Den Artikel von Pia Hopfenwieser möchten wir Ihnen hier vorstellen:
Kapitalismus und Demokratie
Wie kann ich meine Heimat, unsere Wirtschaft oder sogar die ganze Welt beeinflussen, und vor allem in welche Richtung soll und kann ich sie überhaupt verändern? Das ist eine Frage, mit der sich jede/r Einzelne/r von uns leider viel zu selten wirklich intensiv beschäftigt. Warum auch, wenn es doch immer so schöne Sündenböcke für alles gibt. Wird die Umweltbedrohung besprochen, so zeigt jeder nur allzu gern auf die böse Fabrik, und bei der Finanzkrise fällt der Blick automatisch übers Meer nach Amerika und zu den, natürlich immer hämisch grinsenden, Börsenmaklern/-innen. Doch ist es wirklich so einfach?
KonsumentInnen entscheiden
Wenn es darum geht zu entscheiden, welche Art des Wirtschaftens gefördert wird beziehungsweise welches Unternehmen wächst, dann ist es der Konsument, der alle Macht in den Händen hält und damit eigentlich auch, wenn auch nur indirekt, mit die Verantwortung trägt, wenn er oder sie zum Beispiel die Produkte kauft, bei deren Erstellung unsere Umwelt durch die Abgase der Fabrik geschädigt wurde.
Wir haben die Wahl
Doch nicht nur als KonsumentIn trägt jede/r von uns die Verantwortung für das was passiert, sondern auch als kritische/r und vor allem informierte/r Wählerin/Wähler bin ich eingebunden in die Entwicklung unserer Wirtschaft. Oft ist die Politik regiert von kurzsichtigen Entscheidungen und der Angst, mit notwendigen Reformen einzelne WählerInnen abzuschrecken. Doch das ist eigentlich nur eine logische Folge des Wahlverhaltens vieler, die sich entweder uninformiert oder viel zu eigensinnig entscheiden und das Gesamtwohl vergessen.
Damit fehlt der Mut, dringend notwendige Reformen, wie zum Beispiel strengere Regeln für den Finanzsektor oder auch eine stärkere Förderung für Umweltschutzmaßnahmen, tatsächlich umzusetzen. Es ist dieselbe Mutlosigkeit, die auch eine Ursache für die noch nicht ganz überstandene Finanzkrise war, denn auch damals war die Angst, mit einer strengeren Regulierung der Finanzmärkte vielleicht den einen oder anderen Aktionär zu verlieren, ausschlaggebend.
Aber natürlich hat die Politik nur begrenzte Möglichkeiten, Grenzen zu setzen und die Entwicklung der Weltwirtschaft langfristig und vor allem positiv zu verändern. Es bringt zum Beispiel nur eingeschränkt etwas die Tabaksteuer zu erhöhen, wenn am Ende doch jeder/jede einzelne RaucherIn entscheidet, sich nicht von der Sucht zu befreien. Es muss stattdessen ein Umdenken in den Köpfen der Menschen, aber auch in der öffentlichen Meinung stattfinden, um, gemeinsam mit unterstützenden Maßnahmen der Politik, wie eben der Tabaksteuer, tatsächlich etwas verändern zu können.
Kapitalismus und Demokratie
Das bedeutet, dass sich jede/r Einzelne selbst damit auseinandersetzen muss, welche Werte er/sie in der Gesellschaft verankert sehen will, und dann auch dazu beitragen diese zu festigen. Prof. Dr. Sebastian Dullien, Professor für allgemeine Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin, hat während des VWL-Perspektiven-Seminars zum Thema »Kapitalismus und Demokratie« dazu beigefügt, dass dem Einfluss von einzelnen KonsumentInnen auf die Wirtschaft Grenzen gesetzt seien, weil unser »switch« von Sozial- auf Marktmodus uns dazu bringt, am Ende doch hauptsächlich an einem geringen Preis interessiert zu sein.
Natürlich wird sich jemand der finanziell nur eingeschränkt dazu in der Lage ist öfter gegen teureres Bio-Gemüse entscheiden, und selbst für BesserverdienerInnen überwiegen oft die rein wirtschaftlichen Argumente über Nachhaltigkeit oder die eigenen Werte. Aber auch wenn es nur wenige Kaufentscheidungen sind, die wir uns als informierte KonsumentInnen ein zweites Mal überlegen, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung.
Fehlender Realitätssinn
Ein weiteres Beispiel dafür, wie wir alle zumindestens teilweise Mitschuld haben an dem Schlamassel, in dem die Weltwirtschaft heute steckt, ist der fehlende Realitätssinn vieler ÖsterreicherInnen, wenn es um das stark reformierungsbedürftige Pensionssystem geht. Der Großteil der Staaten der Europäischen Union hat eingesehen, dass es zwar natürlich nett wäre, wenn wir nicht so lange arbeiten müssten, aber anhand der immer älter werdenden europäischen Bevölkerung leider finanziell schwer machbar. Anstatt aufgrund der Gefahren einer zu hohen Verschuldung von deutlich über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die Notbremse zu ziehen und den Spargürtel anzulegen, werden die Pensionen in Österreich anlässlich des neuen Budgets unangetastet gelassen, um den WählerInnen keine Angst zu machen. Ironischerweise wird aber dafür das Kindergeld sehr wohl gekürzt.
Während die Finanzkrise im ersten Augenblick hauptsächlich ein Schock für KonsumentInnen, Anleger, Unternehmen und die Politik war, so sollte man sie auch positiv sehen können. Denn sie bietet nicht nur die Möglichkeit für die Durchsetzung dringend notwendiger Reformen, sondern hilft auch ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wich-tig nachhaltiges Wirtschaften für uns alle ist.
Weblinks
»Kapitalismus im Umbruch?!« ein ZIS-Spezial (Heft 4/2010) mit 150 Zeitungsartikel fachdidaktisch bearbeitet.
www.zis.at
Website zum VWL-Perspektiven-Seminar
www.ifte.at
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Es gilt die Unschuldsvermutung
Kein Wunder, wenn einem jetzt von so viel Insolvenz der Kopf schwirrt. Genug der Verwirrung, lüften wir soweit es uns möglich ist ein wenig den Schleier. Vorweg: Fing früher jede Geschichte mit dem Satz »Es war einmal ...« an, so ist es heute unerlässlich der folgende: »Es gilt für alle Beteiligten und hier Genannten die Unschuldsvermutung.« Auch wenn das abgedroschen klingen mag und moralisch und menschlich nicht mehr viel bedeutet. Aber rechtlich ist es nun einmal so. Umso mehr, als man ja nicht weiß, wie des Ministeriums Justiz-Gerichte entscheiden: z. B. nach der OGH-Nicht-Verantwortlichkeits-Sprechung für Kärntens Landeshauptmann Dörfler zum gemeinsamen Ortstafelverrücken mit Ex-LH Haider. Zudem sind etwa auch Grasser, Kulterer, Meinl, Flöttl oder Waffengrafen und Co. justizunschuldige Männer. Wer kennt sich da noch aus? Willkommen im Unschuldssumpf.
Selfmademan, Hardliner, Vordenker, Querdenker, Industrieller, so bezeichnet sich Mirko Kovats gerne selbst. Der Werkzeugfirmenvertreter in Osteuropa begann seinen Aufstieg bis zum jetzigen Fall 1997 mit dem Aufkauf des insolventen Salzburger Maschinenproduzenten Emco. In den 1990er-Jahren hatte er sich an Diskotheken in Österreich beteiligt, die zum Teil durch bis heute ungeklärte Umstände pleite gingen. Weitere Käufe folgten nach der Jahrtausendwende: ATB Austria Antriebstechnik, Montanwerke Brixlegg oder Austrian Energy & Environment (AE&E). Gemeinsam mit Partnern wurde 2003 ein Anteil an dem größten Technologiekonzern Österreichs, der damals noch verstaatlichten VA Tech (17.500 Beschäftigte, davon 8.000 in Österreich), erworben und nur ein Jahr später an den Konkurrenten Siemens weiterverkauft, zerstückelt und Beschäftigte hinausgeworfen, obwohl vorher das Gegenteil versichert wurde.
Schon damals kritisierten die Gewerkschaften das dubiose Zusammenspiel der blau-schwarzen Regierung und der blindwütigen Privatisierung durch ÖIAG-Chef Michaelis, die Kovats den Zuschlag gab: »Sollte Mirko Kovats, der mit seiner Victory Industriebeteiligungs AG rund 13 Prozent der VA Tech-Aktien hält, an Siemens verkaufen, würde er einen Gewinn von bis zu 68 Mio. Euro einstreifen.«2 Als Kovats mit der A-Tec Industries 2006 an die Börse ging, »machte er damit noch mehr Geld« als mit dem Verkauf der VA Tech.3
A-Tec-Gruppe: 70 Firmen weltweit
Die A-Tec-Gruppe ist ein Industriekonglomerat aus ca. 70 Firmen weltweit. Im Film »Let‘s make money« rühmt sich Kovats ob der billigen Löhne in Indien und schlägt vor, in Österreich auch die Löhne zu senken.4
2009 machte der Konzern mit weltweit rund 12.000 Beschäftigten fast drei Mrd. Euro Umsatz und 54 Mio. Euro Gewinn. Noch im August 2010 wurde die Geschäftsentwicklung rosig dargestellt, bis Anfang Oktober nichts von der Dramatik veröffentlicht. Noch eine Woche vor dem Konkursantrag der A-Tec, am 28. Oktober, wurde die Tochterfirma AE&E positiv bewertet. Sie erbringt zwischen 60 und 80 Prozent des Konzernumsatzes. Von 2007 bis zum Insolvenzantrag stürzte die A-Tec-Aktie von 50 auf 2,3 Euro ab. Am 24. November meldete die AE&E, zwei Tage später auch deren Tochterfirma in Raaba (Steiermark) Konkurs an. Der A-Tec-Konkurs samt dem der Tochter AE&E dürfte der zweitgrößte der Zweiten Republik werden. Man sieht schon: Private wirtschaften besser …
Für die Betriebsräte ist der aus Simmering Graz Pauker (SGP) und Waagner-Biro hervorgegangene Anlagenbauers AE&E an sich ein gesundes Unternehmen. Die Pleite ist nicht im gescheiterten »Australienprojekt« begründet. Schuld an der aktuellen Situation trage in erster Linie die »extreme Expansionspolitik« der A-Tec, die von der AE&E mitzufinanzieren war: »Die Gewinne der vergangenen Jahre seien für die Finanzierung von Unternehmenszukäufen der Holding von A-Tec abgeschöpft worden. Zudem habe die AE&E Darlehen und Anleihen im dreistelligen Millionenbereich an andere Konzernunternehmen vergeben.«5
Private gehen stiften
Und wo ist das Geld, das die A-Tec die Jahre davor verdient hat? Das Grundkapital der A-Tec-Industries beträgt 6,6 Mrd. Euro. Die A-Tec gehört zu zwei Drittel Mirko Kovats (55,2 Prozent der M.U.S.T Privatstiftung von Mirco Kovats und 11,3 Prozent Capital und Industrie Investment AG, Los Angeles), zu 6,9 Prozent der J.E. Loidold Privatstiftung; 26,6 Prozent notieren an der Börse. Für eine Sanierung der A-Tec muss, so Wilhelm Rasinger vom Interessenverband für Anleger (IVA) »Mirko Kovats aus allen Funktion entfernt« werden oder für die Firmensanierung einen »massiven Geldbetrag aus seiner Privatstiftung« entnehmen. Allein 2009 hätte sich der Dreier-Vorstand eine Erfolgsprämie von 1,6 Mio. Euro neben einer Mio. Euro Fixbezügen ausbezahlt. Der IVA-Präsident geht davon aus, dass der Vorstandsvorsitzende den Löwenanteil kassiert habe.6 Es bleibt also die Frage, ob der Sanierer-Spezialist Kovats sich mit der A-Tec-Sanierung wiederum nur selbst saniert ... Jedenfalls wäre er in »guter Gesellschaft«: In den seit 1994 existierenden derzeit rund 3.400 Stiftungen liegt ein Gesamtvermögen von mindestens 80 Mrd. Euro. 60 Prozent davon sind Unternehmensbeteiligungen. Stiftungseingangssteuer: »horrende« 2,5 Prozent!7 Fast im gleichen Zeitraum, von 1995 bis 2008, sind durch das Sinken der Lohnquote um sieben Prozent den ArbeitnehmerInnen, die im Schnitt 40 Prozent »Eingangssteuer« (= Lohnsteuer) zahlen, in Summe 98 Mrd. Euro vorenthalten worden.8 Dabei muss man sagen, dass der Staat dann nicht besser ist als ein »Privater«, wenn er mit dem ihm durch die SteuerzahlerInnen/WählerInnen anvertrauten Geld (Steueraufkommen) so verfährt, als wäre es sein Privateigentum, wie dies z. B. die ÖIAG tut.
Die Zeche zahlen wir
Was diese Art von »Staatsrepräsentanten« und Privatiers gemeinsam haben ist, Staatsschulden hin, Firmenpleiten her: Hauptsache die arbeitenden Menschen lassen sich die Zeche dafür aufbrummen. Wie schreibt ein Internet-Blogger zu den jüngsten Protesten gegen das Belastungspaket der Bundesregierung: »Es genügt nicht, dass die Interessenvertretungen der Beschäftigten zur Teilnahme an Protesten der Zivilgesellchaft aufrufen, sie sollten als einer der mächtigsten Teile davon selbst dazu organisieren. Das wäre wirkungsvoll.« Und ein Betriebsrat bei der Demonstration meint: »Wir verhandeln und verhandeln, und am Ende machen die Leute uns statt die Regierung oder die Banken für die Belastungen verantwortlich, oder wählen dann in ihrer Ohnmacht und Wut gar den Strache. Meine Schlussfolgerung: Wir müssen mehr handeln und weniger verhandeln.«9
Bei der Präsentation seines Buches erklärte Kovats: »Würde ich wie unsere Politiker handeln, würde mir das vermutlich zehn Jahre Gefängnis einbringen.« Macht der A-Tec-Chef etwas anderes als die Politiker? Nein, Schulden: seine Firmen sind pleite, der ganze »Erfolg« auf Pump. Und wieder sind die Beschäftigten die Opfer, die durch die Spekulationen ihre Arbeitsplätze und Einkommen verlieren. Währenddessen sitzt Herr Kovats nicht dort, wo er selbst die PolitikerInnen hinwünscht, sondern auf Kosten der Allgemeinheit, der SteuerzahlerInnen und Arbeitenden, auf seiner aus Gewinnabschöpfungen wohl ausgestatteten, extrem steuerschonenden Privatstiftung.
1 siehe: »Mirko Kovats: Die Sowjets hatten recht - 62 Thesen eines Querdenkers«
2 ÖGB OÖ, 3. 9. 2004
3 ÖÖN, 22. 10. 2010
4 siehe: »Caspar Dohmen: Let‘s make money - Was macht die Bank mit unserem Geld?« 2008
5 Presse/APA, 17. 11. 2010
6 Presse, 21. 10. 2010
7 APA/VÖP, Verband österreichischer Privatstiftungen www.stiftungsverband.at
8 ÖSTAT, 2008
9 www.zukunftsbudget.at
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Stiftungen zu edlen Zwecken
Sind Stiftungen also eine böse Sache, die bekämpft gehört? So einfach kann man das auf keinen Fall sagen. In den meisten Ländern der Welt dienen Stiftungen sogar sehr edlen Zwecken. Es gibt berühmte Stiftungen, wie z.B. die Rockefeller Foundation (das englische Wort für Stiftungen) oder die Ford Foundation, die Wissenschaft, Forschung und die Künste fördern. Die Carnegie Foundation, die sich der Friedensförderung widmet. Die in neuerer Zeit geschaffene Bill & Melinda Gates Foundation hat einen Schwerpunkt in der Bekämpfung von Krankheiten und Hunger in der ganzen Welt. Die Liste ist fast unendlich. Diese Stiftungen werden von reichen Menschen und Familien (vielleicht aus schlechtem Gewissen, aber wenn schon?) mit ihrem eigenen Geld geschaffen, um Gutes zu tun.
Auch in Österreich gab es früher, vor allem in der Monarchie, solche Stiftungen, deren Namen man manchmal auf Häusern sogar noch lesen kann, und einzelne von ihnen existieren sogar noch immer.
Familienrechtliche Verteilungsfragen
Manchmal haben Stiftungen auch den Zweck, familienrechtliche Verteilungsfragen (gerade in Patchwork-Familien) zu lösen, oder einem Vater die Möglichkeit zu geben, für Kinder, an deren kaufmännische Fähigkeiten er nicht glaubt, eine Versorgung sicherzustellen. Denn bei einer Stiftung bringt der (oder die) StifterIn ein gewisses Ver-mögen ein und legt fest, wofür das Geld verwendet werden soll. Ein Stiftungsvorstand sorgt dann dafür, dass dieser Stifterwille tatsächlich ausgeführt wird. Alles durchaus in Ordnung - aber warum soll das gegenüber anderen zivilrechtlichen Lösungen (etwa einer Vererbung) steuerlich begünstigt sein?
Die allermeisten österreichischen Stiftungen neueren Datums haben jedoch weder einen zivilrechtlichen noch gar einen gemeinnützigen Sinn. Sie haben einen ganz anderen Stiftungszweck. Sie dienen ausschließlich dazu, den/die StifterIn und/oder deren Familie mit einem Einkommen auszustatten.
Und das mit einer möglichst geringen Steuerleistung. Sie werden errichtet, damit das in sie eingebrachte Vermögen in der Praxis weiterhin dem/der StifterIn und den Angehörigen dient, aber der Staat möglichst wenig Steuer davon bekommt.
Berechtigte Zweifel
Ob das wirklich Sinn macht, wird von vielen, auch dem Autor dieser Zeilen, bezweifelt. Kaum dass Zweifel an den Stiftungen geäußert werden, eilen allerdings die Verteidiger der Stiftungen auf den Plan und warnen vor den schrecklichen Gefahren, die entstehen würden, wenn man diese sogenannten Familienstiftungen wieder abschafft (das traut sich ohnedies niemand) oder, Gott behüte, ihre Privilegien auch nur das kleinste bisschen einschränkt. Das würde zu einem entsetzlichen Kapitalabfluss führen und zahlreiche Arbeitsplätze gingen verloren.
Wirklich? Schon jetzt hindert niemand eine Stiftung daran, ihr Geld im Ausland anzulegen; und viele von ihnen tun genau das. Es gibt sogar gar nicht so wenige AusländerInnen, vor allem Deutsche, die ihre Vermögen in österreichische Stiftungen einbringen (und um ganz sicherzugehen, ihren Wohnsitz, zumindest rechtlich, nach Österreich verlegen), ohne dass sie irgendwelche relevanten Vermögenswerte aus dem Ausland deswegen nach Österreich transferieren würden.
Denn in anderen Ländern ist eine so großzügige steuerliche Behandlung von Privatstiftungen wie in Österreich alles eher denn üblich.
Das Argument mit den Arbeitsplätzen stimmt allerdings in gewissem Umfang schon. In Österreich hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine regelrechte Privatstiftungs-Industrie entwickelt. Zahlreiche Rechtsanwälte und SteuerberaterInnen verdienen ein Vermögen daran, Stiftungen zu errichten und immer wieder umzugestalten. Sie und einzelne Manager verdienen ein weiteres Vermögen damit, als Stiftungsvorstände und Aufsichts- bzw. Verwaltungsräte zu werken.
Deren Existenz ist zwar nicht wirklich in Gefahr, aber sie würden vielleicht weniger verdienen und das weniger leicht. Dagegen wehren sie sich verständlicherweise. Doch das kann doch kein Grund sein, ungerechtfertigte Steuerprivilegien (die ja auf Kosten aller anderen SteuerzahlerInnen gehen) aufrechtzuerhalten.
Steuern endlich angehoben
Was also tun? Stiftungen verbieten? Das wird nicht gehen und wäre auch nicht sinnvoll. Wie schon erklärt, gibt es durchaus Stiftungen, die einen wirtschaftlich und gesellschaftlich gerechtfertigten Zweck verfolgen. Also die steuerlichen Begünstigungen für Stiftungen gänzlich abschaffen? Wenn man weiß, wer alles heute schon sein Vermögen in solche Privatstiftungen eingebracht hat, wird man rasch erkennen, dass diese Idee zumindest derzeit nicht durchsetzbar ist.
Im kommenden Budget hat die Regierung nun vorgesehen, dass die Steuer, die Stiftungen auf ihre Einnahmen zahlen müssen (mit einem Fachausdruck: die Zwischensteuer), von lächerlichen 12,5 Prozent auf immerhin 25 Prozent angehoben wird. Das ist ein vernünftiger und durchaus zu begrüßender erster Schritt!
Gemeinnützige Zwecke
Aber es gäbe noch einen weiteren Ansatz: Man könnte Privatstiftungen verpflichten, einen Teil ihrer Ausschüttungen (also das, was sie an StifterInnen und/oder deren Familien oder andere Privatpersonen auszahlen) für gemeinnützige Zwecke zu widmen. Zum Beispiel mindestens 20 Prozent der Ausschüttungen. Und wenn eine Stiftung dazu nicht bereit ist, dann verliert sie ihre steuerlichen Privilegien.
Es gäbe die steuerliche Begünstigung für Stiftungen also nur noch, wenn sie zumindest eine gewisse Leistung für die Gesellschaft erbringen.
Um es an einem Beispiel ganz konkret zu erklären: Wenn eine solche Stiftung in einem Jahr z. B. 100.000 Euro ausschüttet, dann müsste sie in diesem Jahr mindestens 20.000 Euro für gemeinnützige Zwecke ausschütten; als gemeinnützig in diesem Sinne sollten (der Einfachheit halber) alle EmpfängerInnen gelten, an die jetzt schon aufgrund von Gesetzen und Verordnungen steuerbegünstigt gespendet werden kann. Sonst muss die Stiftung alle Steuervorteile der letzten fünf Jahre nachzahlen.
Es ist ohnedies eine Schande, dass in einem der reichsten Länder der Welt (und das ist Österreich) von den wirklich Reichen so wenig privat für gemeinnützige Zwecke aufgewendet wird: für unsere Universitäten, für wissenschaftliche Forschung, für Kunst und Kultur und für soziale Wohlfahrt.
Höchste Zeit
Eigentlich hätte Österreich hier sogar eine große Tradition, die leider mit dem Nationalsozialismus (der Vertreibung der jüdischen Bourgeoisie und der nur noch geringen wirtschaftlichen Bedeutung des Adels) zu Ende ging. Vielleicht könnte man mit einer derartigen Änderung des Stiftungsrechtes hier wieder anknüpfen. Zeit dafür wäre es.
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Mehr Infos über Stiftungen:
de.wikipedia.org/wiki/Stiftung
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Zahlen, Daten, Fakten
Statistiken sind Argumente
Diese Statistiken (siehe Downloads) sollen die Orientierung erleichtern. Die Tabellen sind wichtige Informationen für InteressenvertreterInnen und jede/n politisch Interessierte/n.
Steuerliche Möglichkeiten nutzen
Dieser Spagat gelingt durch die heurige »Wachstumsdividende«, die etwa in Form deutlich höherer Steuereinnahmen u. a. durch die nunmehr weniger stark angespannte Beschäftigungssituation zu verzeichnen war.
So wie sich 2009 bestätigt hat, dass nichts so defizittreibend ist wie eine schlechte wirtschaftliche Entwicklung, sieht man nun durch die raschere Erholung den gegenteiligen Effekt. Somit zeigt sich indirekt auch, dass nicht ein »über-den-Verhältnissen-Leben« der Allgemeinheit, sondern die Folgen eines gescheiterten Finanzsystems den Ausgangspunkt für dieses Paket bilden.
Die Anforderungen an die Budgetpolitik nach der Krise leiten sich davon ab: Es muss der weiterhin hohen Unsicherheit hinsichtlich der konjunkturellen Entwicklung - etwa durch die negativen Effekte der Sparpakete in der EU - bzw. der immer noch über dem Niveau vor der Krise liegenden Arbeitslosigkeit Rechnung getragen werden.
Es sollten steuerliche Möglichkeiten genutzt werden, Krisenursachen wie ungleiche Verteilung und den krisenanfälligen Finanzsektor zumindest ansatzweise einzudämmen. Drittens dürfen notwendige Zukunftsausgaben wie für qualitativ hochwertige Bildung, Kinderbetreuung, Integration, Energiewende und Pflege dadurch nicht beschränkt werden. Schließlich sollte die Konsolidierungslast gerecht verteilt werden - unter Berücksichtigung der Beitragsfähigkeit, der Gewinne der letzten finanzgetriebenen Wachstumsphase sowie den gerade durch die Stabilisierungsmaßnahmen bereits wieder besonders kräftig wachsenden Vermögen.
Gemessen an diesen Kriterien greift das Konsolidierungspaket zu kurz. Gegenüber dem BFRG weist es aber klare Verbesserungen auf. Insbesondere das Offensivpaket mit den Schwerpunkten Bildung, Forschung und thermische Sanierung sowie das kleinere Konsolidierungsvolumen sind hier zu nennen. Auch die erstmals seit Jahrzehnten wieder steigende Abgabenleistung von Vermögen und Unternehmen geht in die richtige Richtung.
Es hätte eigentlich mehr sein dürfen bzw. müssen. Ebenso hätte es jedoch schlechter kommen können, wenn der Finanzminister seine Androhungen wahr gemacht hätte.
Rasenmähermethode
Beträchtlich höhere Ausgabenkürzungen, keine Offensivmaßnahmen, und wenn schon Steuern nur Massensteuern mit »Ökomascherl«. Wirtschaftslobbys, Wirtschaftskammer und manche WirtschaftsforscherInnen forderten ebenfalls kurzfristig milliardenschwere Ausgabenkürzungen, die zwangsläufig zu Belastungen für die Bevölkerung entweder in Form geringerer oder schlechterer Leistungen gegangen wären. Gekommen ist davon nur wenig - und das ist gut so.
