Gebirge werden Kreiselpumpen und Kolbenpumpen für die chemische und petrochemische Industrie sowie für allgemeine industrielle Anwendungen entwickelt, erzeugt und repariert. Der Umsatz an diesem Standort beträgt 30 Millionen Euro im Jahr, der Exportanteil 99 Prozent. Das Unternehmen befindet sich in einer Wachstumsphase, der Umsatz wurde in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Unterschiede als Störfaktor
Die Belegschaft besteht aus 165 Personen und ist multikulturell zusammengesetzt. Der Anteil der Beschäftigten nicht-österreichischer Herkunft beträgt im Werksbereich 23 Prozent, im Büro ein Prozent. Der Frauenanteil ist sehr gering und liegt im Werk bei zwei Prozent, im Büro bei 16 Prozent. Bisher wurde versucht, keine Unterschiede zu machen, Diskriminierungen aufgrund unterschiedlicher nationaler Herkunft zu vermeiden. Dies trug aber unbeabsichtigt dazu bei, Unterschiede wie Störfaktoren zu behandeln - gerade das Gegenteil des »Managing Diversity«-Programmes, das versucht, Unterschiede als Potenziale zu sehen. Daran wird gearbeitet werden müssen.
Daher liegen bei Flowserve die Schulungsangebote im Rahmen des Projektes hauptsächlich im Bereich der soft skills. Bisher gab es kein Training in dieser Richtung. Es gibt, wie bereits beschrieben, Angebote zur Führungsentwicklung insbesondere im Hinblick auf das produktive Managen von Diversitäten, zur Teamentwicklung, Motivation und Gesprächskultur, ein Projekt zur Einschulung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Unterstützung und Beratung im sozialen und betrieblichen Umfeld der Arbeiter und Angestellten.
Diversity im Krankenhaus
Der zweite Betrieb, in dem »Managing Diversity« bereits begonnen hat, ist das Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien, ein Unternehmen der St. Vinzenz Holding. Es hat 387 Beschäftigte und betreut im Jahr rund 9000 Patientinnen und Patienten stationär und rund 19.000 Personen ambulant. Die Bettenauslastung beträgt 90 Prozent. Die medizinischen Schwerpunkte betreffen die ganzheitliche interdisziplinäre Betreuung von Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechsel-Erkrankungen, Osteoporose, psychosomatischen Erkrankungen, orthopädischen und proktologischen Erkrankungen sowie von Personen mit Wundheilstörungen, die in der Abteilung für plastische Chirurgie behandelt werden.
Die Betriebsanalyse ist gerade im Gange. Hier könnten sich Handlungsfelder bezüglich der Unterschiede zwischen geistlichen und weltlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem unterschiedliche Ausbildungsstand der Beschäftigten und dem Verhältnis zwischen inländischen und ausländi-schen Beschäftigten ergeben. Im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern gibt es bereits ein breites Schulungsangebot und eine jährliche Bedarfserhebung per Fragebogen. Diese Schulungen finden getrennt für die einzelnen Beschäftigtengruppen statt (Pflege, Ärzte, Verwaltung, medizinisch-technischer Dienst). Bereichsübergreifende, interdisziplinäre Schulungen gab es bisher nicht, sie sind aber für 2004 geplant. Es hat sich bereits gezeigt, dass nicht alle Gruppen der Belegschaft geschult wurden. Daher sollen im Rahmen des Projekts vor allem jene berücksichtigt werden, die bisher kaum Schulungen erhielten: benachteiligte Gruppen wie Behinderte, weniger qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie solche ausländischer Herkunft, die schlecht deutsch sprechen. Stephan Lampl, Geschäftsführer und Verwaltungsdirektor des Krankenhauses der Barmherzigen Schwestern: »Die Förderung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liegt mir persönlich sehr am Herzen. Das Angebot von zusätzlichen Weiterbildungsmaßnahmen kommt jedoch nicht nur den Beschäftigten, sondern in weiterer Form auch unseren Patientinnen und Patienten zugute. Die Teilnahme am Managing Diversity Projekt trägt weiter dazu bei, die bereits hohe Kompetenz unseres Krankenhauspersonals auszubauen.«
Familienbetrieb für Sicherheit
Als nächster Betrieb kommt das österreichische Familienunternehmen EVVA, dessen Zentrale sich in Wien befindet, an die Reihe. EVVA ist einer der traditionsreichsten und gleichzeitig innovativsten Hersteller von Produkten im Bereich der Security. Die Firma ist auf Schließtechnik (Beschläge, Schließanlagen und Schlösser) sowie auf die Zu- und Austrittskontrolle von Gebäuden und Behältnissen spezialisiert.
In der Zentrale in Wien arbeiten 390 Personen, der Exportanteil beträgt 50 Prozent. Der Konzern hat auch Niederlassungen in Deutschland, den Niederlanden, Schweden, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. EVVA will seine führende Marktstellung in Europa weiter ausbauen. Das Hauptanliegen an Managing Diversity ist der Umgang mit Veränderungen. Die Betriebsanalyse in diesem Betrieb beginnt im Frühjahr 2004. In zwei weiteren Betrieben, mit denen noch Vorgespräche geführt werden, wird das Projekt im Laufe des Jahres 2004 beginnen.
Informationen zum Projekt auf der Projekthomepage:
www.managing-diversity.at
R E S Ü M E E
Diversity Management will Unterschiede zwischen Beschäftigten vom Störfaktor in Vorteile verwandeln. Am Ende der Projektlaufzeit werden fünf österreichische Pilotbetriebe Strategien und Ansätze zum Diversity Management erprobt haben. Der Diversity-Ansatz wurde damit in den Modellbetrieben im betrieblichen Umfeld verankert. Damit ist man dem Ziel von EQUAL, der Bekämpfung von Diskriminierung und Ungleichheiten am Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich, ein Stück näher gekommen.
Vollbeschäftigung in der EU ein realistisches Ziel?
Im Jahr 2000 hat sich die EU zum Ziel gesetzt, bis 2010 der dynamischste Wirtschaftstraum der Welt zu werden. Konkret wurde angestrebt, bis 2010 eine Gesamtbeschäftigungsquote von 70% zu erreichen. Ein Jahr später in Stockholm gingen die Staats- und Regierungschefs so weit, bereits für 2005 eine Quote von 67% anzustreben. Wiederum ein Jahr später verpflichteten sie sich, bis 2010 die Hälfte aller 55- bis 64-Jährigen in Beschäftigung zu bringen. Um dies alles möglich zu machen, wurde ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent als notwendig erachtet. Konkret bedeuten die Lissabonner Beschäftigungsziele die Schaffung von zusätzlich ca. 20 Millionen Arbeitsplätzen bis 2010. Vier Jahre später sieht die ökonomische Situation Europas weit weniger rosig aus als noch Anfang des Jahrtausends erhofft.
Ziel und Wirklichkeit
Das Wachstum in der EU war nun schon das dritte Jahr in Folge sehr schwach (2003: 0,8%): »Over the past three years, the average annual growth rate has been in the region of 1,25% compared with 2,7% for the second half of the 90s«1) (European Commission 2004:5). Die Beschäftigung hat sich zwar von 1999 auf 2002 von 62,5% auf 64,3% erhöht, allerdings stellt selbst die Kommission in ihrem Bericht für den Frühjahrsgipfel fest, dass dies nicht genügen wird, um das für 2005 ins Auge gefasste Zwischenziel zu erreichen. Wie weit sind wir konkret vom Ziel entfernt?
»Konkret bedeuten die Lissabonner Beschäftigungsziele die Schaffung von zusätzlich ca. 20 Millionen Arbeitsplätzen bis 2010.«
Im Jahr 2000 entwickelte die EU-Kommission auf Basis bestimmter Annahmen2) ein Szenario über die Entwicklung der Beschäftigung in den einzelnen Mitgliedstaaten (vergleiche dazu European Commission Ad hoc/008/en 2000 und Europäische Kommission 2000). Dabei ist die Erreichung des EU-Ziels insbesondere von der Entwicklung in den großen Ländern Deutschland, Frankreich und Italien abhängig. Die Kommission dazu im Jahr 2000: »Der Anteil dieser drei Länder am gesamten Beschäftigungswachstum, das für die Zeit von 1999 bis 2010 für die EU-15 prognostiziert wird, beträgt fast 50%. Wenn im Extremfall in diesen Ländern keine bessere Entwicklung eintreten sollte, sondern nur die Beschäftigungsentwicklung der 1990er-Jahre wiederholt werden würde, so würde die Beschäftigungsquote in der Europäischen Union insgesamt bis 2010 nur auf etwas über 67% steigen …« (Europäische Kommission 2000:51).
Der Extremfall scheint im Jahr 2004 eingetreten zu sein: Deutschland hinkt mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinterher und auch Frankreich bzw. Italien haben zur Erreichung ihres Zieles noch einen weiten Weg zu gehen (siehe Grafik: »Ziele und Realität«).
Die Lissabon-Strategie reiht sich in eine Reihe von EU-Projekten - viele von ihnen Ergebnis so genannter Gipfeltreffen zwischen Staats- und Regierungschefs -, die jeweils mit der Hoffnung eines Wachstumsschubs verbunden waren: Das Binnenmarktprogramm Mitte der 80er-Jahre, der Luxemburg-Prozess zur Reform der Arbeitsmärkte (1997), gefolgt vom so genannten Cardiff-Prozess 1998 zur Reform der Gütermärkte und natürlich die Wirtschafts- und Währungsunion (2000).
1988 schätzte der berühmte Cecchini-Bericht (Europa '92 - Der Vorteil des Binnenmarkts), dass sich die jährliche Wachstumsrate der EG bis 1992 um einen Prozentpunkt erhöhen würde. Verschiedene Studien und Modellsimulationen3), die seit 1992 durchgeführt wurden, versuchten in den Folgejahren die Wachstums- und Beschäftigungseffekte des Binnenmarkts ex post, also im Nachhinein, zu quantifizieren (vergleiche unter anderem Ziltener 2001, Pichelmann 2002). All diese Analysen kommen zu deutlich niedrigeren Ergebnissen als die ex ante - im Voraus - Schätzungen des Cecchini-Berichts.
Allerdings sind auch diese deutlich niedrigeren Zahlen mit einiger Vorsicht zu genießen. Nicht nur, dass von vollkommen funktionierenden Märkten ausgegangen wird, so widersprechen Beschäftigungsdaten häufig diesen Befunden (vergleiche Ziltener 2003).
Aufbauend auf der Doktrin, dass Marktliberalisierung gefolgt von einer gemeinsamen Währung Wachstum und Beschäftigung schafft, wurden in Maastricht 1992 die Voraussetzungen für den Euro beschlossen. Kombiniert mit dem Abschwung Anfang der 90er-Jahre haben sich die kollektiven Konsolidierungsbestrebungen der EU-Staaten zur Erreichung der so genannten Maastricht-Kriterien4) in Folge jedoch eher hemmend auf Wachstum und Beschäftigung ausgewirkt. Die Versuche der EU-Kommission, expansive Wirkungen von Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen zu beschwören, erscheinen bei genauerem Hinsehen wenig glaubwürdig. Trotzdem orientiert sich die europäische Wirtschaftspolitik weiterhin primär am Ziel einer niedrigen Inflationsrate (Primat der Preisstabilität in der Zielsetzung der Europäischen Zentralbank). Diese Festlegung erfährt ihre inhaltliche Konkretisierung im Stabilitäts- und Wachstumspakt und in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik.
»2003 wurden im Euro-Raum insgesamt 200.000 Stellen abgebaut - der erste Rückgang seit 1994.«
Die »Post-Maastrichtkrise«, wie Aust (2000) sie vielleicht etwas euphemistisch nennt - mit wachsenden politischen Widerständen gegen den Maastrichter Vertrag und der ökonomischen Rezession mit ansteigenden Arbeitslosenzahlen Anfang der 90er-Jahre -, hat zwar zu einer rhetorischen Wende in der Wahrnehmung der europäischen Arbeitsmarktkrise geführt. Mit dem so genannten Luxemburg-Prozess wurde 1997 der Grundstein für eine aktivere Rolle der EU in beschäftigungspolitischen Fragen gelegt. Allerdings liegen auch hier die politischen Schwerpunkte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Arbeitsmarktreformen, das heißt auf Strukturreformen. Daher fällt das Ergebnis bzw. der Erfolg der Strategie nach mehr als sechs Jahren »Beschäftigungsstrategie« auch bei diesem Prozess eher bescheiden aus (vergleiche dazu eine umfassende Analyse in Schweighofer 2003).
Onkel aus Amerika
So war die relativ gute Wachstumsperformance und das Beschäftigungswachstum der EU in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre vor allem einer guten Konjunktursituation geschuldet, die weniger von der EU selbst, sondern den USA ausging. Oder - wie es in der Tageszeitung »Der Standard« einmal formuliert wurde: »Der Aufschwung ist ein Onkel aus Amerika.«
Dieses Wachstum brach dann in der EU auch gleich nach dem Abschwung 2000 in den USA ein, während die USA sich allerdings aber wieder rascher erholten, dümpelt die europäische Wirtschaft noch vor sich hin. Im Frühling 2000 waren sich die Staats- und Regierungschefs noch sicher, dass sie ein jährliches dreiprozentiges Wachstum bis 2010 erreichen könnten. Tatsächlich schlitterte die EU in eine nun schon seit über drei Jahren währende Stagnation, aus der sie sich nicht befreien kann oder will (siehe Grafik: »BIP- und Beschäftigungswachstum«). Das Problem der EU ist, dass die Jobs, die Ende der 90er-Jahre geschaffen wurden (immerhin 13 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze), Anfang des 21. Jahrhunderts wieder verloren gehen könnten - wenn nicht gegengesteuert wird!
Andere makroökonomische Politik?
Die lange Phase der Stagnation fordert auch ihren Tribut am Arbeitsmarkt. 2003 wurden im Euro-Raum insgesamt 200.000 Stellen abgebaut - der erste Rückgang seit 1994! Die Arbeitslosenquote steigt auf 8,1% (Euro-Raum: 8,9%). Und auch Österreich ist von dieser Entwicklung nicht verschont: bei Wachstum und Beschäftigung steht Österreich im EU-Vergleich eher durchschnittlich da (siehe Walterskirchen 2004).
Welche Faktoren sind nun aber tatsächlich schuld an dieser Entwicklung? Zur Klärung dieser Frage gibt es zwei Antworten: Während KritikerInnen der Entwicklung beklagen, dass die ökonomische Ausrichtung der EU - restriktive Budget- und Geldpolitik - wachstumshemmend ist, halten Kommission und Rat bedingungslos an alten Rezepten fest: Strukturreformen auf den Arbeits- und Gütermärkten heißt in diesem Zusammenhang das Zauberwort (vergleiche Angelo 2003).
Angesichts der schwachen Investitionen und des niedrigen privaten wie öffentlichen Konsums stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht eher mangelnde Nachfrage ist, die für die anhaltende Krise verantwortlich zeichnet. Statt antizyklisch zu agieren geschieht das Gegenteil, und so trifft das, was Galbraith für die USA festhält, besonders dramatisch für die EU zu: »... Stagnation also promotes plans to cut essential services, including health, education and pensions«5) (Galbraith, 2004:10).
Chance nicht genutzt
Statt die Chance zu einer Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) zu nutzen, die die Ratsentscheidung zur Aussetzung der Sanktionen im vorigen November geboten hätte, ruft die scheidende EU-Kommission den EUGH an, um stur auf der Einhaltung der Verträge zu beharren. »Die Finanzminister fordern das Recht ein, eine Politik zu machen, die in der gesamten Welt als alternativlos im Falle einer anhaltenden Schwächephase der Wirtschaft gilt. Die Kommission aber, sicherlich mit geistiger Unterstützung der Europäischen Zentralbank, beharrt auf einer prozyklischen Politik, obwohl diese gerade in fast allen Ländern gescheitert ist« (Flassbeck 2004:2). Und dies, trotzdem es auch innerhalb der Kommission zumindest auf wissenschaftlicher Ebene durchaus Kritik (Barriere für Investitionen, prozyklischer Anreiz, kurzfristige Orientierung) und daraus resultierend Verbesserungsvorschläge für den SWP gibt (vergleiche unter anderem auch Buti 2003). Diese Vorschläge reichen bis hin zur Einführung einer so genannten goldenen Finanzierungsregel, das heißt die Ausklammerung der öffentlichen Investitionen aus der Defizitberechnung.
Deutsche Wissenschafter gehen noch einen Schritt weiter und verlangen darüber hinaus noch ausgabenseitige Fiskalregeln. Für konjunkturunabhängige Staatsausgaben soll ein nicht zu überschreitender Wachstumspfad vorgegeben werden, der mittelfristig zu einer Konsolidierung führt, das heißt unter dem trendmäßigen nominalen BIP-Wachstum liegt.
Demgegenüber sollen die konjunkturabhängigen Ausgaben je nach Konjunkturlage um diese Ausgabenpfad variieren, das heißt die automatischen Stabilisatoren können voll wirken (Hein 2003).
R E S Ü M E E
Über Optionen zur Erreichung der Lissabon-Ziele wird derzeit nicht diskutiert - und der Frühjahrsgipfel in Brüssel war eine weitere vergebene Chance, Europa aus der Wachstumskrise zu holen.
Somit ist absehbar, dass die für 2005 vorgesehene Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie noch ernüchternder ausfallen wird als der diesjährige Frühjahrsbericht der Europäischen Kommission.
1) Zu Deutsch: »Während der letzten drei Jahre lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate im Bereich von 1,25%, verglichen mit 2,7% in der zweiten Hälfte der 90er.«
2) Zu diesen Annahmen zählen z. B. ein jährliches BIP-Wachstum von 3%, ein Beschäftigungswachstum von 1,2% und bestimmte Annahmen zur demografischen Entwicklung (siehe dazu genau: Europäische Kommission 2000:50ff).
3) Auf Basis eines makroökonomischen Modells (QUEST-Modell der Kommission) werden die Effekte der Produkt- und Arbeitsmarktliberalisierung von 1992 bis 2002 geschätzt.
4) Der Vertrag von Maastricht sieht vor, dass die Budgetpolitik in der WWU einer Disziplinierung zu unterwerfen ist. Als Zielvorgabe wurden zwei fiskalische Konvergenzkriterien festgelegt, die postulieren, dass das Maastricht-Defizit nicht höher als 3% des BIP und die öffentliche Verschuldung des Gesamtstaates nicht höher als 60% des BIP sein soll.
5) Zu Deutsch: »Die Stagnation fördert Pläne zur Reduktion lebenswichtiger Versorgungsdienste wie Gesundheit, Bildung und Pensionen.«
WEITERFÜHRENDE LITERATUR:
Angelo, Silvia (2003): Die Auswirkungen der EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Sozialpolitiken der Nationalstaaten, in: WISO 3/2003
Aust, Andreas (2000): »Dritter Weg« oder »Eurokeynesianismus«? Zur Entwicklung der Europäischen Beschäftigungspolitik seit dem Amsterdamer Vertrag. in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 29/3
Buti, Marco, Eijffinger, Sylvester und Franco, Daniele (2003): Revisiting the Stability and Growth Pact: Grand design or internal adjustment? In: European Commission (Hrsg.), European Economy Nr. 180
European Commission Ad hoc/008/en: Employment rate scenarios for 2010 - Summary, Brussels 2000
Europäische Kommission (2000): Beschäftigung in Europa 2000, Brüssel 2000
Europäische Kommission (2004): Delivering growth, Bericht der Kommission für den europäischen Frühjahrsgipfel, Brüssel 2004
Galbraith, James K. (2004): The American Economic Problem, in: Intervention - Zeitschrift für Ökonomie 1/2004, Darmstadt
Flassbeck, Heiner (2004): Europa versagt an vielen Fronten, 2. Teil einer dreiteiligen Serie, in: WuM April 2004
Hein, Eckhard (2003): Voraussetzungen und Notwendigkeiten einer europäischen Makrokoordinierung, in: Wirtschaftspolitische Koordination in der WWU, Wirtschaftswissenschaftliche Tagungen der AK Wien, Nr. 7, Wien
Pichelmann, Karl et al. (2002): Structural reforms in labour and product markets and macroeconomic performance in the EU, in: The EU-Economy, 2002 Review, Brüssel
Schweighofer, Johannes (2003): Ist die »europäische Beschäftigungsstrategie« nach fünf Jahren am Ende? Zur Bewertung des Luxemburg-Prozesses 1998-2002, Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 84, Arbeiterkammer Wien 2003
Walterskirchen, Ewald (2004): Die Position Österreichs im internationalen Strukturwettbewerb - Die neuen EU-Strukturindikatoren. Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 86, Arbeiterkammer Wien 2004
Ziltener, Patrick (2001): Wirtschaftliche Effekte der europäischen Integration - Theoriebildung und empirische Forschung in: MPlfG Working Papers 7/2001
Ziltener, Patrick (2003): Hat der EU- Binnenmarkt Wachstum und Beschäftigung gebracht? in: WSI Mitteilungen 4/2003
Die AutorInnen Silvia Angelo und Norbert Templ sind beschäftigt bei der Arbeiterkammer Wien und befassen sich mit europäischen Themen
]]>Demografische Herausforderung
Die Pflege, insbesondere die Altenpflege, sieht sich derzeit im Spannungsfeld zwischen demografischen Herausforderungen und budgetären Engpässen. Dies gilt für Österreich ebenso wie für die anderen EU-Länder.
»Bereits 1994 haben sich die Bundesländer gegenüber dem Bund verpflichtet, die sozialen Dienste im Pflegebereich flächendeckend auf- und auszubauen.«
Heute gibt es in Österreich etwa 350.000 Personen, die Pflegegeld beziehen, davon sind 290.000 über 60 Jahre alt. (Es gibt Schätzungen, die sagen, dass die Zahl der Pflegefälle noch deutlich höher liegt, da es auch pflegebedürftige Menschen gäbe, die kein Pflegegeld erhalten.) Betrachtet man die Altersstruktur, so sieht man eine deutliche Erhöhung des Pflegerisikos rund um den achtzigsten Geburtstag: Während in der Altersgruppe »60 bis 80 Jahre« 9% aller Personen Pflegefälle sind, können in der Altersgruppe »Über 80 Jahre« 50% als Pflegefälle bezeichnet werden. Die Prognosen der Statistik Austria zeigen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte insbesondere für die Gruppen Alte und Hochbetagte hohe Steigerungsraten.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, ob in dieser größer werdenden Gruppe von alten Menschen auch vermehrt Pflegefälle sein werden oder ob in Zukunft die Alten länger gesund sein werden. Nimmt man an, dass der Anteil der Pflegefälle gleich bleibt, so ist in den kommenden Jahren mit folgenden Steigerungsraten zu rechnen: Bis 2010 wird es um 15% mehr Pflegefälle geben als heute, bis 2030 um ca. 65% mehr und bis 2050 um ca. 125% mehr.
Wie ist Österreich für diese Herausforderungen gerüstet? Der Befund ist leider nicht allzu gut. Bereits heute lesen wir immer wieder vom »Pflegenotstand«. Da drängt sich umso mehr die Frage auf, wer in Zukunft die größer werdende Gruppe der geriatrischen Langzeitpflegefälle pflegen soll. 15% der Pflegefälle sind heute in Heimen. Das ist im internationalen Vergleich eher eine unterdurchschnittliche Zahl. Es gibt einfach Fälle, die nur in stationärer Betreuung ausreichend umsorgt werden können: Alzheimer, Demenz, fortgeschrittene Formen von Behinderung, etc.
Pflegestrukturen in Österreich
Bekanntermaßen steht es nicht in allen Altenheimen zum Besten. Bereits 1994 haben sich die österreichischen Bundesländer gegenüber dem Bund verpflichtet, die sozialen Dienste im Pflegebereich flächendeckend auf- und auszubauen. Diese »Bedarfs- und Entwicklungspläne« sollen bis 2010 erfüllt werden, es bedarf hier allerdings noch großer Anstrengungen, um dieses Ziel zu erreichen. Wie so oft liegt dies auch daran, dass zu viele Köche am »Pflegebrei« mitmischen (Bund, Sozialversicherung, Länder, Gemeinden, Soziale Dienste, Landesfonds, Behindertenhilfe, …). Dadurch wird das System unübersichtlich, es gibt keine klaren Zuständigkeiten und es entstehen Ineffizienzen in der Kostenstruktur. Auch die Qualitätsstandards der Heime sind äußerst ungleich - hier könnte möglicherweise das soeben in Beschlusslage befindliche Bundesheimvertragsgesetz etwas ändern.
»Der Staat zahlt jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro an Pflegegeld.«
85% der Pflegefälle werden hingegen zu Hause betreut. Etwa 25% dieser Personen geben an, dass sie auch professionelle Hilfe erhalten. Da diese aber auch nur wenige Stunden am Tag abdeckt, bleibt der Großteil der Pflege heute in der Verantwortung der Familien. Gerne wird argumentiert, dass es dafür ja das Pflegegeld gäbe. Dieses steht aber in keinem Verhältnis zu den tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen - um sich damit professionelle Hilfe zu kaufen, ist es zu wenig, als materielle Absicherung der pflegenden Familienangehörigen kann es auch kaum gesehen werden. Dennoch zahlt der Staat jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro an Pflegegeld aus und diese Kosten würden parallel mit der Zahl der Pflegefälle steigen, wenn es zu keinen Reformen kommt.
»Die Forderung nach mehr Mobilität zwischen den Gesundheits- und Pflegeberufen ist nach wie vor ungenügend erfüllt.«
Es ist aber kaum vorstellbar, dass die so genannte informelle Pflege (also jene, die von Familienangehörigen erbracht wird) tatsächlich noch zunehmen kann. Die nach wie vor steigende Frauenerwerbstätigkeit und das Anheben des Pensionsalters führen dazu, dass Frauen immer mehr und länger auf dem Arbeitsmarkt bleiben - der Großteil der heute pflegenden Angehörigen rekrutiert sich aber genau aus dieser Gruppe der 50- bis 60-jährigen Frauen. Hier entsteht analog zur Kinderbetreuung eine Vereinbarkeitsproblematik. Ohne professionelle Hilfe ist es nicht möglich, Beruf und innerfamiliäre »Sozialleistungen« zu vereinen, womit die materielle Absicherung für diese Frauen zunehmend schwieriger wird. Aus diesem Grund wird in Österreich wie auch im Rest Europas der Ruf nach ambulanter Pflege immer lauter: Es muss dringend die Hauskrankenpflege ausgebaut werden, wie dies auch die bereits oben erwähnten Bedarfs- und Entwicklungspläne der Länder vorsehen.
Der Ausbau der ambulanten Pflege ist allerdings teuer. Ein Pflegefall, der mehr als vier Pflegestunden am Tag professionell betreut wird, kommt »billiger«, wenn dies in einem Altenheim geschieht. Wegzeiten, höherer Administrationsbedarf, schlecht für Pflege ausgestattete Wohnungen, unzureichende Möglichkeit der Rund-um-die-Uhr-Betreuung, dies sind einige der Faktoren, die kostentreibend für die ambulante Pflege wirken. Dennoch spricht natürlich der Wunsch nach eigenständigem und selbstbestimmtem Leben sehr für die ambulante Pflege.