Der unerfreulichste allgemeine Punkt des Konsolidierungspaketes betrifft trotzdem die Ausgabenseite: Statt gezielt bei diskussionswürdigen bzw. nicht mehr zeitgemäßen Ausgaben deutlich einzusparen, mittelfristige Strukturreformen zumindest zu beginnen und im Zweifelsfall auch teure Steuervorteile im Privatpensions- oder Familienbereich als zu kürzende Kosten in Betracht zu ziehen, hielt man sich weitgehend an die im April im Zuge des BFRG festgelegte »Rasenmähermethode«.
Hierbei wurde einfach in allen Bereichen derselbe Prozentsatz abgeschnitten - lediglich sensible Bereiche wie Bildung und Arbeitsmarkt wurden mit »höheren Schnittstufen« etwas geschont. Damit war bereits im April besiegelt, dass es etwa bei der Familienförderung zu empfindlichen Einschnitten kommen wird.
Länder nicht eingebunden
Zumindest punktuell wird nun von den BFRG-Vorgaben abgewichen: Mehrausgaben in Form von Offensivmaßnahmen wurden ermöglicht, EU-finanzierte Ausgaben herausgerechnet, Sparbeiträge reduziert und Rücklagenauflösungen, Verschiebung innerhalb des staatlichen Sektors sowie automatische Minderausgaben (durch die bessere konjunkturelle Entwicklung) angerechnet.
Letztlich ist die bisher fehlende substanzielle Einbindung der Länder kritisch zu sehen, denen ohne höhere Verantwortung für den gesamtstaatlichen Budgeterfolg und ohne Beteiligung an Offensivmaßnahmen im Bereich beschäftigungsintensiver Wachstumsbereiche (z. B. Kinderbetreuung, Pflege) frei verfügbare höhere Ertragsanteile zugestanden werden. Betrachtet man die konkreten Maßnahmen, so fällt zunächst Offensichtliches auf: Milliardenschwere Ausgabenkürzungen sind kurzfristig nur durch unbeliebte Leistungskürzungen möglich.
Doch das muss differenzierter gesehen werden: Während es in den Budgetuntergliederungen wie z. B. Pensionen und Gesundheit relativ gut gelungen ist, negative Effekte zu beschränken, ist das im Familienbereich anders: Statt wenig effektive und eher BesserverdienerInnen zugute kommende teure Steuervorteile wie den Kinderfreibetrag abzuschaffen, werden etwa Studierende und arbeitslose Jugendliche bzw. deren Eltern besonders hart getroffen.
Im Bildungs- und Wissenschaftsbereich gibt es zwar jeweils 80 Millionen Euro zusätzlich im Jahr, doch gleichzeitig werden sinnvolle Ausgaben - etwa für anwendungsorientiertere außeruniversitäre Forschungseinrichtungen oder Bau- und Fördermaßnahmen für Menschen mit Behinderung - gekürzt oder verschoben. All das ist nicht zu beschönigen - es hätte substanziell korrigiert werden müssen.
Steuern auf Vermögenszuwächse
Einnahmenseitig finden sich überwiegend positive Aspekte. So ist die Bankenabgabe ein Versuch, die MitverursacherInnen der Krise zu belasten. Weiters sind die höheren Steuern auf Vermögenszuwächse und manche Stiftungserträge begrüßenswert.
Problematischer ist die Erhöhung der Mineralölsteuer, vor allem weil es zu keiner Reform des Pendlerpauschales gekommen ist, die mit einer Umstellung auf einen Absetzbetrag mit höherer Abgeltung für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eher ökologische Lenkungseffekte und soziale Ausgewogenheit erzielen hätte können. Insgesamt wurde durch das Budgetkonsolidierungspaket ein erster Schritt in Richtung höherer kapital- und vermögensbezogener Steuern gesetzt, dem weitere folgen sollten. Es ist weder ein großer Wurf noch ein Wunschpaket der ArbeitnehmerInnen, aber besser als anzunehmen war. Es erfolgt damit weder ein Frontalangriff auf staatliche Strukturen, noch wird der Schwerpunkt der Einnahmenerhöhungen auf Massensteuern gelegt.
Entscheidend für die Zukunft wird sein, ob in der Wirtschaftspolitik nun wieder mehr auf beschäftigungs-, bildungs-, verteilungs- und umweltpolitischen Aspekte geachtet wird - oder diese durch eine jahrelange Sparzwangslogik hintangestellt werden.
Weblinks
AK-Analysen der Budgetpolitik:
tinyurl.com/35qc76g
Konsolidierungspaket der Bundesregierung vom 23. Oktober:
tinyurl.com/33vnbff
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»Öffentlicher Konsum« - was ist das?
Unter »öffentlichem Konsum« im engeren Sinn (VGR-Konzept) sind vereinfacht dargestellt alle Aufwendungen zu verstehen, die die öffentliche Hand (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger) zur Bereitstellung sämtlicher Güter und Dienstleistungen benötigt. Dazu zählen v. a. der Personalaufwand, die zugekauften Vorleistungen, aber auch die Wertminderung der öffentlichen Gebäude und Maschinen. Neben dieser statistisch engen Abgrenzung wird aber in (wirtschafts-)politischen Diskussionen nicht selten unter dem »öffentlichem Konsum« mehr verstanden (z. B. bestimmte öffentliche Infrastrukturinvestitionen etc). Die folgenden Berechnungen und Darstellungen beziehen sich auf diesen »weiteren« Begriff des öffentlichen Konsums.
Gezielte Investitionen rechnen sich
Durch gezielte öffentliche Investitionen können strukturelle Probleme gelöst und Arbeitsplätze geschaffen werden. Gesellschaftlich gesehen sind dies Investitionen in die Zukunftsfähigkeit Österreichs, auf individueller Ebene eröffnen sie den Menschen mehr Chancen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe.
Gerade durch Investitionen in den Sozialstaat in den Bereichen Kinderbetreuung, Abbau von Qualifikationsdefiziten bei Jugendlichen und Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit z. B. durch berufliche Rehabilitation können direkt und indirekt zumindest 60.000 Personen zusätzlich in den Arbeitsmarkt integriert werden. Durch die positiven Beschäftigungseffekte und entsprechende Leistungseinsparungen - insbesondere in der Arbeitslosen- und Pensionsversicherung - wird eine massive Entlastung der öffentlichen Haushalte erreicht.
Anhand von vier konkreten Maßnahmen aus drei gesellschaftlich zentralen Bereichen wird modellhaft aufgezeigt, dass durch entsprechende Investitionen in den Sozialstaat darüber hinaus ein Beitrag zur nachhaltigen Budgetkonsolidierung geleistet werden kann. Damit wird die vorherrschende Annahme entkräftet, wonach Investitionen in den Sozialstaat in Zeiten der Budgetkonsolidierung außer Frage stünden, da sie nur kosten.
Das Gegenteil ist der Fall, wie die Modellberechnungen eindrucksvoll zeigen: Kurzfristig entstehen natürlich Kosten, doch auf Dauer leisten diese Investitionen einen wesentlichen Beitrag zu einer nachhaltigen Budgetkonsolidierung - und erhöhen Österreichs Standortattraktivität und -qualität. (Details siehe Tabelle)
In den gerechneten Beispielen fallen in der Gesamtbetrachtung in den ersten Jahren Brutto-Investitionskosten an, die von 118 Mio. Euro im Jahr 2011 auf 603 Mio. Euro im Jahr 2014 ansteigen. Schon in den ersten Jahren nach Beginn der Maßnahmen bzw. Programme finanzieren sich diese zum Teil selbst, je länger der Beobachtungszeitraum festgelegt wird, desto höher sind die Rückflüsse durch die zusätzliche Beschäftigung.
Strukturelles Plus ab 2014
Bereits ab dem Jahr 2014 ist die Gesamtbilanz für die öffentlichen Haushalte klar positiv. Den Ausgaben von 603 Mio. Euro stehen im Jahr 2014 bereits Einsparungen und Einnahmen von insgesamt 734 Mio. Euro gegenüber. Dauerhaft (über das Jahr 2020 hinausgehend) ergibt sich durch die hier analysierten Investitionen sogar ein strukturelles Plus in den öffentlichen Haushalten von über 800 Mio. Euro/Jahr. Berechnungen zeigen, dass Investitionen in zukunftsträchtige Bereiche schon innerhalb relativ kurzer Zeiträume Rückflüsse an den Staat generieren, die die ursprünglichen Kosten übersteigen und damit auch gesellschaftspolitisch sinnvoll zur Budgetkonsolidierung beitragen.
Ausbau von Kinderbetreuung
Insgesamt wird durch die Realisierung dieser öffentlichen Investitionen der Wirtschaftsstandort attraktiver, wird die Beschäftigungsquote insbesondere von Frauen steigen, gleichzeitig nehmen die entsprechenden Lohnabgaben zu und die strukturellen Mängel werden abgebaut. Da z. B. der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen sowohl beachtliche direkte Beschäftigungseffekte (10.550 im Endausbau) als auch indirekte Effekte (Ausweitung der individuellen Arbeitszeiten bzw. Ermöglichung von Arbeitsaufnahmen - allein bis 2015 entstehen dadurch 27.500 Beschäftigungsverhältnisse) hat, fließen über direkte Lohnabgaben beträchtliche Mittel an die öffentliche Hand zurück.
Umso besser es gelingt, »neue« BetreuerInnen nach deren Qualifizierung aus der Arbeitslosigkeit zu rekrutieren, umso höher fallen auch dauerhaft die Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung aus. Berücksichtigt man die Kombination dieser beiden positiven Effekte - also Anstieg der Beschäftigung und Leistungseinsparungen -, ergeben sich mittelfristig bereits ab dem fünften Jahr nach Beginn der Investitionsaktivitäten strukturelle Mehreinnahmen im Vergleich zu den laufenden Kosten der Kinderbetreuungsangebote.
Langfristig ergibt sich allein durch den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagesschulformen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die steigende direkte Erwerbsbeteiligung insbesondere der Frauen und die sonstigen Beschäftigungseffekte (z. B. ausgelöst durch steigende Konsumausgaben der privaten Haushalte) bedeuten strukturelle Mehreinnahmen für die öffentlichen Budgets.
Je stabiler und dauerhafter diese Beschäftigungsverhältnisse sind, umso höher ist auch der positive Beitrag für die öffentlichen Haushalte. Gerade diese Nachhaltigkeit der Mehreinnahmen unterstützt die aktuellen und zukünftigen Bemühungen zur Budgetkonsolidierung.
Produktiver Faktor Sozialstaat
Fokussierte Investitionen in den Sozialstaat (»Sozialstaat als produktiver Faktor«) sind notwendig zur Verbesserung und Weiterentwicklung der bestehenden Strukturen und leisten - wie sich nicht nur modellhaft zeigen lässt - darüber hinaus einen Beitrag zur nachhaltigen Sozialstaatsfinanzierung.
Mehr noch als bisher ist vor diesem Hintergrund evident, dass dem Sozialstaat eine unverzichtbare Rolle zukommt, um nicht nur die bereits bestehenden Herausforderungen wie etwa der Globalisierung, der Gefahr eines Lohn-/Steuer-/Sozialdumpings, der Ausbreitung prekärer Arbeitsformen, Gleichstellung von Mann und Frau, dem demografischen Wandel, Anforderungen einer modernen Wissensgesellschaft oder der Individualisierung der Lebensformen zu bewältigen.
Zukunftsinvestitionen
Trotz knapper Budgets muss es Österreich also gelingen, jene Zukunftsinvestitionen zu realisieren, die zwar kurzfristig mit Kosten verbunden sind, sich aber nachhaltig »rechnen« und strukturelle Mehreinnahmen für die öffentlichen Haushalte bedeuten.
Weblink
Langfassung der Studie:
tinyurl.com/37nhu9z
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Schiefer Blickwinkel
Im Jahr 2009 erhöhte sich das nominelle Kaufkraftvolumen der österreichischen Bevölkerung um 4,6 Prozent auf rund 135 Mrd. Euro. Aufgrund der geringen Inflation 2009 (VPI +0,5 Prozent) liegt das reale Kaufkraftwachstum bei 4,1 Prozent. Ein Widerspruch? Nein. Es kommt auf den Blickwinkel an - und der ist manchmal schief. Bei einem großen Teil der Menschen, die von ihrem Erwerbseinkommen leben müssen, machen die Ausgaben für Wohnen, Energie (insbesondere Heizung und Benzin) sowie Lebensmittel den größten Teil der monatlichen Kosten aus. In der offiziellen Inflationsstatistik sind diese Ausgaben jedoch untergewichtet, sagen KritikerInnen.
Die Teuerung hat sich in Österreich auch im Oktober beschleunigt. Noch stärkere Spritpreis-Erhöhungen als im Monat davor haben die Inflationsrate im Jahresabstand von 1,9 auf 2,0 Prozent klettern lassen - zuletzt war der Wert im Juni so hoch. Grund für den Teuerungsanstieg waren höhere Preise für Mineralölprodukte, die gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent zulegten. Ohne Energiepreise hätte die Inflation im Oktober nur 1,4 Prozent betragen. Der für die Euro-Zone berechnete Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) Österreichs stieg binnen Jahresfrist um 1,9 Prozent. Im Monatsabstand erhöhte sich das Preisniveau beim Pensionisten-Preisindex - wie beim allgemeinen VPI - um 0,2 Prozent und beim HVPI um 0,3 Prozent.
Die Statistik Austria verwendet für ihre Berechnungen einen Warenkorb, in dem die Preise von 770 Waren und Dienstleistungen erhoben werden. Alle fünf Jahre wird der Korb überprüft und neue Produkte hinzu- und veraltete Produkte herausgenommen. Je nachdem wie groß der Anteil des Produkts an den Gesamtausgaben ist, geben ihm die StatistikerInnen mehr oder weniger Einfluss auf die Gesamtinflationsrate. Das bedeutet, dass die Produkte wichtiger sind, die entweder teuer sind oder in großen Mengen gekauft werden. Die Auswahl der in die Preiserhebung einbezogenen Waren und Dienstleistungen (Indexpositionen) soll ein durchschnittliches Verbrauchsverhalten repräsentieren. Zudem existieren mehrere Gewichtungsschemata. Der VPI beinhaltet alle Ausgaben der Österreicher, ist also nach dem Inländerkonzept erstellt. Der HVPI basiert auf dem Inlandskonzept, es werden also auch die Ausgaben von TouristInnen in Österreich berücksichtigt. Die Ausgaben für eigentümergenutztes Wohnen sind derzeit noch ausgeschlossen. Der PIPH (Preisindex für Pensionistenhaushalte) beinhaltet Indexpositionen des VPI, die Ausgabenanteile in der Gewichtung beziehen sich aber nur auf österreichische Pensionistenhaushalte. Weiters wird ein Pkw-Index (Index für den privaten Pkw-Verkehr), ein Index des täglichen und wöchentlichen Einkaufs berechnet, welche Teilausschnitte des VPI-Warenkorbs darstellen.
Wirtschaftsprofessor Hans Wolfgang Brachinger von der Schweizer Universität Fribourg glaubt, dass der offiziell errechnete Index an der Wirklichkeit der KonsumentInnen vorbeigeht. »Beim amtlichen Verbraucherpreisindex wird angenommen, dass man täglich ein bisschen Fernseher oder ein bisschen Auto kauft - das ist unrealistisch«, so Brachinger. Entscheidend für KäuferInnen sind die Preise für Produkte, die sie ständig kaufen. Er hat einen Index entworfen, bei dem Produkte, die häufig gekauft werden, schwerer gewichtet sind, den Index der wahrgenommenen Inflation IWI.
Wahrgenommene Inflation
Ausgangspunkt des IWI ist die Überlegung, dass wir Preisänderungen umso stärker wahrnehmen, je häufiger wir ein Produkt kaufen: Wenn Bier, Brot und Benzin teurer werden, führt das zu einem »Alles-wird-teurer-Gefühl«; wenn dagegen Computer billiger werden, entgeht das weitgehend unserer Wahrnehmung, weil wir höchstens alle paar Jahre mal einen kaufen. Daher nimmt Brachinger zwar den gleichen Warenkorb wie das Statistische Bundesamt, gewichtet die Güter darin aber anders: Nicht mit ihrem Anteil an den Gesamtausgaben, sondern mit ihrer Kaufhäufigkeit. Außerdem berücksichtigt er, dass die Menschen dazu neigen, Preiserhöhungen stärker wahrzunehmen als Preissenkungen - ein Phänomen, das ÖkonomInnen »Verlustaversion« nennen.
Wichtige Ergänzung
Am offiziellen Verbraucherpreisindex möchte Brachinger mit seinem IWI zwar nicht rütteln, aber der Statistik-Experte ist überzeugt, dass sein Index eine wichtige Ergänzung der amtlichen Inflationsrate liefert, weil er die Alltagserfahrung und das subjektive Empfinden der KonsumentInnen misst. Und das ist es schließlich, was ihr Verhalten prägt - und nicht der amtliche Verbraucherpreisindex. »Wer den Konsumenten ernst nimmt«, so Brachinger, »der kommt an der Inflationswahrnehmung nicht vorbei.« Deshalb dürfte der IWI-Index auch besser geeignet sein, die künftige Konsumentwicklung abzuschätzen. »Ist die wahrgenommene Inflation höher, spart man eher bei den größeren Anschaffungen«, ist Brachinger sicher.
Auch Studienprojektleiter Helmut Lichowski, Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft (PLG), verweist auf die sogenannte »gefühlte Inflation« hin. Die »gefühlte Inflationsrate« von Oktober würde beispielsweise 3,9 Prozent betragen, die von der Statistik Austria ausgewiesene Teuerungsrate lag bei 2,0 Prozent. Im Vorjahr erreichte die Inflationsrate mit 0,5 Prozent den niedrigsten Wert seit 1953, allerdings habe die Bevölkerung dies nicht so gespürt. Die Schere der gefühlten und tatsächlichen Inflation klaffe seit Beginn der Krise immer stärker auseinander. Mit ein Grund dafür sei, dass etwa Lebensmittel oder Benzin nahezu täglich gekauft und zumeist auch bar bezahlt werden, die Handy-Rechnung oder billige Unterhaltungselektronik aber per Überweisung oder Karte. Auch sei Benzin im vergangenen Jahr um rund 20 Prozent teurer geworden.
Zudem würden viele Ältere noch in Schilling rechnen. Die Schilling-Euro-Relation sei aber nicht wie vor acht Jahren mit 13,76 zu bemessen, sondern wegen der Inflation mit 11,4 bzw. unter Einrechnung des heurigen Jahres voraussichtlich mit 11,2. ExpertInnen erwarten, dass es noch einige Jahre dauern wird, bis der Euro eine Währung ist, die im Gedächtnis der Leute verankert ist.
Wofür geben Frau und Herr Österreicher ihr Geld aus? Der Löwenanteil der Ausgaben, genau 22,3 Prozent (566 Euro), entfällt auf »Wohnen und Energie« (seit 1994 wurden die Mieten um 84 Prozent teurer, während die Gehälter um nur 28 Prozent stiegen).
Mehr Ausgaben für Verkehr
An zweiter Stelle liegt der Bereich »Verkehr« mit 16,1 Prozent (409 Euro), wobei rund 15 Prozent für privaten Verkehr aufgewendet werden. 13 Prozent der Gesamtausgaben (297 Euro) werden für Ernährung und alkoholfreie Getränke ausgegeben. 1974 entfielen noch 26,5 Prozent der Gesamtausgaben der heimischen Haushalte auf die Ernährung. Zehn Jahre später sank der Anteil auf 23,4 Prozent. 1994 verringerten sich die Ausgaben für Lebensmittel auf 16,9 Prozent und um die Jahrtausendwende verwendeten die heimischen Haushalte nur noch 13,2 Prozent der Gesamtausgaben für Lebensmittel.
Wobei es in den vergangenen Jahrzehnten zu deutlichen Verschiebungen gekommen ist. Während 1954 noch 42,5 Prozent des Haushaltseinkommens für Lebensmittelkäufe verwendet wurden, waren es im Jahr 2004/05 nur zwölf Prozent. Hingegen haben sich im gleichen Zeitraum die Ausgaben für Wohnen von zwölf auf 21 Prozent fast verdoppelt, für Individual- und öffentlichen Verkehr von vier auf 13 Prozent mehr als verdreifacht und für Gastronomiebesuche fast verdoppelt (3,7 auf 6,8 Prozent). Im Vergleich der letzten beiden Konsumerhebungen von 1999/2000 und 2004/2005 kam es zu einem weiteren Bedeutungsverlust der Ausgaben für Bekleidung, während vor allem für Gesundheit und Bildung deutlich mehr ausgegeben wurde. Die jüngste Konsumerhebung wurde von März 2009 bis März 2010 durchgeführt. Ergebnisse sind noch nicht bekannt.
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In 30 Jahren Umsätze verdreifacht
»Wir sind seit 30 Jahren hier. In dieser Zeit haben sich unsere Umsätze von sechs Mio. auf 20 Mio. verdreifacht«, eröffnete CEO Jobs jüngst dem Stadtrat.
Im Südwind-Büro werkt Andrea Ben Lassoued, 32, auf einem HP-Notebook. Ben Lassoued ist Leiterin von Clean-IT, eine Kampagne von Südwind und Teil des europäischen Projekts «Procure IT fair«. Die Kampagnenleiterin ist sicher: »Kein Computer ist fair produziert, doch als Konsument habe ich derzeit keine Alternative.«
Obwohl Apple großen Wert auf ein gutes Image legt, sind die Herstellungsbedingungen so schaurig wie bei anderen IT-Firmen. Die gesamte Herstellung des Apple Tablet (iPad) bei der chinesischen Firma Foxconn kostet 260 Dollar - 250 Dollar für Display, Mikrochips, Akku,WiFi-Antenne plus neun Dollar (!) für die Endmontage (nachzulesen bei www.isuppli.com).
Eine Selbstmordserie von Foxconn-ArbeiterInnen, die weiterhin anhält, beschäftigte Medien und KonsumentInnen. Auch Firmen wie Hewlett Packard, Dell, Fujitsu Siemens Computers lassen in Billiglohnländern produzieren, lagern an Flextronic, Foxconn, Inventec etc. aus. »Vor ein paar Jahren wusste kaum jemand Bescheid, wie und wo Computer hergestellt werden«, erklärt Andrea Ben Lassoued. »KonsumentInnen können sich kritisch bei Firmen erkundigen.« Das wird bei Apple schwierig: »Kein Kommentar« ist die Devise. Doch Ben Lassoued ist sicher: »Apple ist ein Statussymbol - schick, cool und deshalb verletzlich. Apple hat bereits Probleme, denn die Identifikation mit Apple-Produkten ist so stark, dass etwa die Wahrheit über Foxconn die KonsumentInnen schon trifft«.
Nico P., 43, Videokünstler und überzeugter Apple-Fan, ist gegen Clean-IT-Kampagnen immun. Nach zwei Power Mac G4 arbeitet der Künstler nun mit einem Apple MacBook Pro. Mit seinem iPhone telefoniert er nicht bloß. Von Videos schneiden, Musik aufnehmen, elektronisch erzeugen und visualisieren bis Bildbearbeitung nutzt der Wiener seinen Apple. Überzeugung: »Die ganze Software ist toll. Apple ist extrem durchdacht, das Design fantastisch, das Touchpad eine Freude und die Verarbeitung großartig.« Ein Seitensprung konnte Nico P. nicht überzeugen: »Ich bin kein Windows-Freund. Es gab ständig Probleme mit Viren und Abstürzen.« Doch über Apple ist er auch verärgert: »Die Preise sind ein Skandal, die Konsumenten werden verarscht. Wenn du weniger brauchst, musst du mehr zahlen - etwa, damit der Monitor nicht verspiegelt ist.« Die unfairen Produktionsbedingungen machen ihm weniger Sorgen: »Das ist unser Wirtschaftssystem, das Firmen zwingt in andere Länder auszuweichen. Die Rohstoffe sind das Riesenproblem.«
700 Stoffe werden benötigt
Rund 700 verschiedene Stoffe werden für die Produktion von Computern benötigt. Hier beginnt der ungesunde Kreislauf, setzt mit grausigen Arbeitsbedingungen fort, endet beim fahrlässig entsorgten Elektronikschrott.
Auch Andrea Ben Lassoued ärgert sich über Apple: »Steve Jobs sagte, dass es bei Foxconn gar nicht so schlimm ist.« Auf der Branchenkonferenz »All Things Digital« im kalifornischen Pancho Palos Verdes beschwichtigte der CEO: Der Konzern sei »kein Ausbeuterbetrieb«. Auf dem Fabriksgelände in Shenzhen seien »Restaurants, Kinos, Krankenhäuser und Schwimmbäder. Für eine Fabrik ist es da ziemlich nett«. Die Arbeitsbedingungen würden von Apple geprüft. Apple ist »eines der besten Unternehmen weltweit in seiner Branche, wenn nicht gar überhaupt«, wenn es darum gehe, die Arbeitsbedingungen entlang der Lieferkette zu »verstehen«. Ben Lassoued verlässt sich freilich nicht auf die Recherchen von Apple: »Es ist sehr gefährlich, in die Fabriken zu gehen, zu forschen und mit den ArbeiterInnen zu sprechen. Partnerorganisationen wie SACOM übernehmen das. Bei Foxconn wachen rund 1.000 Sicherheitsleute pro Firma.«
Doch Apple verkauft Lebensgefühl nicht nur Unterhaltungselektronik. Scheffelt gigantische Umsätze, obwohl der Kundenservice kränkelt. Auf einen iPhone-Lieferengpass für Weihnachten 2008 folgten Beschwerden, die nicht mal beantwortet wurden. Das kann Apple-KonsumentInnen nicht abschrecken: Apple gilt als hipp, künstlerisch, aufgeschlossen. Andere Computerhersteller setzten auf technische Möglichkeiten, Apple erkannte die emotionale Bindung der NutzerInnen zum Gerät.
Clean IT ist nicht Fair IT
Clean-IT und Partner kämpfen weiter um faire Herstellungsbedingungen: »Es gibt europaweit Erfolge, aber bisher nicht im IT-Bereich, sondern etwa bei Clean Clothes«, erklärt Ben Lassoued.
Einige Versuche nachhaltig produzierter Elektronik: ökologische PC-Maus vom WWF (z. B. Gehäuse aus Recyclingkunststoffen, Verzicht auf FCKWs), ökologische Tastatur in Deutschland. Die österreichische Firma Kerp entwickelte 2005 eine kabellose Öko-Maus mit LED-Technik, bleifrei gelötet. »Green IT« nicht »Fair IT«. Keines der Produkte ist mehr erhältlich. Aktuell ist eine faire LED-Kabelmaus von PheFE (Projekt zur Herstellung Fairer Elektronik; www.phefe.de) geplant - menschenwürdige Arbeitsbedingungen, sichere Produktion, Berücksichtigung von Sozial- und Ökobilanz. Andrea Ben Lassoued und ihr Team kümmern sich derweil um die österreichische Beschaffungstaktik, sei es mit Petitionen oder Gesprächen mit Entscheidungsträgern: »Konsumenten können Druck ausüben, indem sie bei Firmen nachfragen, sich beim Kauf erkundigen und Petitionen unterschreiben. Wir versuchen, Einfluss auf die sozial faire Beschaffung von Computern auszuüben. Etwa auf Ministerien, Schulen und Krankenhäuser. Wenn in großem Maßstab eingekauft wird, kann sehr wohl Druck auf die Erzeugerfirmen ausgeübt werden.« Die Bundesbeschaffung GmbH (BBG) ist der Einkaufsdienstleister der öffentlichen Hand. »Die Reaktion der BBG war positiv, allerdings nur was Green-IT betrifft.«
Bisher nicht erfolgreich waren eindringliche Bemühungen, mit Hans Sünkel, Präsident der Österreichischen Universitätenkonferenz, in Kontakt zu treten - auf zahlreiche Anfragen erfolgte keine Reaktion. »Wenn alle Rektoren in Österreich mitmachen würden, dann wächst auch der Druck auf die Bundesbeschaffung GmbH.« Dabei konnte Clean-IT eine 4.500 Unterschriften starke Petition vorlegen, die eine faire Beschaffung von Computern für Unis forderte. Andrea Ben Lassoued: »Empfehlen kann man derzeit noch gar nichts. Clean-IT versucht nicht, zum Boykott aufzurufen, denn da verlieren die ArbeiterInnen bloß ihren Job. Ich wünsche mir, dass es in fünf bis zehn Jahren Alternativen für Konsumenten gibt - das ist mein Traum«.
Apple ist längst kein klassischer Computer-Hersteller mehr, für den Umsatz sorgen vor allem iPhone, iPod und der Flachcomputer iPad. Freilich auch der App Store und iTunes. Während die Musikindustrie gegen illegale Tauschbörsen verlor, wurde Apple wurde zum größten Online-Musikhändler der Welt. So rigide Apple mit Informationen ist, so streng kontrolliert die Firma auch, was auf dem iPad oder iPhone läuft. Aufs iPhone passen nur App-Store-Apps- freilich nach prüden Apple-Richtlinien.
Manche Inhalte sind pfui ...
Manch Cartoon wird entfernt - einer zeigte Tiger Woods, der auf einem Rasen in Frauenform golfte. Zensur von Klassikern: Eine Comic-Version von Joyces »Ulysses« zeigte Nackheit, Wildes »The Importance of Being Earnest« das Bild zweier küssender Männer. Nach Medienprotesten sind die Werke ungeschnitten im App Store erhältlich. Interessant: Die »Bild« hatte mit den barbusigen Seite-eins-Mädchen kein Problem.
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Moderner Ablasshandel
Ohne Frage unterstützt man mit dem Kauf von ökologisch und sozialverträglich hergestellten Produkten den Fortschritt zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Hinter manchen Markenversprechen steckt jedoch nur Grünfärberei. Denn ein grünes Image, eine Corporate Social Responsibility kann man sich mit der richtigen PR-Agentur schnell zulegen, um den KonsumentInnen ein ruhiges Gewissen zu verschaffen. Während in fernen Ländern Kinder ausgebeutet, Flüsse verunreinigt und gewerkschaftliche Organisation verhindert werden, verleihen sich dieselben Konzerne in Europa ein soziales und umweltfreundliches Image. Diese Unternehmen betreiben Greenwashing.
Der Smoothie-Hersteller Innocent, der zehn Prozent des Umsatzes sozialen Zwecken spendet, rechtfertigt die jüngste Beteiligung der Coca Cola Company damit, dass dadurch mehr Geld für Spenden zur Verfügung steht. Coca Cola hält 58 Prozent an Innocent und hat schon mit zahlreichen Einträgen im »Schwarzbuch Markenfirmen« auf sich aufmerksam gemacht. Die Werbung suggeriert ein falsches Bild und beeinflusst Kaufentscheidungen. Grünfärberei hilft auch, das Verlangen der KonsumentInnen nach schärferen Gesetzen zu drosseln. Denn nur der Druck der VerbraucherInnen beim Konsum allein reicht nicht aus, die Politik muss Vorgaben für fairen und nachhaltigen Handel geben, und der Eindruck, dass die Wirtschaft immer mehr auf Nachhaltigkeit setzt, verlangsamt politisches Handeln.
Qualitätssiegel bieten Hilfe, »echte« faire Ware zu erkennen. In diesem Zertifikate-Dschungel muss man erst einen Überblick bekommen, denn für fast alle Produktgruppen gibt es schon dazugehörige Siegel. Essen, Kleidung, Spielzeug, Blumen - die Liste ist lang. Übersichtliche Firmen Checks und Newsletter, Gastro- und Floristenfinder oder Verbraucherhinweise bieten Gelegenheit, sich über den österreichischen Markt zu informieren und neue Bezugsquellen aufzustöbern. Auch unabhängige Verbraucherschutz-Organisationen wie Foodwatch.at bieten Informationen über faires Konsumieren und fordern gesetzliche Regelungen, damit irreführende Produktkennzeichnungen und mangelnde Information den Verbraucher nicht hinters Licht führen.
Lohas - Nachhaltigkeit als Lifestyle
Der strategische Konsum schafft ein gutes Gewissen. Und diese emotionale Rendite, für die man auch einen saftigen Preis zahlt, und die die Konsumlust rechtfertigt, lässt manchen Kaufbewussten blind für wirkungsvolles nachhaltiges Handeln werden. Ein KonsumentInnentyp schreibt strategischen Konsum ganz groß. Sie sind gebildet, wohlhabend und leben Nachhaltigkeit als Trend. Die Strategie ihres Konsums liegt darin, nicht zu verzichten, doch im Schein der Nachhaltigkeit zu leben. Lohas sind Anhänger des Lifestyle of Health and Sustainability. Sie fliegen 15 Stunden ins Öko-Ressort, kaufen im Winter Bio-Erdbeeren aus Ägypten und fahren ein Hybrid-Auto. Der wichtigste Aspekt dabei bleibt der Lifestyle. So begründet sich der Konkurrenzvorsprung vom Toyota Prius damit, dass er im Vergleich zu Hybrid-Autos von Honda und Ford eindeutig durch das Design der Karosserie als Hybrid zu erkennen ist. Man will nicht nur Gutes tun, man will auch dabei gesehen werden.
Dabei kann man abschätzen, dass die tatsächliche Einsparung von Ressourcen nicht sehr groß ist. Und dass durch den Konsum dieser Güter die Wirtschaft zur Produktion und zum Handel von fairen und ressourcenschonenden Produkten gezwungen wird, kann man auch nicht annehmen. Dazu ist die Käuferschicht zu gering. So wird nur der Schein erzeugt, dass die Anpassung unseres Alltagslebens die Antriebsfeder für eine Nachhaltigkeit ist, die eigentlich die Politik sein sollte. Denn auch ausgezeichnet informierte strategische KäuferInnen können nicht den gesamtwirtschaftlichen Überblick haben, um einzuschätzen, ob der Umstieg auf Öko-Strom Ressourcen schont, oder einfach nur den Handel mit Öko-Strom-Zertifikaten anheizt. Kathrin Hartmann kritisiert aus diesem Grund in ihrem Buch »Ende der Märchenstunde« den Lifestyle der Lohas. Strategischer Konsum kann die Welt retten, wird auf Plattformen wie Utopia.de propagandiert. Dabei fällt das Wort Verzicht, außer am jährlichen BuyNothingDay, der passend am 27. November kurz nach dem amerikanischen Thanksgiving gefeiert wird, nicht oft. Doch im Gegensatz zu sogenannten Lovos, streben die Lohas keinen Konsumverzicht an, sondern wollen ihrem Luxuskonsum einen ethnisch-korrekten Aspekt geben. Nach Hartmann kann strategischer Konsum im Kleinen sicherlich sinnvoll sein, doch Fischstäbchen von einer Marke zu kaufen, die einen Teil des Verkaufspreises an Meeresschutzprojekte spendet, nicht.
Im Unterschied zu großen Unternehmen, die Marketingmaschinerien betreiben, kann man sich bei kleinen Labels und Shops wirklich selbst ein Bild machen. So beim ersten ökofairen Modelabel Österreichs Göttin des Glücks. Hier wird entlang der gesamten Produktionskette fairer Handel garantiert und ausschließlich mit zertifizierter Bio-Baumwolle gearbeitet. Sie ist ein Musterbeispiel in ihrer Branche und mit den Zertifizierungen von EZA, Fairtrade und GOTS (Global Organic Textile Standard) kann sich das Unternehmen sehen lassen. Aber nicht nur über die eigene faire Produktion kann man sich auf der Homepage des Unternehmens informieren, sondern es werden auch Denkanstöße in Bezug auf die herkömmliche Produktion gegeben. Die Fragen lauten: Wenn ein T-Shirt drei Euro kostet, wie kann man das verantworten, rechtfertigen? Und kann man sich über seinen Kauf noch freuen?
Vinzi-Shops und Recycling-CD-Hüllen
Die Vinzenzgemeinschaft, im 19. Jahrhundert gegründet, betreibt Shops, Würstelstände und produziert sogar Vinzi-Pasta, deren Gewinne dem Verein und deren Notunterkünften zur Verfügung gestellt werden. Ethnisch-korrekte und umweltbewusste Musiklabels wie Green Owl Records, mit Recycling-CD-Hüllen oder der klimaneutrale Bücher- und Medienversand Anares (Stichwort »Ökologisches Beschaffungswesen«) zeigen, dass auch hier ein Umdenken stattfinden kann. Ob diese Pioniere jedoch einen Trend hervorrufen, ist schwierig zu sagen. Sicher ist, dass KonsumentInnen immer mehr Wert auf Nachhaltigkeit legen, doch viele Kompromisse eingehen müssen. Denn um sichergehen zu können, nachhaltig und fair zu kaufen, muss man sich informieren, die Marken kennen, die Shops aufsuchen und verzichten. Doch ein gutes Gewissen leisten können sich dennoch nicht viele. So muss durch politisches Aktivwerden der KonsumentInnen Druck auf die Wirtschaft gemacht werden, und Unternehmen zu fairer und nachhaltiger Produktion gezwungen werden. Denn »es gab noch nie in der Geschichte irgendeines Landes eine gesellschaftliche Veränderung durch Konsum. Keine Veränderung ist jemals zustande gekommen, weil eine besser verdienende Elite etwas anderes eingekauft hat«, so Hartmann. Dennoch kann uns die Lohas-Bewegung eines lehren: Wenn strategischer Konsum eine soziale Anerkennung mit sich bringt, kann vielleicht auch ein Trend den Anlass für einen Diskurs einer generellen Wende in der konventionellen Wirtschaft führen. Das Bewusstsein, wo und wie unsere Konsumgüter produziert werden, und der sinnvolle Umgang mit den Ressourcen darf aber nicht durch blinden Konsumrausch vernachlässigt werden.
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Freegans
Hermann möchte namentlich nicht genannt werden. Er ist einer der - zahlenmäßig naturgemäß nicht erfassten - Freeganer, die dem herrschenden Konsumzwang den Rücken gekehrt haben.
Freeganer, abgeleitet von »free« (frei) und »vegan« (Personen, die keine Tierprodukte verzehren), versuchen, ohne zwangsläufig in materieller Not zu stecken, möglichst weitgehend kostenlos zu leben.
Die Verwertung von Abfall, nicht allein weggeworfene Lebensmitteln, sondern auch Kleidung, Möbel, Bücher, technische Geräte und andere Bedarfsartikeln gehört zu ihrer täglichen Lebenspraxis. Ihr Ziel ist es, »den negativen Einfluss der kapitalistischen Volkswirtschaft auf die Einzelperson durch eine alternative Lebensweise in Bezug auf die Grundversorgung zu verringern«. (Siehe www.freegan.at)
Zu finden ist in Österreichs Mülltonnen genug. Der Anteil nicht verkaufter Lebensmittel, der von den Supermärkten an karitative Einrichtungen, wie etwa die Wiener Tafel, weitergegeben wird, ist vergleichsweise gering. Laut einer Studie des Instituts für Abfallwirtschaft der Universität für Bodenkultur enden jährlich etwa 166.000 Tonnen genießbare Lebensmittel im Restmüll. Mit dem Dokumentarfilm des Österreichers Erwin Wagenhofer »We feed the world - Essen global«, der im Herbst 2005 in den Kinos lief, ist der verschwenderische Umgang mit Nahrung zum Thema geworden. Die Freegans fanden Eingang in Fernsehsendungen und Talkshows.
Entstanden war die Bewegung der Freeganer Mitte der Neunzigerjahre in den USA unter den KritikerInnen einer ausschließlich auf Profit orientierten Globalisierung. In Österreich gilt der ehemalige Flugverkehrsleiter Ronny Wytek als Pionier der Bewegung. Er hatte 1998 das Wiener GeOb-Kollektiv gegründet. Gemeinsam wurde zunächst weggeworfenes Gemüse und Obst gesammelt, später kamen Lebensmittel und Waren aller Art hinzu.
Überflussgesellschaft
Von den Freegans hatte sie zunächst nichts gewusst, berichtet Henrietta (Name geändert), eine Aktivistin der ersten Stunde. »Wir haben gesehen, welcher Überfluss vorhanden ist, und wie viel weggeworfen wird, von dem man gut leben kann.« So hatte sie das erste Mal bei der Jahrtausendwende ihr Essen aus Mülltonnen geholt. »Mir ist es als moralische Pflicht erschienen«, berichtet sie, »dort zu konsumieren, wo Lebensmittel und andere verwertbare Abfälle zum Problem werden.«
Moral
Auch René (Name geändert) hat sich den Freeganern aus moralischen Überlegungen angeschlossen. »Ich habe mir angesehen, wohin meine Geldflüsse gehen, woher ich mein Geld beziehe, und wo es zwischengelagert wird. Meist dort, wo der Profit am größten ist. Und das ist in vielen Fällen die Rüstungsindustrie.«
Die meist jungen Menschen, die nach Geschäftsschluss, oft in den Morgenstunden, noch ehe die Konsumwelt erwacht, mit Leinentaschen oder Rucksäcken ausziehen, um die Mülltonnen nach Essbarem zu untersuchen, stellen grundsätzliche Fragen. »Wie groß ist mein ethischer Rucksack, um ein bestimmtes Produkt ins Regal zu bringen?« »Wie kann ich dazu beitragen, dass Ressourcen nicht sinnlos verschwendet werden?«
Gesammelt wird bei Obst- und Gemüsemärkten, bei Supermärkten und bei Bioläden.
»Unglaublich, was da alles weggeworfen wird«, berichtet Henrietta. Oft finden die MiststierlerInnen aus ethischen Gründen so viel, dass es nicht nur zur Selbstversorgung reicht. »Es gibt so eine Fülle, dass man sich sogar die Qualität aussuchen kann«, berichtet Hermann. Exotische Früchte, wie Kiwis, Mangos oder Avocados würden »tendenziell erst in der Mülltonne reif«.
Mit den Volxküchen (VoKü) macht die Jugend den Missstand, dass täglich Tonnen von Lebensmittel »entsorgt« werden, zur Tugend. »Weil wir keine Lust auf Mensa, Stiegl-Bräu und Billa haben ... kochen wir uns ab jetzt unser Essen am Campus selbst«, laden sie etwa jede zweite Woche im Monat im Wiener Alten AKH ein. Auch beim Türkenwirt (Tüwi) nahe der Universität für Bodenkultur wird jeden ersten Sonntag im Monat gemeinsam Gefundenes gekocht.
Unauffällig
Unauffälligkeit beim Sammeln gegenüber den Angestellten, aber auch den PassantInnen gegenüber, ist erste Freeganer-Pflicht. »Sei fair - hinterlasse keine Spuren und ermögliche Dumpster Diving auch für andere«, lautet das Gebot. »Manchmal sind die Mülltonnen versperrt oder stehen in einem Abstellraum«, erzählt Henrietta. Auch Rattengift erschwert bisweilen die Suche. »Es hängt seitwärts in den Tonnen«, berichtet René. »Außer Schalenfrüchte oder wirklich gut Verpacktes nehme ich da nichts.«
Ist das Containern nicht gefährlich? »Grundsätzlich nicht mehr, als einkaufen zu gehen«, antwortet Hermann. »Was wir aus der Tonne nehmen ist gerade ein paar Stunden zuvor noch im Geschäft angeboten worden. Gerade bei pflanzlichen Produkten ist die Gefahr der Verderblichkeit ohnehin geringer oder nicht existent.«
Kilosäcke mit Kartoffeln, Zwiebeln, Äpfeln, Bananen werden gefunden. »Manchmal ist die Schale nicht mehr ansehnlich genug für den Verkauf«, sagt René. »Aber die entfernen wir ohnehin.«
Gut verschlossenes Joghurt oder Käse, mit überschrittenem Ablaufdatum, Schokolade und Kekse ergänzen den Speisezettel. Nicht alle Freeganer ernähren sich ausschließlich vegan. »Wenn ein Produkt bereits den Wirtschafskreislauf verlassen hat«, meint etwa René, »macht es keinen Sinn, es nicht einer Verwertung zuzuführen«.
Seit der intensiven Berichterstattung versperren einige Supermärkte ihre Mülltonnen. Von Problemen mit den MitarbeiterInnen wird nichts berichtet. »Die sind oft selbst schockiert über die Ausmaße der Verschwendung«, sagt Henrietta. »Sie sind ja verpflichtet, das Abgelaufene wegzuwerfen. Es selbst mitzunehmen ist ihnen nicht erlaubt.«
Mülltrennung
Grundsätzlich sind in Österreich Privathaushalte und Supermärkte zur Mülltrennung verpflichtet. »Gerade die Supermärkte halten sich aber nicht daran«, kommentiert René. »In gewisser Weise ist unsere Arbeit auch eine Art Mülltrennung.«
Wäre es nicht sinnvoller, Institutionen wie den Sozialmarkt zu unterstützen, werden die Freeganer auf einem Internetblogg gefragt, als teuer produzierte Lebensmitteln gratis abzustauben? »Die werden nur mit Lebensmitteln in größeren Mengen beliefert«, lautet die Antwort. »Und mit Waren, die nicht abgelaufen sind. Das sind ganz andere Dinge, als die, die wir finden.« Die Freeganer führen ein Nischendasein. »Über einen gewissen Prozentsatz kann Dumpstern nicht hinausgehen«, ist sich Blogger Mu bewusst. »Denn schließlich muss auch konsumiert werden, damit Abfall entsteht. Viel sinnvoller wäre es, keine Tierprodukte zu kaufen, wenn Mensch etwas verändern will. So würde die Wirtschaft nicht schrumpfen, aber die Ressourcen geschont.«
Immer wieder wird René auf seiner Rucksacktour bei den Mülltonnen von PassantInnen angesprochen. »Nicht nur Kapitalismuskritische oder Leute aus der Jugendkultur interessieren sich dafür«, sagt er. »Auch die älteren Menschen. Die halten es für eine Sünde, Lebensmittel einfach wegzuwerfen.«
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Diskreter Luxus
Apropos Kultur: Drinnen in der Hofburg geht soeben eine Fashion-Show zu den Klängen klassischer Musik über die Bühne. Eine kurze Pause beim Messebummel zwischen rund 90 Ausstellern, die Luxus von A bis Z anbieten: Champagner, handgezogene Grissini, Luxuslimousinen, Schmuck und Uhren, Servietten mit gesticktem Monogramm etc., Preise nur auf Anfrage. Laut Veranstalter kamen heuer rund 17.000 BesucherInnen zur Luxusmesse, um 13 Prozent mehr als 2009. Wie viele der ca. 40.000 österreichischen MillionärInnen tatsächlich durch die Messe-Räumlichkeiten bummelten, kann niemand genau sagen.
Sicher ist, dass sich die Luxusbranche nach der Wirtschaftskrise sehr rasch wieder erholt hat, manche sprechen sogar von einem Boom. Wesentlich daran beteiligt ist das aufstrebende China. ExpertInnen schätzen, dass es in fünf Jahren weltweit der größte Abnehmer für Luxusgüter sein wird. Schon heute ist Frankreich, wo Restaurants mit Preisen ab 500 Euro pro Person und Luxus-Suiten um 14.000 Euro pro Nacht keine Auslastungsprobleme haben, nach Japan das beliebteste Reiseziel der Chinesen.
Aber auch in Österreich war 2010 für manche ein gutes Jahr: Schon im vergangenen Juni lagen die veranlagten Werte deutlich über dem Stand von 2007. Während überall im Land Sparen angesagt ist, ist die Zahl der MillionärInnen nach dem Krisenjahr 2009 um elf Prozent gestiegen und deren Vermögen um 13,7 Prozent auf 210 Milliarden Euro angewachsen.
Ab wann ist jemand reich? Von ExpertInnen wird die Grenze meist beim Zweifachen des durchschnittlichen Vermögens angesetzt. Nach dieser Definition wären zehn Prozent der Haushalte in Österreich reich und verfügten durchschnittlich über ein Geldvermögen von 290.000 Euro. Als Millionäre werden Personen bezeichnet, deren freies Vermögen (Spareinlagen, Aktien, Immobilien etc.) mindestens eine Million (Dollar oder Euro) ausmacht. Selbst benutzter Immobilienbesitz wird nicht dazugerechnet. Tatsächlich kann das Vermögen der meisten Reichen ohnehin nur geschätzt werden.
Über Geld spricht man nicht
Der Ökonom und Politikwissenschafter Martin Schürz ist Leiter der Gruppe monetäre Analysen in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Österreichischen Nationalbank und beschäftigt sich schon länger intensiv mit dem Thema Reichtum: »Die Freiwilligkeit bei Haushaltsbefragungen zum privaten Vermögen setzt der Reichtumsforschung enge Grenzen. Zur Erforschung des privaten Vermögensreichtums wäre staatlicher Zwang zur Informationsoffenlegung notwendig. Dass dies nicht einmal diskutiert wird, veranschaulicht die gesellschaftlichen Machtverhältnisse.« Reichtum, das bedeutet nicht nur, dass man nach Lust und Laune shoppen gehen kann.
Reichtum bedeutet auch Macht, als Grundbesitzer oder als Arbeitgeber, als Du-FreundIn von SpitzenpolitikerInnen etc. etc. Entsprechend »vermögensfreundlich« verhalten sich daher die meisten Politiker. Schürz plädiert für die Einführung der Erbschaftssteuer (derzeit stellen zwei Prozent der Haushalte 40 Prozent des gesamten Immobilien-Erbschaftsaufkommens). Die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden kritisiert Schürz als symbolische Maßnahme in Richtung Philanthrokapitalismus. Der Staat folge damit privaten Präferenzen reicher Menschen, statt soziale Organisationen direkt zu unterstützen.
Spenden statt Steuern
Zweifellos ist für den Einzelnen der Wohlfühlfaktor bei Spenden und Stiftungen größer als beim anonymen Steuerzahlen. Man kann es sich aussuchen, ob man lieber ein Museum oder eine Forschungseinrichtung großzügig bedenkt, oder doch etwas für die Bedürftigen tut. Und selbst wenn Wohltäter das nicht an die große Glocke hängen, zumindest die soziale Anerkennung, wenn nicht gar Dankbarkeit ist gewiss.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Druyen vom Institut für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie an der Sigmund-Freud-PrivatUni betont, dass Wohltätigkeit lange Tradition hat: »Im 18. Jahrhundert gab es im deutschen Sprachraum über 100.000 Stiftungen, heute sind es ca. 34.000.« Und er betont den Unterschied zwischen vermögend und reich: »Vermögend zu sein, das bedeutet nicht nur haben, sondern auch Verantwortung zu übernehmen, etwas Sinnvolles zu tun.«
Zum Glück gibt es nicht wenige Reiche, die sich für Menschen einsetzen, die es nicht so gut getroffen haben. Vor allem in den USA haben Spenden und Stiftungen große Tradition, das Spendenaufkommen liegt bei rund 300 Milliarden Dollar jährlich. Hier dürfte eine deutliche Steigerung zu erwarten sein, so meldete SPIEGELonline im August, dass 40 US-Milliardäre versprochen haben, die Hälfte ihres Vermögens zu spenden, unter ihnen der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg (geschätztes Vermögen: 18 Mrd. Dollar) und Medienmogul Ted Turner. Bloombergs Motiv: »Ich möchte, dass meine Kinder ihre Ziele haben und dafür kämpfen und nicht einfach sagen, hey, ich bin im Club des glücklichen Spermas und erbe den Erfolg.«
Geld ist nicht alles, aber …
Abgesehen davon, dass neun Milliarden Dollar auch ein ganz erkleckliches Sümmchen sind, stellt sich die Frage, ob Reichtum tatsächlich glücklich macht. Dazu gibt es weniger Erkenntnisse aus der Reichtums- und mehr aus der Glücksforschung. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann und der Ökonom Angus Deaton werteten dazu mehr als 450.000 Fragebögen aus und stellten fest, dass Geld bis zu einer gewissen Grenze, die derzeit bei rund 58.000 Euro pro Jahr liegt, nicht nur beruhigt, sondern das Leben wesentlich erleichtert bzw. angenehmer macht. Danach wird Einkommens- oder Vermögenszuwachs nach wie vor weiterhin positiv bewertet, hat aber keinen nachhaltigen Einfluss mehr auf das Lebensgefühl im Alltag. Die Untersuchung ergab außerdem, dass arme Menschen schlechte Erfahrungen wie Scheidungen, Krankheit oder Einsamkeit stärker negativ empfinden als Menschen mit gutem Einkommen. Wenig erstaunlich - abgesehen davon, dass chronischer Geldmangel an sich schon ein Stressfaktor ist, kann ein finanzielles Polster manche Schicksalsschläge gut abfedern. Wer etwa im Falle einer Scheidung auf den Zweitwohnsitz ausweichen kann und nicht monatelang weiter gemeinsam auf 50 m2 leben muss, der wird mit dieser Veränderung sicher leichter fertig.