»Es muss dringend die Hauskrankenpflege ausgebaut werden.«
Heute werden neben den bereits erwähnten 1,5 Milliarden Euro an Pflegegeld ca. 1,6 Milliarden Euro für Sachleistungen ausgegeben (ca. 1,1 Milliarden Euro für die Pflegeheime und ca. 500 Millionen Euro für die ambulante Pflege). Hier muss es zu einer Strukturveränderung kommen, wenn der erhöhte Pflegebedarf der Zukunft qualitätsvoll befriedigt werden soll. Daher sprechen sich auch die ArbeitnehmerInnen der Interessenvertretungen dafür aus, dass in der Pflege vermehrt Anstrengungen zum Ausbau des professionellen Bereichs unternommen werden müssen (sei es der notwendige Ausbau von Pflegeheimen oder sei es die flächendeckende, leistbare Zurverfügungstellung von ambulanter Pflege) - Sachleistungen ist vor Geldleistungen (also dem Pflegegeld) der Vorrang zu geben, so kann man diese Forderung kurz zusammenfassen.
Arbeitnehmerinnen in der Pflege
Natürlich interessiert in diesem Zusammenhang auch, wie es den Arbeitnehmerinnen (und es sind fast nur Frauen) in diesem Bereich geht. In den Pflegeheimen gibt es etwa 14.000 Vollzeitarbeitsplätze, in der ambulanten Pflege sind es heute ca. 6000. Es handelt sich dabei um keine sehr attraktiven Jobs. Dies beginnt bereits bei der Ausbildung. Diese ist sehr uneinheitlich und weitgehend unverbunden. Wenn eine junge Frau mit 15 Jahren sich entscheidet, in eine Krankenschwesternschule zu gehen, so hat sie nach drei Jahren einen Abschluss, aber keine Matura. Sollte sie also nach diesen drei Jahren draufkommen, dass sie sich eigentlich in diesem Beruf nicht wirklich wohlfühlen wird, so muss sie mit einer anderen Ausbildung ganz von vorne beginnen. Für die rein auf die Pflege ausgerichteten Berufe gibt es in den verschiedenen Bundesländern die unterschiedlichsten Bezeichnungen und Berufsbilder. Dies hat sich zwar durch eine neue Vereinbarung der Länder etwas gebessert, die Forderung, die Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen nach einer durchlässigen Ausbildungssituation (man soll zwischen verschiedenen Ausbildungen relativ einfach wechseln können) und nach mehr Mobilität zwischen den Gesundheits- und Pflegeberufen (man soll relativ einfach in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens arbeiten können, z. B. ein paar Jahre als Geriatrie-Schwester und dann vielleicht auch einmal als Säuglingsschwester) ist aber nach wie vor ungenügend erfüllt.
»Schätzungen sprechen von 10.000 bis 40.000 Personen, die jährlich vor allem aus Tschechien und der Slowakei kommen und in Österreich schwarz Pflegeleistungen erbringen.«
Und natürlich ist auch die Bezahlung gerade im Altenpflegebereich sehr schlecht. Und so ist es kein Wunder, wenn bereits heute von einem Fehlbestand von ca. 1350 Krankenschwestern, 3500 PflegehelferInnen und weiteren 400 Personen in den Hilfsdiensten ausgegangen wird. Es könnte eine kurz- bis mittelfristige Erleichterung sein, hier den Zustrom von ausländischem Pflegepersonal zu erleichtern (was auch ein Beitrag in der Bekämpfung der Schwarzarbeit wäre), längerfristig wird aber vor allem die Entlohnung in diesem Bereich deutlich besser werden müssen.
Wie ist es anderswo?
In allen westeuropäischen Ländern wird die für die nahe Zukunft zu erwartende Zunahme der geriatrischen Pflegefälle als wichtiges sozialpolitisches Problem gesehen. Die meisten EU-Länder unterscheiden sich dabei von Österreich dadurch, dass bereits heute wesentlich stärker der Sachleistungsbereich betont wird. Lediglich Deutschland kennt auch ein Pflegegeld, allerdings wird auch hier versucht, die Nachfrage stärker in Richtung von professionellen Leistungen zu lenken.
In vielen Ländern gibt es zweckgebundene Geldleistungen, die also nur zum Ankauf von qualifizierter Pflege verwendet werden dürfen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass bis zu einem gewissen Grad hier ein Markt entstanden ist, der ein vielfältiges Angebot an möglichen Pflegeleistungen hat.
»Qualitätsstandards der Heime sind äußerst ungleich.«
Derartige Ansätze haben sicherlich ihre Berechtigung, es ist immer nur darauf zu achten, dass es zu keinen unerwünschten Verteilungswirkungen kommt (hochqualitative Pflege für die Reichen, mangelhafte Pflege für die Armen). Insofern spricht auch die internationale Erfahrung dafür, stärker die professionelle Pflege auszubauen und die Familien in ihrer fast alleinigen Verantwortung für Pflegefälle spürbar zu entlasten.
Obwohl die Beitrittsländer eine etwas jüngere Bevölkerung haben als der EU-Durchschnitt, sehen auch sie für die kommenden Jahre einen Ausbaubedarf im Pflegewesen. Dieser Umstand gemeinsam mit der prognostizierten mittelfristigen Angleichung der Lohnniveaus wird dazu führen, dass die heute bestehende Schwarzarbeit in Österreich stark zurückgehen wird. Schätzungen sprechen von 10.000 bis 40.000 Personen, die jährlich vor allem aus Tschechien und der Slowakei kommen und in Österreich schwarz Pflegeleistungen erbringen. Fällt diese Gruppe weg, so droht der Pflegebereich in Österreich zusammenzubrechen, wenn nicht rechtzeitig gegensteuernde Maßnahmen gesetzt werden.
Entwicklung der Kosten?
Bereits die prognostizierte Entwicklung der Bevölkerungszahlen hat klar gezeigt, dass der Ausgabendruck in der nahen Zukunft steigen wird. Möglicherweise wird dies etwas abgeschwächt, wenn tatsächlich die Alten länger gesund bleiben. Aber das ist keineswegs sicher und es gibt auch ganz entgegengesetzte Prognosen.
Die Analyse der bereits bestehenden Probleme hat aber gezeigt, dass ganz dringend Strukturänderungen notwendig sind. Bereits in den allernächsten Jahren muss es zu einer Verbesserung bei den Heimen kommen. Neben den dafür notwendigen baulichen Maßnahmen wird dies auch eine Verbesserung der Bezahlung der Pflegekräfte bedeuten müssen. Damit werden in diesem Bereich gerade in den kommenden Jahren starke Kostensteigerungen entstehen.
Mittelfristig wird sich aber vor allem das Gewicht zwischen informeller und formeller Pflege verändern: Die Pflegeleistung, die heute unbezahlt innerhalb der Familien erbracht wird, wird zunehmend von professionellen ambulanten DienstleisterInnen übernommen werden. Wie bereits erwähnt, wird diese Entwicklung teuer sein. Blieben ansonsten die Pflegestrukturen gleich, so bedeutete ein Anstieg des Anteils der ambulanten Pflege um einen Prozentpunkt im Jahr (also von heute 3% auf 10% im Jahr 2010 bzw. 25% im Jahr 2025), dass sich die Kosten des Pflegebereichs insgesamt bereits bis 2020 mehr als verdoppeln und bis 2030 fast vervierfachen würden. Diese Steigerungsraten (ohne Berücksichtigung der Inflation) könnten auch in keiner Weise durch das Wirtschaftswachstum ausgeglichen werden - heute macht der Pflegebereich 1,39% des BIP aus, die Erhöhung der ambulanten Betreuung würde den Anteil bis 2010 auf 1,76% des BIP erhöhen, bis 2020 wären es 2,32%, 2030 3,18%.
Nicht berücksichtigt ist in diesen Rechnungen, dass es nach wie vor Pflegefälle gibt, die gar keine Versorgung bekommen bzw. dass viele Pflegefälle sagen, sie bräuchten wesentlich mehr Versorgung als ihnen laut Pflegestufe »zusteht«. Wenn diese Defizite auch ausgeglichen würden im Zuge einer Verstärkung des ambulanten Sektors, würden sich die Pflegekosten bis 2030 fast vervierfachen bzw. 3,97% des BIP ausmachen.
R E S Ü M E E
Fasst man die (zugegeben sehr technische) Prognose zusammen, so kann man sagen, dass der rein demografische Effekt aller Wahrscheinlichkeit nach durch das Wirtschaftswachstum »abgedämpft« werden kann: Der Anteil der Pflegeausgaben am BIP würde von heute 1,39% auf 1,70% im Jahr 2030 steigen. Dies würde allerdings bedeuten, dass die Strukturprobleme und der Pflegenotstand, die es bereits heute gibt, weiter bestehen blieben bzw. sich aller Voraussicht nach verschärfen würden.
Um hier entgegenzusteuern, bedarf es des Ausbaus insbesondere der ambulanten Pflege. Diese ist zwar in vielen Fällen teurer als die stationäre Pflege, entspricht aber mehr den Bedürfnissen der Menschen. Daneben wird aber bereits in naher Zukunft eine Verbesserung des stationären Bereichs notwendig sein. Um in den professionellen Pflegediensten (ambulant wie stationär) Verbesserungen und Erweiterungen zu ermöglichen, müssen die Pflegeberufe aufgewertet werden. Es handelt sich dabei nämlich um Tätigkeiten mit einem sehr hohen Anforderungsprofil, das heute vollkommen unzureichend honoriert wird. Die gewerkschaftlichen Forderungen nach besserer Entlohnung, umfassenderer Ausbildung und durchlässigeren Berufsbildern sind jedenfalls zu unterstützen.
Um dies alles zu erreichen, wird die Pflege in den kommenden Jahren deutlich mehr kosten müssen als heute. Die hier dargestellte Prognose kann als eher vorsichtig bezeichnet werden, Schätzungen aus anderen EU-Ländern zeigen, dass unter Berücksichtigung aller notwendigen Lohnveränderungen das nominelle Wachstum (also unter Berücksichtigung der Inflation) noch eine deutlich höhere Dynamik aufweisen würde.
Das zusätzliche Geld sollte dabei großteils direkt in die sozialen Dienste fließen und nicht den »Umweg« über den Pflegefall nehmen. Selbstverständlich wird man auch über eine bessere Absicherung pflegender Angehöriger nachdenken müssen, das Hauptaugenmerk sollte aber sowohl organisatorisch als auch finanziell auf die formelle Pflege gelegt werden und dies besser heute als morgen.
Das Problem wird durch das Anwachsen der Zahl geringfügig Beschäftigter und der Teilzeitbeschäftigten immer weiter verschärft. Selbst bei Vollbeschäftigung geht die Zahl der Versicherten, die den vollen Beitragssatz bezahlen, immer weiter zurück.
Viele Mitversicherte
Ein Österreich-Vergleich zeigt, dass in Kärnten anteilsmäßig weniger Erwerbstätige, dafür aber mehr beitragsfreie Mitversicherte und Pensionisten zu betreuen sind. In den Gruppen der »Alten« und »Hochbetagten« ist auch ein besonders hoher Prozentsatz von Rezeptgebühren befreit, also weitestgehend von der Entrichtung eines Selbstbehaltes ausgenommen.
In der von Direktor Alfred Wurzer, Roswitha Robing und Josef Rodler erstellten Untersuchung wurden 67 Prozent der gesamten Versicherungsleistungen im Jahre 2002 erfasst: Ärztliche und zahnärztliche Leistungen, Krankenhausaufenthalte, Medikamente, Heilmittel, Heilbehelfe und Hilfsmittel. Dabei sollte geklärt werden, welche Gruppen von Versicherten welche Leistungen in welchem Ausmaß in Anspruch nehmen und wie hoch dabei ihr Selbstbehalt ist. Als Datenquelle diente die Versichertendatenbank der KGKK.
Selbstbehalte
Folgende Selbstbehalte wurden berücksichtigt: Krankenscheingebühr (3,63 Euro), Zuzahlungen bei Zahnersatz und kieferorthopädischer Behandlung (50 Prozent der tariflichen Gesamtkosten), Rezeptgebühr (4,14 Euro, 2004 auf 4,35 erhöht), Kostenanteil an Heilbehelfen und Hilfsmitteln (zehn Prozent, mindestens 21,80 Euro), Spitalskosten-Selbstbehalt (7,68 Euro pro Verpflegstag für maximal 28 Pflegetage jährlich). Nicht berücksichtigt wurden Zuzahlungen bei Wahlärzten, Selbstbehalte über den satzungsmäßigen Höchstgrenzen, Zuzahlungen für verbesserte Ausführungen und Selbstzahlungen).
50 Prozent des Aufwandes für sieben Prozent
Unter den Ergebnissen springen mehrere Zahlen sofort ins Auge: 1,7 Prozent der Versicherten benötigen 25 Prozent des Kassenaufwandes.
Sieben Prozent der Versicherten beanspruchen bereits 50 Prozent des Gesamtaufwandes. Dieser kleine Anteil an den Versicherten, der die meisten Leistungen benötigt, zählt überwiegend zu den oberen Altersklassen - und zu den Beziehern niedriger Einkommen. Knapp drei Viertel der »Hochleistungsbezieher« sind Pensionisten, ein Drittel von ihnen ist von der Rezeptgebühr befreit.
84 Prozent der Versicherten beanspruchten 2002 mindestens eine Leistung der KGKK. 78 Prozent benötigten ärztliche Hilfe und verursachten damit 22 Prozent des Aufwandes, 37 Prozent benötigten zahnärztliche Hilfe (acht Prozent des Aufwandes), 15 Prozent mussten ins Krankenhaus, was mit 44 Prozent des Gesamtaufwandes zu Buche schlug.
65 Prozent der KGKK-Versicherten benötigten 2002 Medikamente (22 Prozent des Aufwandes) und 13 Prozent Heilbehelfe bzw. Hilfsmittel vier Prozent).
Langfristig negativ
Eine Modellrechnung der Kärntner Gebietskrankenkasse führte zu dem Ergebnis, dass die Einführung eines zehnprozentigen Selbstbehaltes bei der Inanspruchnahme ärztlicher Ordinationsleistungen zwar die Ausgaben der KGKK für Ärztekosten um acht Prozent verringern würde, doch beim finanziellen Gesamtaufwand der Krankenkasse schlüge diese Ersparnis lediglich mit zwei Prozent zu Buche. Dafür würde die Maßnahme für einzelne Gruppen von Versicherten eine Mehrbelastung von 12 Prozent bedeuten.
Man müsse hinterfragen, meint die KGKK, »ob Selbstbeteiligungen bei ihrer neu- oder weitergehenden Einführung Entlastungseffekte, etwa für die gesetzlichen Krankenversicherungen, bewirken oder ob sie auch gleichzeitig längerfristige negative Auswirkungen verursachen, etwa wenn durch Selbstbehalte in zusätzlicher Weise Menschen von der Inanspruchnahme gesundheitlicher Einrichtungen bzw. Diagnosen und Therapien ›gehindert‹ werden und Folgewirkungen in verspäteter dann wieder von der Versicherten-, also Solidargemeinschaft - zu tragen sind, abgesehen vom persönlichen Leid der Betroffenen.«
Ja zu Reformen
Dabei wird die Notwendigkeit von Reformen von der Kärntner Gebietskrankenkasse nicht in Frage gestellt. Sie lehnt aber die üblichen Vergleiche mit anderen »Märkten« ab, da sich »das Gesundheitswesen in weiten Bereichen allgemeinen marktwirtschaftlichen Grundsätzen entzieht«.
Hinter der Vielfalt der von den gesetzlich erbrachten Leistungen »steht das Konzept der Solidarität - dieses ist eigentlich das Herzstück der heimischen gesetzlichen Krankenversicherungen ... Umgelegt auf den Bereich der Krankenversicherungen ist Solidarität ein Prinzip, in dem Junge für Alte, Gesunde für Kranke und Besserverdienende für Menschen mit niedrigem Einkommen einstehen und in gegenseitiger Weise und Hilfestellung im ›Anlassfall‹ Sicherheit, Berechenbarkeit und Leistung bereit stellen.«
Eine ganze Reihe von Faktoren führte zu steigenden, »manchmal auch als Überlastung umschriebenen« Anforderungen an dieses Solidarsystem und zu dessen finanziellen Schwierigkeiten:
Alle diese Einflussfaktoren bringen den Solidaritätsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung, die ein Spiegelbild der wirtschaftlichen, sozialen und einkommensbezogenen Bedingungen darstellt, finanziell gesehen ins Wanken. Die möglichen Konsequenzen müssen offen und ohne Tabus durchdacht werden. Die Aufrechterhaltung des Solidaritätsprinzips erfordert eine Vielzahl von Aktivitäten, Kooperationen, Leistungsabstimmungen zwischen Spitälern und niedergelassenen Ärzten, Vermeidung von Mehrgeleisigkeiten.
Rekord: 2300 Euro Rezeptgebühr
Der besondere Stellenwert der von der Kärntner Gebietskrankenkasse vorgelegten Untersuchung besteht darin, dass sie die von einem Teil der Politiker fast wie ein Zauberwort gehandelten Selbstbehalte gründlich entzaubert und relativiert.
Wenn sieben Prozent der Versicherten 50 Prozent und 1,7 Prozent ein volles Viertel der Leistungen beanspruchen und zugleich mehrheitlich zu den Ärmeren zählen, erweist sich das Zauberwort vom rettenden Selbstbehalt als fauler Zauber.
Die Selbstbehalte liegen in Österreich längst im oberen Mittelfeld. Österreichs Patienten tragen schon heute einen relativ hohen Anteil der Gesundheitskosten selbst, je nach Leistungsart und Altersklasse bis zu 40 Prozent. So zahlen unter den Versicherten der KGKK die Patienten in der Altersklasse der 71- bis 80-Jährigen 32 Prozent der Kosten für Zahnarzt und Zahnbehandlung und 19 Prozent der Medikamente selbst. Und schon heute schlägt der Selbstbehalt in Einzelfällen unbarmherzig zu. Ein trauriger »Rekord«: Ein einziger Kärntner Patient zahlte im Jahre 2002 volle 2380 Euro Rezeptgebühr.
Konflikt mit sozialen Zielen
Die Untersuchung bestätigt die Ergebnisse einer vom Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen vorgelegten internationalen Studie über die Wirkung von Selbstbehalten.
Auch sie gelangte zu dem Ergebnis, »dass Selbstbeteiligungen im Gesundheitswesen nur sehr eingeschränkt als Steuerungsinstrument einsetzbar sind. Meist bewirken Selbstbeteiligungen nur eine vorübergehende Verhaltensänderung, die zu einer kurzfristigen Entlastung der öffentlichen Budgets beiträgt ... Selbstbeteiligungen treffen primär schwächere Gruppen wie chronisch Kranke und Personen mit niedrigem Einkommen und kommen somit auch in Konflikt mit den sozialen Zielen der Solidargemeinschaft.«
R E S Ü M E E
Die KGKK stellt fest, dass der Selbstbehalt in den unteren Gehaltsklassen einen bedeutenden Teil des Einkommens aufzehren kann. Sollte es zu einer Ausweitung der Selbstbehalte kommen, müssten Indikatoren wie Einkommen, Alter, familiäre Situation, vor allem aber Indikation eingebaut werden. Auch die ethische Forderung, dass der Zugang zu medizinischen Leistungen im Krankheitsfall unbedingt gewährleistet sein muss, dürfte keinesfalls unter den Tisch fallen.
Seit Jahren wird getrommelt: »Gesundheit muss uns mehr wert sein« oder »Krankheit wird zu teuer«. Hinter solchen Sprüchen steckt die Absicht der privaten Versicherungsunternehmen, der Banken und eines wachsenden Marktes von privaten Gesundheitsanbietern, mit unserer Gesundheit bzw. Krankheit immer höhere Gewinne zu erzielen. Das ist aber nicht möglich, solange es die Sozialversicherung gibt. Deshalb wird in der Öffentlichkeit von Überschuldung und Ineffizienz geredet, um sie leichter zerstören zu können.
Schröpfung
Aber das ist nicht alles. Statt durch eine Verbreiterung der Beitragsgrundlage die finanziellen Probleme der Gebietskrankenkassen in den Griff zu bekommen, wurden die Kassen in den letzen Jahren vom Gesetzgeber sogar noch zusätzlich zur Kasse gebeten. Sie sollen auch noch zur Erreichung des »Nulldefizits«, zur Spitalsfinanzierung und durch Senkung der Dienstgeber-Beiträge obendrein auch noch zur Entlastung der Unternehmen beitragen. Auf der anderen Seite fallen für die Gebietskrankenkassen auf der Seite der Einnahmen durch die steigenden Arbeitslosenzahlen erhebliche Beträge aus.
Man kann derzeit von einer ausgesprochenen Miesmacherkampagne sprechen. Dazu kommen Schikanen wie etwa die ungerechtfertigte Sonderprüfung der Wiener Gebietskrankenkasse und eine systematische finanziellen Aushungerung. Im Jahr 2001 wurde außerdem mit der »Strukturreform« des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger begonnen, die Sozialversicherung organisatorisch zu demontieren. Da der Verfassungsgerichtshof diese »Reform« aufgehoben hat, soll nun mit Hilfe der »Gesundheitsagenturen« die gesetzliche Sozialversicherung zerschlagen werden: Über die Länder soll ein möglichst großer Teil des 36,4-Milliarden-Budgets der Sozialversicherung zum privaten Gesundheitsmarkt umdirigiert werden. Der Schaden für die Versicherten wäre gigantisch, denn die Privaten bieten ihre Leistungen viel teurer an als die Sozialversicherung und haben einen wesentlich höheren Verwaltungsaufwand von bis zu 25 Prozent.
Defizit
Jüngstes Beispiel für die systematischen Versuche, die Sozialversicherung schlecht zu machen: Die Angriffe auf die Wiener Gebietskrankenkasse und deren Obmann Franz Bittner. Bittner spricht sich gegen Selbstbehalte aus, weil diese die Gesundheit für die Reichen billiger und für die Einkommensschwachen teurer machen würden. Nachdem sich alle Vorwürfe (ineffiziente Führung, zu teurer neuer Kassenvertrag mit den Wiener Ärzten, schlechte Finanzgebarung) in Luft auflösten und auch die Sonderprüfung durch das Gesundheitsministerium nicht das erhoffte Resultat brachte, musste zuletzt das Defizit des Hanusch-Krankenhauses, das der Wiener Gebietskrankenkasse gehört, als Angriffsziel herhalten. Dass in den letzten zehn Jahren unter allen Ausgaben der Wiener Gebietskasse die Ausgaben für Medikamente mit fast 90 Prozent Steigerung am stärksten stiegen, wird in der öffentlichen Debatte gerne verschwiegen. Schließlich handelt es sich hier um Ausgaben, die der Pharmaindustrie und den Apotheken, also der Privatwirtschaft, zugute kommen.
Tatsächlich weist die Wiener Gebietskrankenkasse für das Jahr 2003 ein Defizit von 196 Millionen Euro aus. Dieses wird zum Vorwand genommen, um den »Bankrott« und die »Unfähigkeit« der Sozialversicherung an die Wand zu malen. Doch Obmann Franz Bittner schätzt allein den Entfall von Beiträgen durch die ständig steigende Arbeitslosigkeit, dem die Regierung tatenlos zusieht, bei der Wiener Gebietskrankenkasse für das Jahr 2004 auf 64 Millionen Euro.
Licht ins Dunkel
Aber nicht nur durch die Arbeitslosigkeit gehen der Sozialversicherung Beiträge verloren. Um Licht ins Dunkel der Kassenfinanzierung zu bringen, richtete der Abgeordnete zum Nationalrat und Metaller-Gewerkschafter Franz Riepl an Sozialminister Herbert Haupt eine parlamentarische Anfrage, wie hoch eigentlich die Beitragsrückstände bei den Gebietskrankenkassen seien. Die Antwort des Sozialministers bewies, dass die Zahlungsrückstände der Unternehmen gewaltig viel zum Defizit der Gebietskrankenkassen beitragen.
Zahlungsrückstände 900 Millionen
Im Jahr 2003 sind die Arbeitgeberschulden bei den Gebietskrankenkassen bereits auf 897,2 Millionen Euro (12,35 Milliarden Schilling) angewachsen. Das waren um 52 Millionen Euro mehr als ein Jahr zuvor. Bei fast der Hälfte dieser Rückstände, 405 Millionen Euro, handelte es sich um von den Arbeitnehmern Monat für Monat einbehaltene, aber nicht eingezahlte Beiträge der Dienstnehmer. Ganz abgesehen davon, dass alle Sozialversicherungsbeiträge, ob Dienstnehmer- oder Dienstgeberbeitrag, von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden: Jedes verspätete Abführen von Dienstnehmerbeiträgen ist eine rechtswidrige Handlung, weil der Dienstgeber ja nur der Treuhänder dieser Beiträge ist, was auch Hans-Georg Kantner vom Kreditschutzverband von 1870 (KSV) bekräftigt. In nicht weniger als 1082 Fällen mussten die Kassen im Jahre 2003 Anzeige wegen Verstoß gegen die Vorschriften über die Einbehaltung und Einzahlung der Beiträge von Dienstnehmern durch die Dienstgeber nach § 114 ASVG erheben.
Rückstände: Defizit mal zwei
Am stärksten betroffen von den Unternehmerschulden ist die Wiener Gebietskrankenkasse, die besonders im Mittelpunkt der Angriffe von Regierung und Wirtschaftskammer steht. Für Franz Riepl ist das ein durchsichtiges Spiel: »Wenn ÖVP-Wirtschaftssprecher Mitterlehner fordert, speziell die Wiener Gebietskrankenkasse stärker ›unter Druck zu setzen‹, um mehr Reformbereitschaft einzufordern, sollte er sich einmal vor Augen halten, dass einige ›seiner‹ Unternehmer der Gebietskrankenkasse allein in Wien bereits 328,8 Millionen Euro schulden.« Das ist fast doppelt soviel wie das von der Wiener Kasse ausgewiesene Defizit des Jahres 2003. Damit löst sich der Vorwurf der Ineffizienz in Luft auf. Regierung und der Wirtschaft verfahren ganz einfach nach der alten Methode »Haltet den Dieb«.
Aus den von Sozialminister Haupt vorgelegten Zahlen geht auch hervor, dass die Hälfte der Zahlungsrückstände auf Insolvenzen zurückzuführen ist. Dabei sind die Betriebe aus der Baubranche führend.