Zu guter Letzt noch kurz zum Thema Neid: Laut einer Erhebung der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität aus dem Jahr 2008, bei der 5.000 Personen aus allen Schichten befragt wurden, sehen sowohl Hartz IV-Empfänger als auch Wohlhabende die zum Teil exorbitant hohen Gagen von Stars und Sportlern (sowie deren manchmal unstandesgemäße Lebensführung), aber auch das Einkommen mancher Manager (während im selben Unternehmen Jobs abgebaut werden) besonders kritisch. Die Gefühle basieren auf Fakten: So stiegen etwa von 1997 bis 2002 die durchschnittlichen Jahreseinkommen der Manager der 30 DAX-Unternehmen um 46 Prozent (von DM 1,660.000 auf EUR 1,406.000)! Das entspricht dem 42-fachen des durchschnittlichen ArbeitnehmerInneneinkommens.
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Bekannte WKÖ-Linie
Vertraute Stimmen einer ORF-Legende und eines Ex-Formel-1-Weltmeisters laden das Fernsehpublikum charmant ein, der im Spot transportierten, einseitigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung der WKÖ zu erliegen: [ … ] Niki Lauda: »Ja Heinz, jetzt auf die Wachstumsbremse zu steigen, ist natürlich völliger Schwachsinn …«, Heinz Prüller: »Denn gerade jetzt gilt: Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut!«
Das kritische Publikum wird sich wohl sehr schnell fragen: Sind es nicht andere und v. a. komplexere Faktoren und Zusammenhänge, die für das Wohl von »uns allen« verantwortlich sind, als eine primäre Fokussierung auf das Wohl der »Wirtschaft« vulgo der Unternehmen?
Vermeintlich »einfache« Botschaften und Slogans wie jener der WKÖ haben oft eine fatale Kehrseite: Entweder sind sie »falsch« oder sie reduzieren Inhalte zu stark und negieren damit die Komplexität der Realität. Denkt man z. B. die - für manche vielleicht sogar auf den ersten Eindruck harmlos anmutenden - Thesen der WKÖ konsequent logisch weiter, so kann dies schnell zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Verwerfungen führen: Man denke nur an massive Lohnkürzungen, zusätzliche Ausfälle von Steuern und Abgaben der Unternehmen für die öffentliche Hand, das systematische Aushöhlen bestehender arbeits- oder sozialrechtlicher Normen, aber auch die weitere Zunahme der internationalen ökonomischen Ungleichgewichte (v. a. in den Leistungsbilanzen der Länder) - alles zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit?
Das ist keine fortschrittliche Perspektive, die mit emanzipatorischen Politikansätzen und damit gleicheren und gerechteren Teilhabemöglichkeiten am Wirtschafts- und Gesellschaftsleben vereinbar ist. Aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht ist evident, dass ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum durch mehr Faktoren getrieben wird als vermeintlich nur jenen z. B. der (internationalen) Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, die sich auch in den Exporten einer Volkswirtschaft niederschlägt. In vielen wirtschafts- und steuerpolitischen Diskussionen wird aber gerade der Wettbewerbsfähigkeit zu viel Bedeutung beigemessen.
Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg
Vielmehr sind andere Faktoren wie u. a. die Dynamik der Binnennachfrage, das Potenzial für innovations- und technologieinduzierten Fortschritt, die Ressourcenausstattung mit (Human-)Kapital, aber auch psychologische Einflussfaktoren (z. B. Optimismus, Zukunfts- oder soziale Abstiegsängste) für den nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg eines Staates mindestens gleichrangig.
Gerade angesichts der Vielzahl von möglichen Erfolgsstrategien und Interventionsmöglichkeiten zur Hebung des »Gemeinwohls«, erscheint es doch sehr kurzsichtig und fragwürdig, zuerst (!) den Unternehmen möglichst »angenehme« und auch »steuerschonende« Rahmenbedingungen bieten zu müssen, ehe Zug um Zug eine Verbesserung der Situation für alle anderen (Nicht-Unternehmen) eintreten sollte. Handelt es sich dabei nicht erfahrungsgemäß um nicht haltbare und damit für den Großteil der Bevölkerung leere Versprechungen?
»Krisen-Erfahrungen«
Die Erfahrungen seit dem Ausbruch der größten Wirtschaftskrise seit rund 80 Jahren könnten bei einer möglichen »Renaissance des makroökonomischen Denkens«1 hilfreich sein. Wäre beispielsweise die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft bzw. des heimischen Arbeitsmarkts ausschließlich von der Entwicklung der Exporte abhängig gewesen, so wären sowohl der Konjunkturabschwung als auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit noch dramatischer ausgefallen. Siehe Grafik.
Glücklicherweise konnten die Konsumausgaben der privaten Haushalte - als wichtigster Faktor der Binnennachfrage - die Einbrüche bei den Exporten und Investitionen zum Teil kompensieren. Die privaten Konsumausgaben konnten 2009 u. a. durch die Verlässlichkeit und Wirkung insbesondere der Sozialbudgets und Transferleistungen, der Konjunktur- und Arbeitsmarktpakete stabil gehalten und sogar gegenüber dem Jahr 2008 mit real +1,3 Prozent ausgeweitet werden. Auch im Jahr 2010 wird mit einem weiteren Anstieg dieser Ausgaben gerechnet (vgl. WIFO-Septemberprognose 2010).
Dass eine Förderung der Exporte nicht unbedingt mit einer höheren Wertschöpfung im Inland gleichzusetzen ist, erklärt sich dadurch, dass Exporte bereits in einem hohen Maß importierte Vorleistungen (vgl. Rohstoffabhängigkeit, Zulieferverflechtungen etc.) beinhalten. Demnach wird nicht einmal jeder 3. Euro in Österreich durch Exporte von Waren und Dienstleistungen »verdient« bzw. im Verkauf erzielt. Den stärksten Wachstumsbeitrag für Österreich leistet nach wie vor die Inlandsnachfrage, bestehend aus privatem und öffentlichem Konsum sowie den Investitionen der Unternehmen.
Im Übrigen sind die Exportquote (2009: 50,5 Prozent des BIP) und die Importquote (2009: 46,0 Prozent des BIP) keine geeigneten Indikatoren, die einen direkten Rückschluss auf die Wirtschaftsentwicklung bzw. die Wertschöpfung in Österreich ermöglichen - vielmehr sind beide Quoten nur ein Ausdruck der (zunehmenden) internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen und der internationalen Arbeitsteilung.
Dass eine positive Exportentwicklung unterstützend für das nominelle gesamtwirtschaftliche Wachstum sein kann, steht außer Streit. Es stellt sich aber die Frage nach den wirtschaftspolitischen Forderungen aus dieser simplen Erkenntnis: Wenn nicht einmal der inländischen Wirtschaftsleistung auf die Exporte zurückzuführen ist, warum dann gerade diese eine Strategie prioritär verfolgen - noch dazu vor dem Hintergrund, dass durch die (über-)harten Konsolidierungs- bzw. Sparkurse in einigen EU-Ländern die Nachfrage nach heimischen Gütern und Dienstleistungen massiv gedämpft wird?
Im EU-Vergleich sehr attraktiv
Die heimische Wirtschaft ist bereits jetzt sehr wettbewerbsfähig! Die Preise und Qualität der österreichischen Produkte sind v. a. im europäischen Vergleich sehr attraktiv. Das zeigt sich auch darin, dass drei Viertel der Exporte im europäischen Binnenmarkt erfolgen. Dass die österreichischen Unternehmen noch konkurrenzfähiger werden, ist erstrebenswert - dies darf aber keinesfalls nur durch noch mehr Druck auf die Einkommen und Arbeitsbedingungen zustande kommen, zumal dies wesentliche negative Effekte auf die Inlandsnachfrage hätte. Moderate Lohnabschlüsse und eine steigende Produktivität der ArbeitnehmerInnen haben ohnedies zu sinkenden Lohnstückkosten in den vergangenen Jahren geführt - ein noch größerer Beitrag ist für die ArbeitnehmerInnen unzumutbar!
Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise sind auch die Investitionen der Unternehmen bzw. des Staates stark rückläufig und werden nach den aktuellen Prognosen (WIFO 9/2010) auch noch 2011 unter dem Niveau vor 2008 liegen. Entsprechende Investitionen in den Unternehmen z. B. in den Bereichen Forschung, Innovation, Arbeitsbedingungen und Qualifizierung der ArbeitnehmerInnen würden direkt einen positiven Wachstumsbeitrag leisten und die internationale Konkurrenzfähigkeit nachhaltig stärken.
»GESAMT«-Nachfrage zählt
Eine Marktwirtschaft lebt vom Wachstum, das von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage - also von (privatem/öffentlichem) Konsum, Investitionen und Exporten - getrieben werden muss. Keiner dieser Faktoren darf vernachlässigt werden! Die stabilisierende Rolle des privaten Konsums auch während der Finanz- und Wirtschaftskrise hat somit eindrucksvoll die Antithese zum WKÖ-Spot bestätigt: Geht’s den Menschen gut, geht’s uns allen gut - somit auch der Wirtschaft!
Weblinks
September-Prognose des WIFO:
tinyurl.com/37l8oyb
Alternative Strategien der Budgetkonsolidierung in Österreich nach der Rezession (Truger et al)
tinyurl.com/2473xbg
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1 nach P. Bofinger, 2005: Wir sind besser, als wir glauben; Wohlstand für alle, München, S 225 ff
]]>Ein Blick von der Basis
Ausgehend von problemzentrierten Tiefeninterviews mit BetriebsrätInnen und betreuenden GewerkschaftssekretärInnen der GPA-djp sowie Gruppendiskussionen mit über 100 BetriebsrätInnen aus unterschiedlichen Teilgewerkschaften des ÖGB wird im Buch ein Blick »von unten« generiert, der die Realitäten der gewerkschaftlichen Basis erfassen soll. Dabei wird die, von der bisherigen Gewerkschaftsforschung wenig berücksichtigte, betriebliche Ebene in den Mittelpunkt des Interesses gestellt.
Es zeigt sich, dass die von BetriebsrätInnen wahrgenommen und in den Interviews artikulierten Problemlagen vielfältig und drängend sind. Das Entstehen neuer Betriebsphilosophien, die Beschleunigungstendenzen in der Arbeitswelt und die Veränderung von Konzernstrukturen werden im Buch ebenso behandelt, wie der Einzug neuer Managementkulturen, der Verlust direkter AnsprechpartnerInnen im Betrieb oder die Zentralisierung von Rechtsexpertisen innerhalb transnationaler Konzerne. Auch Probleme in der internen Organisation des Betriebsratsgremiums, das Verhältnis zwischen BetriebsrätInnen und Gewerkschaft, deren unterschiedliche Erwartungen und Aufgabenverständnisse sowie die Ausgestaltung ihrer Beziehung werden besprochen.
Ziel jeder kritisch verstandenen Forschung muss es sein, ein möglichst umfassendes Bild gesellschaftlicher Prozesse zu zeichnen. Daher werden im Buch die in den Interviews artikulierten Problemlagen auf ihre Ursachen hin untersucht und in einen größeren Zusammenhang globaler gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen gestellt. Ausgehend von den unterschiedlichen Machtpotenzialen von Gewerkschaften und BetriebsrätInnen wird ihre Verortung in den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen vorgenommen.
Die Veränderung von Raum und Zeit
Die BuchautorInnen, Mario Becksteiner, Elisabeth Steinklammer und Florian Reiter, zeichnen den langsamen Aushöhlungsprozess der gesellschaftlichen Grundlagen des sozialpartnerschaftlichen Systems nach, der weniger durch einen offenen politischen Angriff getragen ist, sondern vielmehr vermittelt wird durch die langsame Einführung neuer zeitlicher und räumlicher Strukturierungen im Zuge neoliberaler Globalisierungsprozesse. Beispiele dafür sind der Übergang vom korporatistischen Wohlfahrtsstaat hin zu einem sich zusehends internationalisierenden Wettbewerbsstaat, der die Rahmenbedingungen der Sozialpartnerschaft auf makropolitischer Ebene verändert hat, oder die um sich greifende Internationalisierung der Produktionsorganisation, der Einsatz neuer Manage-mentpraxen und die kurzfristige Planungsausrichtung auf den Shareholder-Value. Es werden betriebliche Strukturen und Arbeitslogiken verändert, und die Verhältnisse in den Betrieben kommen immer öfter in Widerspruch zum fordistisch geprägten ArbVG. Dies erschwert eine flächendeckende Betriebsratsarbeit. Angesichts der Veränderungen von räumlichen und zeitlichen Strukturierungen in der Gesellschaft und im Betrieb werden die sozialpartnerschaftlich geprägten Praxen und Handlungsweisen von BetriebsrätInnen und Gewerkschaften entwertet und büßen an Wirkmächtigkeit ein. Indem etwa durch die Zentralisierung von Entscheidungswegen im Sinne schlankerer Strukturen oder der Eingliederung in transnational agierende Konzerne, die Entscheidungskompetenzen von direkt vor Ort sitzenden Vorgesetzten beschnitten werden, wird der Aushandlungsspielraum auf Ebene der persönlichen Vertrauensverhältnisse kleiner. Leitungspersonal verweilt immer kürzer im Betrieb, ist gebunden an die prämierte Erfüllung von Zielvorgaben und legt immer weniger Wert auf Handschlagqualität bzw. ist weniger auf den Aufbau langanhaltender Vertrauensbeziehungen ausgerichtet. Andererseits werden mit Hilfe hochprofessioneller Rechtsabteilungen von ArbeitgeberInnen rechtliche bzw. kollektivvertragliche Regelungen im Betrieb unter-wandert, in Frage gestellt und umkämpft. Diese Veränderungen verwickeln BetriebsrätInnen und Gewerkschaften in einen zähen Abwehrkampf, um Verschlechterungen für die Lohnabhängigen zu verhindern.
Schach versus Mühle
Die interviewten BetriebsrätInnen erleben diese Entwicklung in einem Anstieg ihrer Arbeitsintensität. Sie versuchen defensiv, durch eine Anpassung der eigenen Praxis an die neuen Bedingungen, Verschlechterungen zu verhindern und abzuschwächen. Damit einher gehen Frustration und Ohnmachtsgefühle, weil immer weniger wirkmächtige Handlungsoptionen wahrnehmbar sind. Die Initiative liegt hier ganz klar aufseiten der ArbeitgeberInnen. Während diese nach den Regeln des Schachs spielen, versuchen die Gewerkschaften und BetriebsrätInnen noch immer mit Spielzügen des Mühlespiels entgegenzuhalten. Die AutorInnen thematisieren auch, dass sich viele BetriebsrätInnen mit diesen Herausforderungen von der Gewerkschaft im Stich gelassen fühlen und die Identifikation mit dieser erodiert. Viele empfinden die, zum Aufbau und Erhalt der funktionalistischen Beziehung, angebotenen Serviceleistungen der Gewerkschaft oftmals als nicht ausreichend für die Problemlagen und zunehmenden betrieblichen Konflikten vor denen sie stehen. Gleichzeitig spielt die Organisierung und Politisierung der Belegschaft zum Aufbau von Organisationsmacht im Betrieb und die gemeinsame Suche nach alternativen Handlungsoptionen zurzeit eine untergeordnete Rolle für das Handeln der AkteurInnen.
Genau hier identifizieren die BuchautorInnen Potenziale und Ressourcen für die Steigerung gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit und diskutieren die Möglichkeit einer betriebsnahen, beteiligungsorientierten Gewerkschaftspolitik und eine Demokratisierung der gewerkschaftlichen Strukturen und Praxen als Grundlage und Voraussetzung für eine neue Offensive gewerkschaftlicher Interessenvertretung.
Die Chancen eingreifender Forschung
Als eingreifende Forschung konzipiert, ermöglicht der kritische, transdisziplinäre Blick ein vielschichtiges Bild der Situation von BetriebsrätInnen und den Auswirkungen veränderter gesellschaftlicher Machtverhältnisse auf die betriebliche Durchsetzungsfähigkeit. Das Buch bietet allen Akteuren der betrieblichen Interessenvertretung die Möglichkeit, das eigene Handeln zu Kontextualisierung und in Verbindung mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zu setzen. Es ermöglicht ein vertieftes und schärferes Bild der Zusammenhänge, in denen BetriebsrätInnen tagtäglich handlungsfähig sein müssen. Die damit einhergehende Identifikation und Offenlegung von Blockaden, Potenziale und Ressourcen bietet die Basis für Diskussion und Strategiebildung zur gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit. Eine Beispiel dafür stellte die Reflexions- und Diskussionsveranstaltung der Arbeiterkammer Wien am 16. November dar, bei der BetriebsrätInnen und SekretärInnen der Gewerkschaften GPA-djp, vida und PRO-GE Fragen der betrieblichen Durchsetzungsfähigkeit entlang der Untersuchungsergebnisse des Buchs diskutierten und in einen offenen Dialog über Erwartungen und Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und BetriebsrätInnen traten.
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Weitere Angebote zur Diskussion und gemeinsamen Reflexion sowie Buchpräsentationstermine werden laufend auf dem Blog zum Buch veröffentlicht:
blog.gpa-djp.at/betriebsratsrealitaeten
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Foglar: »Richtige erste Schritte«
»Das sind richtige erste Schritte«, sagte ÖGB-Präsident Erich Foglar in der ORF-Pressestunde Ende November. »Vieles, was der ÖGB an neuen Einnahmen gefordert hat, ist im Budget beinhaltet, unter anderem Bankenabgabe, Stiftungsbesteuerung oder Bekämpfung von Steuerbetrug. Hätten wir diese Einnahmen nicht, wären die Menschen viel härter belastet worden.« Spielraum für weitere neue Einnahmen ist aber durchaus noch da, darunter die Finanztransaktionssteuer, vermögensbezogene Steuern, Erbschafts- und Schenkungssteuern oder die Begrenzung der Absetzbarkeit von Managergehältern.
Blicken wir ein knappes Jahr zurück: ÖGB und Gewerkschaften haben das »Krisenbewältigungs-Jahr« 2010 ganz klar mit der Verteilungsfrage verknüpft. Die Finanzwirtschaft verursacht eine Krise, die Realwirtschaft ist genau so schlimm betroffen, die Regierungen schnüren mit Steuergeld Rettungspakete und vergrößern ihre Defizite. Zwei Fragen stellten sich: Wer zahlt das zurück, und warum tragen die Vermögenden, die Unternehmer, die Erben und Beschenkten generell so wenig zum Gemeinwohl, zur Finanzierung der Staatshaushalte bei?
Die Antwort darauf war der Jahresschwerpunkt FAIR TEILEN. Das Rezept von ÖGB und Gewerkschaften für sozial gerechte Krisenbewältigung lautete: Jene, die die Krise verursacht haben oder vom System gut gelebt haben, sollen bezahlen. Verknüpft war das von Anfang an mit der Verteilungsfrage: Faire Verteilung des Wohlstandes, der in Österreich, einem der zehn reichsten Länder der Erde, vorhanden ist - FAIR TEILEN.
FAIR TEILEN war als »Dachmarke« angelegt, die Raum für fünf Unterthemen geboten hat: arm/reich, beschäftigt/arbeitslos, weiblich/männlich, alt/jung und krank/gesund. Die Herausforderung dabei war, alle Gegensatzpaare außer »arm/reich« so anzulegen, dass kein Gegeneinander daraus entstehen konnte. Denn es ging und geht nicht um männlich GEGEN weiblich, alt GEGEN jung, sondern darum, dass genug für alle da ist, wenn es zwischen »arm« und »reich« gerechter zugeht.
Für die Bildsprache hieß das: Die »arm/reich«-Models waren unterschiedliche Personen, weil es hier wirklich um starke Gegensätze geht. Alle anderen Themen wurden von ein und derselben Person - der »Arbeit&Wirtschaft«-Redaktionsassistentin Sonja Adler - dargestellt. Damit wollten wir ausdrücken: Wir sind alle gleich, wir sind alle gleich betroffen von der unfairen Verteilung, ganz egal ob wir alt oder jung, Männer oder Frauen, krank oder gesund, beschäftigt oder arbeitslos sind. Wir sitzen sozusagen alle im selben Boot.
Auch 2011 bleibt Fairness-Thema
Aus politischer Sicht hat sich gezeigt, dass das Verteilungsthema 2010 eine große Rolle gespielt hat. Mit FAIR TEILEN lagen ÖGB und Gewerkschaften richtig, denn auch Umfragen zeigten das ganze Jahr über, dass den Menschen gerechte Verteilung wichtig ist. Mit der konsequenten Diskussion, mit der ständigen Thematisierung und mit vielen Hunderten Aktionen in ganz Österreich konnte FAIR TEILEN auch zum Schwenk in der Budgetdebatte beitragen.
Aus organisatorischer Sicht hat sich gezeigt, dass sich mit einem gemeinsamen Überthema, in das viele Aspekte der Verteilungsdiskussion passen, viele inhaltliche und aktionistische Anknüpfungspunkte ergeben. Haupt- und ehrenamtliche GewerkschafterInnen waren mit der gemeinsamen Klammer sehr motivierbar, viel Kreativität wurde frei.
Auch 2011 wird FAIR TEILEN weiterhin Thema sein, denn die Verteilungsfrage bleibt weiterhin auf der Tagesordnung. ÖGB und Gewerkschaften werden jene Beiträge der Vermögenden, die ihnen noch fehlen, mit dem Ende der Budgetdiskussion nicht zu den Akten legen.
arm / reich
»Es muss nur ganz wenig von den großen Vermögen umverteilt werden, um die Sozialsysteme abzusichern« - das war eine der Aussagen bei der Armutskonferenz Anfang 2010 in Salzburg. Dort wurde FAIR TEILEN erstmals einer größeren Öffentlichkeit präsentiert. Umverteilung wollen ÖGB und Gewerkschaften unter anderem mit Vermögensbesteuerung, die die großen Vermögen und nicht die »kleinen Leute« oder den Mittelstand trifft, der Einführung einer Wertschöpfungsabgabe zur Entlastung der Lohnnebenkosten, der Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer oder der Einführung einer Finanztransaktionssteuer in der EU - bis dahin Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer in Österreich.
gesund / krank
In Österreich sorgt ein gut ausgebautes Sozialversicherungssystem dafür, dass sich Menschen nicht wie anderswo selbst die Zähne ziehen. Aber: BesserverdienerInnen liefern weniger an die Krankenversicherung ab, weil Einkommen über 4.110 Euro im Monat nicht beitragspflichtig sind. Was man verdient ohne zu arbeiten, z. B. aus Aktiengewinnen, trägt überhaupt nichts zum Gesundheitssystem bei. Für Umverteilung von unten nach oben sorgen auch die Selbstbehalte wie Rezeptgebühren. Eine staatliche Krankenversicherung für alle Menschen in Österreich ist daher die Hauptforderung, weiters die Beibehaltung der Pflichtversicherung und die Anhebung/Aufhebung der Höchstbeitragsgrundlage in der Krankenversicherung.
jung / alt
»Die PensionistInnen machen sich auf unsere Kosten einen schönen Lebensabend.« - »Nur studieren und nix arbeiten.« Vorurteile gibt es von beiden Seiten. So lange sich aber alte und junge Menschen spalten lassen, spielen sie denjenigen in die Hände, die sich an privaten Pensionsversicherungen schon jetzt dumm und dämlich verdienen. Von permanenten Aussagen, die Pensionen seien in Zukunft nicht mehr finanzierbar und würden auf Kosten der Jungen gehen, hält der ÖGB gar nichts. Wahr ist ja vielmehr: Ausbildung vom Kindergarten an und gute Weiterbildungsmöglichkeiten im Berufsleben sind beste Voraussetzungen für sichere Arbeitsplätze mit guten Einkommen - und das ist die beste Voraussetzung für sichere Pensionen, von denen man auch leben kann.
männlich / weiblich
»Mit ihren Forderungen wollen die Frauen den Männern etwas wegnehmen«, heißt es gerne, wenn Frauen verlangen, was ihnen zusteht: gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Die vergangenen Jahrzehnte haben aber bewiesen, dass sich Gesellschaften insgesamt und für alle verbessern, wenn mehr Gleichheit zwischen Männern und Frauen herrscht.