Erkennen, was gespielt wird
Riepl erklärt jede weitere Belastung der Versicherten und jede weitere Einschränkung der medizinischen Versorgung für nicht hinnehmbar, solange die Unternehmen den Kassen hunderte Millionen Euro schulden: »Würden alle Unternehmer ihre Steuern und Sozialversicherungsbeiträge so pünktlich und genau abliefern wie die Arbeitnehmer und Pensionisten, dann hätten wir einen riesigen Spielraum für Sozialpolitik.« Viele Unternehmen sind ja nicht nur bei der Sozialversicherung lässige Zahler, sondern auch beim Staat, dem sie im Herbst des Vorjahres knapp 1,7 Milliarden Euro Steuern (23,4 Milliarden Schilling) schuldig waren. (Wirtschaftsblatt, 5.9.2003)
Da für viele Unternehmen das Zurückhalten der Sozialversicherungsbeiträge billiger ist als ein Kredit, fordert Franz Riepl, den Kassen entsprechende Instrumente in die Hand zu geben, um zu ihrem Geld zu kommen. Etwa durch Strafzuschläge oder höhere Zinsen für Beitragsschulden. Ein weiteres Mittel, der Sozialpolitik mehr Spielraum zu verschaffen, wäre eine effizientere Bekämpfung der Schwarzarbeit und des Schwarzunternehmertums. Riepl: »Seit der Zeit von Sozialministerin Hostasch liegt ein diesbezüglicher Gesetzesvorschlag im Parlament. Die Regierung verschleppt aber die notwendige gesetzliche Regelung.«
Die Regierung arbeitet, so Riepl, »nicht an einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung, sondern bloß an politischer Einflussnahme. Obwohl das Funktionieren der sozialen Systeme kompliziert ist, erkennen die Menschen, was hier gespielt wird. Das zeigen auch die Ergebnisse der AK-Wahlen.«
]]>In Österreich werden jährlich über 16 Milliarden Euro für Gesundheitsleistungen ausgegeben. Mit rund 7,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen Österreichs Gesundheitsausgaben im EU-Mittelfeld: In den bisherigen 15 EU-Staaten machen sie durchschnittlich 8,1 Prozent des BIP aus.
Österreichs Gesundheitsausgaben werden zum allergrößten Teil aus den Beiträgen zur Sozialversicherung finanziert. Die öffentlichen Haushalte (Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände), also die Steuerzahler, bringen nur etwa 20 Prozent der nötigen Mittel auf.
Die Sozialversicherungsbeiträge und die Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten decken derzeit rund 70 Prozent der Gesundheitsausgaben. Den Rest bringen die Patienten durch private Zuzahlungen verschiedener Art auf: Selbstbehalte, Prämien für private Krankenversicherungen, sonstige Eigenleistungen.
30 Prozent Zuzahlung
Mit 30 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben liegt der private Finanzierungsanteil in Österreich im europäischen Vergleich bereits im oberen Bereich. Man darf annehmen, dass die Folge davon eine negative Verteilungswirkung zu Lasten niedriger Einkommen ist (siehe Tabelle 1: »Gesundheitsausgaben in Österreich«).
In den Neunzigerjahren sind die Gesundheitsausgaben in ganz Europa gestiegen. Als Erklärung dafür werden insbesondere die demografische Entwicklung (mehr ältere Menschen und steigende Lebenserwartung), der medizinische und technische Fortschritt und steigende Erwartungshaltungen an das Gesundheitssystem hervorgehoben. Grafik 1 »Gesamte Gesundheitsausgaben im Vergleich« zeigt, dass Österreich dabei keine Sonderstellung einnimmt und der Anteil der Gesundheitsausgaben um weniger als einen Prozentpunkt gestiegen ist.
Zwei Grundpositionen
Als Antwort auf die steigenden Abgänge der Krankenversicherung stehen sich zwei völlig unterschiedliche Positionen gegenüber, die sich vereinfacht etwa so darstellen:
In diesem Beitrag geht es hauptsächlich um die Verteilung der vorhandenen Mittel am Beispiel des Ausgleichsfonds der Krankenversicherung. Weil die Beitragseinnahmen der Krankenkassen und der Bedarf ihrer Beitragszahler unterschiedlich sind, ist der Ausgleich innerhalb der einzelnen Solidargemeinschaften unzureichend. Ein bundesweiter Finanzierungsausgleich zwischen den Kassen ist unumgänglich. Ist er nicht vorhanden oder mangelhaft, kann der gleiche Zugang zu Gesundheitsleistungen bei gleichem Bedarf nicht gewährleistet werden. Versicherungsträger, die in einem relativ günstigen Umfeld handeln, können Rücklagen ansammeln und bessere Leistungen bieten. Jene mit einem höheren Krankheitsrisiko ihrer Versicherten oder niedrigeren Beitrageinnahmen weisen hingegen Abgänge aus und müssen ihr Leistungsangebot einschränken.
In diesem einfachen Umstand ist die herausragende gesundheitspolitische Bedeutung des solidarischen Finanzierungsausgleichs begründet. Er ist eine unabdingbare Voraussetzung für die bedarfsgerechte Versorgung mit Gesundheitsleistungen.
Gekipptes Gesetz
Der Verfassungsgerichtshof hat die von der Regierung im Jahr 2000 festgelegte Neuorganisation der Krankenkassen-Finanzierung als verfassungswidrig aufgehoben. Damit wurde der ohnehin mangelhafte Ausgleichsfonds zu einem völlig untauglichen Instrument des solidarischen Finanzierungsausgleichs.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes berührt vier Themen:
1. Die Solidargemeinschaft
Durch die Neuregelung wurden die Krankenkassen der öffentlich Bediensteten, der Eisenbahner, der Gewerblichen Wirtschaft und der Bauern in den Ausgleichsfonds einbezogen.
Im Verfahren des Verfassungsgerichtshofes wurden die Grenzen der Solidargemeinschaft neu definiert. Dadurch, dass die Beitragssätze und Beitragsgrundlagen sowie die Selbstbehalte der einzelnen Krankenkassen unterschiedlich sind, kann eine systemimmanente Begünstigung bzw. Benachteiligung einzelner Träger resultieren. Sind ihre Einnahmen dadurch günstiger, werden sie in einem übergreifenden Finanzierungsausgleich benachteiligt.
Zudem findet bei den genannten Trägern durch die bundesweite Organisation bereits intern ein Risikoausgleich statt, während die Gebietskörperschaften regional gegliedert sind.
Diese Besonderheiten wurden nicht berücksichtigt, daher sah der Verfassungsgerichtshof die Einbeziehung dieser Träger als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und somit als verfassungswidrig an.
Demgegenüber werden die Unterschiede im beitragspflichtigen Einkommen pro Kopf der Versicherten ausdrücklich als zulässige Ausgleichskriterien bestätigt.
Zur (Bauern-)Kasse gebeten
Im Ergebnis wird mit dieser Entscheidung ein zentrales Leitmotiv der Regierung angesprochen. Bis 2000 hat der Bund einen finanziellen Ausgleich für die bäuerliche Krankenversicherung aus Steuermitteln aufgebracht (zuletzt 670 Millionen Schilling bzw. 48,7 Millionen Euro).
Die Einbindung in den Geltungsbereich des Ausgleichsfonds sollte in erster Linie den Bundeshaushalt entlasten, die aus strukturellen Gründen bestehenden Finanzierungserfordernisse der bäuerlichen Krankenkasse wurden auf alle anderen Versichertengemeinschaften verlagert. Dies hätte die systematische Begünstigung eines Trägers zu Lasten aller anderen bewirkt. Dabei war die erforderliche Festlegung der maßgeblichen Kriterien für einen zulässigen und auch notwendigen Ausgleich unterschiedlicher Risikostrukturen jedoch unterblieben.
2. Erhöhte Beitragsleistung, Zielvereinbarungen
Der Beitrag der Träger zum Ausgleichsfonds war zuletzt mit zwei Prozent der Beitragseinnahmen festgelegt. Für die Jahre 2003 und 2004 wurde die Beitragsleistung auf vier Prozent angehoben. In Summe wären damit rund 450 Millionen Euro zur Verfügung gestanden. Die zusätzlichen Einnahmen aus der Verdoppelung des Beitrags waren zur Finanzierung eines besonderen Zuschusses gedacht: Ausgehend von Zielen, die durch die Geschäftsführung und den Verwaltungsrat einseitig vorgegeben worden wären, sollten finanzielle Anreize für die Umsetzung dieser Ziele geschaffen werden. Die gesetzliche Umsetzung war jedoch so mangelhaft und in ihrer Formulierung unbestimmt, dass auch sie vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde.
Unklarheit ermöglicht Willkür
Die Unklarheiten der Verteilungskriterien hätten es möglich gemacht, nach Gutdünken völlig unterschiedliche Ziele zu verfolgen. Damit wurde das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bei der Vollziehung von Gesetzen verletzt.
Weil der Verwendungszweck als verfassungswidrig beurteilt wurde, wurde auch die damit in Verbindung stehende Beitragserhöhung zum Ausgleichsfonds von zwei auf vier Prozent aufgehoben.
Auch damit wurde ein zentrales Leitmotiv der Bundesregierung außer Kraft gesetzt.
Die Regelung basierte auf der fragwürdigen Vorstellung, dass eine starke Geschäftsführung einseitig Zielvorgaben formuliert und die Selbstverwaltung in den Krankenversicherungsträgern durch finanzielle Anreize dazu gebracht hätte, sie umzusetzen.
Die Versicherungsträger wären nach diesem Konzept zur Zahlung eines Beitrages verpflichtet worden, hätten aber über die Verwendung nicht mitentscheiden können. Es war genau dieser systematisch angelegte Ausschluss der Selbstverwaltung, der letztlich zur Aufhebung der Reform des Hauptverbandes geführt hat.
3. Mangelhafte Kriterien für den Strukturausgleich
Im Verfahren standen auch die Kriterien zur Diskussion, die für die Verteilung der Mittel im Ausgleichsfonds herangezogen werden sollten.
Der Ausgleichsfonds soll eine ausgeglichene Gebarung der Krankenkassen gewährleisten und eine ausreichende Liquidität der einzelnen Träger sicherstellen. Dabei sollen Strukturnachteile berücksichtigt und in Form von Zuwendungen an Träger mit nicht beeinflussbaren Risikofaktoren ausgeglichen werden.
Das Gesetz listete folgende Faktoren demonstrativ auf:
Die nähere Festlegung und Gewichtung dieser Faktoren wurde an die Geschäftsführung und den Verwaltungsrat übertragen.
Die Entwicklung von brauchbaren Risikofaktoren ist in erster Linie Ausdruck eines Solidaritätsverständnisses zwischen den Trägern. Die bisherige Diskussion hat sehr deutlich die Grenzen zwischen programmatischer Selbstverständlichkeit und realer Umsetzung aufgezeigt. Über den Grundsatz des gleichen Zugangs zu Gesundheitsleistungen bei gleichem Bedarf, unabhängig vom Einkommen und Wohnsitz, besteht grundsätzlich Übereinstimmung. Schwieriger ist aber die Umsetzung, weil sie die Bereitschaft zur regionalen Umverteilung von finanziellen Mitteln erfordert. Tatsächlich ist es bisher nicht gelungen, einen brauchbaren Konsens herzustellen. Dies ist auch im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof eindrucksvoll dokumentiert worden.
Kassenlage - was ist das?
In seiner Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof zwei Faktoren wegen mangelnder Bestimmtheit aufgehoben: Die »Kassenlage« kann von verschiedenen Umständen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite bestimmt werden, diese Faktoren wurden nicht dargestellt. Gleiches wurde über den »Großstadtfaktor« gesagt. Im Gesetz finden sich keine Kriterien, die dafür als Messgröße herangezogen werden könnten. Es fehlt die Bezeichnung der Strukturnachteile, die eine Zahlung aus dem Ausgleichfonds auslösen können.
Demgegenüber hat der Verfassungsgerichtshof den Strukturnachteil, der aus dem Betrieb einer Krankenanstalt entsteht, ausdrücklich bestätigt, weil der Gesetzgeber Gebietskrankenkassen zum Betrieb von Krankenanstalten verpflichtet, die sie am 30. Juni 1994 betrieben haben.
4. Gewährung von Darlehen
Insgesamt haben die Krankenversicherungsträger ein strukturelles Defizit. Dieses ist auch auf die Verlagerung von Finanzierungslasten vom Bund zu den Krankenversicherungsträgern zurückzuführen (Umsatzsteuer für Medikamente, Beiträge für Arbeitslose usw.). Die Ausgangssituation innerhalb der Krankenkassen ist allerdings sehr unterschiedlich. Einige haben Überschüsse in Form von Rücklagen, während andere ihre laufenden Ausgaben mit Darlehen finanzieren müssen und am Rande der erforderlichen Liquidität stehen. Vor diesem Hintergrund wurde eine Empfehlung der Sozialpartner umgesetzt und den Trägern, die über Rücklagen verfügen, die Zahlung eines Zwangsdarlehens an den Ausgleichsfonds auferlegt. Die Höhe des Darlehens war gesetzlich festgelegt. Die Rückzahlung sollte auf der Grundlage eines Tilgungsplans im Jahr 2005 beginnen und 2009 abgeschlossen sein.
Die leidigen Zwangsdarlehen
Auch diese Konstruktion war schon bei der Beschlussfassung äußerst umstritten, weil damit ein unzulässiger Eingriff in die Gebarung der positiv abschließenden Krankenkassen gesehen wurde. Für die Übertragung von Überschüssen an andere Sozialversicherungsträger konnte die Bundesregierung die Erfordernisse eines persönlichen und sachlichen Zusammenhangs nicht begründen. Der Verfassungsgerichtshof hat daher auch die Zwangsdarlehen aus sachlichen Gründen abgelehnt. Bereits im Vorfeld wurde von den Krankenkassen die erkennbare Unfähigkeit des Hauptverbandes zur Rückzahlung der Darlehen problematisiert. Um welche Beträge es dabei geht, verdeutlicht Grafik 2 (»Die Zahler der Zwangsdarlehen im Einzelnen«).
Ergebnis der Verfassungsgerichtshofentscheidung
Die Aufhebung der neu gestalteten Krankenkassen-Finanzierung reiht sich in eine lange Serie ähnlich verfehlter Entscheidungen in der Gesundheitspolitik. Bestehende Strukturprobleme werden dadurch noch verschärft. In der nächsten Zeit ist nicht nur die Neukonzeption eines Struktur- und Risikoausgleichs notwendig, der die vorhandenen Mittel nicht nach Willkür, sondern nach bedarfsorientierten Kriterien verteilt. Darüber hinaus ist die Rückzahlung der erhöhten Beiträge und der Zwangsdarlehen (rund 380 Millionen Euro) zu leisten.
Einige Träger haben bereits die vorzeitige Tilgung der Darlehen durch den Hauptverband geltend gemacht und ihre Ansprüche gegen die laufenden Zahlungen an den Ausgleichsfonds gegengerechnet. Fest steht jedenfalls, dass einige Träger dadurch höhere Überschüsse ausweisen werden, zumindest vorübergehend, während andere auf dem Geldmarkt zusätzliche Darlehen aufnehmen müssen.
Neuer Struktur- und Risikoausgleich
Ein Struktur- und Risikoausgleich soll die Verteilung der vorhandenen Geldmittel so steuern, dass die Krankenkassen ihre Leistungen unabhängig vom Wohnsitz und Einkommen der Versicherten finanzieren können.
Ausgehend von der funktional und regional aufgesplitterten Verantwortung im Gesundheitswesen ist die Zuordnung von Finanzmitteln auch im Verteilungsschlüssel vom Bund zu den Ländern im Rahmen der Krankenanstaltenfinanzierung relevant. Auch hier ist der Bedarf der Bevölkerung das entscheidende Kriterium. Als bedarfsgerecht kann die Zuteilung von Mitteln angesehen werden, wenn sie der Risikostruktur und dem daraus abgeleiteten finanziellen Bedarf entspricht.
Dabei werden demographische Faktoren (Alter, Geschlecht), Mortalität und Morbidität (Sterblichkeit und Krankheitsanfälligkeit) sowie sozio-ökonomische Kriterien berücksichtigt. Zusätzlich werden meist auch die Gestaltungsmöglichkeiten der Krankenkassen im Verhältnis zu den Anbietern von Gesundheitsleistungen berücksichtigt.
Der demographische Faktor
Demographisch orientierte Modelle sehen Alter und Geschlecht als maßgebliche Faktoren für die Gesundheitsausgaben. Tatsächlich können enorm unterschiedliche Gesundheitsausgaben für die verschiedenen Altergruppen festgestellt werden. Für alle Versorgungsebenen gilt, dass die Gesundheitsausgaben mit dem Alter steigen. Daraus folgen konsequenterweise höhere Ausgaben für Krankenkassen mit einem höheren Anteil älterer Menschen.
Der klare Zusammenhang zwischen Alter und steigenden Gesundheitsausgaben kann etwa am Beispiel der Ausgaben für Medikamente gezeigt werden. Er gilt aber auch für die ärztliche Versorgung und die Behandlung im Spital. Auf allen Versorgungsebenen ist der Bedarf Älterer an Gesundheitsleistungen am höchsten. Dies illustriert Grafik 3: »Ausgaben für Medikamente und Ärzte 2002«.
Alter als Kostenfaktor
In der gesamten Sozialversicherung sind rund 34 Prozent der Versicherten über 50 Jahre alt, 22 Prozent über 60 und 12 Prozent über 70. Tabelle 2 (»Anteil älterer Menschen an den Versicherten, 2002«) zeigt aber, wie verschieden die Altersverteilung bei den einzelnen Trägern ist. Der Anteil der über 50-Jährigen ist am höchsten in der VA-Bergbau (63,8 Prozent) und am niedrigsten in Tirol (27,1 Prozent). Angesichts solcher Unterschiede ist der Ausgleich der unterschiedlichen Bedürfnisse jüngerer und älterer Menschen in jedem Risikoausgleich ein unverzichtbares Element.
Tatsächlich zeigt auch ein europäischer Vergleich, dass alle Gesundheitssysteme das Alter als Ausgleichsfaktor berücksichtigen. Dabei zeigt sich zwischen den Geschlechtern keine grundlegende Abweichung. Gesundheitsausgaben für jüngere Frauen liegen aber über denen der gleichaltrigen Männer. Auch dies wäre zu berücksichtigen.
Bei den diagnoseorientierten Modellen werden die Gesundheitsausgaben aus der Art der Erkrankungen abgeleitet. Diagnosen werden nach Kosten bewertet und im Risikoausgleich berücksichtigt. Voraussetzung ist jedoch die Verfügbarkeit gesicherter Daten über den Zusammenhang von Diagnose, Alter und Behandlungskosten. Alter und Geschlecht, verbunden mit der Verschreibung von Arzneimittel für bestimmte Diagnosen, können insbesondere bei der Erklärung der Ausgaben für chronisch Erkrankte brauchbare Ergebnisse bringen.
Erfahrungsgemäß fallen in den letzten Lebensjahren höhere Gesundheitsausgaben an. In dieser Zeit konzentrieren sich intensive und kostspielige Behandlungen. Die Mortalitätsraten der Krankenkassen beeinflussen daher auch ihre Gesundheitsausgaben. Doch sind die tatsächlichen Kosten sehr unterschiedlich und schwer vorauszusagen.
Eine Aufstellung der Mortalitätsraten nach Bundesländern zeigt deren überdurchschnittliche Höhe in Niederösterreich, Wien und im Burgenland. Dementsprechend sind diese Kassen mit Mehrausgaben konfrontiert (siehe Tabelle 3: »Mortalitätsrate«).
Sozio-ökonomische Faktoren
Kriterien, die an der Beschäftigungslage, der Familiengröße, Lebensform (Allein Stehende!) oder anderen sozio-ökonomischen Besonderheiten einer Region anknüpfen, können den unterschiedlichen Bedarf an Gesundheitsleistungen abbilden. Dieser Ansatz geht davon aus, dass ungünstige sozio-ökonomische Bedingungen auch mit einer höheren Mortalität und Morbidität verbunden sein können.
Dieser Zusammenhang wird am Beispiel der Arbeitslosigkeit besonders deutlich. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit, weist aber deutliche regionale Gefälle auf, was Grafik 4 (»Arbeitslosigkeit 2002«) verdeutlicht. Auch für Österreich kann gezeigt werden, dass Arbeitslose ein höheres Krankheitsrisiko haben. Dementsprechend führt auch die Höhe der Arbeitslosigkeit zu unterschiedlichen Gesundheitsausgaben. Dies gilt auch für Sozialhilfebezieher.
Arbeitslosigkeit macht krank
Die Krankenstände bei Arbeitslosen sind in den Neunzigerjahren drastisch gestiegen und derzeit doppelt so hoch wie bei Erwerbstätigen (siehe Grafik 5: »Krankenstandsquoten«).
Auch die überdurchschnittliche Häufigkeit von Spitalsaufenthalten kann als Hinweis auf relativ ernsthafte Erkrankungen angesehen werden.
Die Bewertung solcher sozialer Lebenslagen hängt allerdings in hohem Maß vom Solidaritätsverständnis der gesundheitspolitischen Akteure ab.
Regional unterschiedliche Produktionskosten (Lohnniveaus, Mieten oder Produktionskosten auf Anbieterseite) können von den Krankenkassen schwer beeinflusst werden. In den Niederlanden wird beispielsweise zwischen fünf Kategorien der Urbanisierung unterschieden. Bei der Zuteilung von Ressourcen variieren die durchschnittlichen Kopfquoten zwischen 11 Prozent unter dem Landesdurchschnitt im ländlichen Raum und 18 Prozent darüber in hochverdichteten Zentralregionen.
R E S Ü M E E
Wenn der gleiche Zugang zu Gesundheitsleistungen weiter Ziel der Gesundheitspolitik sein soll, ist die Neuordnung des Ausgleichsfonds ein dringendes Anliegen. Die derzeitige Konstruktion wurde aber vom Verfassungsgerichtshof wegen ihrer Unsachlichkeit zu Recht aufgehoben. Die bessere Verteilung der vorhandenen Mittel ist notwendig. Es sind aber auch zusätzliche Mittel erforderlich, um in Verbindung mit einem effizienten Einsatz den steigenden Anforderungen gerecht zu werden. Die Neuordnung wird neben demographischen Kriterien, die außer Streit stehen dürften, auch weitere Faktoren zu berücksichtigen haben, die von Solidaritätsverständnis der geundheitspolitischen Akteure abhängig sind.
Um eine drohende Abwanderung und Werksschließung zu verhindern, wurde in Deutschland in einigen Werken zwischen IG Metall und Unternehmern vereinbart, die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich auf 40 Stunden zu verlängern und auf Weihnachts- und Urlaubsgeld zu verzichten.
Au fein, jubelt der neu gewählte Präsident der Industriellenvereinigung, der Papierindustrielle Veit Sorger. »Wir müssen tabulos diskutieren«, sagt er, »selbst wenn es darauf hinausläuft, die eine oder andere Stunde in der einen oder anderen Woche mehr zu arbeiten.«
Au fein, jubelt der Industrielle Martin Bartenstein, der ja Minister für Wirtschaft und Arbeit ist, und möchte die Arbeitszeit etwas lockerer handhaben. »Man braucht den Leuten nicht auf die Stunde genau vorschreiben, wie viel sie in der Woche arbeiten müssen.«
Für blöd gehalten
Vor allem braucht man, meine ich, die Leute nicht für blöd zu halten. Leicht erkennbar, dass es hier um Lohnkürzung oder die Nichtbezahlung von Überstunden geht. Und diese rhetorischen Übungen kommen diesen Leuten derartig leicht von den Lippen, weil sie sich denken: "Und wenn’s sonst nichts bringt, zumindest können wir bei der nächsten KV-Runde noch ein bisschen was abzwacken, wir kriegen das schon hin.
Die Herren von der Industrie und ihre Vereinigung sind ja etwas aufgefallen, weil aufgekommen ist, wie sie die »Homepage« von Finanzminister Karl Heinz Grasser kräftig »gesponsert« haben. Der Finanzminister wiederum ist mit diesen Geldern sehr locker umgegangen und hat auch verabsäumt, sie zu versteuern. Dies erwähne ich hier nur, um sozusagen die Aura zu umschreiben, welche diese Herren umgibt. Und was die besondere Ausstrahlung des Herrn Bartenstein betrifft: Jedenfalls glaubt keiner, der recht bei Trost ist, dass der Arbeitsminister aufseiten der Arbeitnehmer steht.
Was von den Redeübungen dieser Herren zu halten ist, hat Heiner Flassbeck sehr präzise auf den Punkt gebracht:
»Die Debatte um die Arbeitszeitverlängerung ist symptomatisch. Statt darüber zu diskutieren, wie die Unternehmen bewogen werden können, die Arbeitszeit der Arbeitslosen zu verlängern, wird allen Ernstes diskutiert, die Arbeitszeit der noch Beschäftigten zu verlängern, obwohl das nach Lage der Dinge die Arbeitslosigkeit erhöhen muss.«
Mit 215.494 Arbeitslosen Ende Mai hat Österreich einen neuen Höchststand erreicht. Darüber haben die Herren von der Industrie kein Wort verloren.
Alles klar? Dann sollten Sie noch wissen, was Walter Rotschädl, der Präsident der AK Steiermark, dazu sagt: »Wenn Wirtschaft und Industrie nicht mehr weiter wissen, ist das einzige fantasielose Rezept, den Beschäftigten weniger zu zahlen und sie länger arbeiten zu lassen. Die Menschen sind am Ende ihrer Leidens- und Leistungsfähigkeit angelangt. Die Beschäftigten leisten seit Jahren Mehrarbeit, freiwillige und meist unbezahlte. Voll abgegoltene Überstunden sind eher die Ausnahme als die Regel. Und die meisten Arbeitnehmer beschäftigten sich auch in ihrer Freizeit mit ihrer Arbeit.«.
Siegfried Sorz
ArbeitnehmerInnen fühlen sich in Österreich aufgrund ihres Alters im Vergleich zu anderen EU-Staaten überproportional diskriminiert. Das ergab die »Zweite Europäische Umfrage über Arbeitsbedingungen« aus dem Jahr 19961). Eine erst kürzlich durchgeführte Befragung bestätigt diese Einschätzung, was ältere ArbeitnehmerInnen betrifft. Nur fünf Prozent der über 45-Jährigen sehen im Falle von Arbeitslosigkeit »sehr gute Chancen« für sich einen angemessenen neuen Job zu finden. Das ergab der Arbeitsklima-Index der AK Oberösterreich im Herbst 20032).
Selbstbild
Das Selbstbild, das ältere ArbeitnehmerInnen von sich haben, wird durch objektive Arbeitsmarktdaten bestätigt. Österreich zählt innerhalb der EU zu jenen Staaten mit der niedrigsten Beschäftigungsquote von älteren MitarbeiterInnen zwischen 55 und 64 Jahren. Im Jahr 2002 betrug diese nur 30 Prozent, während der EU-Schnitt 2002 bei 40 Prozent lag.
Eine diskriminierende Haltung älteren ArbeitnehmerInnen gegenüber wird aber in Zukunft besonders für Unternehmen erhebliche Probleme schaffen, denn die Belegschaften werden aufgrund der demographischen Entwicklung insgesamt älter. Die 45-Jährigen werden in wenigen Jahren zur größten ArbeitnehmerInnengruppe werden. In den Unternehmen wird derzeit oft noch eine Personalpolitik betrieben, die fast ausschließlich auf jüngere ArbeitnehmerInnen setzt. Die demographische Entwicklung wird alle Unternehmen vor große Herausforderungen stellen, denn sie müssen auch mit älteren ArbeitnehmerInnen innovativ und wettbewerbsfähig bleiben. Dies wird nur durch eine alternsgerechte Gestaltung der Unternehmen gelingen.