Frauen verdienen im Schnitt um 41 Prozent weniger als Männer. Sogar von den ganzjährig vollzeitbeschäftigten Frauen haben elf Prozent Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle. Frauen haben außerdem weniger Zeit zum Geld verdienen, weil sie viel Zeit mit unbezahlter Arbeit verbringen, im Haushalt oder bei den Kindern. Weniger und schlechter bezahlte Arbeit hängen sich aber bis in die Pension an wie ein Bremsfallschirm.
beschäftigt / arbeitslos
Beschäftigte - ob Vollzeit, Teilzeit, geringfügig, … - und Arbeitslose sind keine GegnerInnen. Sieht man sich die jährlich geleisteten Überstunden an, kommt man zu dem Schluss: Es ist genug Arbeit für alle da. Denn auch Arbeit kann man gerechter verteilen. Wenn alle kürzer arbeiten, haben mehr Menschen Jobs. Bei flexiblen Arbeitszeiten müssen die Vorteile fair geteilt werden. Alle Vorteile beim Unternehmen, alle Nachteile bei den Beschäftigten - das wäre unfair. Es gibt in nächster Zukunft viele Jobs, die wir dringend brauchen werden, in Gesundheit, Pflege und Betreuung, in Umwelttechnologien. Dafür muss man jetzt Geld in die Hand nehmen.
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Diese Erhebung war eine Folge der Diskussionen nach den großen Teuerungsdemonstrationen von 1911 und deren blutigem Ende durch den Einsatz von Militär und berittener Polizei und sollte zu einem Dauerprojekt werden. Der Erste Weltkrieg durchkreuzte diesen Plan zunächst, aber ab 1925 übernahm die neugegründete Arbeiterkammer in Wien bis zum Ende der Demokratie 1934 die Weiterführung. In der Zweiten Republik bildete die Auswertung von Haushaltsbüchern noch Jahrzehnte eine wichtige Informationsbasis für AK und ÖGB, zuletzt in den 1980er-Jahren. Das Modell blieb dabei seit 1912 unverändert: Familien wurden ersucht, regelmäßig Haushaltsbücher nach einer vorgegebenen Gliederung zu führen. Die Auswahl der Beteiligten änderte sich dagegen: Nach 1945 handelte es sich um ArbeitnehmerInnenfamilien mit unterschiedlichen Haushaltseinkommen, in der Ersten Republik um "minderbemittelte Familien", im Kaiserreich um ArbeiterInnenfamilien. Der Kontakt zu den ArbeiterInnenfamilien wurde über die Gewerkschaften hergestellt, und es waren vor allem überdurchschnittlich Qualifizierte und Interessierte zum Mitmachen bereit. So zeigten die Ergebnisse eben, wie in dem zitierten Bericht betont wurde, die Daten über den Konsum einer höheren Schicht der Arbeiterschaft. Armut herrschte trotzdem, das dokumentierte die Auswertung der Aufzeichnungen eindrücklich:
Dass … bei geringerer Wohlhabenheit die Ausgaben für Kleidung usw. in einem überdurchschnittlichen Maß eingeschränkt werden können, beruht wohl darauf, dass es sich hier … um ein Gebrauchsgut handelt: bei einem solchen kann die Ausgabenhöhe durch Verlängerung der Gebrauchsdauer - längeres Tragen der nämlichen Stücke, Einkauf von schon gebrauchten Kleidern - wesentlich herabgesetzt werden. … Bei Familien, welche nur einen Wohnraum benützen, (kann) das Bedürfnis nach Wärme und Licht für die ganze Familie ohne Rücksicht auf deren Größe mit den nämlichen Kosten gedeckt werden; in größeren Familien kann daher ohne Beeinträchtigung der tatsächlichen Bedürfnisbefriedigung die Ausgabenquote der Konsumeinheit sinken. …
Zusammengestellt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Spätestens zum Zeitpunkt der Bewerbung muss der/die BewerberIn Gewerkschaftsmitglied sein.
ACHTUNG! Bewerbungsfrist endet am 15. Mai 2011.
Unterlagen und genauere Informationen zu Höhe und Kriterien der Förderung erhalten Sie bei:
]]>ÖGB Referat für Rechtspolitik
Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien
Tel: 01/534 44
Mag. Silvia Franz: DW 39180
Sandra Micic: DW 39173
sozialpolitik@oegb.at
Mehr Info: www.oegb.at/stipendien
Christkind gegen Weihnachtsmann
Die goldenen Lichtlein sitzen nicht auf den Tannenspitzen, sondern hängen über den Einkaufsmeilen, den Christkindlmärkten, in Vorgärten und auf Balkonen, gleich neben dem Weihnachtsmann. Der wurde ja angeblich von Coca-Cola erfunden, erzählt man sich am Punschstand beim ebenfalls alle Jahre wiederkehrenden Glaubensstreit, wer denn nun für die Geschenke zuständig sei. Ursprünglich war es ja der Nikolaus, aus der Türkei stammend, hier bei uns ein gut integrierter Migrant. Der wurde im Lauf der Jahre mit einer alten nordischen Sagenfigur vermischt und schließlich von europäischen Einwanderern in die USA exportiert. Santa Claus nannte man ihn in der neuen Welt. Vieles an seinem Aussehen und seine weltweite Verbreitung - ja sein Marketing - verdankt er tatsächlich dem in solchen Sachen erfahrenen, braunen Erfrischungsgetränk. Die Konkurrentin in Kinderherzen und Werbefeldzügen - das Christkind - hat Martin Luther eingeführt. Weil die Protestanten die katholischen Heiligen ablehnten - und der gute Reformator die Kinder nicht um ihre Geschenke bringen wollte, die sie damals am Namenstag des Heiligen Nikolaus bekamen -, ersetzte er den alten Herrn durch das Christkind, das am Heiligen Abend kam. Im 19. Jahrhundert übernahm die katholische Kirche das gerne als blond gelockter Engel dargestellte Christkind.
Heute penetrieren uns alle beide ab Mitte November in Werbung und Deko. Da will uns Santa Handyverträge aufschwätzen und das Christkind mit großen Augen hat scheinbar ein Pantscherl mit dem Hausverstand, der sich für eine Handelskette verdingt. Den gleichen Supermarkt, der - lauthals angepriesen - am 8. Dezember seine Läden geschlossen hält. An und für sich eine gute Sache und auch mit ein Erfolg des Betriebsrats. Denn gerade in der Vorweihnachtszeit können die KollegInnen in den Geschäften zwischen Jingle-Bells und Konsumhektik eine Atempause brauchen. Wenn nicht die anderen Geschäfte unter dem bunten Bogen des Mutterkonzerns am Marienfeiertag gnadenlos geöffnet hätten. Und jedes Jahr nehme ich mir vor, diesmal alles anders zu machen, dem Konsumterror die Stirne zu bieten, Geschenke rechtzeitig zu besorgen, was selber zu basteln, mir Zeit zu nehmen- und jedes Jahr lasse auch ich mich wieder von der allgemeinen Hektik anstecken.
Im Winterwunderland
Und dann gibt es Tage wie heute - zehn Tage vor Weihnachten - wo der Winter die Stadt verzaubert, das Schneegestöber das Menschengestöber lahm legt, das Weihnachtsmusikgedudel scheint genauso unter der weißen Decke zu verschwinden wie der unerträgliche Kitsch. Dick vermummt sind die Menschen und lächeln doch, wenn sie anderen unsicheren Schritts im Winterwunderland begegnen. Und die Hausmeisterin freut sich, als ich mich bei ihr fürs Schnee schaufeln bedanke. Dann ist es für mich Weihnachten, und mir ist egal, wer dieses kleine Wunder bewirkt, der Weihnachtsmann oder das Christkind.
So wünsche auch ich Ihnen ein frohes, schönes Fest und einen guten Wechsel ins neue Jahr.
Keine Krise im Handel
»Der Handel hatte keine Krise!« Diese provokante These stellt Manfred Wolf von der GPA-djp auf. Diese Aussage bezieht sich natürlich nur auf den Einzelhandel, der industrienahe Großhandel war sehr wohl betroffen, da kam es auch zu Kurzarbeit. »Aber an sich kann festgestellt werden, dass der Handel ein stabiler Arbeitgeber ist. Dies verdankt er nicht zuletzt der kontinuierlichen Arbeitsmarktpolitik, die AK und ÖGB betreiben zum Beispiel mit der Lohnsteuerreform. In hohem Ausmaß liegt die stabile Situation auch darin begründet, dass es trotz Krisengeredes keine Kaufzurückhaltung in der Bevölkerung gegeben hat, und dadurch die Umsätze auf hohem Niveau geblieben sind«, so Wolf.
Nun kommt auf die Handelsangestellten die vielleicht anstrengendste Zeit des Jahres zu, die Weihnachtszeit. Die Einkaufshektik in der Bevölkerung nimmt zu, vielfach kann schon von Kaufrausch gesprochen werden. Dadurch entsteht eine aggressive Grundstimmung, die die Entstehung von Konfliktsituationen im Verkauf fördern kann. Zusätzlich ist die Musikberieselung durch Weihnachtslieder penetrant, die Effekte können zu einer gewissen Abstumpfung führen, oder auch zu einer »Allergie« gegenüber der Weihnachtsmusik, die dann das private Weihnachtsfest überschatten kann und das Weihnachtserlebnis in der Familie trübt.
Im Jahr 2009 wurde, um auf diese Problematik österreichweit aufmerksam zu machen, von Linz09, ÖGB, GPA-djp und der Katholischen Kirche OÖ im Rahmen der Kampagne »Beschallungsfrei - Gegen Zwangsbeschallung« die Auszeichnung »Zwangsbeschaller 2009« an eine Modekette vergeben.
All die erwähnten Vorkommnisse können zu psychischen Problemen, wie zum Beispiel Burn-out und Schlafstörungen, führen. Obwohl diese im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz geregelt sind, ist es oft noch so, dass psychischer Stress sowohl von ArbeitgeberInnen als auch ArbeitnehmerInnen nicht richtig ernst genommen wird, im Gegensatz zu Schäden physischer Natur durch vermehrtes Heben und Tragen.
Ein weiterer Stressfaktor ist die subjektiv sehr stark wahrgenommene Arbeitsplatzunsicherheit. Laut einer Studie im Auftrag der AK ist die subjektive Arbeitsplatzsicherheit im Einzelhandel im vergangenen Jahrzehnt gefallen. Der Anteil derer, die sich ihres Arbeitsplatzes nicht sicher sind, ist von zwölf auf 20 Prozent gestiegen, während die vergleichbaren Anteile in den anderen Branchen stabil sind. Frauen und insbesondere Teilzeitbeschäftigte empfinden sich als wesentlich leichter ersetzbar. Von den Teilzeitbeschäftigten hält etwa ein Viertel die eigene Stelle für ziemlich unsicher. Auch Personen mit Migrationshintergrund haben in gleichem Ausmaß wie die Teilzeitbeschäftigten Angst, dass ihr Arbeitsplatz nicht sicher sein könnte. Einzelhandelsbeschäftigte mit Migrationshintergrund stoßen zusätzlich rascher an eine gläserne Decke, die ihnen einen weiteren Aufstieg verwehrt.
Angst vor Arbeitsplatzverlust
Die Einzelhandelsbeschäftigten schätzen ihre theoretischen Arbeitsmarktchancen in anderen Branchen und Berufen nur etwas niedriger ein als Beschäftigte anderer Branchen. Besonders geringe Chancen, wieder einen adäquaten Arbeitsplatz finden zu können, rechnen sich die weiblichen Beschäftigten und solche in Teilzeitbeschäftigung aus: von Letzteren meinen 59 Prozent, dass sie nur schwer eine annehmbare Stelle finden könnten.
Die Situation ist zwar noch nicht so extrem, wie man es aus den USA kennt, Stichwort »Hire & Fire«, doch das hindert Betroffene nicht daran, sich selbst als von Kündigung bedroht und zum Schweigen zu ungerechten Situationen verpflichtet wahrzunehmen. »Es ist ein großes Problem«, sagt Manfred Wolf, »dass man glaubt, dass es was nützt, wenn man schweigt. Ansprüche verfallen, wenn nix gemacht wird, und im Kollektivvertrag steht, dass die ArbeitgeberInnen auf die Lebensumstände der ArbeitnehmerInnen achtgeben müssen. Das bedeutet, dass man nicht jede Krot schlucken muss! So ist die Rechtsordnung in Österreich: Man muss auf seine Rechte pochen. Es gibt Betriebsräte, an die man sich wenden kann, und die Gewerkschaft und die AK unterstützen alle ArbeitnehmerInnen, die sich gegen Ungerechtigkeit auflehnen. Aber den ersten Schritt tun muss man selbst!«
Unterschrift ist 100 Euro wert
Das oberste Gebot ist, beweissichernd zu handeln, ein Arbeitstagebuch zu führen, die Gespräche mit den Vorgesetzten zumindest stichwortartig aufzuzeichnen und nichts zu unterschreiben, was nicht zu 100 Prozent stimmt. »Ich sage immer bei Beratungsgesprächen: Die eigene Unterschrift ist 100 Euro wert, also vorsichtig umgehen damit, und vor Entscheidungen bei der Gewerkschaft nachfragen«, schmunzelt Wolf. Weiters empfiehlt es sich, mit den KollegInnen zu reden, gemeinsam zu handeln und Solidarität am Arbeitsplatz zu leben.
Ein weiteres großes Problem besteht in der unterdurchschnittlichen Bezahlung im Handel. Handelsangestellte verdienen laut AK-Studie im Durchschnitt monatlich netto 980 Euro, Männer 1.330 Euro und Frauen lediglich 890 Euro, was auch mit deren hohen Teilzeitquote zusammenhängt. Teilzeitbeschäftigte Frauen verdienen im Durchschnitt nur 770 Euro. Damit gehört der Handel zu jenen Branchen mit niedrigen Löhnen in Österreich.
Während 64 Prozent der Beschäftigten in den anderen Branchen mit ihrem Einkommen ziemlich zufrieden sind, beträgt der entsprechende Anteil laut AK-Studie im Einzelhandel nur 51 Prozent, bei jenen in Teilzeit 45 und bei Einzelhandelsbeschäftigten mit Migrationshintergrund ebenfalls lediglich 51 Prozent.
Die geringeren Einkommen im Handel bedingen auch größere Sorgen der Handelsangestellten in Bezug auf ihre Altersversorgung und einen hohen Prozentsatz an Beschäftigten, die angeben, mit ihrem Erwerbseinkommen nicht auszukommen. Während knapp ein Viertel der ArbeitnehmerInnen in den sonstigen Branchen befürchtet, dass die aus der Berufstätigkeit resultierende Altersversorgung in Zukunft nicht reichen werde, beträgt der entsprechende Anteil bei den Einzelhandelsbeschäftigten mehr als ein Drittel - mit einem deutlichen Aufwärtstrend von plus neun Prozentpunkten.
Von den Frauen gehen 35 Prozent davon aus, mit der eigenen Alterspension nicht auskommen zu können, in den größeren Betrieben ab 100 Beschäftigten ist die Altersversorgung sogar für 39 Prozent äußerst prekär.
Während rund zwei Drittel der ArbeitnehmerInnen aus anderen Branchen mit ihrem Erwerbseinkommen das Auslangen finden, sind knapp die Hälfte (44 Prozent) der Einzelhandelsbeschäftigten auf regelmäßige finanzielle Unterstützungen, sei es durch EhepartnerInnen, Lebensgefährten/-innen oder durch Eltern, Verwandte oder öffentliche Transferleistungen angewiesen.
Handel vom Konzern bis zur Trafik
Wegen der heterogenen Situation im Handel, Stichwort »alles vom multinationalen Konzern bis zum Trafikanten«, ist es nicht einfach, die Kollektivvertragsverhandlungen zu führen, doch hat sich die Gewerkschaft entschlossen, die 1.300 Euro Mindestlohn im Handel durchzusetzen. »Wir haben eine große Umfrage gemacht, dabei kam heraus, dass die Leute das wollen. De facto handelt es sich um 37 Euro Erhöhung für die niedrigsten Löhne, das muss drinnen sein in einer Branche, der es wirklich gut geht. Es ist ja nicht so, dass dies unmäßige Forderungen wären«, sagt Manfred Wolf. Und er ergänzt: »Wir lassen uns nicht auf 2020 vertrösten, denn bis dahin könnte der Mindestlohn auch schon 1.500 Euro sein.«
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Klare Regelungen gewünscht
Die von NeSoVe in Auftrag gegebene Publikation »CSR in Österreich«* weist durch die repräsentative Untersuchung von 600 Unternehmen auf Rückenwind aus unerwarteter Richtung hin: Die große Mehrheit der CSR-Leader, also die Firmen, die ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden, wünscht sich klare Regelungen.
Im Regierungsprogramm steht lediglich ein Satz zu CSR, mindestens fünf österreichische Ministerien haben CSR auf ihrer Agenda - aber eine politische Kohärenz ist schwer erkennbar. Der »OECD-Kontaktpunkt«, eingerichtet im Wirtschaftsministerium als Beschwerdemechanismus bei Verstößen gegen die »Guidelines für multinationale Konzerne«, kam bisher in genau nur einem Fall zu einem Urteil. Und die Diskussionen rund um die österreichische ISO-Norm 26000 zur sozialen Verantwortung sind seit geraumer Zeit ins Stocken geraten.
»Guidance on Social Responsibility«
Anfang November wurde das von der International Standards Organization (ISO) verfasste Dokument ISO 26000 »Guidance on Social Responsibility« veröffentlicht. Damit sollte zum ersten Mal ein Dokument für die Definition gesellschaftlicher Verantwortung weltweite Gültigkeit erlangen. Das ambitionierte Ziel wird allerdings verfehlt, denn das Dokument ist keine Norm, sondern lediglich ein Leitfaden, der Organisationen und Unternehmen Tipps und Empfehlungen gibt.
Die ISO hat weitgehend die Möglichkeit verpasst, Mindeststandards in Form klarer Empfehlungen festzulegen. Leider sind die Empfehlungen der ISO 26000 nicht ausreichend präzise formuliert und daher vielfältig interpretierbar. So ist der Anspruch aus der Perspektive eines reichen Industrielandes wie Österreich absolut unzureichend und stellt einen Rückschritt gegenüber bestehenden gesetzlichen Regeln dar. In vielen Fällen liegt das Niveau der ISO 26000 jedenfalls unterhalb der in Europa bzw. Österreich geltenden Gesetze.
Einige Grundprinzipien wie etwa die Einhaltung von internationalen Verhaltensstandards und nationalen Gesetzen wurden festgehalten. Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und internationaler ILO-Standards sind allerdings zentrale Prinzipien von sozialer Unternehmensverantwortung und somit vorauszusetzen. Von einem Unternehmen, das sich zu umfassender gesellschaftlicher Verantwortung bekennt, erwartet man aber deutlich mehr. Bezüglich der Kernthemen Menschenrechte, Umwelt und faire Arbeitsbedingungen werden Hinweise gegeben, welche Themen laut ISO 26000 zu behandeln sind.
Bei der Auswahl der verschiedenen Handlungsfelder haben die Unternehmen jedoch freie Hand. So können Unternehmen weiterhin den Umfang gesellschaftlicher Verantwortung nach dem Motto »pick and choose« selbst definieren. Auch wird die Erstellung eines Berichtes zwar empfohlen, dessen Gestaltung bleibt aber weitgehend den Firmen überlassen.
ISO 26000: Missbrauch möglich
Es ist zu befürchten, dass die ISO 26000 missbräuchlich verwendet wird, indem Unternehmen fragwürdige Konzepte als CSR verkaufen. Bloße Marketing-Aktivitäten könnten durch die Bezugnahme auf ISO 26000 legitimiert werden. So läuft der Leitfaden Gefahr, sein ausdrückliches Ziel - einen weitreichenden Beitrag zur zukunftsfähigen Entwicklung zu leisten - weit zu verfehlen. Der Gesetzgeber sollte die notwendigen Rahmenbedingungen für sozial verantwortliches Handeln herstellen: Freiwillige Ansätze könnten gesetzliche Lösungen dann ergänzen.
CSR in Zeiten der Krise
Durch die Finanzkrise sind CSR-relevante Errungenschaften, die in den vergangenen Jahren in Österreich und weltweit erreicht wurden, massiv gefährdet.
Obwohl die Finanzkrise Österreich nur gestreift hat, sind die Folgen bereits deutlich sichtbar. Nun erscheint soziale Verantwortung als Luxus. Firmen profitieren von gekürzten Löhnen sowie vom Wettbewerb der Regierungen, Umwelt- und Sozialstandards im Wettlauf um Investitionen weiter zu untergraben.
Während hierzulande selbst ein Betriebsrat für die vergangenen Jahre ein »Jammern auf hohem Niveau« konstatierte - galt Österreich doch in der Vergangenheit im europäischen Vergleich wirklich als Sozialstaat -, so wird mittlerweile von österreichischen Unternehmen die Krise oftmals benutzt, um Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Schaut man über die Grenzen oder gar über die Ozeane hinweg, sieht die Lebens- und Arbeitssituation der betroffenen Bevölkerung noch dramatischer aus.
CSR soll zu einem unabdingbaren Standard werden, der eine sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltige, menschenrechtskonforme und diskriminierungsfreie Unternehmungsführung garantiert. Solche Standards machen langfristig nur dann Sinn, wenn sie weltweite Gültigkeit erlangen, unabhängig vom Produktionsstandort und bezogen auf die globale Zulieferindustrie.
Österreichische Unternehmen sind heutzutage auch weltweit tätig. Man lässt in Entwicklungsländern produzieren, wo Hungerlöhne gezahlt werden und Umweltstandards geringer sind. Die lokalen Regierungen bieten europäischen Firmen Sonderkonditionen. Dort wo Gesetze im Umwelt- oder Sozialbereich existieren, werden sie kaum konsequent angewendet. Die Regierungen armer Länder werden nicht selten zu Komplizen, wenn es um die Ausbeutung der heimischen Bevölkerung geht.
Die Mutterunternehmen in Österreich und anderen europäischen Ländern können mittels dieser Geschäftspraktiken Gewinne verbuchen, im Falle von Menschenrechtsverletzungen können sie in Europa jedoch nicht belangt werden.
Europaweite CSR-Initiative
Europaweit ist in den vergangenen Jahren eine Diskussion darüber entbrannt, inwieweit man Gesetze erlassen muss, die die extraterritoriale unternehmerische Tätigkeit regeln.
Die Plattform European Coalition on Corporate Justice, bei der NeSoVe die österreichische Zivilgesellschaft vertritt, hat zentrale Forderungen für eine weltweite Unternehmensverantwortung entwickelt. Eine zentrale Forderung ist die Haftungspflicht von europäischen Mutterunternehmen für Umweltzerstörung und bei Menschenrechtsverletzungen, auch wenn sie von Tochter- und Zulieferunternehmen verursacht werden.
Regeln für Unternehmen
Im Mai startete im Rahmen des EU-finanzierten Projektes »Enhancing EU-business contribution« die europaweite Kampagne »Rechte für Menschen - Regeln für Unternehmen« zur Unterstützung der oben genannten Forderungen. Seit September wird die Unterschriftenaktion in Österreich durchgeführt. Bis Frühling 2011 sollen insgesamt 100.000 Unterschriften gesammelt und dann EU-Präsident José Manuel Barroso übergeben werden.
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www.rechtefuermenschen.de
* Über NeSoVeDas Netzwerk Soziale Verantwortung (NeSoVe) ist eine CSR-Plattform und arbeitet seit vier Jahren im großen Themenbereich von CSR. Unter den 30 Mitgliedsorganisationen sind NGOs, die zu Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechten arbeiten, Forschungseinrichtungen, BetriebsrätInnen und Gewerkschaften.
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Beispiel Glücksspiel
Etwas mehr als tausend Euro, genauer gesagt: 1.020 Euro gibt der durchschnittliche österreichische Haushalt jährlich für Glücksspiele aus. Im Jahr 2001 waren es nur 460 Euro, meldete erst kürzlich das Marktforschungsinstitut RegioPlan, diese Steigerung um mehr als 100 Prozent wurde von den Medien vergleichsweise gelassen berichtet.
Kein Wunder, wird doch mit einem ungeheuren Aufwand in den Medien für das Glücksspiel geworben, im österreichischen Fernsehen werden mit langen Sendungen die Ziehungen bzw. Ausspielungen übertragen, bevorzugt vor den Nachrichtensendungen natürlich.
Im deutschen Fernsehen wäre diese Dauerbewerbung des Glücksspiels unvorstellbar. Und man kann die Auswirkungen auch in Zahlen ablesen. Während die Deutschen jährlich »nur« rund 620 Euro per Haushalt und Jahr für Glücksspiele ausgeben, ist es hierzu-lande beinahe doppelt so viel. Werbung wirkt eben.
Rund 326 Euro gibt ein Haushalt im Durchschnitt monatlich für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke aus. Die Daten sind aus dem Jahr 2005, erhoben von Statistik Austria, dem österreichischen Statistik-Amt. Die Daten gehören zu den besten, die jemand in Österreich zu bieten hat, sie beziehen sich auf einen »Durchschnittswert«, wie viele Sozial-Statistiken.
Schaut man sich Haushaltsuntersuchungen aus den USA, Großbritannien, Deutschland und Hinweise aus österreichischen Erhebungen an, wird es schon recht krass. Von allen eingekauften Lebensmitteln landet etwa ein Viertel im Müll. Es wurde zu viel zubereitet, oder zu viel eingekauft, Speisereste werden nicht aufgegessen, oder etwas schmeckt nicht wie erwartet. Einfach so wird damit ein Betrag von ungefähr 80 Euro im Monat von jedem Haushalt durchschnittlich weggeschmissen. Mit dabei sind Lebensmittel im Wert von mehr als 30 Euro im original verpackten Zustand.
Beispiel Esoterik
Der Aberglaube in unserem Land ist groß, unvorstellbar groß. 65 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind abergläubisch, halten also Dinge wie Wahrsagen, Sternzeichen, Menschen verhexende Kräfte, Gedankenlesen usw. für wahr. Von drei Leuten also zwei, die an Übernatürliches glauben. Bildung müsste hier entsprechende Spuren hinterlassen haben, denkt man. Also die UniversitätsabsolventInnen stehen über diesem Klimbim, und es sind vielleicht die sogenannten einfachen Leute vom Land, die an Hexen und Zauberei glauben. Ist aber nicht der Fall: Menschen die über einen Uni-Abschluss verfügen, sind genauso vom Aberglauben betroffen wie die, die nur einen Pflichtschulabschluss haben. Am meisten abergläubisch sind, auch das würde einem im ersten Augenblick nicht einfallen, die ja an sich besonders technikbegeisterten Jungen.