Mit der Broschüre »Ältere ArbeitnehmerInnen - Das verborgene Gold im Unternehmen« möchte der ÖGB vor allem für die betriebliche Ebene Informationen zur Verfügung stellen, um Bewusstsein über die bevorstehenden Veränderungen in der Alterszusammensetzung der Belegschaften zu schaffen.
Andererseits soll die Broschüre Anregungen bieten, die Gesundheit, die Motivation und die Qualifikation älterer MitarbeiterInnen im Betrieb aktiv zu unterstützen und die Vorteile einer altersgemischten Belegschaft zu nutzen. Die Zielgruppe der Broschüre sind BetriebsrätInnen, Sicherheitsvertrauenspersonen, ArbeitsmedizinerInnen, Sicherheitsfachkräfte, ArbeitspsychologInnen, aber auch Personalverantworliche und PersonalentwicklerInnen.
Wie kann die Arbeitsfähigkeit der ArbeitnehmerInnen im Betrieb erhalten und gefördert werden?
Drei Säulen
Bildlich gesprochen braucht es drei Säulen, die auf einem starken Fundament der Arbeitsfähigkeit aufbauen (siehe Grafik):
1. Maßnahmen im ArbeitnehmerInnenschutz und in der Gesundheitsförderung
Für die Arbeitsfähigkeit bis ins Pensionsalter spielt die Gesundheit der einzelnen ArbeitnehmerInnen und die Arbeitsbedingungen sowie die Arbeitsgestaltung eine große Rolle. Das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz sowie die Bundesbedienstetenschutzgesetze bieten sehr gute Instrumente, über die Ermittlung und Beurteilung der Gefahren am Arbeitsplatz z. B. entsprechende Gesundheitsmaßnahmen für ältere ArbeitnehmerInnen zu setzen.
Gesundheitsverschleiß
Ziel ist, die Arbeitsaufgaben und die Arbeitsorganisation dem Prozess des Alterns der ArbeitnehmerInnen entsprechend zu gestalten. Deshalb wird in der Broschüre der Begriff "alternsgerecht" verwendet. Wenn ein 50-jähriger Schweißer z. B. immer wieder von schwerer körperlicher Arbeit entlastet wird und in dieser Zeit Lehrlinge anweist, bleibt er für die körperliche Arbeit leistungsfähiger und ist somit für das Unternehmen produktiver. Die alternsgerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen muss aber bereits in jungen Jahren beginnen, wenn die Gesundheit bis zum Pensionsantrittsalter erhalten werden soll. Ein Gesundheitsverschleiß durch Heben und Tragen von schweren Lasten oder durch Nachtschichtarbeit in jungen Jahren kann im Alter nur mehr ganz schwer ausgeglichen werden.
2. Qualifizierung und Weiterbildung von ArbeitnehmerInnen
Viele ältere ArbeitnehmerInnen verfügen oft über spezifische und durchaus verwertbare Qualifikationen. Häufig fehlen aber die Möglichkeiten, die entsprechenden Kompetenzen zu erwerben, die durch Umstrukturierungen im Unternehmen oder durch technische Veränderungen notwendig wären. Häufig wird bei Veränderungen der Arbeitsorganisation nicht darauf Rücksicht genommen, dass auch ältere ArbeitnehmerInnen die Gelegenheit haben müssen, die notwendigen Kompetenzen zu erwerben. Dazu kommt, dass der Kenntnisstand einseitig wird, wenn über einen längeren Zeitraum immer wieder die gleichen Tätigkeiten ausgeübt werden.
Durch eine maßgeschneiderte Qualifizierung und Weiterbildung können in diesen Fällen die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten gestärkt und verbessert werden.
Goldbergbau
Das Potential von älteren ArbeitnehmerInnen ist oft nicht auf den ersten Blick sichtbar. Dies ist das Erfahrungswissen, die soziale Kompetenz und die Routine, die sie sich im Laufe ihres Arbeitslebens angeeignet haben. Diese Ressourcen müssen wie im Goldbergbau freigelegt und durch spezielle Methoden für den Betrieb verfügbar gemacht werden. Dass Erfahrungswissen der Älteren erfolgreich zum Nutzen des Unternehmens an die junge Generation weitergegeben werden kann zeigen z. B. das Programm LIFE in der Voestalpine und die Schmidt Schraubenfabrik in Hainfeld, Niederösterreich.
3. Unternehmenskultur
Oft verstellen Vorurteile gegenüber älteren ArbeitnehmerInnen in unserer Gesellschaft, aber auch in den Betrieben die Sicht auf das Potential von Älteren. Diese Vorurteile wirken sich bei der Einstellungspraxis von älteren ArbeitnehmerInnen negativ aus aber auch bei was einen längeren Verbleib im Unternehmen anlangt. Vorurteile kommen besonders durch den Gebrauch der Sprache zum Ausdruck. Eine Unternehmenskultur, die diskriminierende Äußerungen erlaubt wie »Wie lange wollen sie denn noch bleiben?« oder »Mit 50 gehört man weg!« wirkt sich besonders negativ auf das Selbstwertgefühl und die Motivation von Älteren aus. Das mindert ihre Leistungsfähigkeit und ihr Engagement. Dadurch wird eine negative Spiralbewegung in Gang gesetzt, die sowohl den Älteren als auch dem Unternehmen nur Nachteile bringt. Im Umkehrschluss heißt dies, wenn es gelingt, älteren MitarbeiterInnen Wertschätzung und Anerkennung von Seiten der Unternehmensleitung und der Vorgesetzten entgegenzubringen, dann stellt dies eine wichtige Komponente für die Förderung von Gesundheit und Arbeitszufriedenheit dar. Erfahrungen aus den Pilotprojekten zu alternsgerechtem Arbeiten bestätigen das.
Es wird in Zukunft eine verstärkte Zusammenarbeit aller AkteurInnen des innerbetrieblichen ArbeitnehmerInnenschutzsystems notwendig sein, um ältere ArbeitnehmerInnen länger in Beschäftigung zu halten. Um auf der betrieblichen Ebene zu überprüfen, ob das Unternehmen alternsgerecht ist, stellt die Broschüre »Ältere ArbeitnehmerInnen - Das verborgene Gold im Unternehmen« eine Checkliste zur Verfügung. Eine Analyse des Unternehmens kann Ausgangspunkt für entsprechende Maßnahmen für Ältere im Unternehmen sein.
Gegen Diskriminierung
Durch die Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union (RL 2000/78/EG) wird es darüber hinaus ein zusätzliches Instrument auf der betrieblichen Ebene geben, um Diskriminierungen aufgrund des Alters zu bekämpfen. Sollte es z. B. bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses, bei Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung und Umschulung oder beim beruflichen Aufstieg aufgrund des Alters eine Ungleichbehandlung geben, kann die Gleichbehandlungskommission oder das Gericht angerufen werden. Es ist zu erwarten, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie im Laufe des Jahres 2004 im neuen Gleichbehandlungsgesetz umgesetzt werden. Die Bundesregierung wäre übrigens bereits bis spätestens 2. Dezember 2003 verpflichtet gewesen, diese Bestimmungen in nationales Gesetz umzusetzen.
Natürlich müssen auch auf der gesellschaftlichen Ebene Maßnahmen getroffen werden, die die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit von älteren ArbeitnehmerInnen erhöht. Notwendige Schritte sind z. B. die Weiterentwicklung des ArbeitnehmerInnenschutzes, die Förderung des lebensbegleitenden Lernens, ein sozialer Dialog über gesundheitsfördernde Arbeitszeitmodelle und eine offensivere Arbeitsmarktpolitik zur Wiedereingliederung von älteren ArbeitnehmerInnen.
Finnland hat in den 90er-Jahren durch das nationale Aktionsprogramm für ältere ArbeitnehmerInnen gezeigt, dass das Hinaufsetzen des Pensionsantrittsalters in Verbindung mit individuellen, betrieblichen und gesellschaftspolitischen Maßnahmen zu einer höheren Beschäftigungsfähigkeit von Älteren führen kann (siehe Arbeit&Wirtschaft 1/2004, Seite 34, Gabriele Schmid: »Österreich kann von Suomi lernen«).
R E S Ü M E E
Der ÖGB fordert auch für Österreich ein nationales Aktionsprogramm für ältere ArbeitnehmerInnen, in dem alle Maßnahmen gebündelt werden können. Nur ein vernetzter und ganzheitlicher Ansatz wird positive Erfolge bei der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit Älterer bringen. Dies erfordert die Zusammenarbeit aller AkteurInnen im ArbeitnehmerInnen- und Bedienstetenschutz: Sozialpartner, AUVA, Krankenkassen, Pensionsversicherungen, Arbeitsinspektion und zuständige Ministerien sowie alle AkteurInnen in der Beschäftigungs- und Bildungspolitik.
Nur so wird die Vorgabe der EU (in Lissabon 2000), bis 2010 eine Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen von 50 Prozent zu erreichen, in greifbare Nähe rücken.
1) Second European Survey on Working Conditions (1996), Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, im Internet unter:
www.eurofound.eu.int/working/surveys/index.htm
2) Arbeitsklima News 4/03, im Internet unter:
www.arbeiterkammer.com
Ältere ArbeitnehmerInnen - Das verborgene Gold im Unternehmen
Es hat sich gezeigt, dass die unsoziale Belastungspolitik der Bundesregierung bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Widerstand stößt, der Wunsch nach einer starken Interessenvertretung war wohl das stärkste Wahlmotiv.
Flexibles Wahlsystem angenommen
Das Wahlrecht, dessen Reform der vergangenen AK Wahl 2000 vorausgegangen war, hat sich erneut bewährt.
Eine Reihe von Umständen hatten erwarten lassen, dass die Wahlbeteiligung sinken könnte. Die AK Wahlen fanden im Umfeld von zwei Landtagswahlen, der Bundespräsidentenwahl und der Europawahl statt. Die Änderung der Sozialstruktur - immer mehr AK Mitglieder arbeiten nicht in Vollzeitbeschäftigung - und das Entstehen neuer Mitgliedergruppen (wie etwa an den Universitäten) im Gefolge von Ausgliederungen aus dem Bundesdienst, die die AK und ihre Wahl noch nicht kennen, erschweren den Zugang zu vielen Mitgliedern.
Dass die Wahlbeteiligung mit 48,8 Prozent (nach 49,1 im Jahr 2000) gehalten werden konnte, ist daher als Erfolg zu werten. In absoluten Zahlen gingen sogar bundesweit 26.000 AK-Mitglieder mehr zur Wahl.
Wie schon im Jahr 2000 zeigt sich auch diesmal, dass es richtig ist, die Wahl näher zu den Mitgliedern zu bringen (mit dem Schwerpunkt auf der Betriebswahl und der Möglichkeit zur Briefwahl) und zeitlich flexibel auf die regionalen Besonderheiten abzustimmen.
Wahlsieger FSG
Eindeutiger Wahlsieger sind die Sozialdemokratischen GewerkschafterInnen, die in allen Bundesländern an Stimmen und anteilsmäßig stark dazugewannen: Die FSG hat bundesweit rund 85.000 Stimmen mehr errungen und 750.000 Stimmen erreicht, das bedeutet bundesweit eine Steigerung von 57,5 auf 63,4 Prozent. In den sozialdemokratisch geführten Kammern hat die FSG überall die Zweidrittelmehrheit zum Teil deutlich überschritten - nachdem sie bereits 2000 massiv dazu gewonnen und in sechs Kammern mehr als 60 Prozent der Stimmen erreicht hatte - und hat jetzt in den FSG-geführten Arbeiterkammern zwischen 67 und 72 Prozent.
Am stärksten ist die FSG mit 72 Prozent in Kärnten, den stärkster Zugewinn erreichte sie mit 8,6 Prozent in der Steiermark, den stärksten Zuwachs an Stimmen in Niederösterreich mit einem Plus von mehr als 23.000, gefolgt von der Steiermark und Wien mit einem Plus von je rund 14.000 Stimmen für die FSG. Auch in den ÖAAB-dominierten Arbeiterkammern in Tirol und Vorarlberg gab es deutliche FSG Gewinne - der stärkste Zugewinn überhaupt gelang der FSG in Vorarlberg mit einem Plus von 19 Prozent von 16,1 auf 35,2 Prozent (und damit weit über den Verlust von 1999 hinaus); in Tirol erreichte die FSG 24,3 Prozent (plus 5,8).
In Mandaten erreichte die FSG damit 539 der 840 Sitze aller Vollversammlungen der Länderkammern, das ist ein Zugewinn von 57 Sitzen. In der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer werden nun 51 (bisher 47) Mandate von der FSG besetzt.
"Denkzettel" gegen die Belastungspolitik
Die Fraktionen der Regierungsparteien haben beide großteils starke Verluste hinzunehmen.
Der ÖAAB - Christliche Gewerkschafter verlor bundesweit 22.000 Stimmen, österreichweit fiel der ÖAAB unter ein Viertel der Stimmen von 26,2 auf 23,7 Prozent.
Bei der Wahl 2000 konnte der ÖAAB in den von ihm geführten Länderkammern - vor allem in Tirol - noch dazugewinnen, während er in den anderen Bundesländern schon damals bis zu 5,5 Prozent verloren hatte.
Bis auf eine Ausnahme verlor der ÖAAB nun in allen Bundesländern, am deutlichsten und schmerzhaftesten in Vorarlberg, wo die Christliche Fraktion von 60 auf 46,6 Prozent (-13,4) fiel und damit die absolute Mehrheit verlor. Auch in Tirol verlor der ÖAAB rund drei Prozent oder 5000 Stimmen. Lediglich in Oberösterreich gelang es dem ÖAAB, fast 9000 Stimmen (vier Prozent) dazuzugewinnen. In den FSG-geführten Kammern betrugen die ÖAAB-Verluste zwischen 1,3 Prozent in Salzburg, 2,1 Prozent in Wien, 4,1 Prozent im Burgenland, 5,8 Prozent in der Steiermark. Eine besondere Situation war in Niederösterreich, wo sich die Liste Alfred Dirnberger vom ÖAAB abgespalten hatte und auf Anhieb drei Prozent und drei Mandate errang, hier verlor der ÖAAB drei Prozent; dramatisch ist das Ergebnis in Kärnten, wo der ÖAAB nur mehr auf 8,3 Prozent (minus 5,2) der Stimmen kam.
Auch in der Mandatsverteilung schlagen sich die Verluste deutlich nieder. In allen Vollversammlungen zusammen gerechnet hat der ÖAAB nunmehr 206 (minus 26) Mandate, in der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer nunmehr 16 (minus 2) Mandate.
Der ÖAAB selbst sah offenbar seine Niederlage als »Denkzettel« gegen die unsoziale Belastungspolitik der ÖVP-geführten Bundesregierung. Generalsekretär Amon erklärte: »Offenbar hat es bei den Wählern das Bedürfnis gegeben, der Regierung einmal die Meinung zu sagen.« (Salzburger Nachrichten vom 17. 5.)
In den Tagen nach der AK Wahl kam es deshalb zu einer heftigen Auseinandersetzung innerhalb der ÖVP, weil zahlreiche ÖAAB-Vertreter - freilich erfolglos - ein stärkeres soziales Profil der ÖVP verlangten, das führte bis zur Forderung nach einem ÖAAB-geführten Staatssekretariat.
Massiv waren die Verluste der Freiheitlichen Arbeitnehmer. Im Jahr 2000 hatten die Freiheitlichen zwar die absolute Stimmenzahl im Vergleich zur Wahl 1994 bei rund 112.000 halten können, anteilsmäßig aber (aufgrund der stark gestiegenen Wahlbeteiligung) bundesweit 4,7 Prozent verloren und waren in fünf Länderkammern unter die Zehn-Prozent-Marke gerutscht.
Nunmehr büßten die Freiheitlichen Arbeitnehmer rund die Hälfte der Stimmen von 2000 ein, nach 9,7 Prozent bundesweit im Jahr 2000 kamen sie diesmal nur auf 4,9 Prozent.
Auch in der traditionellen Hochburg Kärnten verloren die FA 2,9 Prozent und haben jetzt einen Anteil von 16,2 Prozent; in den anderen Länderkammern beträgt ihr Anteil zwischen 3,1 Prozent (Tirol) und 6,3 Prozent (Vorarlberg). In der Konsequenz verloren daher die Freiheitlichen Arbeitnehmer auch die beiden Mandate, die sie in der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer bisher eingenommen hatten.
Hinzugewinnen konnten die Grünen Gruppierungen, die sich erstmals bundesweit als Listenverbund verstanden und in den meisten Länderkammern unter dem Namen »Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/Unabhängige GewerkschafterInnen (AUGE/UG)« antraten.
Sie gewannen in allen Bundesländern (außer Niederösterreich) leicht dazu, erreichten bundesweit 4,4 (plus 0,7) Prozent der Stimmen und insgesamt 33 Mandate.
In Kärnten, wo sie erstmals kandidierten, schafften sie den Einzug in die Vollversammlung mit 2 Mandaten, in Wien (5,7 Prozent) den Einzug in den Vorstand.
Bei dieser Wahl sind keine neuen Gruppen (mit Ausnahme der Liste Dirnberger in Niederösterreich und einer Abspaltung der Freiheitlichen Arbeitnehmer in Salzburg) zur Wahl angetreten, wohl aber haben die meisten der kleinen Fraktionen erneut kandidiert und sich im wesentlichen behaupten können.
Arbeiterkammer gestärkt
Bei allen Unterschieden und regionalen Besonderheiten zeigen die AK Wahlen doch einen gemeinsamen Trend: Die WählerInnen stimmten gegen die Auswirkungen der Regierungspolitik, wo sie als ArbeitnehmerInnen betroffen sind, und honorieren eine klare und konsequente Interessenpolitik. Eine bundesweite Wählerbefragung liegt nicht vor, stellvertretend können aber die Hauptergebnisse einer Nachwahlanalyse des Meinungsforschungsinstituts SORA Aufschluss über die wichtigsten Wahlmotive geben:
* Als stärkstes Wahlmotiv gaben 94 Prozent aller WählerInnen an, mit ihrer Stimme »die Arbeiterkammer stärken« zu wollen.
* 83 Prozent wünschen sich, dass die Regierung mehr auf die Arbeiterkammer hört.
* 69 Prozent der Befragten geben als ihre Überzeugung an, dass die Regierung einseitig die ArbeitnehmerInnen belastet.
Wesentlich ist aber nicht nur die Kritik an Maßnahmen, die sich gegen die ArbeitnehmerInnen richten. Interessenpolitik bedeutet vorrangig die Entwicklung von Vorschlägen und Forderungen zur Lösung von gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen.
Die AK hat immer - und in den letzten Jahren verstärkt - an dieser ihrer Kompetenz gearbeitet und Programme vorgelegt. In den letzten Jahren standen Fragen der Arbeitsmarktpolitik, der Aus- und Weiterbildung und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Vordergrund. Die Nachwahlbefragung zeigt, dass die WählerInnen dies (und die Kontinuität in der Interessenpolitik) honorieren:
Befragt nach den für sie wichtigsten Themen nennen die ArbeitnehmerInnen das Engagement für Arbeitsplätze (93 Prozent) und Weiterbildung (92 Prozent), insbesondere auch für jüngere Arbeitnehmer (96 Prozent) als die vorrangigsten Aufgaben, wo sie sich auch von der AK klare Interessenvertretung erwarten. Für 91 Prozent der ArbeitnehmerInnen ist auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein wichtiges Anliegen.
Vertrauen in AK ist gewachsen
Ein gleiches Pensionssystem für alle, Maßnahmen gegen das Schwarzunternehmertum, das Verhindern von Selbstbehalten im Gesundheitswesen und Maßnahmen gegen Lohndruck sind Anliegen, bei denen jeweils mehr als zwei Drittel der Mitglieder die Forderungen der Arbeiterkammer unterstützen.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass das Ansehen der AK in der Bevölkerung und die Anerkennung des Leistungsspektrums durch die Mitglieder wachsen. Ein (nicht von der AK in Auftrag gegebenes) Monitoring des Vertrauens der Bevölkerung in Institutionen der österreichischen Gesellschaft zeigt, dass das Vertrauen in die AK wächst, mehr als 60 Prozent stimmen dem zu, die AK liegt damit deutlichst zum Beispiel vor der Bundesregierung.
Eine AK-Umfrage unter den Mitgliedern hat 2001 gezeigt, dass die Zufriedenheit mit der Höhe des Mitgliedsbeitrags und den vorhandenen Leistungen gegeben ist. Mit dem Programm AK plus haben die Arbeiterkammern bundesweit ihren Leistungskatalog an neue Bedürfnisse angepasst und sind damit auf positives Echo gestoßen: Die neuen (und alten) Leistungen der AK, insbesondere in der Beratung, im Konsumentenschutz und in der Weiterbildung, werden von Jahr zu Jahr noch mehr in Anspruch genommen.
Dieser Kurs der AK - klare und konsequente Interessenvertretung und gleichzeitig ausgebaute direkte Leistungen für die Mitglieder, damit die ArbeitnehmerInnen nicht nur Rechte haben, sondern auch Recht bekommen - dieser Kurs ist bei den AK Wahlen 2004 bestätigt worden. Damit haben ihn die Wählerinnen und Wähler auch erneut als Auftrag formuliert.
]]>Durchs Reden kommen die Leute zusammen, wussten unsere Großeltern. Die hatten noch keinen E-Mail-Verteiler, um die ganze österreich-, böhmen- und mährenweit verteilte Sippe mit einem einzigen Klick zum Familientreff zu laden. Brauchten sie auch nicht, weil es genügte Onkel Hans. Denn der sagte es Tante Inge und die wiederum … bis hinauf in die hohe Tatra gelangte die Botschaft zu den weitschichtigen Mlineks.
Mit minimalstem Einsatz größtmögliche Wirkung also. Ein Mechanismus, der auch dem Informatiker Jon Kleinberg aufgefallen war, wie der Spiegel in einem Beitrag »Wie eine Botschaft Millionen erreicht,« berichtete. Ob der Schmetterling, der in Brasilien mit den Flügeln wachelte und so einen Tornado in Texas auslöste eine Erfindung aus der Meteorologie ist, tut nichts zur Sache. Kleinberg jedenfalls legte das Modell ins virtuelle Netz um und siehe da, es funktionierte.
Eine einzige E-Mail, abgeschickt in Brasilien, löste in Texas heftige Debatten aus.
Info-Filter
Eine Reaktion, von der Betriebsräte nur träumen können. »Schickt man als Betriebsrat sehr oft eine Mail hinaus, schalten die Mitarbeiter einen Filter ein und sagen: ›Weg damit!‹«, berichtet Martin Korn, Betriebsratsvorsitzender von Tecwings, dem 1998 durch Ausgliederung aus Alcatel entstandenem High-Tech-Betrieb.
Ähnliche Erfahrungen hat auch der Betriebsrat des IT-Dienstleistungsbetriebes Siemens Business Services (SBS), Fritz Spinka: »Informationen des Betriebsrates werden von vielen nicht mehr wahrgenommen. Erst wenn der Betriebsrat gebraucht wird, bei rechtlichen Fragen, zum Beispiel. Aber da ist es oft zu spät.«
»Man operiert ein bißchen im luftleeren Raum«, weiß Herbert Schulze, Betriebsrat von Compaq-HP, »und dazu kommt, dass viele Mitarbeiter Angst haben, den Betriebsrat zu kontaktieren. Vielleicht, weil das Unternehmen die Gewerkschaft als verdächtig gebrandmarkt hat.«
Tecwings, SBS und Compaq-HP sind hochtechnisierte Unternehmen, auch betriebsintern sind die Medien, von Intranet, E-Mail bis Internet am neuesten Stand. Aber gerade in der High-Tech- und Telekommunikationsbranche leidet die Kommunikation zwischen Betriebsrat und Belegschaft, wie die Arbeitnehmervertreter berichten.
Die Belegschaft? Das ist heute ein heterogenes Konglomerat aus unterschiedlichsten Menschen mit unterschiedlichen Arbeitsverträgen und Bedürfnissen, unter denen die Gruppe der »neuen Selbständigen« ständig wächst.
Schwere Zeiten für Betriebsräte, die einerseits die »alte« Rolle als Schützer und Kontrollinstanz arbeitsrechtlicher Errungenschaften einnehmen sollen, andererseits aber zwischen den unterschiedlichsten Interessenslagen der Beschäftigten aufgerieben werden.
Pioniergruppe
Seit dem Vorjahr arbeitet nun eine Projektgruppe aus Betriebsräten, Wissenschaftern, Organisationsberatern und Experten der Arbeiterkammer am komplexen Thema der internen Kommunikation zwischen Belegschaft und Betriebsrat. Auf Initiative des gesellschaftspolitischen Diskussionsforums der Arbeiterkammer (www.gedifo.or.at) hat die Gruppe zuerst den Ist-Zustand der Kommunikation zwischen Betriebsrat und Mitarbeitern untersucht.
Die Frage: »Wen vertreten wir eigentlich?« klingt simpler als sie ist. Denn eine erste Bestandsaufnahme der Betriebsräte in ihren jeweiligen Unternehmen hat gezeigt, wie unterschiedlich die Zusammensetzung des Mitarbeiterstabes ist. Hohe Fluktuation, Außendienste und freie Werkverträge erschweren zudem die Pflege der Kontakte, die für eine kontinuierliche Arbeit unerlässlich sind. Zudem, so das Fazit, »wird den Mitarbeitern vorgekaukelt, eigenständige Unternehmer zu sein. ›Unternehmerisches Denken‹ - was immer das ist - gilt als unvereinbar mit einer betrieblichen Vertretung.«
»Das alles wird vom Management bewusst gesteuert, meint SBS-Betriebsrat Fritz Spinka. Die Ziele des Unternehmens werden zu denen des Mitarbeiters gemacht, scheinbar werden eigene Ziele« verfolgt. Eine Strategie, die äußerst erfolgreich ist und welche die Arbeit der Betriebsräte erschwert, wenn nicht gar verhindert.
Co-Management
Eine bereits seit längerem bekannte Strategie des Managements besteht darin, Betriebsräte durch Gremienarbeit in die Entscheidungen einzubinden. Sie werden so zu einer Art Co-Manager. »Co-Management steht für eine gewerkschaftliche Betriebspolitik, wonach der Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit durch Mitbestimmung überwunden werden kann. Die Interessensgegensätze werden daduch verwässert. Für den Betriebsrat entstehen vielerlei Probleme. Gremienarbeit ist für viele Beschäftigte intransparent. Er kann unter dem Verdacht stehen, sich vereinnahmen zu lassen. Er kann Loyalitätsprobleme bekommen«, schreiben Michael Vlastos und Hannes Schneller (siehe A&W 7-8/2002, »Betriebsratsarbeit im Wandel«).
Zur zunehmenden Aufsplitterung der Belegschaft in unterschiedliche Gruppen kommt also auch die immer komplexer und gleichzeitig diffuser werdende Rolle des Betriebsrates.
»Womit beschäftigen wir uns eigentlich?« lautete daher eine weitere Frage des Teams, das die Auseinandersetzung mit dem Thema als Versuchslabor versteht, in dem auch Irrtümer als wichtiger Teil eines Prozesses verstanden werden.
Ein weiteres Ergebnis der von den Betriebsräten bisher in ihren Unternehmen durchgeführten Befragung: Der Schwerpunkt der betriebsrätlichen Tätigkeit richtet sich auf klassische Aufgaben wie Sicherung und Bewahrung bestehender Strukturen. Tecwings-Betriebsratsvorsitzender Martin Korn: »Es hat sich herausgestellt, dass alles sehr vergangenheitsbehaftet oder nicht genau definiert ist. Wir haben all das gemacht, was wir im Lauf unserer Karriere gelernt haben: Einhaltung des Arbeitsverfassungsgesetzes, der Kollektivvertragspolitik und die Wahrung der Schutzfunktionen.« In all den Jahren, so Korn, wurde nicht gelernt, dass Betriebsratsarbeit zum überwiegenden Teil aus Kommunikation besteht. Aber das Management der Unternehmen hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr wohl mit Kommunikations- und Veränderungsprozessen auseinandergesetzt.
Ein Widerspruch tut sich auf, den die Betriebsräte in ihrer täglichen Arbeit zu spüren bekommen: »Einerseits haben die Arbeitnehmer die Vorteile aus selbstbestimmterem Handeln genutzt, aber auch den Kampf der Vertreter gegen Verschlechterungen und Kürzungen der Rechte unterstützt«, heißt es im Dokument zum Thema der internen Kommunikation, das die Arbeitsgruppe als eines der ersten Ergebnisse ihrer bisherigen gemeinsamen Tätigkeit verfasst hat. Denn so schlimm ist es um den Betriebsrat auch wieder nicht bestellt, nimmt man etwa die Beteiligung zur Betriebsratswahl bei Compaq-HP von immerhin 70 Prozent. »Eigentlich ein sehr guter Weg für einen außendienststrukturierten Betrieb mit vielen Filialen«, kommentiert Betriebsrat Schulze.
Dennoch ist die Rolle des Betriebsrates einem Wandel unterzogen. »Wichtig ist daher«, lautet die Conclusio der Gruppe, »Grundwidersprüche, wie ›Kooperation - Konkurrenz‹ zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen für den Betriebsrat zu ziehen. Es ist nicht möglich, beide Pole eines Spannunsgfeldes gleich stark zu besetzen.«
Neues Leitbild
Ein neues Leitbild, ein neues Selbstverständnis des Betriebsrates, das den tatsächlichen Gegebenheiten angepasst ist, muss her. »Vom Regulator und Beglücker zum Entwickler«, nennt Betriebsrat Martin Korn die Verlagerung der bisherigen Betriebsratsarbeit hin zum »Management von Unterschiedlichkeiten«.
Harald Katzmair, Geschäftsführer des sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitutes FAS.research, sieht die Zukunft des Betriebsrates in einer Funktion als »Makler«. »Einer, der Leute zusammenbringt, die ein Eigeninteresse daran haben, mit Leuten zusammengebracht zu werden, die ihnen irgendwann in ihrer Karriere nützen können.«
Katzmair liebt die pointierte Rede, er spricht gar von einem Steckengebliebensein gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen, einem Verschlafen der Transformation, die in den 70er-Jahren begonnen und mit der Abkehr von der fordistischen, von oben nach unten durchorganisierten Fabrik, völlig neue Arbeitsbedingungen gebracht hat, die unter den Schlagwörtern Flexibilität und Projektorientierung zusammengefasst werden können. Kurzum, sagt Katzmair, »wir haben ein völliges Auseinanderdriften von Realität und alten hierarchischen, paternalen, recht autoritären Strukturen.«
Die Motivation Harald Katzmairs, dem die gewerkschaftliche Organisation ein Anliegen ist, an der Arbeitsgruppe teilzunehmen: Er will den Austausch mit Kollegen, die »aufgrund ihrer Realität einfach nicht mehr weiterkommen. Dazu braucht es Offenheit und Respekt. Unterschiedliche Personen sollen zusammenkommen, mit der Bereitschaft, sich horizontal zu vernetzen«.
Denn der Betriebsrat von heute braucht eine neue Art der Informationsbeschaffung, Informationsverarbeitung und Informationsverbreitung. Ein weiteres Phänomen gesellt sich nämlich hinzu: Je mehr Information, umso uninformierter sind die Mitarbeiter. »Immer mehr informieren noch mehrere über Angelegenheiten, die nur für wenige von Interesse sind«, fasst Betriebsrat Martin Korn das Dilemma zusammen. Je kürzer und prägnanter, umso mehr Chance hat die Botschaft einen entsprechenden Empfänger zu finden. Telekom-Betriebsrat Alois Pillichshammer hat inzwischen die früheren Tagessitzungen auf vier Stunden gekürzt.
Der Betriebsrat ist immer noch Ansprechpartner im Sinn des Wortes. Denn das direkte Gespräch können E-Mails oder Broschüren nicht ersetzen, meint Pillichshammer. »E-Mails funktionieren nur bei aufrechter Kommunikation.« Informationsmaterial?
»Die Leute lesen gar nicht, was darauf steht. Das haben wir bei den AK-Wahlen gesehen. Da muss die Kommunikation von uns ausgehen, sonst verläuft die Information im Sand.«
Es herrscht also kein Mangel an Information, sondern vielmehr an Kommunikation, wo wir wieder beim neuen Selbstverständnis des Betriebsrates, dem internen Unternehmenskommunikator, wären.
Netzwerke
Interner Unternehmenskommunikator: Eine Funktion, die der Betriebsrat der Zukunft durch Nutzung jener gewerkschaftlich bislang unbeachteten Strukturen erreichen könnte, die als »Netzwerke« seit den 70ern Gegenstand weltweiter Forschung sind. Die Hewlett-Packard-Labors waren die ersten, deren Forscher eine Art Kommunikations-Spektrographie erstellten, indem sie die E-Mail-Verteiler der Firma mit Hilfe einer speziellen Software analysierten. »Sage mir, mit wem du sprichst, und ich sage dir, wer was zu melden hat«, lautete der unwissenschaftlich formulierte Grundgedanke dieser Mühewaltung, die sich letztendlich aber lohnt. Das weiß auch die Werbebranche, die ihre Botschaften zielgerichtet und kostensparend lanciert, sobald sie die »Leithammeln« ausfindig gemacht hat, die innerhalb einer Gesellschaft das Verbraucherverhalten prägen. Das wissen auch Politik, Wirtschaft und sogar Geheimdienste und Sicherheitsapparate, die mithilfe von Diagrammen der gepflegten Kontakte ganze Banden ahnungsloser Täter aufspüren.
Vernetzt sind auch die Shareholder und Aufsichtsräte. »50 Prozent der 2500 umsatzstärksten Unternehmen in Österreich sind mit mindestens einer der anderen Firmen über den Aufsichstrat vernetzt«, weiss Harald Katzmair, Geschäftsführer des auf die Untersuchung sozialer Netzwerke - von Unternehmensverflechtungen bis zur Analyse von Entscheidungsnetzwerken im Kundenbereich - spezialisierten Forschungsinstitutes FAS.research.
Astrid Zimmermann, Betriebsratsvorsitzende bei der Tageszeitung »Standard«, holt sich Tipps aus der Gruppe für ein künftiges Netzwerk von Betriebsräten von Tages- und Wochenzeitungen, das bereits in der Urform, nämlich dem Stammtisch, vorhanden ist. Für sie ist das Bild der Unternehmensvernetzung sehr illustrativ. Ein Bild, das »wir simpel nachgezeichnet haben: Wo sitzen die Medienmanager, in welchen Gremien, und erzählen einander stolz, wo wieder eingespart wurde? Das geht quer durch Österreich und ist in allen Häusern gleich.«
Die Betriebsräte in der gedifo-Plattform haben einstweilen die unterschiedlichen Konstellationen in ihren Betrieben, von Kaffee- und Freizeitgruppen bis zu Freizeitgemeinschaften und Gesprächsrunden ausfindig gemacht, die in keinem offziellen Organisationsplan aufscheinen. Der erste Weg zur sozialen Netzwerkanalyse, derer sich die Gruppe bedienen will, um die gewerkschaftliche und betriebsrätliche Arbeit effizienter und effektiver zu gestalten. Die soziale Netzwerkanalyse, eine wissenschaftliche Methode, um die »soziale Infrastruktur der informellen Kommunikation innerhalb einer Organisation freizulegen«, soll dazu beitragen herauszufinden, wer wo das Sagen hat. Denn kennt man die Schlüsselpersonen (im Fachjargon »Hubs«, bzw. »Drehkreuze«), weiß der Betriebsrat oder der Gewerkschafter, wer besonders zu berücksichtigen ist, damit die Information an richtiger Stelle landet. Netzwerke, dessen sind sich die Beteiligten klar, sind in unsicheren Zeiten nicht nur eine Frage des Überlebens des Betriebsrates als Einrichtung, sondern und vor allem des Überlebens der Mitarbeiter.
R E S Ü M E E
Besonders in hochtechnisierten Betrieben spüren Betriebsräte zunehmend eine »Entfremdung« zwischen ihnen und der Belegschaft. Auf Initiative des gesellschaftspolitischen Diskussionsforums (gedifo) haben Betriebsräte, Betriebsberater, Forscher und AK-Experten begonnen, den Ursachen auf den Grund zu gehen und nach Verbesserungen zu suchen. Unter dem Titel »Interne Kommunikation zwischen Betriebsrat und Belegschaft« wird der Ist-Zustand der Kommunikation in den Betrieben eruiert und die Technik der sozialen Netzwerkanalyse für künftige Verbesserungen nutzbar gemacht.
Und wie geht es dir bei deinem Job? Die Jugendsituation ist halt nicht schön, mit 14.000 Jugendlichen, die eine Lehrstelle suchen.
Die Situation ist katastrophal. Die Zahlen sind an sich schon erschreckend, aber wenn`s um Jugendbeschäftigung geht, darf man nicht nur von Zahlen reden. Hinter den Zahlen stecken Menschen, und jeder - vor allem junge - Mensch ohne Lehrstelle ist einer zuviel. Und mit über 45.000 Jugendlichen, die momentan arbeitslos sind, ist die Situation mehr als kritisch.
Ich höre dauernd alle sagen, man muss was tun, man muss was tun. Es geschieht ja auch ein bisschen was. In Wien z. B. hat man ja einige tausend Jugendliche wieder untergebracht in Kursen und Stiftungen. Aber das ist immer noch zu wenig, oder?
Man muss sich immer genau anschauen, was passiert und ob es sinnvoll ist. Die Betriebe bekommen 1000 Euro Lehrlingsprämie, ohne dass sie sich an irgendwelche Qualitätskriterien halten müssen. In der Produktion, vom Auto bis zum Fernseher, ist Qualitätssicherung heute selbstverständlich, aber in der Ausbildung ist sie nach wie vor ein Fremdwort - da fehlt es im System. Für die ausbildenden Unternehmen müssen Qualitätskriterien festgesetzt werden und die Einhaltung muss überprüft werden. Nur wer gut ausbildet und für den richtigen Beruf soll gefördert werden, und zwar erst bei erfolgreich abgelegter Lehrabschlussprüfung.
Im ersten Jahr zahlen die Betriebe, glaube ich, keinen Krankenkassenbeitrag. Das zahlen dann alle anderen. Obwohl Lehrlinge noch relativ gesund sind, hoffen wir. Also 1000 Euro ist diese Prämie?
Im nächsten Jahr wird sie zirka 1340 Euro sein.
Das ist schon ein gutes Geschäft …
Ja, man kann sagen, dass man mit einem Lehrling, wenn man ihn anstellt, ein Geschäft macht.
Da gibt es ja manche Bereiche, wo es besonders im Argen liegt und wo vor allem nach der Erhöhung der Probezeit die Jugendlichen wirklich nur als billige Hilfsarbeiter verwendet werden.
Die schwarz-blaue Bundesregierung hat die Probezeit für Lehrlinge von zwei auf drei Monate verlängert. Große Betriebe, zum Beispiel im Gastgewerbe, holen sich Lehrlinge von Juni bis August, sprich immer genau für die Hauptsaison. Die missbrauchen die Jugendlichen, denen sie eigentlich etwas beibringen sollten, als billige Hilfskräfte - und kurz vor Ende der Probezeit werden die Lehrlinge wieder gekündigt. Nicht einmal einen Grund muss der Unternehmer angeben, wenn er den Lehrling loswerden will. 17.000 Lehrverträge wurden im vergangenen Jahr vorzeitig aufgelöst, davon 70 Prozent allein im Bereich der Frisöre. Es ist auf jeden Fall schlechter geworden für die betroffenen Jugendlichen, die in dieser Situation waren. Landeshauptmann Jörg Haider hat ja gefordert, die Probezeit von drei Monaten auf ein Jahr zu verlängern. Das wäre der absolute Wahnsinn. Dann, glaube ich, gibt es sowieso fast keine Jugendlichen, die zur Lehrabschlussprüfung antreten werden. Und das kann es nicht sein. Wir als Gewerkschaftsjugend werden uns auf jeden Fall wehren gegen solche Maßnahmen - wir fordern die Verkürzung der Probezeit auf ein Monat!
Als Fritz Verzetnitsch noch Jugendsekretär war - und ich noch Jugendredakteur, haben wir einmal das 100.000 Mitglied der Gewerkschaftsjugend gefeiert. Wie schaut es denn eigentlich jetzt aus?
52.000 Mitglieder. Die Geburtenjahrgänge sind schwächer, und die Lehrstellen gehen immer mehr zurück. Das Angebot von früher ist einfach nicht mehr da. Die Betriebe bilden nicht mehr aus und beschweren sich gleichzeitig über Fachkräftemangel.
Wenn man sich anschaut, dass in den letzten 20 Jahren die Lehrstellen von über 194.000 auf 120.000 zurückgegangen sind, dann kann man sich schon berechtigterweise die Frage stellen, was da im System nicht stimmt, dass es einen solchen Lehrstellenschwund gibt.
Wie glaubst du, wird das weitergehen? Im Grunde bleibt ja nur die Hoffnung, dass die Leute draufkommen, dass es davon abhängt, wem sie bei den Wahlen die Stimme geben.
Es ist sicher so eine Frage und ich glaube jede Regierung muss daran gemessen werden, was sie für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tut und speziell aus unserer Sicht: Was macht sie für die Jugendlichen. Da hat sich in den letzten vier Jahren unter Schwarz-Blau einiges verschlechtert. Ich glaube, dass die Jugendlichen bei der nächsten Wahl auch dementsprechend ihre Stimme abgeben werden. Wenn die Regierung, ganz egal wer die Mehrheit hat, ein bisschen mehr auf die Gewerkschaftsjugend und auf ihre Forderungen hören würden, dann würde die Jugendarbeitslosigkeit auch nicht so dramatisch sein wie sie es derzeit ist.
Wie ist das mit dem Egon Blum?
Der Regierungsbeauftragte für Jugendbeschäftigung und Lehrlingsausbildung Egon Blum ist sicher ein Hoffnungsfall. Die einzige Frage, die sich für mich stellt, inwieweit lässt die Regierung jetzt zu, dass er das, was er jetzt vor hat, auch wirklich umsetzten kann. Er hat auf jeden Fall sehr gute Ideen.
»200 Bewerbungen um eine Lehrstelle als Sekretärin habe ich geschrieben«, schildert Bettina ihre Erfahrung als Lehrstellen Suchende nach dem Pflichtschulabschluss. »Nicht einmal die Hälfte der angeschriebenen Firmen hat geantwortet, Lehrstelle gab’s keine.« Dann hat sie der Vater zum Arbeitsmarktservice (AMS) geschickt. Jetzt sitzt sie über AMS-Vermittlung in einem zehnmonatigen Auffangnetz-Lehrgang, der gemäß Jugendausbildungssicherungsgesetz (JASG) abgewickelt wird. Dieses Schicksal teilt sie mit rund 5000 anderen Lehrstellen Suchenden: Arbeitslosmeldung beim AMS, Lehrstellensuche mit Hilfe des AMS, bei Nichterfolg Berufsorientierung und Coaching, und danach Besuch eines Auffang-Lehrgangs, der auf die Lehrzeit angerechnet wird. Während dieser Zeit sind die Jugendlichen beim jeweiligen Lehrgangträger sozialversichert, besuchen die Berufsschule wie in der Lehre und machen ein Praktikum in Betrieben.
Bettina ist froh, einen solchen Lehrgangsplatz erhalten zu haben. Sie absolviert ihn bei »Jugend am Werk« (»JaW«) und lässt sich zur Immobilienkauffrau ausbilden. Wenn sie nach diesem ersten Lehrgang noch immer keine Lehrstelle in einem Betrieb findet, hofft sie auf einen Fortsetzungslehrgang.
»Das kannst gleich vergessen!«
Tatsächlich liegen die Vermittlungsquoten - unterschiedlich nach Lehrberuf - zwischen 30 und 50 Prozent. Für die Bautechnischen Zeichner, die z. B. bei »Jugend am Werk« ausgebildet werden, gibt es bereits einen JASG-Folgelehrgang, der das zweite Lehrjahr ersetzt. Da die Aussichten, in einem Betrieb die Bautechnikerlehre zu beenden, nicht rosig sind, ist es möglich und vorgesehen, über die »Qualifizierung zur Lehrabschlussprüfung« die Jugendlichen zum Ausbildungsabschluss zu führen, weiß Ausbildungsleiter Dieter Augustin von »Jugend am Werk«.
Neben den 5000 Jugendlichen, die wegen der fehlenden betrieblichen Lehrstellenplätze in Auffangkursen ausgebildet werden, gibt es zusätzlich rund 9000 Jugendliche, die entweder ganz aktuell eine Lehrstelle suchen oder kurzfristige AMS-Kurse absolvieren und daher auch einen Lehrplatz brauchen.
So auch Eric: »Das Zeugnis musst gleich mitschicken. Wenn du keine guten Noten hast, kannst es gleich vergessen«, drückt er seinen Frust aus der Bewerbungszeit aus, denn Antwort oder gar eine Lehrstelle hat er nicht bekommen. Jetzt ist er seit einem Monat im Lehrgang Elektrotechnik des Wiener Berufsförderungsinstituts (bfi) in Wien-Favoriten und hofft, dass es durch Ausbildung und Betriebspraktikum nach neun Monaten besser klappt.
»Es ist schlimm …«
»Es ist schlimm, wenn der erste Weg von Jugendlichen nach der Schule zum Arbeitsmarktservice statt in die Arbeitswelt führt«, beklagt Wolfgang Dikovics, Abteilungsleiter Jugendmaßnahmen des bfi, die Situation: »Pro Jahr verschwinden allein Wien 300 bis 400 Lehrstellen. Dabei wird die Lehrstellennachfrage erst 2007 ihren Höhepunkt erreichen und noch 2011 auf dem Stand von heute sein.« Dass hier schnell etwas passieren muss, ist auch für Manfred Jank, Leiter der Berufslehrgänge des 1. Lehrjahres im bfi, klar: »Hatten wir 2000 noch einen Kurs pro Jahr, so sind es jetzt schon drei Starttermine im Jahr. Ewig werden wir aber mit solchen Notlösungen nicht durchkommen.«
Das bfi ist - neben »Jugend am Werk«, WIFI, BPI (Berufspädagogisches Institut) Weidinger & Partner, oder dem Fachausschuss der Friseure der Gewerkschaft Hotel, Gastgewerbe und Persönliche Dienstleistungen (HGPD) - Träger von Lehrlingslehrgängen nach dem JASG.
Fachausbilder mit Meisterprüfung und mindestens zweijähriger Erfahrung in Jugendausbildung, LehrerInnen für den Stütz- und Förderunterricht in der Berufsschule, SozialarbeiterInnen, die bei etwaigen Problemen mit Familie, Wohnung, Geld, Drogen oder Berufsschule helfen, sowie Coaches (Psychologen, Pädagogen, ausgebildete Trainer), die in Richtung Lehrstellenvermittlung und Bewerbungsunterstützung tätig sind, stehen den jungen Berufseinsteigern bei den Trägerorganisationen zur Seite.
Qualifikation?
Neben dem Umstand, dass bis zum Kursjahr 2002/2003 die JASG-Lehrgänge jährlich neu durchgesetzt werden mussten und damit die Planung extrem erschwert wurde, entstand ab 2003 ein zusätzliches Problem: Anstelle des bis dahin geltenden Verhandlungsverfahrens werden seither die Kurse gemäß Bundesvergabegesetz nach dem »Bestbieterprinzip« ausgeschrieben. »Das führt zu einem Wettbewerb der verschiedenen bestehenden und neu auftretenden Anbieter«, schildert Reinhold Bauer, Leiter des Bereichs Berufsbildung Jugendlicher von »Jugend am Werk«, die gegenwärtige Situation: »Mit dem dadurch in Gang gekommenen Preiskampf konzentrierten sich viele Anbieter nur auf Coaching und Vermittlung und damit weniger auf die eigentliche Qualifikation der Jugendlichen. Verstärkt wird mit ›freien Trainern‹ gearbeitet, die zwar über hohe Kompetenzen im Coaching aber selten über praktische Kompetenzen im Berufsfeld verfügen.« Konkurriert wird hauptsächlich um Berufe im Bürobereich, im Einzelhandel, in der EDV-Technik und im Gastgewerbe, weil die Ausbildung in handwerklichen Berufe hingegen mit hohen Fixkosten (Maschinen, große Räumlichkeiten, Fixpersonal) verbunden ist.
Die Entwicklung am Jugendbeschäftigungs- und speziell am Lehrstellenmarkt war und ist seit Jahren absehbar. Seit 1980 ist die Zahl der Lehrstellen von 194.000 auf heute 120.000 zurückgegangen. Die Ursachen für die Krise am Lehrstellenmarkt sieht Arthur Baier, Leiter der Abteilung Lehrlings- und Jugendschutz der AK Wien, vor allem im Auslassen von Industrie und Handel, die heute etwa zwei Drittel weniger Lehrlinge ausbilden als früher. Im Zuge von Rationalisierungen, Liberalisierung und Globalisierung wurden Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sowie Lehrwerkstätten in den großen Industriebetrieben geschlossen. Im Einzelhandel kam es zu den bekannten Konzentrationen, die ebenso Lehrplätze kosteten. Gleichzeitig hat die konjunkturelle Krise besonders das Gewerbe getroffen, das traditionell Lehrlinge ausbildet. Dies alles hat auf den gesamten Lehrstellenmarkt durchgeschlagen, sodass es heute gerade noch in der Tourismusbranche kleine Zuwächse gibt.
Jahrelange Gehirnwäsche
Hinzu kommt, so Alexander Prischl, Leiter des Referates für Berufsbildung im ÖGB, dass die »jahrelange Gehirnwäsche der Wirtschaftskammer, dass die Lehrlingsausbildung zu teuer sei, bei ihren Mitgliedsbetrieben durchaus erfolgreich war. So haben wir jetzt die Wirkung, dass sie immer weniger Fachkräfte ausbilden, gleichzeitig aber den Mangel und den Qualitätsverlust beklagen.« Dabei waren Lehrlinge noch nie so billig. Erhielt ein Betrieb 2003 pro Lehrling und Jahr rund 700 Euro, sind es heuer ca. 1000 Euro und im nächstes Jahr schon ca. 1340 Euro. Selbst ohne Berücksichtigung von Lehrlingsprämie und diversen kommunalen Förderungen, aber sehr wohl unter Einrechnung der geringeren Anwesenheitszeit durch den Berufsschulbesuch, kostet beispielsweise ein Lehrling im Einzelhandel über die gesamte Lehrzeit dem Betrieb bloß 63 Prozent einer Fachkraft und 68 Prozent einer Hilfskraft, rechnet Prischl vor.
Spießrutenlauf
1993 gab es das letzte Mal mehr offene Lehrstellen als Lehrstellen Suchende. Seitdem geht die Schere von Lehrstellenangebot und Lehrstellennachfrage jährlich weiter auseinander. Selbst als 1998 mit dem JASG die Notbremse gezogen wurde und erstmals 3500 Jugendliche in den neu geschaffenen Lehrlingsstiftungen untergebracht werden konnten, stieg die Zahl der Suchenden weiter an.
Trotzdem wurden mit Antritt der schwarz-blauen Regierung im Jahr 2000 die erfolgreichen Lehrlingsstiftungen, die Jugendliche bei Bedarf bis zum Lehrabschluss besuchen konnten, gestrichen und durch bloß zehnmonatige Lehrgänge ersetzt. Diese müssen jedes Jahr neu bewilligt werden. Das machte für Jugendliche und Lehrgangsträger die Berufs- bzw. Ausbildungsplanung zum Teil zum Spießrutenlauf. Denn es war für die Jugendlichen nicht mehr absehbar, ob sie im Fall der Nichterlangung einer Lehrstelle in einem weiterführenden Lehrgang unterkommen oder nicht und ob sie überhaupt einen Lehrabschluss erlangen konnten.
Verschärft wurde die Situation noch dadurch, dass die ÖVP-FPÖ-Bundesregierung bereits ab 2000 die Probezeit für Lehrlinge in Betrieben auf drei Monate ausdehnte und die Behaltefrist von vier auf drei Monate verkürzte. Ergebnis: Lehrverträge werden leichter gelöst und Jugendliche, besonders im Handel und in Saisonbetrieben (Tourismus), als billigste Hilfskräfte eingesetzt statt ausgebildet.
Die Statistik für das Jahr 2003 zeigt, dass über 1400 oder fast ein Viertel der in Wien jährlich eingegangenen Lehrverhältnisse bereits in der Probezeit gelöst werden. 70 Prozent davon allein in den Branchen Haar- und Körperpflege (Friseur, Kosmetik, Fußpflege), Gastronomie und Hotellerie, Handel und verwaltende Berufe (z. B. Bürokaufmann/frau). Insgesamt werden z. B. in Wien ca. 20 Prozent aller derzeit bestehenden 17.000 Lehrverträge vorzeitig aufgelöst. Formal handelt es sich dabei in den meisten Fällen um »einvernehmliche« Lösungen.
»Leben schwer gemacht …«
»Weil diese Zahl früher nicht so hoch war, aber in den letzen Jahren sichtbar gestiegen ist«, vermutet Arthur Baier von der AK, »dass vielen Lehrlingen das Leben so schwer gemacht wird, bis sie von selbst gehen.« Diese Menschen drängen zusätzlich auf den Lehrstellenmarkt. Besonders erschwerend kommt in diesen Fällen hinzu, dass es extrem schwierig ist, für die Restlehrzeit eine neue Lehrstelle und einen Lehrabschluss zu bekommen.