Natürlich werden mit dieser schlichten Auffassung, mit dieser Dummheit (nennen wir das einmal offen so) Geschäfte gemacht. Nicht nur das Hono-rar für die Kartenleserin oder den Wahrsager wird bezahlt, sondern auch Feng-Shui-Seminare, Geräte, die vor Erdstrahlen schützen oder das Wasser beleben sollen, verkaufen sich nicht schlecht.
In Deutschland wird der sogenannte Esoterik-Markt auf zehn bis 20 Mrd. Euro jährlich geschätzt. Überträgt man die deutschen Relationen auf unser Land, wären das pro Haushalt 300 bis 600 Euro im Jahr. Eher mehr, denn die ÖsterreicherInnen sind offenbar - siehe Glücksspiel - ein ordentliches Stück leichtgläubiger und weniger rational als die deutschen NachbarInnen.
Kaufsucht
Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Konsum. Kaufsuchtverhalten ist in Österreich beinahe doppelt so hoch, wie in Deutschland, nämlich zehn Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten sind davon betroffen, in Deutschland sind es dagegen nur sechs Prozent.
Auch die Flucht in den Konsum als Entschädigung, als Ersatz für Unzufriedenheit (am Arbeitsplatz, im familiären Bereich, im sozialen Leben), der sogenannte »kompensatorische Konsum« ist hier doppelt so hoch als in Deutschland.
Ein Fünftel aller Erwachsenen, 20 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen holen sich regelmäßig Ersatzbefriedigung durch exzessives Kaufen, so die Ergebnisse der Kaufsuchtstudie 2009.
Nimmt man hier die Kaufsüchtigen (zehn Prozent der Bevölkerung) dazu, sind es 30 Prozent, fast ein Drittel der Bevölkerung, die konsumgeschädigt sind.
Wunsch nach kritischer Information
Es hat den Anschein, als wären die österreichischen Konsumenten und Konsumentinnen mit ihrem Konsumverhalten ziemlich unzufrieden. Das verwundert auch nicht, wenn man sich das eingangs erwähnte exzessive Wegschmeißen von eingekauften Lebensmitteln, die hohen Ausgaben für Glücksspiele und den Esoterik-Konsum ins Gedächtnis zurückruft.
Auf die Frage: »Wie beurteilen Sie folgende Meinung? Ich persönlich finde, es sollte in der Öffentlichkeit weitaus kritischer zu Konsumfragen Stellung genommen werden.« antworten 77 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen, Ja - das stimmt (bzw. stimmt sehr), in Deutschland sind es dagegen nur 42 Prozent, also fast die Hälfte weniger.
Was heißt das nun? Nicht alle, aber offenbar genügend Verbraucher und Verbraucherinnen sind in mancherlei Hinsicht wohl ausgiebige VerschwenderInnen.
Wenn man zusammenrechnet, was das Wegwerfen der Lebensmittel, das überzogene Glücksspielen und die Esoterik, also der Aberglaube, so zusammen kosten, dann kommt man schnell auf 2.500 Euro und mehr im Jahr.
Ein/e ArbeitnehmerIn arbeitet dafür, nimmt man das durchschnittliche Nettoeinkommen her, rund eineinhalb Monate lang. Eineinhalb Monate lang sozusagen für »Weggeschmissenes«.
Unsinn aufs Korn nehmen
Kritisch zu Konsumfragen Stellung nehmen heißt auch, den Unsinn beim Konsum aufs Korn zu nehmen, für den oftmals viel zu viel Geld hinausgeschmissen wird. Wenn man so will, eine Rückbesinnung auf frühere Gewerkschafts- und Sozialdemokratiepositionen schadet da überhaupt nicht. Wer damals, in der Zwischenkriegszeit, Geld für Glücksspiel und Aberglauben ausgegeben hat, der konnte sich des Hohns und bissiger Bemerkungen von Kollegen und Freunden ziemlich sicher sein.
Weblink
Ein Blick in die Statistik der Konsumausgaben der österreichischen Haushalte schadet zur eigenen Information nie (die Homepage der Statistik Austria bietet darüber hinaus viele interessante Informationen):
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Herbert Tumpel: Diese Kampagne, die wir gemeinsam mit der ÖGB-Kampagne »Fair Teilen« gestartet haben, war sehr erfolgreich. Erinnern wir uns: Noch im Sommer haben namhafte Vertreter der Regierung eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gefordert. Das hätte sich auf alle Lebensbereiche durchgeschlagen. Dann hatten wir die Diskussion um den Landwirtschaftsminister mit dem großen Ökosteuer-Schmäh, die CO2-Abgabe, die alles verteuert hätte, nicht nur Autofahren, sondern auch Heizen oder Beleuchtung. Beide Vorschläge hätten dazu geführt, dass Massenkaufkraft abgezogen und eine der wichtigsten beschäftigungsstützenden Maßnahmen, der private Konsum, damit ernsthaft gefährdet worden wäre. Da hat unsere Kampagne sicher dazu beigetragen, dass es eben nicht so gekommen ist. Und es ist auch gut, dass sich diejenigen, die das Budget nur ausgabenseitig sanieren wollten, nicht durchgesetzt haben. Außerdem haben wir aus AK und ÖGB gemeinsam verlangt, dass Bereiche, die mit krisenauslösend waren endlich einen entsprechenden Beitrag leisten müssen; wie der Bankensektor, der durch Stützen und Hilfspakete am meisten profitiert hat, aber auch große Vermögen, die durch die Konjunkturpakete 2008 und 2009 massiv abgesichert worden sind.
Und dieser Beitrag ist gesichert. Wir konnten uns mit wesentlichen Forderungen durchsetzen: Angefangen damit, dass das Thema Steuerbetrug auf die Tagesordnung gesetzt worden ist bis hin zu Einschränkungen bei Stiftungen. Es wird die Bankenabgabe geben, die Vermögenszuwachssteuer und im Bereich der Unternehmensbesteuerung die Nicht-Abzugsfähigkeit der Fremdkapitalzinsen für Beteiligungserwerb im Konzern. Da kommen namhafte Beträge zusammen, die natürlich 2011 nicht voll wirksam sind, aber im Ausbau immer wirksamer werden.
Insofern war die Kampagne richtig und hat Wirkung gezeigt.
Thomas Kinberger: Aus Sicht der ArbeitnehmerInnen ist - ganz abgesehen vom wichtigen und richtigen Inhalt - die Außenwirkung der »Krot« herausragend gewesen. Endlich sind AK und ÖGB wieder an die Öffentlichkeit getreten, und das noch dazu auf eine Art und Weise, die im Gedächtnis bleibt. Das freut mich als Betriebsrat natürlich sehr, das unterstützt meine Arbeit.
So war das auch geplant. Die »Krot« war mutig und hat polarisiert. Es hat einige gegeben, die das grauslich gefunden haben, aber die Leute haben darüber gesprochen. Und darauf kommt es an, dass die Menschen zu diskutieren anfangen und dabei feststellen: Eigentlich haben die recht! Und das ist uns gelungen. Wie du richtig bemerkst, war das ein erster Versuch einer sehr mutigen und exponierten Kampagne.
Thom: Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den KollegInnen die Partnerschaft ÖGB und AK nicht immer klar durchdringt. Ich habe natürlich ganz konkret als Betriebsrat bei der Mitgliederwerbung damit zu kämpfen. Viele sagen, wenn ich ein Problem habe, gehe ich zur AK, da brauch ich nicht Gewerkschaftsmitglied werden.
Für die Probleme der KollegInnen sind wir ja auch gerne da, aber eines können wir nicht ersetzen: Die wertvolle Tätigkeit der BetriebsrätInnen vor Ort und der Gewerkschaften, die die Kollektivverhandlungen führen und für Lohnerhöhungen sorgen. Im Jahr der Krise war es nicht selbstverständlich, dass - obwohl die Industriellenvereinigung Nulllohnrunden gefordert hat - die Gewerkschaften positive Lohnrunden abschließen konnten - das kann nur die Gewerkschaft in Zusammenarbeit mit den BetriebsrätInnen. Wir können die Gewerkschaften unterstützen, die rechtlichen Belange vorbereiten, Hilfestellung leisten, aber wir von der AK können niemals eure Tätigkeit im Betrieb ersetzen.
Diese Aufgabenteilung gilt und ich sage überall, wo unsere Arbeit gelobt wird: Das freut mich, aber ohne Gewerkschaften könnten wir all das nicht erreichen; letztendlich zählt die Lohnpolitik. Wir können dann im KonsumentInnenschutz darauf achten, dass die Menschen Qualität für ihr Geld bekommen, wir können darauf achten, dass sie nicht zu viel Steuern bezahlen, wir können sie in bestimmten Sozialversicherungsbereichen beraten. Aber selbst im Arbeitsrecht ist die Zusammenarbeit mit den BetriebsrätInnen unentbehrlich - da müsst ihr ja sehr oft schon im Vorfeld, im Betrieb sehr viel auffangen. Die Gewerkschaften, die den KV und seine Interpretation kennen, beraten euch, und ein kleiner Teil kommt zu uns, und wir gehen vor Gericht. Die Hauptaufgabe zum Wohl der betroffenen KollegInnen macht ihr und die Gewerkschaften. Und das muss man klipp und klar aussprechen.
Dadurch dass wir BetriebsrätInnen haben, den ÖGB und die AK sind wir besser aufgestellt als andere Länder und konnten mehr erreichen. Bei uns ist der Mindestlohn in den Kollektivverträgen ohne große Diskussionen über die Bühne gegangen, in Deutschland gab es dazu aufgeregte Diskussionen. Oder die Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitbeschäftigte: gemeinsam umgesetzt. Bei uns haben LeiharbeiterInnen einen sehr guten Kollektivvertrag und bekommen im Betrieb die gleiche Entlohnung wie die Stammbelegschaft. In Deutschland bekommen LeiharbeiterInnen oft nur 40 Prozent von dem, was ihre KollegInnen im jeweiligen Betrieb verdienen. Da liegen Welten dazwischen. Und es gibt viele solche Beispiele. Das ist das Zusammenwirken von Betriebsrat, Gewerkschaft und Arbeiterkammer.
Erika Machac: Es gibt ja verschiedene Fachgewerkschaften im ÖGB. Wäre es vielleicht besser, wenn es nur einen ÖGB gäbe?
Ich sehe einen Fortschritt in den Zusammenschlüssen und der Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren. Man darf aber nicht vergessen, dass das gewachsene Systeme sind, die sich mit den Menschen entwickelt haben. Man kann diesen Menschen nichts diktieren, sie entwickeln die Strukturen gemeinsam weiter - und in dieser Hinsicht sind der ÖGB und seine Gewerkschaften gut unterwegs. Auch dass fast alle im gemeinsamen Haus sind, ist ein Vorteil, das wurde immer wieder diskutiert, ist aber jetzt Realität.
Erika: Ich frage mich, warum immer noch diese Unterschiede zwischen Angestellten und ArbeiterInnen existieren, vor allem in der Entgeltfortzahlung. Denkt man hier genug ans Gemeinsame?
Auch hier ist in der Vergangenheit sehr viel geschehen, um die Ungleichgewichte abzubauen. So wurde die Dauer der Entgeltfortzahlung für ArbeiterInnen verlängert. Sicher, es gibt noch notwendige Angleichungen wie zum Beispiel bei den Dienstverhinderungsgründen.
Thom: Aber nicht nur das, es gibt auch das Problem mit den steigenden atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Die KollegInnen gehen uns als unterstützender Machtfaktor verloren, weil sie in den KV nicht berücksichtigt werden.
Auch für die freien DienstnehmerInnen haben wir im Zuge von Sozialpartnerabkommen erreicht, dass sie sozialversicherungsrechtlichen Schutz haben. Das war früher nicht so, das ist ein großer Schritt. Beide Organisationen - ÖGB und AK - haben schon vor Jahren erklärt, dass wir diese KollegInnen auch vertreten. Vor allem die Gewerkschaften sind ein starker Ansprechpartner für diese Gruppe von Beschäftigten, die es zum Teil wirklich schwer haben. Aber auch da konnten wir gemeinsam Fortschritte erzielen.
A&W: Zurück zum Thema Budget - ist es so einfach, wie die Wirtschaft uns weismachen will: Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut?
Es geht der Wirtschaft dann gut, wenn es den ArbeitnehmerInnen gut geht, weil dann Kaufkraft vorhanden ist, dann werden Dienstleistungen und Güter nachgefragt, und dann machen auch die Unternehmen Umsatz. Wenn die Menschen kein Geld im Geldbörsel haben, sieht es für die Wirtschaft traurig aus.
A&W: Die Finanztransaktionssteuer ist ja ÖGB und AK ein großes Anliegen - muss man da auf eine europäische Lösung warten?
Im Gegenteil: Sowohl der ÖGB als auch wir haben immer wieder betont, dass eine Transaktionssteuer auch im nationalen Alleingang möglich wäre. Wir hatten ja bereits einmal so etwas in Österreich, das hat damals Börsenumsatzsteuer geheißen - und ist abgeschafft worden, als man begonnen hat, die Börse über alles zu stellen. Aber selbst wenn wir das im Alleingang machen würden - und so allein wären wir nicht, sechs andere EU-Staaten haben eine ähnliche Steuer -, hätten wir Mehreinnahmen von 150 Mio. Euro erreicht, und damit hätten wir uns eine Vielzahl von Druckpunkten, die wir jetzt versuchen abzuschwächen, ersparen können.
Auch dass die Managergehälter nach wie vor von der Steuerbemessungsgrundlage eines Unternehmens abgezogen werden können, obwohl sie sich in den vorigen Jahren stark nach oben entwickelt haben, gehört geändert. Wir sind der Ansicht, dass alles über 500.000 Euro steuerlich nicht abzugsfähig sein soll.
Und letztendlich sind wir nach wie vor für eine Vermögenssteuer, die auch einen namhaften Beitrag leisten müsste, damit wir ein besseres Gleichgewicht bei der Besteuerung von Arbeit und Kapital erreichen als das im vergangenen Jahrzehnt der Fall war.
Erika: Ich hätte eine Frage zum Themenbereich EU. 2011 läuft die Übergangsregelung zur ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit aus. Was ist deine Prognose, welche Auswirkungen wird das auf den heimischen Arbeitsmarkt haben?
Ich bin keiner von denen, die glauben, damit ändert sich nichts. Das wird sich sicher auf den Arbeitsmarkt auswirken. Was uns aber im Rahmen der Sozialpartnerschaft gelungen ist, ist das Gesetz gegen Lohn- und Sozialdumping vorzubereiten. Dieses Gesetz sieht vor, dass ausländische KollegInnen nicht unter dem KV bezahlt werden dürfen. Da sind erstmals auch Strafbestimmungen enthalten. Momentan hat der KV zwar auch Rechtswirkung, allerdings mit dem Nachteil, dass die Betroffenen, die unter KV bezahlt werden, klagen müssten. Das macht kaum jemand.
In Zukunft könnten Krankenkassen oder Finanzkontrollore, die bemerken, da wird unter KV bezahlt, das zur Anzeige bringen. Die UnternehmerInnen bekommen dann eine Verwaltungsstrafe, die nicht einfach aus der Portokassa bezahlt werden kann. Ausländische KollegInnen würden so erstmalig auch zu ihrem gerechten Lohn kommen, Lohndumping hätte so weniger Chancen. Das wäre ein wichtiger Schritt, nachdem wir die Übergangsfristen ausgeschöpft haben.
A&W: Abgesehen von der Öffnung des Arbeitsmarkts - was sind denn die großen Themen 2011?
Natürlich die Konjunkturentwicklung: Momentan schaut es ja halbwegs freundlich aus, etwa die Entwicklung am Arbeitsmarkt - wir haben mehr Beschäftigte, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Im Budget gibt es Offensivansätze, die thermische Sanierung ist vorgesehen. Es ist auch wichtig, dass beim Ausbau von Ganztagsschulen etwas passiert. Das sind gute Ansätze, trotzdem muss man schauen, ob wir nicht noch zusätzliche konjunkturstützende Maßnahmen brauchen - etwa einen Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und Investitionen in den Gesundheitsbereich.
A&W: Was wünschst du dir und den österreichischen ArbeitnehmerInnen von Christkind oder Weihnachtsmann?
Wünschen kann man sich immer was, und ich wünsche mir, dass die Menschen in Österreich ihr Leben unter menschenwürdigen Bedingungen gestalten können; dass sie teilhaben an der Entwicklung gesellschaftlichen Reichtums und nicht nur ein paar wenige reicher und reicher werden und die Masse das trägt. Das gilt auch international. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich das gesellschaftliche Gleichgewicht stark verschoben hat. All das ist nicht nur eine Frage des Wünschens, es ist auch eine Frage des Bewusstseins, der Bereitschaft, in den Organisationen entsprechend mitzuhelfen. Und in diesem Sinn bedanke ich mich bei allen BetriebsrätInnen für diese unglaublich wichtige Funktion, die sie erfüllen.
Wir danken für das Gespräch und frohes Fest.
Zur Person
Herbert Tumpel
Geboren 9. März 1948 in Wien, verheiratet mit Gertrude Tumpel-Gugerell
Höhere Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt für Textilindustrie (1962-1967). Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien
1973-1983: Mitarbeiter im Volkswirtschaftlichen Referat des ÖGB
1983-1987 Leiter des Volkswirtschaftlichen Referates
1987-1997 Leitender Sekretär des ÖGB. Seit 1997 ist er Präsident der AK Wien und der Bundesarbeitskammer
Thomas Kinberger, 37 Jahre, Betriebsratsvorsitzender der Stiegl Getränke und Service GmbH in Salzburg, PRO-GE-Mitglied
Jahrgangssprecher des 60. SOZAK-Lehrgangs
Erika Machac, 40 Jahre, Betriebsrätin der Firma Siemens AG Österreich in Wien, PRO-GE-Mitglied. Teilnehmerin des 60. SOZAK-Lehrgangs
Weblinks
Homepages der AK und des ÖGB:
www.arbeiterkammer.at
www.oegb.at
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Lohnniveau unter Druck
Das österreichische Lohnniveau, das durch die am 1. Mai 2011 bevorstehende Öffnung des Arbeitsmarkts für die »neuen« EU-Länder (außer Bulgarien und Rumänien) unter Druck zu kommen droht, soll mit Verwaltungsstrafen beschützt werden - genauso wie Betriebe, die sich korrekt an kollektivvertragliche Vereinbarungen halten. Wer weniger zahlt als im Kollektivvertrag vorgesehen ist, wird sich künftig strafbar machen. Dies ist die Grundidee, die die Sozialpartner am 18. Oktober in Bad Ischl vorgestellt haben.
»Wenn ab nächstem Mai die EU-Beitrittsländer uneingeschränkten Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt haben, brauchen wir eine klare Regelung für die Drittstaaten«, sagte ÖGB-Präsident Erich Foglar. Mit der Kontrolle des KV bzw. der richtigen Einstufung sollen die Behörde KIAB (Kontrolle illegaler Arbeitnehmerbeschäftigung) des Finanzministeriums und die Gebietskrankenkassen betraut werden. Bei Unklarheiten, besonders bei begründeten Einwendungen gegen die Einstufung, die die Kontrollbehörde vorgenommen hat, müssen die Kollektivvertragspartner angehört werden.
Das Ziel der Neuregelung ist es aber, Lohndumping effizient zu verhindern - und nicht, Unternehmen wegen kleiner Irrtümer zu kriminalisieren. Wird der Lohn, der laut Kollektivvertrag zusteht, nur gering unterschritten, ist bei der ersten Übertretung von einer Anzeige abzusehen, wenn der Arbeitgeber die Differenz zur korrekten Entlohnung nachzahlt. Das Gleiche gilt, wenn das Verschulden des Arbeitgebers gering ist. Bei wiederholten Verstößen wird der Unternehmer aber auch als Wiederholungstäter betrachtet, die vorgesehenen Strafen steigen erheblich.
Die Strafen sollen nach Größe des jeweiligen Unternehmens gestaffelt werden. Es geht los bei 1.000 Euro für Firmen mit bis zu drei Beschäftigten. Bei Wiederholungstätern mit vielen betroffenen ArbeitnehmerInnen soll die Strafe empfindlich in die Höhe gehen, auf bis zu 50.000 Euro. Gleichzeitig wurde die Einführung einer sogenannten »Rot-Weiß-Rot-Card« vereinbart, die höchstqualifizierten Personen bzw. AkademikerInnen aus Nicht-EU-Staaten, die die Bedürfnisse des österreichischen Arbeitsmarkts erfüllen, zur Verfügung stehen soll.
Chancen durch Zuwanderung
Als zweite Gruppe, die Anspruch auf die Card hat, sollen nach Vorstellung der Sozialpartner Qualifizierte bzw. Facharbeiter Innenaus Drittstaaten zuwandern dürfen. Durch Zuwanderung ergeben sich vielfältige Chancen.
Höher qualifizierte Zuwanderung steigert das Wirtschaftswachstum und damit den Wohlstand in Österreich. Migration kurbelt den Export an, Zugewanderte leisten in ihrem Zielland einen wesentlichen Beitrag zur Exportsteigerung. ZuwandererInnen verfügen über andere Sichtweisen und Erfahrungen, Betriebe können dieses Potenzial nutzen. MigrantInnen sind eine wichtige Kraft im Wirtschaftsleben: In Wien hat bereits ein Drittel der UnternehmerInnen Migrationshintergrund, zum Teil sind MigrantInnen selbst ArbeitgeberInnen und haben dadurch weitere Arbeitsplätze in Österreich geschaffen.
Über diese Gruppen und die als SaisonarbeiterInnen beschäftigten Menschen hinaus, soll es nach Vorstellung der Sozialpartner keine zusätzliche Immigration aus Drittstaaten geben, sagte AK-Präsident Herbert Tumpel bei der Paketpräsentation in Bad Ischl.
Es geht aber nicht nur um den Neuzuzug, sondern vor allem auch um Integration. Ein umfassendes Migrations- und Integrationskonzept, das Menschen von Beginn an Unterstützung und Begleitung anbietet, und die möglichst weitgehende Nutzung der Potenziale von Personen mit Migrationshintergrund sind mitentscheidend für die weitere soziale und ökonomische Entwicklung Österreichs. Die Sozialpartner konzentrieren sich vor allem auf die strukturelle Integration in den Bereichen Bildung, Arbeit, Recht, Wohnen, soziale Sicherung, Partizipation. Das heißt konkret, dass das Bildungssystem so umgebaut werden muss, dass die Chancen der Menschen mit Migrationshintergrund erhöht werden - also Durchlässigkeit, Chancengleichheit, Barrierenabbau. Das Erlernen der deutschen Sprache ist Grundvoraussetzung für den Arbeitsmarkteinstieg. Die vom AMS sowie im Rahmen der Integrationsvereinbarung angebotenen Deutschkurse sollten Arbeitsmarktbezug haben.
Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sollen stärker auf die Bedürfnisse von Personen mit Migrationshintergrund zugeschnitten werden, ihre spezifische Ausgangslage auf dem heimischen Arbeitsmarkt sollte in den operativen Zielen des AMS berücksichtigt werden. Jene beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im Ausland erworben wurden, müssen in Österreich besser verwertbar und anerkannt werden.
Zukunftsorientiertes Bildungssystem
Bei der »Rot-Weiß-Rot-Card«, die ab 2012 geplant ist, ist es dem ÖGB besonders wichtig, dass es nicht nur ein kriterien-, sondern ein bedarfsgeleitetes System der Zuwanderung geben soll. »Der Bedarf muss sich nach dem Arbeitsmarkt richten und wird von den Sozialpartnern gemeinsam festgelegt«, so Foglar.
Die Sozialpartner machen sich aber natürlich auch dann Gedanken über Zukunftsthemen, wenn sie nicht von der Regierung dazu aufgefordert werden. Zum Abschluss des Sozialpartnerdialogs plädierten sie dafür, dass die Bundesregierung mit ihnen gemeinsam kon-krete Vorschläge für ein ganzheitliches, vernetztes und zukunftsorientiertes Bildungssystem erarbeitet und rasch umsetzt.
»Nach der Erstellung des Budgets 2011 muss es zu Beginn des kommenden Jahres rasch darum gehen, sich mit den wesentlichen Zukunftsfragen zu befassen«, appellierten die Sozialpartner-Präsidenten: »Um die wichtigen Herausforderungen der kommenden Jahre meistern zu können, brauchen wir vor allem ein ganzheitliches, zukunftsorientiertes Bildungssystem, das Kindergärten, Schule, Universitäten, Fachhochschulen und lebenslanges Lernen (Erwachsenenbildung) umfasst.«
Weblink
Bad Ischler Dialog 2010 - »Wachstum - Beschäftigung - Integration«:
www.sozialpartner.at
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Die Kriterien und Aufgaben
Die Ausrichtungen der Projekte sind »sozial«, »entwicklungspolitisch« und »ökologisch«. Darüber hinaus können auch Projekte realisiert werden, die einer bestimmten Schwerpunktsetzung oder der Weiterentwicklung des Projekts an sich dienen, so etwa im Bereich Gedenkarbeit, sofern sie den anderen Projektkriterien entsprechen. »Solidarisches Handeln« ist angesagt, d. h. ein Projekt muss Menschengruppen zugute kommen, die am Rand stehen bzw. benachteiligt sind. Projekte werden »mit« Betroffenen gemeinsam, nicht nur »für« sie durchgeführt. Die TeilnehmerInnen müssen gefordert, aber nicht überfordert werden und dürfen ideologisch nicht vereinnahmt werden. Eine Aufgabe muss den »Rahmen des Üblichen« sprengen, d. h. sie soll etwas sein, das Jugendliche nicht jeden Tag erleben. In Betreuungssituationen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, alten Menschen, Kindern bzw. allgemein von den Adressaten der Hilfeleistung darf nicht eingegriffen werden bzw. nur unter verantwortlicher Begleitung. Mindestens ein/e EinsatzleiterIn der Einrichtung muss vor Ort bzw. immer erreichbar sein. Spendenprojekte sind nicht Fokus des Projekts und sollten eine untergeordnete Rolle einnehmen. Leitschnur ist »Learning by doing«. Das Ziel der Aufgabe muss transparent sein. Weiters müssen die Aufgaben in sich abgeschlossen sein, d. h. Start und Ende sind vordefiniert. Aus der Aufgabe darf für die Jugendlichen somit keine Folgeverpflichtung entstehen, die über die 72-stündige Projektdauer hinausgeht. Eine Aufgabe muss sich finanziell selber tragen, pädagogisch sinnvoll sein, d. h. die Jugendlichen sind nicht einfach nur »billige« Arbeitskräfte, die tun, was sonst nicht finanzierbar ist, und soll ein »Schnuppern« in soziale/gesellschaftspolitische/ökologische Felder ermöglichen.