Natürlich ist es wichtig für die Lehrstellensucher, dass es wenigstens das bestehende, wenn auch leider sehr flickwerkartige Auffangnetz gib. Weil es aber in den Kursen keine durchgängige Ausbildung zum Lehrabschluss gibt, ist ein enormer Verdrängungswettbewerb unter den Lehrstellenbewerbern entstanden. Arthur Baier: »Die potentiellen Lehrherren holen sich natürlich lieber die bereits Vor- und Höherqualifizierten aus den JASG-Lehrgängen als Lehrlinge in das Unternehmen. Die neuen Schulabgänger haben da nur wenig Chancen, direkt im Anschluss eine Lehrstelle zu ergattern und kommen in die Warteschlange.«
Spirale nach unten
So dreht sich die Spirale nach unten weiter: Die Auffangnetze laufen Gefahr zum Regelfall des Lehreinstiegs zu werden. Den derzeit österreichweit durchschnittlich für das erste Lehrjahr abgeschlossenen 35.000 Lehrverträgen stehen nach Schätzungen der AK rund 51.000 eine Lehrstelle suchende Jugendliche gegenüber. 2004/2005 werden maximal 7000 Jugendliche in die JASG-Auffanglehrgänge untergebracht werden können. Rund 4500 Schulabgänger werden in kurzfristigen Schulungsmaßnehmen des AMS unterkommen. Den restlichen geschätzten 4500 Jugendlichen, die sofort eine Lehrstelle suchen, stehen nur 2000 bis 2500 offene Lehrstellen für sofort zur Verfügung.
Erst seit Herbst 2003 schuf der Gesetzgeber aufgrund des weiter extrem gesunkenen Lehrstellenangebotes und wegen des Protestes und Drängens von Gewerkschaften und Arbeiterkammern die Möglichkeit, die Ausbildung auf ein weiteres Jahr zu verlängern. Zusätzlich konnte seit diesem Zeitpunkt auf Initiative der Sozialpartner die integrative Berufsausbildung durchgesetzt werden. Damit wird benachteiligten (z. B. Sonderschulabgänger, Jugendliche ohne Pflichtschulabschluss) und behinderten Personen eine neue Chance eröffnet. Sie ersetzt die Vor- und Teillehre und sieht die Berufsausbildung entweder in einem Lehrberuf mit einer um bis zu zwei Jahren verlängerten Lehrzeitdauer oder in einer Teilqualifikation eines Lehrberufes in einer Zeitdauer von ein bis drei Jahren vor. Zur Unterstützung wurde die Berufsausbildungsassistenz eingeführt, die als Drehscheibe zwischen diesen Jugendlichen, der Berufsschule und dem Lehrbetrieb dient.
Effektive Maßnahmen!
Überdies konnte in Wien bei einem Arbeitsmarktgipfel im April 2004 Übereinstimmung erzielt werden, dass für 800 Jugendliche aus der Region in sozialökonomischen Betrieben eine Beschäftigungsmöglichkeit geschaffen werden soll.
Wenn sich die Wirtschaft immer weniger der Verantwortung der Fachausbildung der Jugendlichen stellt, dann sollte das nicht zusätzlich zu Lasten der Jugendlichen gehen. Daher fordern AK, Gewerkschaften und Lehrgangsträger Maßnahmen, die eine systematische Lehrlingsausbildung und Jugendbeschäftigung ermöglichen. An erster Stelle steht dabei die Forderung nach effektiven Maßnahmen zur Erhöhung des betrieblichen Lehrstellenangebots, etwa durch eine Ausbildungsfinanzierung über einen Berufsausbildungsfonds. In diesem Fonds sollen nicht ausbildende Betriebe für ausbildende Unternehmen verpflichtend einzahlen und daraus auch überbetriebliche Ausbildungseinrichtungen finanziert werden. Dies würde einen Lastenausgleich zwischen Lehr- und Nichtlehrbetrieben ermöglichen.
Förderung verdoppelt
Die Wirtschaft beklagt in diesem Zusammenhang immer, dass dafür kein Geld da sei und pocht auf freiwillige Lösungen. Doch trotz der massiven Lehrlingsförderungen haben die Unternehmen bisher keinen flächendeckenden Lehrlingsfonds auf freiwilliger Basis zustande gebracht. Die Firmen haben noch nie so viel an Lehrlingsförderung erhalten wie heute: Letztes Jahr waren es in Summe 83 Millionen Euro, heuer werden es 121 Millionen Euro und im Jahr 2005 schon 159 Millionen Euro sein, die sich aus 1000 Euro Prämie pro Lehrling, aus der Streichung der Arbeitgeberbeiträge zur Kranken- und Unfallversicherung und des Zuschlags zur Arbeitslosenversicherung sowie aus AMS-Förderungen zusammensetzen. Das bedeutet eine Verdoppelung der Förderungen innerhalb von nur zwei Jahren. »Trotzdem werden von Jahr zu Jahr weniger Lehrlinge ausgebildet«, stört Jürgen Eder, Vorsitzender der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ), die Blauäugigkeit der Unternehmen: »Statt mit der Gießkanne Geld zu verteilen, müssen Förderungen an überprüfbare Qualitätskriterien gebunden sein und in einen Ausbidlungsfonds einfließen.«
Weiters sollte mangels betrieblicher Ausbildungsplätze die flächendeckende qualifizierte Ausbildung zu einem Lehrberuf und der Lehrabschluss auch in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten eingeführt werden und Ausbildungsverbünde mit Betrieben, die nicht die gesamte Palette einer Lehrberufsaubildung abdecken, verstärkt werden. Die JASG-Lehrgänge müssen langfristig zu- und abgesichert werden sowie eine ausreichende Finanzierung für 9000 Plätze sichergestellt sein.
BHS-Schulabbrecher
Mehr Mittel (24 Millonen Euro) und Plätze (4000) sind auch für Anfänger in den heillos überfüllten berufsbildenden Schulen (HAK, HTL, Fachschulen) nötig. Geld-, Lehrer- und Raummangel und damit erhöhter Druck auf die Schüler führen dazu, dass ein Fünftel der Besucher einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) bereits nach einem Jahr wieder aussteigen muss; bis zur Matura schaffen es nur drei von fünf Schülern. Diese hohe Zahl an Schulabbrechern drückt ebenfalls auf den Lehrstellenmarkt.
Daraus resultierend ist nicht zuletzt die Finanzierung der »zweiten Chance« ein Muss. Denn derzeit ist der zweite Bildungsweg fast zur Gänze privat von den Betroffenen zu bezahlen und für diese Gruppe von Berufsanfängern alleine kaum aufzubringen. So sind für das Nachholen eines positiven Hauptschulabschlusses 700 Euro (für über 18-Jährige), für die Vorbereitung auf die außerordentliche Lehrabschlussprüfung 610 Euro sowie für die Vorbereitung auf die 1997 eingeführte Berufsreifeprüfung zwischen 2000 und 4000 Euro zu bezahlen.
Investition in »Zweite Chance«
Diese Investitionen der öffentlichen Hand würden sich jedenfalls bezahlt machen, sind AK und ÖGB überzeugt. Denn wer keinen oder nur einen Pflichtschulabschluss hat, hat ein extrem höheres Risiko arbeitslos zu werden als entsprechend ausgebildete und qualifizierte junge Menschen. Tatsächlich haben laut AMS-Arbeitslosenstatistik zwei Fünftel der 20- bis 24-Jährigen keinen positiven oder nur einen Pflichtschulabschluss.
Wer den Elan gesehen hat, mit dem sich die Jugendlichen in den verschiedenen Lehrgängen einlassen, dass sie trotz des schwierigen Umfeldes ihre Witzigkeit und ihren Humor nicht verloren haben, der müsste sich schämen, den Lehrlingen keine besseren Rahmenbedingungen und keine bessere Perspektive für ihre berufliche und persönliche Zukunft zu bieten.
»Wer unserer Jugend vertraut, und ihr das auch beweist, wird von ihr nicht enttäuscht.« Diesem Leitsatz zur Ausbildungsphilosophie des Regierungsbeauftragten für Jugendbeschäftigung und Lehrlingsausbildung, Egon Blum, ist voll und ganz zuzustimmen. Auch die Aufforderung, in die Jugend zu investieren, weil das Investitionen in die Zukunft sind, hört man immer wieder bei offiziellen Anlässen zum Thema Lehrlingsausbildung und Jugendbeschäftigung. In der Realität wird der Jugend jedoch diese notwendige zukunftsträchtige Investition bislang verweigert. Wer so handelt, darf sich nicht wundern, dass er (bei Wahlen) die Jugend verliert, die ihm die Rechnung für die Chancenverweigerung präsentiert.
R E S Ü M E E
Jugendbeschäftigung ist zu Schulschluss zwar in aller Munde, die Hoffnung auf eine Lehrstelle oder auf einen geeigneten Schulplatz geht aber nur für einen Teil der Jugendlichen in Erfüllung. Neben den 5000 Jugendlichen, die wegen der fehlenden betrieblichen Lehrstellenplätze in Auffangkursen ausgebildet werden, gibt es zusätzlich rund 9000 Jugendliche, die entweder ganz aktuell eine Lehrstelle suchen oder kurzfristige AMS-Kurse absolvieren und daher auch einen Lehrplatz brauchen. AK und ÖGB fordern daher vor allem die Erhöhung des betrieblichen Lehrstellenangebots durch eine Finanzierung über einen Berufsausbildungsfonds sowie mehr Mittel und Plätze für Anfänger in den heillos überfüllten berufsbildenden Schulen.
In einzelnen Städten in den USA haben sich die Reichen der Stadt hinter hohen Mauern und elektrischen Zäunen und unter Bewachung von Videokameras und eigener, bis auf die Zähne bewaffneter Privatpolizei eine scheinbare Sicherheit geschaffen. Vor wem fürchten sich die Reichsten und Wohlhabendsten?
Die USA bauen an der Grenze zu Mexiko elektrische Zäune, mit Hunden bewacht, um sich im wohlhabenden Norden vor den angeblichen »Wirtschaftsflüchtlingen« aus dem Süden zu schützen.
Mittlerweile geben die USA mehr Geld zur Betreibung von Gefängnissen aus als für Bildung.
2. Bild
Anlässlich der Beschlussfassung des neuen Asylgesetzes begründet der zuständige Innenminister Strasser im Bundesrat dieses Asylgesetz unter anderem damit, die rot-grün geführte Regierung der Bundesrepublik Deutschland hätte ein noch viel strengeres Asylgesetz erlassen. Es müsste eine abschreckende Wirkung erzielt werden, um die wirklichen Asylwerber von den so genannten »Wirtschaftsflüchtlingen« zu trennen und die letzteren abzuschrecken. Es gebe zu viele so genannte »Wirtschaftsflüchtlinge,« z. B. aus Rumänien. Sie kommen illegal nach Österreich, haben hier keine Arbeit, kein Einkommen und sind zur Kriminalität gezwungen. Wegen dem strengen Asylgesetz in der Bundesrepublik ging die Anzahl der Asylanträge von 170.000 auf nur mehr 70.000 pro Jahr zurück. Im Wettbewerb will der österreichische Minister eine ähnliche Wirkung erzielen.
Die Festung Europa nimmt Gestalt an. Die Festungsmauern und elektrischen Zäune durch die Wohngebiete werden vielleicht erst in 20 Jahren notwendig sein. Oder noch früher.
3. Bild
Israel zieht einen elektrischen Zaun, verbunden mit einer Mauer, durch die Landschaft und durch die Städte, um sich vor den Palästinensern zu schützen. Öffentlich wird argumentiert, es seien Terroristen, vor denen man sich schützen will, es seien Kinder und Mütter und Frauen die hier in den Krieg hineingezogen würden, die man schützen will. So werden Milliarden investiert, um eine scheinbare Sicherheit zu schaffen.
Vermutlich wüssten alle österreichischen Staatsbürger für Israel sofort eine billigere und wirksamere Lösung.
4. Bild
In Italien werden illegale Flüchtlinge, die mit Booten und Schiffen über das Meer von Afrika oder Albanien ins wohlhabenden Europa flüchten wollen, in Schutzhaft genommen. An der österreichisch-ungarischen Grenze stehen bewaffnete Soldaten. Junge, unerfahrene Soldaten werden auf illegale Flüchtlinge losgelassen. Auf Menschen, die tausende Euro dafür gaben, um sich von professionellen Schlepperbanden auf scheinbar sicheren Pfaden in eine hoffnungsvolle, bessere Zukunft bringen zu lassen. Die illegalen Flüchtlinge werden in »Schutzhaft« genommen und wieder »abgeschoben«.
5. Bild
Vor wenigen Tagen tauchte in Traun auch ein Ausländer auf, einer der wohlhabendsten Italiener, Mitglied einer der reichsten italienischen Familien, der Familie Safilo. Er kam in Begleitung mehrer Rechtsanwälte. Er kam nicht unter Polizeischutz, wurde vor einigen Jahren herzlich willkommen geheißen, als er die damals in Konkurs befindliche Firma Anger aufkaufte. Mitsamt millionenschweren Marken wie Christan Dior, Carrera oder Porsche samt Werbe- und Sponsorverträgen und Maschinen. Facharbeiterkenntnisse, Produktions-Know-how, jahrelang angesammeltes Wissen der hier arbeitenden Menschen über die technischen Feinheiten beim Produzieren von Metallbrillen oder Sportbrillen gehörten selbstverständlich dazu, auch wenn sie im Kaufvertrag nicht extra erwähnt wurden. Alles zusammen, Lieferverträge und Lizenzen gab`s als Schnäppchen um einige hundert Millionen Schilling. Jetzt ließ der reiche Herr aus dem schönen Italien von einer Minute zur nächsten von einem seiner italienisch sprechenden Rechtsanwälte übersetzten, es werde die Firma zugesperrt, aus. Als die ArbeiterInnen am Abend die Fabrik verließen, weinten sie. Dem Herrn aus Italien passierte nichts. Die Firma schrieb jahrelang zweistellige Millionenbeträge Gewinn in ihre Bilanzen. Der Herr Großkapitalist war gönnerhaft, er schickte die ArbeitnehmerInnen nach Hause, sie sollten sich von dem Schrecken erholen, bevor sie zum Zusammenräumen und Maschinenabbauen wieder in die Fabrik kommen. Er werde alles bezahlen, sagte er. Und er wurde nicht verhaftet. Er wurde nicht in Schutzhaft genommen. Obwohl er österreichische Gesetze missachtete, obwohl er die Regeln, die in unserem Land gelten, nicht einhielt.
Diese Art »Wirtschaftsflüchtling« hat er, der Herr Innenminister, gemeint? Doch wie kindlich naiv gefragt, dieser Herr brachte doch sein Geld nicht illegal in einem schwarzen Koffer über die Grenze. Welche legalen Mittel hatten die 473 Arbeiterinnen und Arbeiter, um für ihre Zukunft zu sorgen, um das Geld, das ihnen zusteht, sicher zu bekommen? Sich an die neuen Maschinen anketten, wie der Betriebsrat androhte? Die Juristen wissen, welche Gesetze da verletzt würden.
Wo ist nun aber der Zusammenhang zwischen diesen Geschichten? Wie hängt ein Bild mit den anderen zusammen?
Trost für all jene, die ob der nicht gesehenen Zusammenhänge einen Verzweiflungsanfall oder Wutausbruch bekommen:
Man muss sich noch nicht fürchten. Es ist wahrscheinlich erst in 20 Jahren notwendig, als Wohlhabender in Österreich einen elektrischen Zaun zu errichten und eine Privatarmee zu beschäftigen, um seinen Wohlstand zu sichern. Im Moment fürchtet das niemand. Im Moment wird uns durch eine manipulierte öffentliche Darstellung glaubhaft versichert, wir seien auf der richtigen Seite der Festung Europa, wir seien auf der Seite, die berechtigt ist, den Zaun zu errichten.
Wofür sollten wir das Geld wirklich ausgeben, wenn nicht für Zäune, Asylgesetze, Festungen, Privatarmeen und Gefängnisse?
Wir könnten eines Tages zu jenen gehören, die sich ihre Privatpolizei leisten können. Darum tun wir auch nichts gegen ein Asylgesetz, weil es uns scheinbar schützt. Darum tun wir auch nichts gegen GATS und WTO-Abkommen, weil sie scheinbar unseren Wohlstand fördern. Und darum lassen wir auch einen italienischen Milliardärssprössling und Großkapitalisten unter Begleitung von schwarz gekleideten Rechtsanwälten unbehelligt aus dem Land. Er bringt sein Geld nicht im Koffer aus dem Land. Aber was hat das alles miteinander zu tun?
]]>Die Experten sagen ihnen zwar immer, und ganz langsam und deutlich: Das bringt nix! Wer soll denn das Zeugs kaufen, das produziert wird, wenn die - potentiellen - Käufer immer weniger kriegen? In der Sprache der Experten heißt das: »Einen Nachfragemangel kann man nicht durch Kürzung der kaufkräftigen Nachfrage beheben.« (Siehe zum Beispiel Seite 8 dieses Heftes: »Lohnsenkung durch die Hintertür«.)
Der alte Schmäh
Allen logischen Einwänden zum Trotz gehen die Bocksgesänge der Unternehmerseite aber munter weiter. Wenn es nicht die Wochenarbeitszeit als solche ist, dann zumindest ein bisserl weniger Urlaub oder zumindest ein paar Feiertage weniger.
Und wenn sonst nichts mehr geht, kommt wieder der alte Schmäh, dass ein Teil des Arbeitslohnes zu Nebenkosten erklärt wird, die es auf jeden Fall zu senken gilt: die alte Leier von den Lohn-nebenkosten, die uns seit Jahren in den Ohren klingt und die durch die Wiederholung auch nicht glaubwürdiger oder überzeugender wird.
Die Umverteilung geht munter voran
Was die Einkommen betrifft, haben die Arbeitnehmer ein Zehntel weniger als vor fünfzehn Jahren (die bereinigte Lohnquote hat in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich abgenommen).
Was die Steuern betrifft, sind die Arbeitnehmer mehr belastet als je. Die Nettolohnquote ist im Vergleich zur Bruttolohnquote noch stärker gefallen. Das Kapital wird ganz einfach besser behandelt als Arbeit, ein immer kleiner werdender Teil der Gesamteinkommen in Österreich kommt den unselbständig Beschäftigten zugute und ein immer größer werdender Teil den Gewinnen und Erlösen selbständiger Unternehmer und des Kapitals.
Was die Pensionen betrifft, ist man dabei, wieder ein ordentliches Stück abzuschneiden. Detto bei der Gesundheitsversorgung.
Wer bedient sich aus dem Steuertopf?
Wem gibt man, wem nimmt man?
Und wer ist daran interessiert, die Arbeitslosenrate hoch zu halten, eine Reservearmee von arbeitslosen Lohnabhängigen zu haben? Und diejenigen, die noch in Lohn und Brot stehen, mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu bedrohen?
Die Dinge sollten beim Namen genannt werden: eine Erpressung ist eine Erpressung. Und die Arbeitslosigkeit hat nichts mit etwaigen überzogenen Einkommensansprüchen der unselbständig Beschäftigten zu tun. Die industrielle -Reservearmee gehört zum System. Vollbeschäftigung hätte für die Unternehmer negative Konsequenzen: Ihre Verhandlungsposition gegenüber den Gewerkschaften wäre geschwächt, und die Entlassung als Disziplinarmaßnahme würde auch ihre abschreckende Wirkung verlieren. Mit einem Wort, die arbeitenden Menschen würden sich weniger gefallen oder bieten lassen.
Appelle an das Gerechtigkeitsgefühl oder etwaige ethische Prinzipien greifen zu kurz. Was zählt, ist was anderes, »weil jeder so viel Recht hat, als er Macht hat«.
F A Z I T
Es ist nicht so, dass wir jetzt sagen müssten:
»Wir stehen selbst enttäuscht und sehnbetroffen
den Vorhang zu und alle Fragen offen ...«
denn dieses oft strapazierte Zitat geht weiter:
»... Der einzige Ausweg aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach ...
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!«
Richard Leutner: Der ÖGB hat ein Pensionskonzept, die Österreich-Pension, vorgelegt. Ich glaube, das ist ein sehr konsequentes und allgemein anerkanntes Konzept, das wir in den Verhandlungen dargestellt haben. In den Verhandlungen hat sich leider herausgestellt, dass die Bundesregierung in wesentlichen Teilen sozial hinter dem ÖGB-Konzept zurückgeblieben ist. Das ist auch das Problem gewesen, das zum Ausstieg des ÖGB geführt hat.
Für uns war vor allem entscheidend, dass es weiterhin Möglichkeiten des vorzeitigen Pensionsantrittes vor 65 und 60 Jahren gibt. Allerdings sind in dem jetzt zu erwartenden Harmonisierungsentwurf voraussichtlich hohe Abschläge vorgesehen, wo für die Menschen bei der Sicherung des Lebensstandards Probleme entstehen werden ...
Arbeit&Wirtschaft: Ist das jetzt, wo die Blauen sagen, sie wollen eine andere Lösung, die Schwerarbeiter …
Richard Leutner: Nein, das ist die normale Anfallsaltersregelung, wo ein Pensionskorridor zwischen 62 und 68 geplant worden ist. Aber da sind die Abschläge für die Menschen bis zu 20 Prozent sehr schnell da. Das ist inakzeptabel für uns gewesen. Der zweite Punkt war, dass vor allem auch Frauen nicht in den Genuss des Pensionskorridors kommen werden. Sie können nicht analog zu den Männern bereits dann mit 57 in Pension gehen, sondern für sie gibt es keinen Korridor. In Wirklichkeit heißt dass, das alle vorzeitigen Pensionsantritte für Frauen abgeschafft werden und für Männer jetzt wieder Möglichkeiten zur vorzeitigen Pensionierung eingeführt werden. Das widerspricht aber der Gleichbehandlung.
Arbeit&Wirtschaft: Aber auch ohne Verlustdeckel, wie wir auch im nebenstehenden Beitrag …
Richard Leutner: Auch ohne Verlustdeckel, das heißt, das war ein weiterer Punkt, dass es zu erwarten ist, dass die Verluste aus der so genannten Pensionssicherungsreform 2003 weiter zu Buche stehen werden. Und nicht ausreichend gemindert wurden. Das war als der dritte Punkt letztendlich der Grund des Scheiterns der Verhandlungen.
Arbeit&Wirtschaft: Also es kommt dabei raus, dass die Leute mit bis zu 20 Prozent Verlusten rechnen müssen.
Richard Leutner: Wenn sie vorzeitig in Pension gehen, ja.
Arbeit&Wirtschaft: Und die Sozialpartner dies überhaupt nicht mittragen wollten.
Richard Leutner: Das wollte der ÖGB nicht mittragen, wie man versteht. Das hat dazu geführt, dass man eigentlich aus unserer Sicht sagen muß, die Harmonisierung ist nicht wirklich erreicht.
Arbeit&Wirtschaft: Für Sozialpartner kann man ÖGB und AK einsetzen?
Richard Leutner: Ja das kann man so sagen.
Arbeit&Wirtschaft: Und wie wird das weitergehen? Was kann man zu diesen Turnübungen der Blauen sagen? Das nimmt irgendwie eh keiner mehr ernst.
Richard Leutner: Für uns wird jetzt sehr entscheidend sein, uns in die politischen Prozesse einzuklinken. Weil die Letztentscheidung und Verantwortung über die Pension muss ja im Parlament getroffen werden. Ich glaube, dass es für uns wichtig ist, noch einmal die Schwerarbeiterregelung besonders zu thematisieren.
Das war auch ein Scheiterungsgrund, weil wir natürlich in unserem Modell, im ÖGB-Modell, gesagt haben, Schwerarbeiter sollen mit 60 beziehungsweise 55 in Pension gehen können, aber ohne Abschläge.
Aber in dem zu erwartenden Entwurf aus unserem jetzigen Wissenstand wird es sicherlich auch für Schwerarbeiter Abschläge geben. Wie hoch die sind, steht allerdings noch nicht fest.
Arbeit&Wirtschaft: Wie stehen also die Chancen für die Arbeitnehmer? Müssen wir warten, bis eine neue Regierung kommt?
Richard Leutner: Ich persönlich glaube, dass das ÖGB-Pensionskonzept ders Österreich-Pension wirklich ein Plan für eine überlegene Vorsorgemethode in der Zukunft ist.
Und wir werden nichts unversucht lassen, dieses Konzept zu verwirklichen und damit eine Zukunft der Alterssicherung zu gewährleisten.
Kollege Leutner, wir danken für das Gespräch.
]]>Die geplanten zusätzlichen Abschläge bei der vorzeitigen Alterspension und auch bei Schwerarbeitspensionen sowie die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern im Pensionskorridor waren laut Richard Leutner, leitender Sekretär des ÖGB, die wesentlichen Gründe, warum es zu keinem sozialpartnerschaftlichen Konsens über die Pensionsreform gekommen ist.
Die folgenden Ausführungen basieren auf der von der Bundesregierung vorgelegten Punktation, auf deren Grundlage bis Ende August ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet werden soll.
Frauen und Arbeiter wurden von Regierungsseite immer wieder als Gewinner der Reform bezeichnet. Tatsächlich gewinnen diese Gruppen - wenn überhaupt - aber nur unter sehr realitätsfernen Bedingungen.
Frauen mit Kindern
Frauen mit Kindern sind durch die - auf Druck des ÖGB zugestandene - bessere Bewertung der Kindererziehungszeiten nicht automatisch Gewinnerinnen der Pensionsreform und sind schon gar nicht besser gestellt als im bisherigen Recht. Die Kindererziehung führt ja nicht nur für die Zeit der Berufsunterbrechung zu einem Einkommensverlust.
Ersatzzeiten für Kindererziehung sollen zwar künftig mit dem Medianeinkommen der Frauen in der Höhe von 1350 Euro bewertet werden, doch reicht diese Maßnahme entgegen der Propaganda der Regierung bei sehr vielen Frauen nicht aus, die Verluste durch die Pensionsreform szu kompensieren. Fast 60 Prozent der Frauen arbeiten nach ihrer Rückkehr ins Berufsleben nicht mehr Vollzeit, sondern Teilzeit. Längere Phasen mit Teilzeitarbeit fielen beim früheren Durchrechnungszeitraum von 15 Jahren nicht so sehr ins Gewicht, bei lebenslanger Durchrechnung kommt es zu massiven Verlusten, wenn entsprechende Ausgleichsmaßnahmen unterbleiben. Im ÖGB-Modell ist deshalb auch eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten für sieben Jahre pro Kind vorgesehen. Die ersten beiden Jahre werden mit dem Medianeinkommen der Männer und Frauen (rund 1700 EUR) bewertet, das dritte und vierte Jahr mit 66% und das fünfte bis zum siebenten Jahr mit 33% davon.
Außerdem gilt diese höhere Bewertung nur für die nach dem Neurecht berechnete Pension. Frauen, die jetzt oder in den nächsten Jahren in Pension gehen, haben daher gar nichts von dieser Maßnahme. Aber auch jene Frauen, deren Pension bereits zu einem Gutteil nach dem neuen Recht errechnet wird, werden zumeist deutliche Verluste hinnehmen müssen.
Die Arbeiterin Hilde K.
Zwei realistische Beispiele, je ein Fallbeispiel für eine Arbeiterin und eine gleich alte Angestellte sollen belegen, dass die in der Regierungspunktation vorgesehenen Änderungen trotz der besseren Anrechung der Ersatzzeiten für Kindererziehung nicht zu einer besseren Pension führt. Hier hätte es weiterer Ausgleichsmaßnahmen bedurft, um Verluste zu vermeiden.