Der Schwerpunkt 2010
Immer mehr Menschen - darunter viele Jugendliche - sind von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Die EU hat deshalb 2010 zum »Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung« erklärt. Auch »72 Stunden ohne Kompromiss« wollte durch die diesjährige Schwerpunktsetzung auf dieses Thema aufmerksam machen, die Menschen dafür sensibilisieren und durch konkrete Aktionen zeigen, dass etwas getan werden kann. Die Aktion richtete sich im Zuge des Schwerpunkts besonders an arbeitslose und sozial schwächer gestellte Jugendliche. Sie wurden dazu ermutigt, an der Aktion teilzunehmen, damit auf ihre Situation aufmerksam zu machen, und diese zusammen mit anderen zu verbessern. Die Teilnahme sollte den Jugendlichen neue Erfahrungsräume eröffnen, ihr Selbstvertrauen stärken und vermitteln, dass es Nutzen bringt, sich aktiv für sein Umfeld einzusetzen.
Projektbeispiele
Gerne wird den Jugendlichen Desinteresse an sozialen Fragen und mangelndes Engagement nachgesagt. Was die Jugendlichen so alles auf die Beine gestellt haben, zeigt ein kleiner, unvollständiger Auszug aus den 400 Projekten.
Das Lokal Inigo bietet Langzeitarbeitslosen Arbeitsplätze und wird von der Caritas Wien betrieben. Zur Verschönerung des Mitarbeiterbereiches, war ein Team von engagierten SchülerInnen des Rainergymnasiums fleißig am Verputzen und Ausmalen.
Musizieren für einen guten Zweck. 72 Stunden lang unterstützten Jugendliche in Salzburg die Organisation Cope, die in Indien Kindern aus armen Familien und Waisenkindern Zugang zu Bildung und eine gute Ernährung ermöglicht. Unter anderem musizierten die Jugendlichen in Salzburgs Altstadt.
Barrierefreies Gärtnern. Eine Gruppe steirischer Mädchen arbeitete 72 Stunden lang im steirischen Zentrum für Menschen mit Behinderung »Mosaik«. Gemeinsam mit den Behinderten des Hauses gestalteten sie Hochbeete für die heilpädagogische Gartenarbeit.
Coffee2Help. Dieser Kaffee schmeckte den Passanten nicht nur lecker, der Spendenerlös kam auch der Wiener Jugendnotschafstelle »a-way« zugute.
Schlaflieder und Geschichten aus dem Flüchtlingsheim. Ein Buch oder Hörbuch erzählte Gute-Nacht-Geschichten und Lieder aus den Herkunftsländern der Asylwerber. Die TeilnehmerInnen erfuhren andere Kulturen, die Asylwerber erfuhren Wertschätzung.
Satt mit einem Euro? Es klingt unvorstellbar, doch ist es für viele Menschen Realität. Sie müssen pro Mahlzeit mit einem Euro auskommen. »72 Stunden«-Jugendliche wagten einen Selbstversuch.
Lebensmittel in den Müll? Verbrauchsdatum überschritten, Verpackung aufgerissen oder optisch nicht einwandfrei? Hunderte Tonnen noch genießbare Lebensmittel wandern täglich in den Müll. Ein paar Säcke davon haben Jugendliche in Hallein wieder herausgefischt ...
Gemeinsames Gestalten. In Ludesch/Vorarlberg gestalteten Jugendliche gemeinsam mit Menschen mit Behinderung einen Zaun beim neuen Gemeinde-Spielplatz.
Das Haus der jungen Arbeiter ist eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe und bietet Unterkunft, Verpflegung und Sozialbetreuung für in Not geratene Menschen. Im Rahmen von 72 Stunden wurde der Freizeitraum neu gestaltet.
Spuren der Fremdenfeindlichkeit entfernen. Im Rahmen von 72 Stunden dokumentierten und entfernten in Perchtoldsdorf bei Wien Jugendliche fremdenfeindliche Schmierereien im öffentlichen Raum.
Alle Projekte finden sich unter:
tinyurl.com/34u9d7b
»Jugendliche sind sozial und solidarisch - das beweist ihr Engagement bei ›72 Stunden ohne Kompromiss‹. Sie sind Vorbild für die ganze Gesellschaft«, so Ingrid Zuñiga, ehrenamtliche Vorsitzende der Katholischen Jugend Österreich. »Bei meinen Projektbesuchen hat sich mir immer wieder gezeigt, dass Jugendliche, die sich kompromisslos für ihre Mitmenschen einsetzen, ihr Engagement gerne weiterführen wollen. Die Begegnungen mit oftmals benachteiligten oder sozial isolierten Personenkreisen sowie die unterschiedlichsten Erfahrungen, die die Jugendlichen während des Projekts machen, wirken über die Aktion hinaus in den TeilnehmerInnen nachhaltig fort und eröffnen ihnen neue Sichtweisen auf ihre Umwelt.«
Geht nicht gibts nicht
»Geht nicht gibts nicht«, freute sich Caritas-Präsident Franz Küberl über das große Engagement der TeilnehmerInnen: »Selbst scheinbar unlösbare Aufgaben wie einen Bagger zu organisieren, konnten die Jugendlichen innerhalb kürzester Zeit bewältigen, weil Firmen und Privatpersonen mithalfen, um die Jugendlichen in ihrem Projekt zu unterstützen. Besonders freut mich, dass einige Mädchen und Burschen von den Begegnungen mit pflegebedürftigen, notleidenden oder auch behinderten Menschen so beeindruckt waren, dass sie sich künftig weiter bei der Caritas ehrenamtlich engagieren möchten.« Küberl bezeichnete die jungen Menschen als »Menschenverbesserer und damit Weltverbesserer«.
Auch die Östereichische Gewerkschaftsjugend (ÖGJ)unterstützt den Einsatz der Jugendlichen. Für den ÖGJ-Bundesjugendsekretär Florian Zuckerstätter widerlegt die Aktion »72 Stunden ohne Kompromiss« deutlich das Vorurteil, dass Jugendliche rein ich-bezogen und nur auf ihren eigenen Vorteil aus seien: »Das Projekt macht erst sichtbar, wie hoch das soziale Engagement junger Menschen in Österreich ist. Das sehen wir auch in der Arbeit der Gewerkschaftsjugend, wenn es um Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Ausgewogenheit geht. Ein Beispiel dafür ist die ÖGJ-Kampagne ›Sauber bleiben!‹, bei der es um Engagement gegen Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Faschismus geht. Das Projekt ›72-Stunden‹ ist wieder einmal ein Beweis dafür, dass Ältere von Jüngeren lernen können, wenn es um Engagement für sozial Schwächere geht.«
Weblinks
Mehr Infos unter:
www.72h.at
wien.kjweb.at
religion.orf.at/projekt03/72h/72h_start.htm
www.oegj.at
www.sauber-bleiben.at
www.jugend.gpa-djp.at
jugend.proge.at
jugend.vida.at
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Beim GPA-djp-Bundesforum
Die GPA-djp lud Wilkinson zu ihrem Bundesforum Anfang November in Wien. Der Wissenschafter wurde mit Applaus empfangen - und nach seiner Rede mit noch mehr Applaus wieder verabschiedet. Sein Befund: Noch mehr Wirtschaftswachstum macht keinen Sinn. Es erhöht weder weiter die durchschnittliche Lebenserwartung, noch sinken Kriminalität oder die Zahl psychischer Erkrankungen.
Wichtig ist vielmehr die gerechtere Verteilung der Einkommen. Zwischen Japan und Schweden, Norwegen sowie Finnland gibt es große kulturelle Unterschiede. Dennoch haben diese Staaten vieles gemeinsam: niedrige Mord- und Gefängnisraten, eine geringere Kindersterblichkeit als in anderen Ländern, weniger Teenager-Schwangerschaften, weniger Drogenkonsum, weniger psychische Erkrankungen. Was ist aber nun anders in Japan und Schweden als beispielsweise in den USA, in Großbritannien, in Portugal? Es sind die Einkommensunterschiede. In Japan und den nordischen Ländern verdienen die oberen 20 Prozent lediglich um rund 3,5-al so viel wie die unteren 20 Prozent. In den USA oder Großbritannien ist der Unterschied achtmal so groß. »Und je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, desto größer sind auch die sozialen Probleme«, sagt Wilkinson.
Ungleiche Staaten, wie der Forscher sie nennt, stehen wesentlich schlechter da. Es ist sowohl um die Gesundheit der Bevölkerung schlechter bestellt als auch um Faktoren wie Vertrauen in Mitmenschen, Kriminalität oder die psychische Befindlichkeit der Bürger. »In den westlichen Industriestaaten, in denen es keinen so starken Unterschied zwischen den oberen und den unteren 20 Prozent gibt, werden bis zu sechsmal weniger Morde begangen.« Österreich liegt im oberen Mittelfeld. Hierzulande verdienen die Reichsten um 4,8-mal mehr als die Ärmsten.
Noch mehr Wirtschaftswachstum für die Allgemeinheit, noch mehr Arbeit für den Einzelnen - mehr Überstunden, mehr Geld, mehr Möglichkeit zu konsumieren: all das wird nicht dazu beitragen, den gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen adäquat zu begegnen, betont Wilkinson. Es nütze auch nichts, jedes Problem einzeln anzugehen - beispielsweise mit Kampagnen gegen Drogenkonsum, dem Verteilen von Kondomen, um Teenager-Schwangerschaften zu verhindern, Entzugskliniken für Alkoholkranke. In Zukunft werden sich nach Ansicht Wilkinsons jene Gesellschaften gut entwickeln, die darauf achten, dass es keine allzu großen Einkommensunterschiede gibt. Wie das erreicht werden kann, dafür gibt es nicht den einen, richtigen Weg, betont der Forscher. In Japan beispielsweise sind die Unterschiede grundsätzlich nicht sehr hoch. In Schweden wiederum wird mit Hilfe des Steuersystems gegengearbeitet.
Mitbestimmung hebt Zufriedenheit
Im Kleinen haben sich Modelle bewährt, in denen MitarbeiterInnen das Unternehmen übernommen haben. Wenn der Profit nicht für Fremde, sondern für eine Gemeinschaft und damit auch die eigene Tasche erwirtschaftet wird, wenn man mitbestimmen kann, ob, wie und wie viel investiert wird, dann hebt das die Zufriedenheit der Betroffenen, so die Erfahrung.
Einen Beitrag zu geringeren Einkommensunterschieden leisten aber auch die Gewerkschaften, sagt Wilkinson. Starke Gewerkschaftsbewegungen sorgen dafür, dass die unteren Einkommen stetig erhöht werden. Sie setzen sich in den Unternehmen aber auch dafür ein, dass die Managergehälter nicht ins Bodenlose steigen. Passiert das nämlich, ist auch im Mikrokosmos eines Betriebs zu beobachten, dass es mehr psychische Erkrankungen, mehr Burn-out, mehr Mobbing gibt. Auch das Klima in einem Unternehmen profitiert also davon, wenn die Führung dafür sorgt, dass die Einkommen nicht allzu sehr auseinanderklaffen. Eine wichtige Rolle kommt dabei auch dem Betriebsrat zu.
Und Überstunden?
Beim GPA-djp-Bundesform wird Wilkinson auch nach der Auswirkung von Überstunden gefragt. Seine Antwort fällt klar aus: In ungleicheren Staaten werden wesentlich mehr Überstunden geleistet als in gleicheren Gesellschaften. Das Ziel: Mehr Geld zu verdienen, um damit mehr Konsumgüter kaufen zu können. Diese sind notwendig, um den sozialen Status zu heben oder zu halten.
Was bedeutet das aber nun für den Einzelnen? Ja sicher, sagt Wilkinson, das Individuum steige im sozialen Ansehen, wenn es im Beruf die Karriereleiter hochklettere, ein höheres Gehalt beziehe, sich mehr leisten könne. Das große Aber des Forschers folgt auf den Fuß: In einer Gesellschaft, in welcher der Einzelne nach einem immer höheren Verdienst strebt, leiden alle unter einer schlechteren Lebensqualität als in gleicheren Gesellschaften.
Und: Es bleibt weniger Zeit, um dem Gemeinwohl zu dienen. Von diesem profitieren im Gegenzug dann nicht nur wieder alle. Aktivitäten in der und für die Gemeinschaft bedeuten auch soziale Beziehungen. Und diese schaffen Zufriedenheit. Als Beispiel nennt Wilkinson hier auch Religionsgemeinschaften. Es gebe viele Studien, die zeigen, dass gläubige Menschen oft gesünder seien als säkular lebende. Wilkinson geht davon aus, dass dies mit den Sozialkontakten innerhalb einer Gemeinschaft zu tun hat.
»Grundsätzlich schließen einander Hierarchie und Freundschaft ja aus«, sagt der Wissenschafter. Freundschaft bedeute teilen, Hierarchie Konkurrenz. Gleichere Gesellschaften fördern also Freundschaften - und diese tragen unter anderem quasi präventiv dazu bei, dass Menschen seltener psychisch erkranken. Ausgewertet haben Wilkinson und Picket Hunderte Datensätze, die meisten erstellt von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), aber auch Zahlen der Vereinten Nationen (UN) sowie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF). Überrascht hat Wilkinson dabei, dass sich das Muster immer wiederholt. Egal, welcher Faktor herangezogen wurde: die gleicheren Gesellschaften schnitten immer besser ab. Und: Das, was in ungleicheren Gesellschaften von so vielen angestrebt und nicht erreicht wird, der berufliche und damit soziale und auch finanzielle Aufstieg, gelingt in gleicheren Gesellschaften sogar leichter. Der Grund: der bessere Zugang zu Bildung.
Ließen sich auch Phänomene wie die jüngst erlebte Finanzkrise durch eine gerechtere Einkommensverteilung vermeiden? Unbedingt, meint Wilkinson. Er zieht hier Parallelen zu 1929/30. »In beiden Fällen wurde der Gipfel an ungerechter Verteilung erreicht - verbunden mit hohen Schulden.« Schulden entstünden zum Beispiel dann, wenn Menschen versuchen, trotz geringerem Einkommen mit dem Konsumverhalten jener mitzuhalten, deren Status man haben will.
Am Ende des Nutzens von Wachstum
Kann man aus all dem den Schluss ziehen, dass sich Gesellschaften überhaupt nicht um ein höheres Wirtschaftswachstum bemühen sollen? Nein, sagt Wilkinson ganz klar. In den frühen Stadien wirtschaftlichen Wachstums steigt die durchschnittliche Lebenserwartung enorm. In Ländern wie Österreich macht aber das Streben nach immer höherem Wirtschaftswachstum keinen Sinn mehr. »In den reichen Gesellschaften sind wir am Ende des Nutzens von Wachstum angelangt.«
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Statistiken sind Argumente
Diese Statistiken (siehe Downloads) sollen die Orientierung erleichtern. Die Tabellen sind wichtige Informationen für InteressenvertreterInnen und jede/n politisch Interessierte/n.
Ausrücken als One-Man-Show
Auch im Fernsehen hat sich eine ähnliche Entwicklung breit gemacht. Waren vor einigen Jahren bei Pressekonferenzen Tonleute, Kameraleute und Personal für Licht sowie AssistentInnen für diese Fachkräfte unterwegs, schrumpften die Teams teils durch Spardruck, teils durch die Miniaturisierung der Geräte drastisch. RedakteurInnen, die heute noch mit einem Kameramann und Assistenten ausrücken sind in der Minderzahl: Gerade bei privaten Sendern rücken die jungen KollegInnen als One-Man-Show aus. Der Einzug der Computer und die rasante Entwicklung der technischen Geräte hat im Medienbereich ganze Berufsgruppen zum Verschwinden gebracht und eine Reihe an Tätigkeiten an die RedakteurInnen weitergegeben.
Das ist jetzt in mancher Hinsicht ein Vorteil: Im Internet recherchieren zu können, die Artikel in den Computer zu tippen, anstatt mühsam auf mechanische Schreibmaschinen zu klopfen, ist ein Gewinn. Dass die qualifizierte Arbeit der ArchivarInnen und somit die Bildbeschaffung auch oftmals an die RedakteurInnen delegiert wurde, hebt die Qualität des verwendeten Bildmaterials nur in Einzelfällen. Und der Verzicht auf die KorrektorInnen, trieb schon in manchem Medium wahrhaft skurrile Blüten. Die Verantwortung wuchs, der Lohn blieb gleich.Wo früher Hunderte Menschen am Erscheinen einer Zeitung arbeiteten, werkelt jetzt oft eine kleine Truppe von PraktikantInnen mit einigen wenigen erfahrenen KollegInnen und produziert Titel quasi im Alleingang.
Nicht ohne CAD-Ausbildung
Aber auch in anderen Berufen hat sich in den letzten zehn Jahren Gewaltiges geändert. In der Metallbearbeitung geht kaum mehr etwas ohne CAD-Ausbildung, und die klassischen Berufe Bau- und Kunstschlosser gibt es in dieser Form nicht mehr. Dafür müssen angehende MetallbearbeiterInnen bis zu 150 verschiedene Legierungen kennen und mit ebenso vielen Schweißtechniken arbeiten können. Eine völlig neue Ausbildungsverordnung versucht, die veränderte Berufswelt abzubilden, so Roland Löffler, BA, Projektleiter des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung (ÖIBF): »Man geht jetzt dazu über, Berufsfelder zu definieren und anschließend Module anzubieten: Wo es früher eigene Ausbildungen für Fahrzeugbau, Blechtechnik, Schmiedetechnik und Spannungstechnik gab, werden jetzt Modulausbildungen angeboten. Eine Entwicklung macht sich breit: Ein gelernter Beruf allein reicht heute nicht mehr.« Der Vorteil sei, so Löffler, dass Lehrlinge die verschiedenen Berufe mit einer Prüfung abschließen können: »Früher musste man mehrere Lehrabschlussprüfungen machen.«
Wer heute im Textilbereich arbeiten will, der hat nicht mehr die Wahl zwischen mehr als zehn verschiedenen Berufen, es sei denn, er oder sie strebt eine Karriere im Theater an: Dort werden ModistInnen, WeißnäherInnen, MiedererzeugerInnen etc. heftig nachgefragt und beschäftigt. Im täglichen Leben und bei unserer Art des Konsums haben wir diese Tätigkeiten nach China und Bangladesh ausgelagert und vom Gewerbe in die Industrie verschoben. Ob das der Umwelt gut tut steht auf einem anderen Blatt, es führt aber zweifellos dazu, dass unzählige Arbeitsplätze bei uns verschwunden sind. In den technisch dominierten Berufen sowie in manchen Dienstleistungsberufen findet gewissermaßen eine Gegenbewegung statt: Jobenrichment. Klingt gut, ist es aber nur, wenn es von verschiedenen begleitenden Maßnahmen flankiert wird. Unterbleibt das, passiert es, dass unter dem großartigen Namen »Jobenrichment« einfach überbleibt: mehr Verantwortung, mehr Stress, mehr Arbeit bei gleich bleibendem Lohn.
Vom Handwerk zur Industrie
So mussten TischlerInnen früher vor allem handwerklich geschickt und genau sein. Heute hat sich die Tischlerei - von künstlerischer und restauratorischer abgesehen - stark in den Industriebereich verlagert. Dort werden neben den klassischen Fertigkeiten der Holzbearbeitung, vor allem Fähigkeiten im Bereich der industriellen Produktion - Produktionsplanung und Logistik - nachgefragt. Die Tischlerei hat sich in unseren Breiten stark vom handwerklichen Gewerbe weg, hin zur Industrie verändert, was auf der einen Seite ganzheitliches Arbeiten an einem Werkstück als anachronistischen Einzelfall erscheinen, und andererseits den Seriencharakter in der Industrie zum Regelfall werden lässt.
Vor dieser Entwicklung, die vor allem auf die Einführung des Computers zurückzuführen ist, sind aber schon Hunderte von hochspezialisierten Berufen »verschwunden« - teils weil die Produkte oder Dienstleistungen, die sie anboten, nicht mehr nachgefragt waren. So verschwanden Barettmacher, Fallmeister und Landkartenmaler -, oder weil ihre Berufe in anderen Berufsbildern aufgegangen waren bzw. zur Industrie abgewandert sind: Auch heute wird auch noch Glas gemacht, aber gelernte Glasmacher finden sich bestenfalls noch in Murano, und obwohl wir wahrscheinlich weit mehr Seife als unsere Vorfahren verwenden, kommt der Seifensieder als Lehrberuf hierzulande kaum mehr vor.
Die Berufswelt ist wie unsere gesamte Umwelt einem steten Wandel unterworfen. Viele Lehrberufe werden nur noch sehr selten ausgebildet und nachgefragt. Worauf es zu achten gilt, sind die Bedingungen unter denen Arbeit verrichtet wird.
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Schwarzbuch Landwirtschaft
Autor Hans Weiss hat akribisch im Agrarsektor recherchiert. Seit den Achtzigerjahren, als Weiss gemeinsam mit anderen den Bestseller »Bittere Pillen« verfasste, ist er es gewohnt, Pfründe zu hinterfragen, im aktuellen Buch die Heilige Kuh Agrarförderung.
»Unter den zehn reichsten ÖsterreicherInnen sind sechs Bauern«, ortet Weiss. Freilich, die hoch Begüterten sind nicht ausschließlich Bauern, sie schmücken bloß gerne ihr Besitzportfolio mit einer oder mehreren Landwirtschaften. In der österreichischen Transparenzdatenbank fanden sich daher eine Reihe illustrer Namen - vom Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz bis zum ehemaligen Magna-Vorstand Siegfried Wolf, von Ex-VW-Vorstand Bernd Pischetsrieder bis zu Hans Michael Piëch und Wolfgang Porsche (Nachfahren des Autobauers Ferdinand Porsche). Nicht zu vergessen Lebemann Julius Meinl V. und Waffenlobbyist Alfons Mensdorff-Pouilly. Weiters gehören der Papierindustrielle Alfred Heinzel, die Privatstiftungen der Familien von Liechtenstein und Flick dazu. Sie alle bekommen öffentliche Agrarförderungen!
Stabiles Einkommen für die Dichands
Wie diese Förderpolitik funktioniert, zeigt sich etwa am Csardahof im burgenländischen Pama. 2009 wurde er mit 130.695 Euro gefördert. Belohnt wird er dabei etwa für Begrünung der Ackerfläche, für vorbeugenden Boden- und Gewässerschutz oder biologische Wirtschaftsweise. Stolze 27.739,53 Euro von diesen 130.695 Euro werden als sogenannte Direktzahlung ausgewiesen. Diese Zahlungen werden laut Transparenzdatenbank überwiesen, um »ein stabiles Einkommen für die Landwirte zu gewährleisten«. Der Csardahof wird über eine GesmbH, hinter der die Familie Dichand steht, betrieben.Hans Dichand gründete die Kronen Zeitung, eine der profitabelsten Zeitungen der Welt, seine Erben haben nach menschlichem Ermessen für den Rest ihres Lebens finanziell ausgesorgt - der Förderungen bedürfen sie wohl nicht aus finanzieller Not.
Die Agrarwelt ist widersprüchlich und ungerecht. Etwa 2,3 Mrd. Euro werden pro Jahr in Österreich an Agrarförderungen vergeben. Trotzdem müssen im Schnitt zwölf Landwirte oder -wirtinnen pro Tag ihren Hof aufgeben. In der EU ist die Zahl der Bauern und Bäuerinnen in den letzten 25 Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Gleichzeitig arbeiten in Europa geschätzte vier Mio. SaisonarbeiterInnen. Häufig unter höchst prekären, oft menschenunwürdigen Bedingungen; auch in Österreich. So werden SpargelstecherInnen im Marchfeld mit nur 2,20 Euro/Stunde entlohnt oder ErntehelferInnen im Burgenland mit erbärmlichen 3,30 Euro. Früher kamen die ausgebeuteten Hilfskräfte aus dem angrenzenden Ausland, heute werden HelferInnen aus Rumänien oder der Ukraine beschäftigt.
Das aktuelle System fördert die großen Betriebe und benachteiligt die kleinen: Im Durchschnitt erhalten zwei Prozent der Betriebe je 75.741 Euro im Jahr, das sind zehn Prozent der gesamten Fördermittel. 37 Prozent der Landwirte erhalten im Durchschnitt bloß 2.112 Euro im Jahr. Für die kleinsten 37 Prozent werden damit gerade einmal 100 Mio. Euro von den gesamten 2,3 Mrd. Euro verwendet. »Kleine Bauern bekommen pro Hektar 448 Euro, große 544 Euro Förderung«, erklärt Buchautor und Ex-Journalist Weiss. Diese Fakten sprechen deutlich gegen Behauptungen der Agrarfunktionäre und Politiker, dass Förderungen in erster Linie den kleinen Bauern zugute kämen und die kleinteilige Landwirtschaft aufrecht erhalten werden soll.