Die Arbeiterin Hilde K. ist 1971 geboren. Sie arbeitet seit ihrem 15. Lebensjahr, bekommt mit 23 Jahren ein Kind und unterbricht ihren Beruf für drei Jahre. Derzeit arbeitet sie Teilzeit und plant in fünf Jahren wieder voll zu arbeiten (für die Zukunft wurde ein für Arbeiterinnen durchaus typischer Einkommensverlauf angenommen). Wenn sie im Jahr 2033, nach 47 Versicherungsjahren mit 62 Jahren in Pension gehen möchte, hätte sie nach der bis 31. 12. 2003 gültigen Rechtslage auf Basis der heutigen Einkommensverhältnisse 848 Euro Pension bekommen. Da Frau K. unter 55 Jahre alt ist, wird ihre Pension nach der so genannten Parallelrechnung berechnet werden. Die bisher erworbenen Zeiten werden nach dem alten System berechnet, die zukünftigen Zeiten nach dem neuen System. Nach dieser Berechnung werden ihr nur mehr 722 Euro Pension bleiben, was ein Minus von rund 15 Prozent ergibt. Diese Verluste ergeben sich aus der 12-jährigen Teilzeitphase und der Tatsache, dass sie mit 62 Jahren in Pension gehen will, was aufgrund der nunmehr vorgesehenen zusätzlichen Abschläge hohe Verluste bedeutet.
Die Angestellte Barbara S.
Die gleich alte Angestellte Barbara S. hat mit 19 Jahren begonnen zu arbeiten. Sie hat zwei Kinder, ihren Beruf deswegen vier Jahre unterbrochen und arbeitet jetzt Teilzeit. Mit etwa 40 Jahren will sie wieder voll arbeiten. Auch sie möchte im Jahr 2033 mit 43 Versicherungsjahren in Pension gehen (Auch hier wurde für die Zukunft ein für Angestellte plausibler Einkommensverlauf angenommen). Sie wird noch mehr verlieren als die Arbeiterin Hilde K. Nach der alten Rechtslage hätte Frau S., wieder auf Basis der heutigen Einkommensverhältnisse, 1349 Euro Pension bekommen, sie wird im Jahr 2033 nur mehr auf 1105 Euro Pension oder auf einen Verlust von 18 Prozent kommen. Bei ihr wirkt sich das geringe Einkommen während der Teilzeitphase und der damit verbundene Karrierenachteil noch stärker aus, da ihre Einkommenskurve nicht so flach ist wie die von Frau K. und sich der längere Durchrechnungszeitraum daher negativer auswirkt.
Die Beispiele zeigen, dass die höhere Bewertung der Kindererziehungszeiten keineswegs dazu führt, dass Frauen zu den Gewinnern dieser Reform zählen. Im Gegenteil sind diese in der Regel zu gering, um die Durchrechnungsverluste auch nur annähernd auszugleichen.
Auch beim Pensionsantrittsalter werden Frauen benachteiligt. Das Regelpensionsalter von Frauen beträgt 60 Jahre und steigt erst von 2024 in Halbjahresschritten bis 2033 auf 65 Jahre an. Bis zum Jahr 2023 ist das so genannte Regelpensionsalter also für Frauen 60 und für Männer 65 Jahre. Die Regierung plant nun zur Schaffung von »Wahlmöglichkeiten« für Männer und Frauen einen Pensionskorridor ab 62 zu eröffnen. Das bedeutet im Ergebnis, dass für Männer nun doch wieder eine Art vorzeitige Alterspension eingeführt wird (allerdings mit zusätzlichen Abschlägen), für Frauen aber die Abschaffung aller vorzeitigen Alterspensionen beibehalten wird.
Arbeiter
Auch die Arbeiter, die angeblich durch die Pensionsreform gewinnen, verlieren durch die von der Regierung vorgesehene Form der Parallelrechnung, also dem Mischsystem von deutlich abgewerteten bisher erworbenen Zeiten und zukünftigen Zeiten im neuen System besonders viel. Eigentlich müssten Arbeiter durch die typisch flachen Erwerbskarrieren von der Reform profitieren, weil im neuen Recht - dem ÖGB-Modell folgend - zurückliegende Zeiten fair aufgewertet werden sollen. (Noch in der Pensionsreform 2003 wollte die Regierung von einer fairen Aufwertung nichts wissen!) Für sie wirken sich aber die von der Regierung geplante Bewertung von Arbeitslosenzeiten mit 70 Prozent der Bemessungsgrundlage und die in der Punktation vorgesehenen Zusatzabschläge bei vorzeitigem Pensionsantritt besonders negativ aus.
Der Bauarbeiter Kurt W.
Wieder ein konkretes Beispiel dazu: Die Verluste des 1941 geborenen Bauarbeiters Kurt W., der am 1. Juni 2004 nach 47 Versicherungsjahren mit 62 Jahren in Pension gegangen ist, werden durch die letztlich von der Regierung zugestandene Absenkung des Verlustdeckels auf anfangs fünf Prozent abgefedert. Die Deckelung soll nun für das Jahr 2004 fünf Prozent betragen und dann jedes Jahr um ein Viertelprozent ansteigen, bis 2024 wieder der ursprünglich geplante Zehn-Prozent-Deckel erreicht ist. Zu beachten ist aber, dass im Gegensatz zum ursprünglichen Zehn-Prozent-Verlustdeckel Abschlagsverluste hiervon nicht mehr oder nur mehr teilweise erfasst sein sollen. Diese führen daher zu zusätzlichen Kürzungen, so dass die Verluste in wenigen Jahren in Summe weit über zehn Prozent liegen werden.
Kein Verlustdeckel
Dieser Verlustdeckel bezieht sich außerdem nur auf die durch die Pensionsreform bewirkten Verluste bei der Altrechtspension, die Verluste bei der Pension nach dem Neurecht sind hingegen nicht gedeckelt.
Herr W. hat mit 15 Jahren begonnen zu arbeiten, hat das Bundesheer abgeleistet und war vom 19. bis zum 45. Lebensjahr jedes Jahr saisonbedingt drei Monate arbeitslos und erst ab 1986 bis zu seinem Pensionsantritt durchgehend beschäftigt.
Im alten Recht hätte er 1429 Euro Pension erhalten, jetzt erhält er wegen der Beharrlichkeit der Verhandler von ÖGB und AK 1358 Euro, immerhin mehr als die ursprünglich geplanten 1286 Euro, die er bei einer Deckelung von zehn Prozent erhalten hätte.
Wenn er elf Jahre jünger wäre und erst im Jahr 2015 in Pension gehen würde, würde er auf Basis der heutigen Einkommensverhältnisse nur 1183 Euro Pension erhalten, was einen Verlust von 17,2 Prozent ausmacht. Dieser hohe Verlust entsteht durch die Zusatzabschläge von 4,2 Prozent pro Jahr vorzeitigem Pensionsantritt die zu der Deckelung von 7,75 Prozent im Jahr 2015 noch dazu kommen.
Grobe Schönheitsfehler
Doch auch abgesehen von diesen »Gewinnern« der Pensionsreform hat diese mehr als grobe Schönheitsfehler.
Besonderer Zankapfel ist derzeit die Regelung für Schwerarbeiter, die 2006 kommen soll. Es muss aber noch definiert werden, was Schwerarbeit überhaupt ist, das heißt es müssen Tätigkeitsmerkmale für diese Art von Arbeit gefunden werden. Dass die Regierung trotzdem jetzt schon weiß, dass nur fünf Prozent aller Arbeitnehmer unter diese Regelung fallen werden, zeugt von prophetischer Gabe bzw. vom Bestreben, möglichst viele Arbeitnehmer davon auszuschließen.
Sehr umstritten sind die Abschläge, die nach Meinung der Regierung auch bei Schwerarbeitspensionen anfallen sollen. Bei zumindest 20 Jahren Schwerarbeit soll es möglich sein, fünf Jahre früher in Pension zu gehen. Männer können dann frühestens im Alter von 60 Jahren mit 45 Versicherungsjahren, Frauen mit 55 Jahren und 40 Versicherungsjahren in Frühpension gehen.
Allerdings soll es dann ebenfalls zusätzlich zu den mit fünf bis zehn Prozent gedeckelten Verlusten Abschläge von bis zu 15 Prozent geben (drei Prozent pro Jahr). Gegen diese Pläne gibt es sogar innerhalb der Regierung Widerstände. Vertreter der FPÖ sowie einige Arbeitnehmervertreter der ÖVP haben angekündigt, dass sie diesen Plänen nicht zustimmen werden. Ähnliche Ankündigungen sind allerdings bereits bei der Pensionsreform 2003 weitgehend ohne Konsequenzen geblieben.
Akademiker
Ganz sicher keine Gewinner sind auch Akademiker. Für sie ist es durch den späten Arbeitsbeginn im jetzigen System nicht möglich, bei einem Antrittsalter von 65 Jahren auf 45 Versicherungsjahre zu kommen. Außerdem schadet ihnen der lange Durchrechnungszeitraum, da ihre Gehälter üblicherweise im Laufe der Zeit stark ansteigen.
Überprüft man dann noch die allgemeinen Aussagen der Regierung wie gleiche Leistungen für gleiche Beträge in allen Systemen, muss man erkennen, dass sich diese nur in den Werbeaussendungen der Regierung finden. Es gibt zwar auf dem Papier einen einheitlichen Beitragssatz für Angestellte, Bauern und Selbständige von 22,8 Prozent, doch Bauern erbringen nur 15 Prozent (statt bisher 14,5 Prozent) und Unternehmer 17,5 Prozent (statt bisher 15 Prozent) Eigenleistung, die Differenz bezahlt der Bund. Diese höheren Prozentsätze werden überdies bei den Bauern erst 2008 und bei den Selbständigen erst 2016 erreicht. Von gleichen Beiträgen für gleiche Leistungen ab 1. 1. 2005, wie von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel behauptet, kann keine Rede sein. Vielmehr zahlen unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Beiträge und erhalten durch staatliche Zuschüsse die gleiche Leistung, was einen eindeutigen Rückschritt bedeutet.
Landes- und Gemeindebedienstete
Auch die immer wieder wiederholte Aussage des harmonisierten, also gleichen, Pensionssystems für alle Berufsgruppen stellt sich als falsch heraus. Landes- und Gemeindebedienstete sind von der Reform nicht betroffen. Auch freie Berufe wie Notare und Rechtsanwälte werden nach dem derzeitigen Informationsstand von der Reform nicht betroffen sein.
Selbst die Bundesbeamten waren zum Zeitpunkt der Vorlage der Regierungspunktation zur »Harmonisierung« noch nicht mit an Bord. Laut Bundeskanzler stehen die Verhandlungen mit den Beamten erst bevor. Die Verhandlungen mit ihnen beginnen erst Ende August. Das hindert ihn allerdings nicht daran zu verlautbaren, dass er keine Änderungen zu den »Reformvorschlägen« zum ASVG mehr akzeptieren werde. Als Ausgleich zu den zukünftig geringeren Pensionen fordern die Beamten ein neues Besoldungsrecht mit höheren Anfangsgehältern und einem insgesamt höheren Aktiveinkommen.
F A Z I T
Zusammenfassend kann man sagen: Das Regierungskonzept zur Pensionsharmonisierung beinhaltet weder ein einheitliches Pensionssystem für alle noch gleiche Beiträge für alle (es gibt Zuschüsse für Bauern und Selbständige). Wer den Pensionskorridor oder die angekündigte Schwerarbeitsregelung nützen kann und will, muss mit massiven zusätzlichen Abschlägen rechnen. Für Frauen ist überhaupt kein »Korridor« vorgesehen. Die Regierung beharrte auf diesen Punkten und hat damit eine Einigung auf eine zukunftsweisende, faire Pensionsreform unmöglich gemacht.
Im europäischen Kontext der Maastricht-Kriterien und des Wirtschafts- und Stabilitätspakts wurde das Ziel der österreichischen Regierung, ein Nulldefizit anzustreben, in Brüssel begrüßt, es lagen somit ideologisch höchst willkommene Argumente vor, um Kürzungspolitik und Gürtel-enger-Schnallen als »europäisch« darstellen zu können.
Umverteilung
Denn in Wirklichkeit ist es nicht vorrangig ums Sparen gegangen, sondern immer wieder ganz klar um Umverteilungspolitik hin zur Regierungsklientel: Wurden auf der einen Seite Sozialleistungen gekürzt, wurden auf der anderen Seite Leistungen (Familien, Selbständige) ausgedehnt.
Die Regierungsübernahme erfolgte in einer Zeit günstiger Beschäftigung- und Wirtschaftslage. Dem Wirtschaftsabschwung ab 2001 konnte und wollte die Regierung nicht steuernd entgegentreten. Die Folge Rekordarbeitslosigkeit wurde nicht nur hingenommen, sondern durch die selbst zu verantwortende Erhöhung des Arbeitskräftepotentials verschärft.
Unter dem Motto »Speed kills« setzte die neue Bundesregierung sehr schnell nach Amtsantritt mehrere einschneidende Maßnahmen.
Erster Akt: 2000-2002
Vorrang für Wirtschaftsinteressen 1) Stopp den Rechten von Arbeitnehmern
Schon die Neuordnung der Ministerien - die Zusammenlegung der Ressorts von Arbeit und Wirtschaft, bisher mit Absicht nicht gemeinsam verwaltet - und die Entkoppelung des Sozialressorts von Arbeitsweltbelangen, ließen erkennen, welch ideologischer Hintergrund hinter diesem Ansinnen stand. So erklärte sich Minister Bartenstein selbst zum Standortminister: Standorterhalt und nicht Arbeitnehmerinteressen sind wichtig. Auf eine eigene Frauenministerin wurde verzichtet. Die nebenzuständige Frauenministerin Maria Rauch-Kallat2) brachte außer Lob jeglicher Regierungsaktivitäten keine einzige Initiative zu gleichstellungsrelevanten Themen zustande.
Im ersten Gesetzeswerk der neuen Regierung wurde ihr Politikstil unmittelbar spürbar. Obwohl es sich um Kernmaterien des Arbeitsrechts handelte, wurden ÖGB und AK nicht zu Sozialpartnergesprächen eingeladen.
Das ARÄG (Arbeitsrechts-Änderungsgesetz) wurde als Umsetzung der langjährigen Forderung des ÖGB nach arbeitsrechtlicher Gleichbehandlung von ArbeiterInnen und Angestellten dargestellt. Tatsächlich wurden bloß die Entgeltfortzahlungsfristen angeglichen3). Seither kein Wort mehr über weitere Anpassungen.
Die kleine Rechtsangleichung aber wurde der Wirtschaft versüßt: Klare Verschlechterungen brachten die Einführung der Urlaubsaliquotierung, die Abschaffung des Postensuchtages bei Selbstkündigung, die Auflösung des Entgeltfortzahlungsfonds, die Beseitigung des Hausbesorgergesetzes. Schwerwiegende Folgen zeigen sich etwa nach der Abschaffung des Entgeltfortzahlungsfonds: Kranke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in KMUs werden vermehrt gekündigt. Ohne Rückerstattung müssen Einzelunternehmen die Krankenstandskosten tragen, was sich viele nicht leisten können oder wollen.
Keine soziale Realität
Die Etablierung eines Rechts, todkranke Angehörige über eine Karenzierung vom Arbeitsverhältnis begleiten (in Kraft seit 1. 7. 2002) zu können (Familienhospizkarenz), ist ein richtiger und menschlicher Ansatz. Aber er kennt bezeichnenderweise keine soziale Realität: Menschen mit geringem Einkommen können sich die unbezahlte Karenz nicht leisten.
EU-Vorgaben entsprechend wurde das Frauennachtarbeitsverbot aufgehoben und eine geschlechtsneutrale Nachtarbeitsregelung wurde Gesetz. Auch hier das gleiche Bild: die Forderungen nach Begleitmaßnahmen zur gesundheitsschädlichen Nachtarbeit wurden nicht erfüllt. Ausschließlich den Wirtschaftsinteressen wurde nachgekommen.
Die Pensionsreform des Jahres 2000 mutet aus heutiger Sicht wie ein Testballon4) für die nachfolgende Pensionsreform 2003 an. Ihr Inhalt: die Anhebung des Pensionszutrittsalters um eineinhalb Jahre, Abschlagserhöhung bei Pensionsantritt vor 60/65, Witwen/Witwerpensionskürzung, sofortige Abschaffung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Erwerbsfähigkeit.
Beweggrund für die überfallsartige Pensionsreform 2000 war die Kürzung der Budgetzuschüsse zu den Pensionen, um das Hauptziel der Regierung - das Nulldefizit - leichter erreichen zu können. Dass es der Regierung nicht darum gegangen ist, auf sozial verträgliche Weise einen längeren Verbleib im Erwerbsleben anzustoßen, ist daran ersichtlich, dass die wenigen beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Begleitmaßnahmen5) der Situation unangemessen waren. Besonders deutlich wird dies an den Folgen der Abschaffung der vorzeitigen Alters-pension wegen geminderter Erwerbsfähigkeit. Auf diese Pensionsart waren fast ausschließlich schlecht qualifizierte Hilfsarbeiter mit Gesundheitsproblemen angewiesen. Viele dieser ohnehin schwer belasteten Gruppe warten nun 4,5 Jahre länger auf die Pension.
Provokationen
Die Langzeitbetrachtung der Folgen der Pensionsreform 2000 belegt: die Stabilisierung der Beschäftigung konnte nur unter enormen Mitteleinsatz der Arbeitslosenversicherung (Altersteilzeit!) erreicht werden. Die Arbeitslosigkeit Älterer ist deutlich angestiegen. Die Pensionsreform 2000 ist zu einem Gutteil für das rasante Ansteigen der Jugendarbeitslosigkeit verantwortlich.
Als provokativ wird von vielen ASVG-Versicherten die Ausdehnung der Vorruhestandsregelungen für Beamte ab 55 empfunden. Hinter diesen Golden-Handshake-Regelungen steckt wiederum das Budgetkonsolidierungsziel. Zur Erreichung der Zielgrößen beim Personalabbau im öffentlichen Dienst bedarf es großangelegter Frühpensionierungen, die immer noch billiger scheinen als die Weiterbeschäftigung der Betroffenen.
Die Einlösung von Wahlversprechen, endlich »treffsichere Sozialpolitik zu realisieren und gegen vermeintlichen Missbrauch von Sozialleistungen aufzutreten, sollte im Rahmen des »Treffsicherheitspakets« der Bundesregierung gelingen.
Dabei ist die ideologische Zielsetzung besonders beachtenswert: Unfinanzierbarkeit, Treffsicherheit und Missbrauch werden in eine Zusammenhangskette gestellt: Würden nur diejenigen Leistungen erhalten, »die sie wirklich brauchen«, wären die Finanzierungsprobleme verschwunden - so die jahrzehntelang getrommelte Sozialstaatssicht.
Sozialstaat am Scheideweg
Dabei steht der Sozialstaat tatsächlich am Scheideweg. Soll die Absicherung individueller Risiken solidarisch getragen werden? Ist es die Aufgabe des Sozialstaats, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit herzustellen? Wenn ja, dann braucht es einen starken Sozialstaat, der umverteilt, der alle solidarisch in Rechte und Pflichten einbezieht. Oder sollen nur die Ärmsten vom Staat unterstützt werden? Sollen und können Menschen eigenverantwortlich für ihre soziale Sicherheit sorgen? Wenn ja, dann ist die Aufgabe des Staates, Anti-Armutspolitik zu machen und für ein Mindestmaß an gleichen Startchancen zu sorgen, sich darüber hinaus aber nicht in die sozialen Belange der Gesellschaft einzumischen.
Die Treffsicherheits-Gruppe der Regierung kam zum Schluss, dass neben Über- auch Unterversorgung vorliegt. Die Regierung reagierte darauf mit Kürzungen in deutlich höherem Ausmaß als angekündigt6). Die Besteuerung der Unfallrenten, die Einschränkung der beitragsfreien Mitversicherung in der Krankenversicherung, die Kürzung der Familienzuschläge bei Arbeitslosigkeit, Verschlechterungen beim Bezug von Arbeitslosenleistungen sowie die Einführung von Studiengebühren sind die zentralen Elemente des Treffsicherheitspakets.
Treffsicher
Die Folgen dieser Maßnahmen wurden heftig kritisiert. Besonders Arbeitslose mit Familie mussten bei ohnehin geringem Arbeitslosengeld empfindliche Schmälerungen der Existenzsicherung hinnehmen.
Ein bezeichnendes Schicksal hat die Besteuerung der Unfallrenten erlitten. Aufgrund massiver Proteste von UnfallrentnerInnen war bald klar, dass von Überversorgung wohl keine Rede sein kann. So sah sich die Regierung gezwungen, für Härtefälle eine Härteklausel vorzusehen, die eine Rückerstattung bereits einbehaltener Steuer vorsah. Neu zuerkannte Unfallrenten sollten aber wieder voll besteuert werden. Dann hat der Verfassungsgerichtshof die Unfallrentenbesteuerung für 2001 und 2002 als verfassungswidrig aufgehoben: es ist keine Besteuerung vorzunehmen. 2003 wiederum lebte die Unfallrentenbesteuerung für ein Jahr wieder voll auf, um schließlich 2004 nicht mehr zur Anwendung zu kommen.
Die Einführung des Kinderbetreuungsgeldes 2002 bezeichnet die Regierung selbst gerne als familienpolitischen Meilenstein. Das Karenzgeld, das bisher nur erwerbstätigen Eltern zustand, wurde durch ein Erziehungsgeld für alle Familien mit Kleinkindern ersetzt. Arbeitnehmerinnen erhalten kaum mehr Geld als bisher. Hausfrauen, Studierende und Selbständige7) erhalten neu eine Geldleistung. Dass die Regierung mit der Neuregelung nicht eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie für erwerbstätige Eltern beabsichtigte, ist daran ersichtlich, dass die Dauer des Bezuges von Kinderbetreuungsgeld ungleich der Länge der Karenzzeit vom Arbeitsverhältnis ist. Zwar dürfen alle während des Kindergeldbezuges nun dazuverdienen, was aber in der Regel mit dem Verlust des Kündigungsschutzes verbunden ist.
Kindergärten?
Das Kinderbetreuungsgeld ist sehr teuer und manövrierte den Financier FLAF schon 2003 in die roten Zahlen. Keine Finanzmittel gibt es daher für den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen oder die Ausweitung der Wiedereinstiegshilfen. Nach zweijähriger Erfahrung mit dem Kinderbetreuungsgeld wissen wir: zwar nimmt der überwiegende Teil der Mütter Kinderbetreuungsgeld in voller Länge in Anspruch - auch weil geeignete Kinderbetreuungseinrichtungen fehlen -, die Rückkehr in die Arbeitswelt ist aber deutlich schwerer geworden. Die Arbeitslosigkeit von Wiedereinstiegerinnen ist deutlich gestiegen8).
Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung ließ derartige Bemühungen schmerzlich vermissen. Angetreten in einer günstigen Arbeitsmarktsituation hat die Regierung ein aktives Gegensteuern gegen die sich verschlechternde Beschäftigungslage unterlassen und aus eigener Kraft zur Verschärfung beigetragen. Auf der einen Seite wurden dem AMS stetig Mittel fürs Budget entzogen, auf der anderen Seite wurde durch die Pensionsreform 2000 und die Ausweitung der Saisonierkontingente das Arbeitskräftepotential deutlich ausgeweitet. Die Folge war eine seither stetig steigende Arbeitslosigkeit auf ein bisher unbekanntes Rekordniveau.
Größte Lehrstellenkrise
Besonders negative Auswirkungen zeitigte diese Politik auf die Arbeitsmarktlage Jugendlicher. Auf die sich verschlechternde Lehrstellensituation wurde nur zögerlich mit der Aufstockung der Plätze im Auffangnetz für lehrstellensuchende Jugendliche reagiert: Jahr für Jahr war die Zahl der Plätze unterdimensioniert. Mit Hilfe der neuen Lehrausbildungsprämie für Unternehmen, einer leichteren Auflösbarkeit von Lehrverträgen und einer Lohnnebenkostensenkung für Lehrlinge wurden 2002 neue Versuche zur Verbesserung der Lehrstellensituation gestartet. Erfolge dieser wirtschaftsfreundlichen Regelungen sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil: im Jahr 2004 befinden wir uns in der größten Lehrstellenkrise seit Jahrzehnten.
Mit der Einladung an ÖGB und AK, an Sozialpartnergesprächen zur Neuregelung der Abfertigung sowie des Arbeitnehmerschutzes teilzunehmen, wurde die aktive Mitwirkung nach zweijähriger Blockade wieder angefragt. Die »heiße Kartoffel« Abfertigung wurde überhaupt zur Erarbeitung an die Sozialpartner delegiert, die Sozialpartnereinigung schließlich von der Regierung großteils übernommen.
Dass vom Ziel, den Einfluss der Gewerkschaften zurückzudrängen, nicht abgegangen wurde, wurde evident, als die Regierung die Zusammensetzung der Führungsgremien im Hauptverband der Sozialversicherungsträger gesetzlich änderte (»Lex Sallmutter«).
Österreichs Gewerkschaften haben eine lange Tradition maßgeblicher Mitwirkung bei der Verwaltung der Sozialversicherung.
Weil eine regierungsparteienkonforme Einflussnahme mit Hilfe der bislang bestehenden Beschickungsregelungen nicht zu erreichen war, hat die Regierung 2001 den Hauptverband im Sinne eines Aufsichtsratsmodells mit klarer Entmachtung der ArbeitnehmerInnenvertretungen restrukturiert9).
Gesundheitspolitk
Kritik an der Gesundheitspolitik der Bundesregierung entzündete sich vor allem an der Einführung neuer Selbstbehalte (z. B. Ambulanzgebühr 2001).
Die Ambulanzgebühr erlebte ein der Unfallrentenbesteuerung nicht unähnliches Schicksal. Nach mehrmaliger Abänderung wegen dauernder Kritik wurde die Ambulanzgebühr vom VfGH aufgehoben.
Dass für Selbständige die Mindestbeitragsgrundlage zur Krankenversicherung ab 2003 deutlich herabgesetzt und ihre Versehrtenrente deutlich angehoben wurde, muss erneut in die Rubrik Klientelpolitik eingeordnet werden. Der Arbeitgeberbeitrag zur KV der Arbeiter wurde mit 2003 abgesenkt.
Dazu wurden Zuschüsse zur Entgeltfortzahlung nach Unfällen in KMUs beschlossen. Diese Regelung kann als indirekter Reparaturversuch nach der Abschaffung des EFZG-Fonds verstanden werden.
Die Verbesserungen für Selbständige und Unternehmen bei den Krankenversicherungsbeiträgen sind unausgewogen und angesichts der angespannten Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung wirklich unverständlich.
Zweiter Akt: 2003-2004
Am Kurs festhalten - Ständige Reparatur von Härten durch Almosengabe
Angesichts einer sich dramatisch verschlechternden Wirtschaftslage nahm die Regierung Schüssel II im Regierungsprogramm Abstand vom Nulldefizit. Jedoch sollte die Abgabenquote bis 2006 gesenkt und das Budgetdefizit auf konstantem Niveau gehalten werden. Dies bedeutet im Wesentlichen die Fortsetzung des eingeschlagenen Kurses, weiterhin geprägt von einer markanten Ungleichverteilung von Lasten und Begünstigungen.
Zum zentralen Thema der Jahre 2003/2004 hat sich zweifellos die Pension entwickelt. Um die Pensionsreform 2003 ist eine der wichtigsten politischen Auseinandersetzungen in der 2. Republik entstanden.
Die wesentlichen Inhalte der Reform sind den meisten Interessierten noch in bester Erinnerung: Abschaffung aller vorzeitigen Alterspensionen, umfangreiche Kürzung der Pensionshöhe, usw.
Wären die Regierungspläne nach dem Begutachtungsentwurf umgesetzt worden, hätte dies Pensionskürzungen für Junge bis zu 50 Prozent im Vergleich zu heute bedeutet. Eine lebensstandardsichernde Alterssicherung aus der öffentlichen Pensionsversicherung wäre damit abgeschafft gewesen.
Streik
Nachdem die Kritik von ÖGB und AK an den Regierungsabsichten ohne Reaktion blieb, war es unumgänglich, das Nein der ArbeitnehmerInnen drastisch zum Ausdruck zu bringen. Der massive Widerstand über Großdemonstration und Streik erreichte schließlich eine deutliche Abmilderung der Härten der Reform. Ein Verlustdeckel von 10 Prozent soll die Pensionseinbußen begrenzen, ein Härtefonds allzu große Härten (zumindest im ersten Jahr) abfedern.
ÖGB und AK lehnen trotz dieses erreichten Erfolge die Pensionsreform als unzumutbare Verschlechterung ab. Der politische Druck führte später zu Verhandlungen über die Harmonisierung der Pensionen, bei der ÖGB und AK im Unterschied zu vorangegangenen Regierungsprojekten eine entscheidende Rolle spielten. Die Verhandlungen sind auf gutem Weg letztlich doch an überzogenen Forderungen der Regierung (übergebührliche Abschlagserhöhung bei Pensionsantritt vor 65, kein Pensionskorridor für Frauen etc.) gescheitert.
Arbeitsmarktpolitische Begleitmaßnahmen zur Pensionsreform wurden anlässlich der Verschärfung der Situation nicht breit ausgeweitet, sondern im Gegenteil deutlich eingeschränkt. Altersteilzeit wird faktisch abgeschafft. Der schwache Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurde weiter beschnitten. Über die Senkung der Lohnnebenkosten für Ältere wird eine Umverteilungsaktion zugunsten von Arbeitgebern eingeleitet, wobei nennenswerte Beschäftigungseffekte nicht zu erwarten sind.
Große Empörung entstand im Jänner 2004, als erstmals für hunderttausende Pensionistinnen und Pensionisten echte Nettopensionsverluste spürbar wurden. Der Vergleich der ÖVP-Abgeordneten Silvia Fuhrmann, dass es sich ohnehin nur um den Wert von zwei Wurstsemmeln drehen würde, war Öl ins Feuer des öffentlichen Protests. Die Regierung musste unter Druck schließlich nachbessern: alle Pensionen unter 780 monatlich erhalten 2004 einen Ausgleich. Mit Juli 2003 wurden die Ladenöffnungszeiten nach mehreren Fehlversuchen ausgeweitet. Damit engst verbunden sind weitere Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen von Handelsangestellten10). Kopfschütteln erzeugt dabei der Umstand, dass trotz Gesprächsbereitschaft der Gewerkschaften keine Bereitschaft bestand, die Interessen der Handelsangestellten zu berücksichtigen. Eine WIFO-Studie11) belegt, dass atypische Beschäftigung und sinkende Einkommen im Handel normal geworden sind.
Mit 2005 wird mit der Einführung eines generellen Selbstbehalts in der Krankenversicherung ein weiterer Schritt in Richtung Krankensteuer gesetzt. Positiv ist 2004 die Angleichung der Beitragssätze in der KV für Arbeiter und Angestellte.
Familienfreundlich
Eine sehr alte Forderung von ÖGB und AK ist eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch ein Recht auf Elternteilzeit. Ab Juli 2004 wird diesem Anliegen nun immerhin zum Teil Rechnung getragen: Weil dieses Recht aber nur für Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten und nach dreijähriger Beschäftigungsdauer durchsetzbar ist, bleibt die Mehrzahl der erwerbstätigen Eltern von dieser familienfreundlichen Regelung ausgeschlossen. Die Erhöhung der Familienbeihilfe ab 2003 setzt die geldleistungsorientierte Familienpolitik der Regierung fort.
In der vorangegangenen Legislaturperiode war die Regierung mit ihrem Wunsch nach Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen in der Arbeitslosenversicherung nicht durchgekommen. Basierend auf einem Sozialpartnerkompromiss löst ab 2005 künftig ein Entgeltschutz den aktuell schwachen Berufsschutz ab. Zwar waren die ursprünglichen Reformpläne wesentlich drastischer, der Druck auf Arbeitsuchende wird dennoch weiter steigen. Die angekündigte Einbeziehung selbständig Erwerbstätiger in die Arbeitslosenversicherung, ein wichtiger Schritt der sozialen Sicherheit für viele atypisch Beschäftigte, kommt nun nicht.
1) 1999 hat die Wirtschaftskammer ihr Forderungsprogramm an die Bundesregierung »Besser wirtschaften - Die Zukunft gestalten Check-List« vorgelegt. Dies wird nun Punkt für Punkt im Sozialbereich umgesetzt.
2) Desgleichen ihr Vorgänger Herbert Haupt
3) Andere Gleichstellungsschritte (Kündigungsfristen, Dienstfreistellungsgründe) sind bis heute unterblieben.
4) Auch wenn Bundeskanzler Schüssel noch vor den Wahlen versprach, keine weiteren Pensionsreformen vorzunehmen.
5) Altersteilzeit im Blockmodell ist die einzige Maßnahme, die umfassende Inanspruchnahme erreichte.
6) Aus im Regierungsübereinkommen angekündigten Kürzungen in der Höhe von drei Milliarden ÖS wurde schließlich eine sieben Milliarden ÖS schwere Budgeteinsparung.
7) Selbständige erhielten vorher eine Karenzgeldleistung in halber Höhe.
8) Siehe WIFO Studie »Wiedereinstieg und Beschäftigung von Frauen mit Kleinkindern«, Februar 2004
9) Die Regelung wurde vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben, an einem »Hauptverband neu« wird gearbeitet.
10) Nicht einmal die von der GPA durchgesetzte Schwarz-Weiß-Regelung (auf Samstag in Beschäftigung folgt arbeitsfreier Samstag) wird überleben.
11) WIFO-Studie: »Beschäftigung im Handel«, Mai 2004
F A Z I T
Im Unterschied zur ersten Regierungsperiode der ÖVP-FPÖ Koalition musste die Regierung bei vielen unsozialen Regelungen aufgrund des großen Widerstands nachbessern. Sie tat dies vielfach in Form von Härteregelungen und Härtefonds, die klarlegen, dass es sich nur um Almosen und nicht um Rechtsansprüche handelt. Die Arbeitnehmerseite erkämpfte sich wieder einen bedeutenden Status im politischen Geschehen, an dem die Regierung nicht länger vorbeikann. An der Absicht der Regierung, Arbeitnehmerrechte zugunsten von »Mehr privat - weniger Staat« und einer »freieren« Marktwirtschaft zu beschneiden, ist aber keine Änderung ersichtlich.
Die Meinungen darüber, was man tun sollte, gehen allerdings in Deutschland auseinander. In der Politik und im DGB. So sind die Gewerkschaften ver.di und NGG (Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten) beispielsweise für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes für alle, die großen Industriegewerkschaften wie IG-Metall und IG-BCE sind dagegen.
In Österreichs Politik sprechen sich vor allem »die Grünen« für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes (1100 Euro) aus, weil ein Generalkollektivvertrag zu diesem Thema zu schwierig umzusetzen sei. Die ÖVP und die SPÖ glauben, dass es eine Mindesteinkommenssicherung (ca. 1000 Euro) geben sollte, die Verwirklichung aber Sache der Sozialpartner in der Kollektivvertragspolitik sei. Die Freiheitlichen wollen eine Mindesteinkommensregelung durch Generalkollektivvertrag. Mehrheitsmeinung dürfte aber sein, dass der Parlamentarismus in ökonomischen Fragen sowieso nur bedingt kompetent sei, Lohnpolitik aber ganz sicher »nichts im Parlament verloren hätte«.
Die Gefahr des Entstehens von »Working Poor«, Menschen, die trotz Vollzeitarbeit von dem verdienten Einkommen wegen dessen Geringfügigkeit nicht leben können, nimmt in ganz Europa immer mehr zu. Bedingt durch verschärfte Zumutbarkeitsbestimmungen in der Arbeitslosenversicherung sowie durch mehr Teilzeitjobs, aber auch durch die allgemeine schleichende Deregulierung und abnehmende kollektive Einkommensbindung in manchen Bereichen und der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse mit und ohne geringfügiger Beschäftigung entstehen Einkommen, die »Hungerlöhnen« gleichkommen.
Hungerlöhne
Dazu besteht bei manchen Unternehmern und auch Politikern die Meinung, die angebotene Arbeit sei zu teuer, um die allgemeine Beschäftigungslage ausweiten zu können. Sie meinen, durch geringere Lohnkosten könnten mehr Arbeitsplätze entstehen. Diese Meinung ist empirisch belegbar falsch. Seit Anfang der Achtzigerjahre sinkt in ganz Europa (West) tendenziell die Nettolohnquote und gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich an. In Niedriglohnbereichen (wie zum Beispiel Ostdeutschland) werden nur ein Viertel der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nach Kollektivvertrag bezahlt, die Durchschnittslöhne liegen um ein Viertel unter dem Westniveau, aber keine Spur eines positiven Beschäftigungseffektes ist zu bemerken.
Um also Lohndumping und Armutsgehälter zu verhindern, brauche man den Staat, der durch Gesetz ein Mindesteinkommen festlegen muss, meint man. Laut Forderung von ver.di am letzten DGB-Kongress, 1500 Euro für Vollzeitarbeit. Ein »Segen« also, auch für österreichische Einkommensniveaus (Frauenmedianeinkommen 1335 Euro)!
Was auf den ersten Blick hin im Interesse der Betroffenen liegt, hat allerdings auch Haken.
Jugendarbeitslosigkeit
Viele Gewerkschaften in Europa und viele Sozialökonomen fürchten, dass bei Einführung eines gesetzlichen Mindesteinkommens nicht nur in die gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention geschützte Tarifautonomie der Sozialpartner eingegriffen werden würde, sondern die Mindesteinkommensgestaltung durch langsame parlamentarische Prozesse ad absurdum geführt werden könnte. Außerdem zeige die Erfahrung in manchen Ländern, die ein gesetzliches Mindesteinkommen haben, dass die Anpassung der gesetzlichen Mindesteinkommen nicht ökonomischen, sondern wahltaktischen Überlegungen folgt. Dazu komme noch, dass eine unausgewogene Mindestlohnpolitik die Jugendarbeitslosigkeit steigen lässt. Da Jugendliche noch über wenig Erfahrung und Ausbildung verfügen, spielt die Lohnhöhe für ihre Anstellung eine zentrale, branchenbezogene Rolle. So bestehe die
Gefahr, so die Kritiker des gesetzlichen Mindestlohnes, dass es auf dem Nie--drig--lohnsektor zu ungewollter Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt kommt, da es günstiger ist, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Mindestlohn einzustellen als Jugendliche.
Entweder der gesetzliche Mindestlohn ist zu hoch, dann wird er mit Arbeitszeitvereinbarungen unterlaufen, oder er ist zu niedrig, dann ist er nicht wirksam oder kontraproduktiv. Auch die Problematik der Armutsbekämpfung werde durch einen gesetzlichen Mindestlohn nicht unterstützt, meinen OECD-Experten und verweisen darauf, dass 80 Prozent der Niedriglöhne in Europa zu einem Haushalt mit sonst hohem Einkommen gehören, also so genannte Zuverdiener sind.
Gedämpfte Einkommen
Als wesentlich merken die Kritiker an, dass durch ein staatliches Mindesteinkommen die branchenbezogene Kollektivvertragspolitik nicht mehr ohne Orientierung am Mindesteinkommen möglich ist, was meist dämpfende Effekte für die Einkommenspolitik hat. Die staatlichen Vorgaben werden aber auch keine Rücksicht auf schwierige Branchen und branchenspezifische Eigenheiten nehmen, was wieder zur Ineffektivität des gesetzlichen Mindesteinkommens führen kann.
Ökonomen behaupten: Ein gesetzlicher Mindestlohn zeigt nur Wirkung, wenn er über dem so genannten markträumenden Lohn liegt. Dann aber führt er zu einem allgemein höheren Lohn und mehr Arbeitslosigkeit!1)
Der gesetzliche Mindestlohn sei kein Wert an sich, sondern müsse sinnvoll gestaltet sein. Er muss existenzsichernd sein, das ist unabdingbar. Dann aber besteht die Gefahr, dass ein Mindestlohn für viele auch der Maximallohn wird. In Frankreich, wo ein gesetzliches Mindesteinkommen für 14 Prozent der Beschäftigten bei 35 Wochenstunden gilt, ist dieser Mindestlohn auch der Normallohn 1100 Euro.
Kollektivvertragskultur
Sind gesetzliche Mindestlöhne ein Fluch?
Nach einem Rundblick in die Europäische Union gibt es in neun von den 15 alten EU-Mitgliedsstaaten gesetzliche Mindesteinkommen und ebenso in zwölf der 13 neuen Ländern. Im Jahre 2004 lag der monatliche Mindestlohn in Portugal, Griechenland und Spanien zwischen 416 und 605 Euro, in den übrigen alten Ländern betrug er mehr als 1000 Euro (zwischen 1073 Euro in Irland und 1369 Euro in Luxemburg). In den meisten neuen Ländern und Kandidatenländern lag der gesetzliche Mindestlohn zwischen 56 Euro und 212 Euro (siehe Kasten).
In den betroffenen Ländern gibt es ein Abkommen zwischen Regierung und Gewerkschaften, wonach jährlich die Höhe des gesetzlichen Mindesteinkommens überprüft und wenn nötig angepasst wird. Das hat in manchen Ländern mit schlechter Kollektivvertragskultur und meist nicht funktionierender Sozialpartnerschaft zufolge, dass die Anpassungsverhandlungen des Mindesteinkommens schon die wesentlichen KV-Verhandlungen sind und in Branchen und Betrieben nur mehr marginal angepasst bzw. in reichen Branchen überdimensional angepasst wird. Eine solidarische Lohnpolitik, wie wir sie verstehen, wird dadurch sehr schwer möglich.
Nach der Europäischen Sozialcharta sind alle Staaten verpflichtet, keine Löhne zuzulassen, die niedriger als 68 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes sind. Bis heute ist diese Richtlinie nicht mehr als eine Empfehlung und wird nur von wenigen Ländern wie zum Beispiel Frankreich eingehalten.
Der französische Mindestlohn (SMIC) wird manchmal überdimensional erhöht (im Juli 2004 um 5,5 Prozent). Das entspricht bei einer in Frankreichs Industrie üblichen 35-Stunden-Woche (gesetzlich verankert) einem monatlichen Mindestlohn von 1090,48 Euro brutto.
Diese Aktion zeigt auch die Schwäche der französischen Gewerkschaften einerseits, Lohnpolitik zu betreiben, zeigt aber andererseits auch, welchen Einfluss die Politik auf die Lohngestaltung nimmt bzw. nehmen kann, unabhängig von ökonomischen Aspekten. Es zeigt sich deutlich, dass Lohnpolitik in Verantwortung des Staates sich immer auf Mindestlohnpolitik beschränkt. Das lässt den Gewerkschaften oft KV-politisch keinen Spielraum, ja oft nicht einmal Luft zum Atmen. Die Regierungen gestalten dann meistens Lohnpolitik unter dem Aspekt des »nationalen Zusammenhaltes«, der vor Parlamentswahlen eine besondere Bedeutung bekommt.
Monatliche Mindestlöhne In EUR, Januar 2004 |
|
Belgien | 1163 |
Griechenland | 605 |
Spanien | 526 |
Frankreich | 1154 |
Irland | 1073 |
Luxemburg | 1369 |
Niederlande | 1249 |
Portugal | 416 |
England | 1105 |
Bulgarien | 56 |
Estland | 138 |
Litauen | 125 |
Lettland | 116 |
Malta | 535 |
Polen | 201 |
Rumänien | 73 |
Slowakei | 118 |
Slowenien | 451 |
Tschechische Republik | 199 |
Türkei | 189 |
Ungarn | 212 |
USA | 877 |
Quelle: EU-Bulletin 4/2004 |
USA - das Land der Mindestlöhne
Mindestlöhne gibt es in den USA seit 1912. 1938 trat in den USA mit dem »Fair Labor Standards Act« eine bundesweite Regelung in Kraft. Obwohl die Unternehmervertreter und die Südstaatenpolitik heftig gegen dieses Gesetz opponierten, wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Seit Mitte der Achtzigerjahre hat der US-Mindestlohn, der meist unter demokratischer Führung alle zwei Jahre angehoben wurde, trotzdem verloren und ist hinter der Preisentwicklung weit zurückgeblieben und hat zirka ein Viertel seiner Kaufkraft verloren.
Schätzungsweise sechs Prozent der Amerikaner und Amerikanerinnen verdienen derzeit den Mindestlohn (sieben Millionen Menschen). In vielen Gegenden Amerikas kann man mit umgerechnet 877 Euro keine Familie ernähren. Für die USA gilt nicht, dass ein Großteil der Niedriglöhner so genannte Zuverdiener sind. Die meisten Niedriglöhner in den USA müssen für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie arbeiten. In diesen Fällen wirkt der gesetzliche Mindestlohn wohlfahrtssteigernd und armutsbekämpfend. Besonders gilt das für die Regionen mit großem Anteil an Schattenwirtschaft und formloser Arbeit (Arbeit ohne Regeln, Taglöhnertum).
Alle Studien der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) zum Thema gesetzliches Mindesteinkommen sagen, dass das geregelte Mindesteinkommen nur ein kleiner Teil und ein ungenügendes Werkzeug zur Armutsbekämpfung sei. Um echter Armut vorzubeugen, wäre es nach Meinung der ILO wichtiger, die Produktivität geleisteter Arbeit zu erhöhen, Gesundheit, Ausbildung und Lebensstandard der Arbeitnehmer zu fördern und vor allem der Entwicklung der Märkte ein Augenmerk zu schenken, indem in Innovation, Forschung und Entwicklung, aber auch in Infrastruktur investiert wird.
Die ILO setzt aber für ein echtes Wirksamwerden eines gesetzlichen Mindestlohnes voraus, dass es eine funktionierende Kollektivvertragskultur und Sozialpartnerschaft gibt. Sonst, vermuten die Experten, wird die Armutsbekämpfung durch normative Mindestlöhne ein »Kampf auf niedrigstem Niveau«, eine Methode, die nicht nachhaltig genug wirkt und außerdem den Beweis schuldig bleibt, nur Nutzen und keine Schäden -
(z. B. Arbeitslosigkeit) zu produzieren.2)
Schlussfolgerungen für Österreich
Der Nutzen gesetzlicher Mindestlöhne ist unleugbar, besonders für Gesellschaften mit unterentwickelter Sozialpartnerschaft. Er kann sich aber nur sinnvoll entfalten, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sich zu diesem Nutzen bekennen und die Wirkung dieser Entgeltmethode nicht in Frage stellen. Schwierig, nicht? Auch in Österreich bekommt die Diskussion über die Sinnhaftigkeit gesetzlicher Mindestlöhne neue Nahrung, je größer der Anteil der Schattenwirtschaft in Österreich wird und je mehr Arbeit in prekäre Vertragsverhältnisse abwandert. Verschiedene allgemeine Mindestnormen durch EU und OECD, die wichtig für die Diskussion sind, gibt es ja schon.
Produktivitätsorientierte Einkommenspolitik
Allerdings geht eben aus allen ILO- und OECD-Studien hervor, dass gesetzliche Mindestlöhne dort funktionieren und Sinn machen, wo auch die betriebliche und überbetriebliche Sozialpartnerschaft funktioniert. In Österreich, mit einer KV-Dichte von mehr als 90 Prozent (wenn ich den öffentlichen Dienst mitrechne, der sein Einkommen über Gesetze [Gehaltsabkommen] regelt) lässt die sozialpartnerschaftliche Kultur es zu, dass wir Mindestlöhne in den Kollektivverträgen regeln können und damit auch erfolgreich sind. Das hat den Vorteil, dass wir uns die Nachteile gesetzlicher Mindestlöhne ersparen, die in der problematischen Anpassungsmethode der Mindestsummen liegen. Der ÖGB und die Gewerkschaften betreiben massiv Mindestlohnpolitik in jenen Bereichen, wo es auf die Mindestlöhne ankommt, weil sie auch real gezahlt werden. In jenen Bereichen, wo gegenüber den KV-Mindest-ansätzen hohe Überzahlungen üblich sind, machen sie eine andere Politik. So ist es gelungen, die Forderung von 1000 Euro Mindestlohn (brutto) für Vollzeitarbeit praktisch überall wo das Sinn macht umzusetzen. Die Methode der Gewerkschaften in Österreich, die Gehaltsansätze jährlich anzuheben, wobei wir in einer KV-Runde österreichweit eine Summe von mehr als der Hälfte des BIP bewegen, lässt zu, dass wir auch ohne gesetzlichen Mindestlohn zu Rande kommen. Wie schon ausgeführt, hat ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn nicht nur Vorteile und er kann sehr leicht unterlaufen werden. Volkswirtschaften mit guter korporatistischer Struktur schaffen die von der EU geforderte Mindesteinkommensregelung auch ohne normativ festgelegte Mindesteinkommen. Es muss noch erwähnt werden, dass die normative Wirkung der österreichischen Kollektivverträge und die so genannte Außenseiterwirkung flächendeckende Mindesteinkommenslösungen durch KV möglich machen. Solche Möglichkeiten gibt es in anderen Ländern nicht bzw. nicht so gut wie in Österreich.
1) ILO (EMP/STRAT) C. Sager
2) ILO-Convention 1970 Nr. 131
R E S Ü M E E
Noch kann der ÖGB auch ohne gesetzlich festgelegtes Mindesteinkommen eine produktivitätsorientierte Einkommenspolitik und eine effektive Mindesteinkommenspolitik machen, und das nützt der österreichischen Volkswirtschaft derzeit mehr, als manche »Wirtschaftsauguren« das zugeben wollen.
Die Diskussion über Fluch oder Segen von gesetzlich geregelten Mindesteinkommen wird aber weitergehen, wenn es nicht gelingt, die wirklichen Probleme in der österreichischen Volkswirtschaft rasch zu lösen. Nur einige Schlagworte: Zunehmendes Schwarzunternehmertum und Schattenwirtschaft, Steuerverweigerung, chaotische Betriebsgründungen und blitzartige Auflösungen, Betriebsvereinbarungen »contra legem« und überhaupt mehr und mehr Verstöße gegen das Straf- und Zivilrecht, so als hieße »Rot« an der Verkehrsampel nicht STOPP, sondern nur ACHTUNG QUERVERKEHR!
Q U E L L E N
How to get the maximum out of the minimum wage.
C. Sager, ILO (EMP/STRAT) 2004
Minimum wages and employment, OECD D. Kyloh 2004
Die Zeit 2004, Nr. 11-15, Wirtschaftsteil
Informationen aus dem DGB-Bundesvorstand und dem Internationalen Referat des ÖGB
]]>
I N F O R M A T I O N
ifo-Chef Sinn für generelle 42-Stunden-Woche
München (APA/dpa) - ifo-Chef Hans-Werner Sinn hat sich für die generelle Einführung einer 42-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich in Deutschland ausgesprochen. Sinnvoll sei nur eine pauschale Arbeitszeitverlängerung in der Gesamtwirtschaft und nicht in Einzelbetrieben, sagte Sinn.
Nur bei einer pauschalen Ausweitung könnten die einzelnen Betriebe mit einem Nachfrageschub von anderen Firmen rechnen. Dieser sei Voraussetzung dafür, dass die Arbeitszeitverlängerung nicht in Kündigungen mündet. Sinn betonte, er habe entgegen anderslautenden Presseberichten keine-44-Stunden-Woche gefordert. »Diese Aussage ist falsch.«
Große Sprüche und Drohungen
Wenn man solche Duelle mit großen Sprüchen, die den Ruf der Zunft schädigen, zunächst einmal als Effekthascherei und Ausdruck einer zunehmend hysterischen Stimmung im größten Mitgliedsland der EU sehen sollte, so haben sie doch das Ziel, unter den Arbeitnehmern eine Stimmung der Mutlosigkeit zu erzeugen und so ihre Interessenvertretung, die Gewerkschaften, zum Einlenken gegenüber der Unternehmerseite zu bewegen. Diese ist auch in Deutschland in ihren konkreten Forderungen weniger radikal als die vorauseilenden Wirtschaftsprofessoren, hat aber bereits einige Erfolge bei der Zurückdrängung von Arbeitnehmerpositionen im Bereich der Arbeitszeit erzielen können. Unter der Drohung der Konzernleitung von Siemens, die Produktion von Mobiltelefonen nach Ungarn zu verlagern, hat die deutsche IG Metall der Verlängerung der Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich in zwei Produktionsstätten zugestimmt und dafür die Zusage erhalten, dass dadurch 4500 Arbeitsplätze an ihren Standorten in Deutschland verbleiben werden. Bereits Ende Juli kam es zu einem ähnlichen Abkommen mit dem Daimler-Chrysler-Konzern. Für die Ausweitung der Arbeitszeit auf 40 Stunden in Teilbereichen werden die 6000 Arbeitsplätze im Mercedes-Werk Sindelfingen bis 2012 garantiert. Weitere Unternehmungen haben in ähnlicher Absicht Verhandlungen mit der Gewerkschaft gefordert.
Auch in Österreich haben die Gewerkschaften in den letzten Wochen mehrere Botschaften in diese Richtung von Industrieseite empfangen, etwa von der neuen Führungsmannschaft der Industriellenvereinigung. Auch wenn solche Auseinandersetzungen in Österreich gewöhnlich etwas anders ausgetragen werden als in unserem größeren Nachbarland - sichtbar etwa am Beispiel der Arbeitszeitverkürzung unter 40 Stunden in den achtziger Jahren -, werden die Gewerkschaften auch bei uns in nächster Zeit mit harten Forderungen von Unternehmerseite konfrontiert sein.
Lohnsenkung als »Nebeneffekt«
Der Vorstandsvorsitzende des Siemens-Konzerns und auch Vertreter des deutschen Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall haben die Arbeitszeitverlängerung in zwei Siemens-Werken als spezielle Problemlösung bezeichnet und - vorerst? -keine generellen Forderungen tarifpolitischer Art an die Gewerkschaft gestell