540 Mio. Euro Umweltförderung/Jahr
Jährlich werden rund 540 Mio. Euro für Umweltförderungen aufgewendet. Trotzdem ist das Grundwasser gerade in Ackergebieten mit Nitraten und Pestiziden verseucht. Evaluierungen, die gezielt die jeweilige Umweltfördermaßnahme für künftige Verbesserungen bewerten, gibt es nicht. Dadurch können Maßnahmen auch nicht optimiert werden - das Gießkannenprinzip bleibt aufrecht. Positiv ist, dass mittlerweile 18,5 Prozent der Agrarflächen biologisch bewirtschaftet werden - ein Erfolg der intensiven Förderungen.
Ein Drittel der gesamten Agrarförderung bezahlt die EU, bei einem weiteren Drittel übernimmt sie die Co-Finanzierung, der Rest kommt von Bund und Ländern. Was gefördert wird, wird zumeist von Österreich bestimmt. Die Förderungsrichtlinien sind unübersichtlich. Auffallend ist, dass viele KammerfunktionärInnen zu den Bauern gehören, die in ihrem Bundesland die meiste Förderung erhalten. So etwa der bekannte FPK-Politiker Uwe Scheuch in Kärnten. Gemeinsam mit seinem Bruder Kurt bewirtschaftet er einen 120 Hektar großen Bergbauernhof. 32.566,49 Euro kassierte er 2009 und gemeinsam mit seinem Bruder Kurt noch einmal 44.570 Euro.
Landwirtschaft beinahe steuerfrei
Daneben lässt sich Landwirtschaft in Österreich beinahe steuerfrei betreiben. 97 Prozent der Bauern zahlen keine Einkommensteuer, egal wie viel sie verdienen. Denn sie werden steuerlich nicht nach ihrem Einkommen bemessen, sondern nach einem Wert, der sich am Einheitswert orientiert. Dieser wurde das letzte Mal 1988 festgelegt. Er wird auch für die Bemessung der Grundsteuer herangezogen. Im Durchschnitt sind das pro Bauer etwa 150 Euro im Jahr. Weil der Einheitswert auch die Basis zur Berechnung aller weiteren Abgaben ist, müssen viele Bauern und Bäuerinnen in die Krankenkasse und Pensionsversicherung nur minimale Beiträge einzahlen. »In der Regel sind das insgesamt etwa 4.000 Euro im Jahr. Weil dadurch wenig in die Pensionsversicherung eingezahlt wird, muss der Staat jährlich noch einmal 1,7 Mrd. Euro für die Bauern-Pensionen zuschießen«, moniert Hans Weiss.
Für Bauern zahlt sich auch eine Heirat aus. Nicht nur aus Liebe, auch aus praktischeren Gründen. Denn nach der Bauernhochzeit kann das, aus dem Einheitswert errechnete, Einkommen zwischen Mann und Frau geteilt werden. Die Steuer wird erst nach dem »Splitting« berechnet.
Derzeit gibt es wenig Interesse das zu ändern, weil die EntscheidungsträgerInnen ordentlich profitieren. »Man sollte alle regelmäßigen Förderungen nach oben begrenzen«, sagt Hans Weiss - 25.000 Euro/Jahr könnte er sich als Grenzwert vorstellen. Privatstiftungen sollten überhaupt keine Förderungen erhalten.
Die höchste Agrarförderung in Österreich erhält tatsächlich ein Industriebetrieb. Der Fruchtsafthersteller Rauch erhielt vergangenes Jahr 7,2 Mio. Euro an Unterstützung - als Ausgleich dafür, dass die Firma den teuren europäischen Zucker zur Fruchtsaft-Produktion verwendet. Wer also beim nächsten Formel-1-Rennen das Rauch-Logo am führenden Red-Bull-Rennwagen entdeckt, kann stolz sein: Mit seinen Steuern hat er auch dieses Auto ein bisschen mitfinanziert.
Lasst die kleinen Bauern leben, fördert nachhaltige Bewirtschaftung und unterstützt den guten Weg in eine ethische Produktion. Fair für alle, nicht nur die Kleinbauern würden es danken. Auch die KonsumentInnen profitieren von artgerechter Tierhaltung, von Produkten mit Geschichte. Von Qualität statt Masse.
Info&News
Die Offenlegung personenbezogener Daten sei nicht rechtens, entschied der EuGH am 9. November 2010. Landwirtschaftsminister Nikolaus Berlakovich (ÖVP) ließ die Agrarsubventions-Datenbank
www.transparenzdatenbank.at sperren.
Eine europaweite Datenbank gibts unter www.farmsubsidy.org
Zahlen und Fakten zur österreichischen Landwirtschaft: www.gruenerbericht.at
Hans Weiss: »Schwarzbuch Landwirtschaft« Verlag Deuticke, ISBN 978-3-552-06145-3, 16,40 Euro.
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Work-Life-Balance
War vor einigen Jahren noch eine klare Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit auszumachen, so zeigt sich nun - unter dem Begriff von Work-Life-Balance -, dass Arbeit nicht mehr abgetrennt vom eigenen privaten Leben gesehen wird. Sondern Arbeit wird als maßgeblicher Einflussfaktor fürs eigene Leben betrachtet. Die zunehmende Sensibilität gegenüber Burn-out-Erkrankungen ist dafür beispielsweise ein eindeutiger Hinweis.
Arbeit - so der Grundgedanke - beeinflusst entscheidend unsere psychische Gesundheit. Wird eine solche Erkenntnis, dass es zunehmend psychische Erkrankungen gibt, nicht hinterfragt, und wird damit die Frage nach unserem Arbeitsverständnis nicht neu gestellt, bleibt eine Beurteilung dieser Situation in den Kinderschuhen stecken. Entweder wird die erkrankte Person als verweichlichter »Sündenbock« hingestellt, oder der Betrieb wird als »schwarzes Schaf« verunglimpft. Beide Antworten sind Verurteilungen und greifen zu kurz. Sie suchen Schuldige und keine neuen Handlungsmöglichkeiten.
Wird jedoch nach dem Arbeitsverständnis gefragt und damit der Blick auf die Arbeitsbedingungen und Veränderungen in der Arbeitswelt gelenkt, dann zeigt sich, dass es sowohl gesundheitsfördernde als auch gesundheitsmindernde Rahmenbedingungen beim Arbeiten gibt. Diese Rahmenbedingungen - und nicht die handelnden Personen - gilt es in erster Linie im Zusammenhang mit Burn-out zu fokussieren und zum Wohl der Arbeitenden umzugestalten.
Wertmaßstäbe sichten
Reden wir vom Wert der Arbeit, geht es vor allem um die Ermittlung der Qualität oder Güte von Arbeit. Hier können die Antworten unterschiedlich ausfallen. Denn die Wertfrage hängt mit unseren grundsätzlichen Überzeugungen und Weltanschauungen zusammen. Ob Mitarbeitende als KollegInnen wichtig sind, oder ob sie lediglich als Kapitalposten - im Sinne von Humankapital - oder FunktionsinhaberIn - im Sinne von: jeder Posten ist ersetzbar - angesehen werden, macht einen wesentlichen Unterschied in der Beantwortung der Wertfrage. Wer befindet, dass die Suche nach einer Bemessungsgrundlage für unsere Einschätzung überflüssig ist, läuft Gefahr fremdbestimmten Wertmaßstäben hinterherzulaufen. Was etwas wert ist, wird in einem solchen Fall nicht mehr von jemand selbst bestimmt, sondern entpuppt sich zumeist als Befolgen gängiger Bewertungen.
Monetäres Bewerten von Arbeit
Das Auto einer bestimmten Marke wird als exquisiter angesehen, weil es ja mehr kostet. Jene Arbeit wird als wertvoller bezeichnet, weil sie einfach höher entlohnt wird. Auch das größere Ansehen, das durch solche begehrenswerte Insignien zu erzielen ist, kommt dadurch zustande. Es führt zu einem fatalen Sog: Wir beginnen zu vergleichen und nehmen zumeist die finanzielle Bewertung als unseren einzigen Wertmaßstab.
Das finanzielle Vergleichen entpuppt sich jedoch als oberflächlich und trügerisch. Im Falle einer Gegenüberstellung wird der Wert der Arbeit auf eine Dimension - die der finanziellen Honorierung - reduziert. Frei nach dem Motto: Was mehr kostet, muss mehr wert sein. Ausgeblendet werden dabei die anderen Dimensionen, die den Wert der Arbeit letztendlich ausmachen.
Wer Arbeit sucht weiß, dass der Lohn die Basis darstellt, aber ebenso unabdingbar ist die persönliche Neigung bzw. das eigene Talent für eine bestimmte Tätigkeit. Diese Dimension der persönlichen Wichtigkeit von Arbeit wird völlig vergessen bei einer lediglich monetären Betrachtungsweise. Wenn Menschen arbeitslos werden, dann bricht für sie meist eine Welt zusammen. Ihr Leben ist erschüttert. Ihnen fehlt das Gefühl der sozialen Integration sowie der Sicherheit. Existenzfragen rütteln am eigenen Selbstwertgefühl und führen zu Frustration und Lethargie.
Arbeit ist für viele Menschen ihre Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sich als wichtiger Teil eines Ganzen zu begreifen und daraus resultierend, ein positives Selbstverständnis aufzubauen. Der persönliche Wert der Arbeit, der durch Arbeitslosigkeit in Frage gestellt werden kann, wird natürlich stark beeinflusst durch die Wertigkeit, welche die Gesellschaft der Arbeit zugesteht.
Gesellschaftlicher Nutzen von Arbeit
Arbeit besitzt für die Gesellschaft einen essenziellen Nutzen. Jede Arbeit stiftet gesellschaftlichen Nutzen, sofern sie nicht einen sozial-destruktiven Charakter aufweist. Dieser gesellschaftliche Nutzen stellt die dritte Dimension des Werts der Arbeit dar.
Arbeit - so kann allgemein gesagt werden - ist ein Garant für friedliches Miteinander und allgemeinen Wohlstand. Beides sind Grundpfeiler einer lebendigen Demokratie, die zum einen von der Eigenverantwortung des/der Einzelnen lebt - im Sinne von Subsidiarität -, und die zum anderen auf die Unterstützung größerer Einheiten, wie beispielsweise Institutionen, Kommunen oder staatliche Einrichtungen, angewiesen ist. Wenn Geld als einzige Währung für Arbeit gilt, dann steht das Kapital vor der Arbeit. Eine Fehlentwicklung, die von den Gewerkschaften stetig kritisiert wird und werden muss. Denn Arbeit steht vor dem Kapital. Und im Mittelpunkt müssen die arbeitenden Menschen und nicht eine neoliberale Glorifizierung des Geldes stehen.
Deshalb gehört zur monetären Bewertung der Arbeit immer auch die arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Sicherstellung. Diese rechtlichen Bestimmungen müssen unabhängig von der Höhe der Entlohnung oder der Art der Tätigkeit einem Gleichheitsprinzip folgen. Es kann nicht sein, dass Krankenstände, Urlaub, Karenz etc. unterschiedlichen Bestimmungen unterliegen.
Zu beachten ist dabei, dass diese Bestimmungen auch so gestaltet sind, dass sie von allen in gleicher Weise erreicht werden können. Es erscheint schwierig zu argumentieren, wenn ein ununterbrochenes Dienstverhältnis im selben Betrieb und die daraus erwachsenen sozialen Ansprüche anders bewertet werden, als die aneinandergereihter Dienstverhältnisse in verschiedenen Betrieben bei gleicher Dauer.
Working poor
Gleichzeitig ist nicht zu vergessen, dass die Zahl jener, die trotz Erwerbstätigkeit kein existenzsicherndes Einkommen erreichen (sogenannte Working poor), zunimmt. Die vermehrte Auslagerung von Betriebsfunktionen führt dazu, dass branchenübliche Kollektivlöhne für diese ArbeitnehmerInnen nicht mehr zur Geltung kommen, dass die üblichen 9to5-Jobs schwinden und prekäre und atypische Arbeitsverhältnisse sich ausbreiten. Und wo unter dem Deckmantel der Flexibilisierung neue Ausbeutungsmechanismen zu greifen beginnen. Hier bedarf es besonderer rechtlicher Sicherstellungen, weil diesen ArbeitnehmerInnen - betroffen sind vor allem Frauen und junge Menschen - der Zugang zu dem gewohnten bzw. gewünschten Lebensstandard erschwert ist, und sie auf die Unterstützung von PartnerInnen, Familie bzw. Staat angewiesen sind.
Auch jene, die - aus welchen Gründen auch immer - in ihrer Leistungsfähigkeit am Arbeitsprozess eingeschränkt sind, sollten auf die solidarische Unterstützung einer sozialstaatlich organisierten Gemeinschaft bauen können. Lediglich eine solche gesellschaftlich-soziale Einstellung wird dem Wert der Arbeit in seiner Ganzheit gerecht.
Weblink
Mehr Infos unter:
de.wikipedia.org/wiki/Wert
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Nicht vom Brot allein
Arbeit ist weit mehr als nur Broterwerb - sie dient der Identifikation, bietet Möglichkeiten zu Selbstverwirklichung, bringt soziale Anerkennung und eröffnet Raum für soziale Kontakte und Kooperation. Wie befriedigend Arbeit erlebt wird und welcher Wert ihr auch durch eine Gesellschaft beigemessen wird, drückt sich nicht zuletzt durch das Ausmaß aus, in dem sie die Erfüllung dieser Funktionen ermöglicht. Und das ist im internationalen Vergleich durchaus unterschiedlich.
Die wichtigste Funktion, die Arbeit unbedingt erfüllen muss, ist die Sicherung der eigenen Existenz. Arbeit dient (so sie nicht unbezahlt, beispielsweise von Frauen im Rahmen des Haushalts, geleistet wird) dazu, Einkommen zu generieren und stellt damit die wichtigste Grundlage zur Existenzsicherung dar. In diesem Sinn ist Arbeit lebenswichtig - weshalb das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung auch bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist. Trotzdem nimmt die Zahl derer, die von ihrer Arbeit nicht oder nicht mehr leben können, weltweit stetig zu. Beinahe die Hälfte aller 2,8 Mrd. ArbeitnehmerInnen weltweit verdienen weniger als zwei US-Dollar täglich. Eine von ihnen ist die 24-jährige Juliana Martey aus Ghana.
In ihrem Job im Supermarkt einer Shell-Tankstelle in der Hauptstadt Accra verdient sie gerade einmal 37 Euro im Monat. Und das, obwohl die Arbeit auf der Tankstelle nicht ungefährlich ist und Juliana sich vor bewaffneten Überfällen und Gasexplosionen fürchtet. Im Vergleich dazu ist die Situation von Barbara Herczeg, die eine kleine Billa-Filiale in Wien leitet, geradezu rosig: »Ich bin im Prinzip mit der Lebens- und Arbeitssituation in meiner Filiale zufrieden, da das Verhältnis von Freizeit und Arbeit ausgewogen ist. Ich arbeite nur 30 Stunden, das ist aber nicht die Regel. Normalerweise verbringen Marktmanager sehr viel Zeit in der Filiale, sodass die Freizeit eher zu kurz kommt - typisch ist eher zwischen 50 und 60 Stunden. Unser Betriebsrat kämpft darum, dass diese Situation besser wird.« Vor Gewalt am Arbeitsplatz ist aber auch Frau Herczeg nicht gefeit: Neben verbalen Übergriffen durch Kunden/-innen wurde auch sie schon zweimal in ihrer Filiale überfallen.
Sicherheit und Schutz vor Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz ist ein Thema, das auf der ganzen Welt eine wichtige Rolle spielt. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass jährlich rund zwei Millionen Menschen an den Folgen von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten sterben. Die Umstände, denen Menschen an ihren Arbeitsplätzen ausgesetzt sind, unterscheiden sich je nach Land, Branche und sozialer Gruppe beträchtlich.
China: 20 bis 30 Meter unter Tag
Besonders schlimm sind die Zustände für Menschen, die in gefährlichen Branchen in Entwicklungsländern arbeiten - einer von ihnen ist Chen Wei Yang* (28), der in der chinesischen Stadt Dongguan lebt. Er ist Bauarbeiter bei Speedy Blasting Engineering*, einem Unternehmen, das unterirdisch Sprengarbeiten für Hochhausfundamente durchführt: »Meine Arbeit ist hart und gefährlich und der Lohn ist nicht hoch. Wir arbeiten 20 bis 30 Meter unter der Erde. Ich mache mir Sorgen, weil es bei den Sprengarbeiten keine Sicherheitsvorkehrungen gibt. Am schlimmsten ist der Staub - bei einigen Kollegen ist schon Silikose, also Staublunge, diagnostiziert worden. Sie haben aber keine Entschädigungen bekommen, weil keiner einen schriftlichen Arbeitsvertrag hat. Ich habe Angst, dass ich diese Krankheit auch bekommen könnte.«
Arbeitsbedingungen wie jene, unter denen Chen zu leiden hat, sollten in unseren Breiten der Vergangenheit angehören. Dennoch sind auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Österreich immer wieder schweren Belastungen ausgesetzt. Kurt Meyer* ist 62 und arbeitet in einem Call-Center in Linz: »Wir stehen ständig unter Leistungsdruck. Unsere Bedürfnisse werden überhaupt nicht berücksichtigt, es gibt keinen positiven Ansporn und kaum Pausen. Bei den Geschäften, die wir telefonisch abschließen, müssen wir die Leute richtiggehend über den Tisch ziehen. Das ist schwer zu verarbeiten, weil es schon an Betrug grenzt.«
In dieser Hinsicht geht es seiner brasilianischen Kollegin Carol Gomes da Silva (18), die als Telefonistin bei einer Firma arbeitet, die Kühlsysteme für Unternehmen - unter anderen Coca Cola, Unilever, Nestlé - herstellt, besser. Sie beschreibt ihre Arbeit als sehr ruhig und das Verhältnis mit ihren KollegInnen als freundschaftlich.
Burkina Faso: Gutes Betriebsklima
Ein kollegiales Betriebsklima stellt eine wichtige Voraussetzung für Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz dar. So betont Catherine Sawadogo (33), die als Volksschullehrerin in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso arbeitet: »Die Atmosphäre ist gut, wir plaudern und machen Witze unter den Kolleginnen und Kollegen.« Ähnliches berichtet auch Edi Pfisterer (36), Lehrer an der Handelsakademie in Neusiedl am See, über die Situation an seiner Schule: »Das Arbeitsklima bei uns ist wesentlich besser als in vielen anderen Schulen. Die Hälfte der KollegInnen übt einen Nebenberuf im Weinbau aus, viele haben Kinder. Dadurch ist das Arbeitsumfeld Schule für die wenigsten der Lebensmittelpunkt, wodurch alles sehr entspannt ist. Zwischen den LehrerInnen herrscht große Kollegialität und Loyalität, der Direktor lässt uns viele Freiheiten und setzt auf Eigenverantwortung, was ich sehr schätze!«
Rumänien: Solidarität hilft
Nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene stellt Arbeit einen wichtigen Faktor dar. Nur wer über ein ausreichendes Einkommen verfügt, kann auch konsumieren und so zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. Die Strategie, Arbeitsplätze um jeden Preis zu schaffen und dafür auch Umweltstandards, soziale Rechte und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu opfern ist allerdings nicht zielführend: Nur, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft ein Leben in Würde und Sicherheit führen können, ist sozialer Friede dauerhaft gewährleistet.
Auf dieser Erkenntnis beruht auch das Konzept »Menschenwürdige Arbeit«, das die Internationale Arbeitsorganisation ILO 1999 entwickelt hat. Es sieht Arbeit dann als einen Schlüssel zu Armutsbekämpfung und sozialem Wohlstand, wenn sie nicht nur gerechtes Einkommen sichert, sondern darüber hinaus Sicherheit am Arbeitsplatz und soziale Absicherung sowie die Möglichkeit zu persönlicher Weiterentwicklung und Integration in die Gesellschaft bietet. Die Garantie von Chancengleichheit und Gleichberechtigung sowie das Recht auf gewerkschaftliche Partizipation sind weitere unabdingbare Grundpfeiler menschenwürdiger Arbeit.
Wirklichkeit werden kann menschenwürdige Arbeit für alle ArbeitnehmerInnen weltweit aber nur, wenn Gewerkschaften sich auf internationaler Ebene gegenseitig unterstützen und zusammenarbeiten. Eine Tatsache, die vielen Betroffenen durchaus bewusst ist - wie zum Beispiel der rumänischen Textilarbeiterin Adelina Ionescu (63): »Internationale Solidarität hat geholfen und hilft. Nur durch Solidarität auf nationaler und internationaler Ebene und gut gemachte Gesetze können wir menschenwürdige Arbeit für ein menschenwürdiges Leben erwarten.«
* Name und/oder Firmenname zum Schutz der InterviewpartnerInnen geändert.
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Marie-Sophie Zimmermann: Ja, natürlich. 50 Jahre auf der Bühne sind eine sehr lange Zeit. Glauben sie mir, ich habe schon mehrmals versucht, meine Karriere zu beenden und aus dem en l´air ein passé zu machen, aber die Umstände haben es bis jetzt nicht zugelassen. Es ist keine Leichtigkeit, mit einer künstlichen Hüfte ein gekonntes fouetté hinzubekommen.
Wann wollten Sie denn zum ersten Mal in Pension gehen? Welche Umstände haben Sie daran gehindert?
Nach meinem 25-jährigen Bühnenjubiläum 2035 an der Staatsoper wollte ich zum ersten Mal meine Karriere beenden. Ich hatte alle großen Rollen als erste Solotänzerin getanzt, z. B. die Odette in Schwanensee, und ich spürte, dass meine Gelenke sehr strapaziert waren von der langen Zeit auf der Bühne. Nach einer umfangreichen Operation entschloss ich mich dann doch weiterzutanzen. Leider hatte ich auch noch nicht genug Geld für einen entspannten Ruhestand verdient. So startete ich 2036 ein Comeback.
Wollten Sie nach 2036 ihre Bühnenkarriere noch einmal beenden?
Aber natürlich, drei Mal sogar. Nach meinem 30-jährigen Bühnenjubiläum 2040, wurden mir eine künstliche Kniescheibe und ein Hüftgelenk eingesetzt. Trotz Rehabilitation hatte ich sehr starke Schmerzen. Da ich erst 54 war, versuchte ich Invaliditätspension zu beantragen, weitere Auftritte als Ballerina waren undenkbar. Nur waren meine zwei neuen Ersatzteile nicht Anspruch genug …
Sie sprechen hier die »3 künstliche Gelenke+«-Reform von 2029 an …
Genau. Ich hatte leider nur zwei künstliche Gelenke und keinen Bedarf einer Gehhilfe, deshalb wurde mir der Anspruch verwehrt. Schließlich ging ich noch einmal in Reha, war aber unsicher ob es für ein weiteres Comeback reicht.
Dachten Sie nie an private Vorsorge?
Natürlich. Vor 50 Jahren konnte man sich ja kaum der Panikmache um private Vorsorge entziehen. Jedoch war das für mich finanziell nicht möglich, auch wenn ich gute Engagements hatte, war es für private Vorsorge nicht genug. Kinder hätten sich zwar positiv auf meine Pensionsansprüche ausgewirkt - aber eine Primaballerina mit Schwangerschaftsstreifen?
Mit 54 starteten Sie ein Comeback …
Ja, viel anderes blieb mir nicht übrig. Wenigstens war die Medizin in den 2040ern schon so weit, dass man auch mit einem falschen Knie und Hüfte einen einwandfreien grand jeté machen konnte.
Bekamen Sie noch Engagements?
Nach meinem ersten Comeback hatte ich kaum Probleme damit, ich war ja eine angesehene Charaktersolistin. Das zweite Comeback erwies sich als schwieriger, so viele Charakterrollen für eine über 50-jährige Ballerina gibt es nicht. Wirklich schwer war das 3. Comeback …
Sie haben ein 3. Comeback gestartet?
Ja, musste ich. Es blieben mir nicht viele Alternativen. 2050 glaubte ich, mit über 63 Jahren endgültig meine Karriere beenden zu können, da ich das gesetzliche Pensionsalter erreicht hatte …
Aber die Reform »30/55+1/2« von 2030 hatte das Antrittsalter bereits auf 73 Jahre ansteigen lassen …
Das fand ich bei der Antragstellung leider auch heraus. Da ich kein weiteres künstliches Gelenk hatte, folgte nach 40 Bühnenjahren mein 3. Comeback.
Hätten Sie in den Jahren etwas anders machen sollen?
Ja, Kinder bekommen oder mir gleich ein zweites künstliches Knie einsetzen lassen. Dann wäre ich heute Gärtnerin.
Ihre Zukunftswünsche?
Hals- & Beinbruch!
Danke für das Gespräch.
Zur Person
Marie-Sophie Zimmerman
Geb. 1987 in Wien, Volksschule, Wiener Staatsoper Ballettschule
2005-2008 Fortsetzung der klassischen Ballettausbildung in Paris, Académie d‘art choreographique
2009 erstes Engagement im Staatsballett Berlin/Corps de Ballett
Ab 2010 Ensemblemitglied am Wiener Staatsopernballett
2011 Aufstieg zur Solotänzerin
2012-2015 Engagements in Paris und Moskau
2016 Ernennung zur 1. Solistin an der Wiener Staatsoper, seit 2025 Charaktersolistin
2062 voraussichtliche Beendigung der Bühnenkarriere
Kunst
Projekt im Rahmen von "Zukunft der Arbeit" - einer Kooperation der AK Wien und der Universität für angewandte Kunst von Denise Ackerl
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Interview mit Andreas Gjecaj, FCG-Generalsekretär im ÖGB
Andreas, noch bevor du 2006 im ÖGB zu arbeiten begonnen hast, hast du dich mit dem Thema »Arbeit« sehr intensiv auseinandergesetzt.
Andreas Gjecaj: Vor meiner Anstellung im ÖGB war ich Bundessekretär der Kath. ArbeitnehmerInnen Bewegung (KAB), und wir haben gemeinsam mit der Betriebsseelsorge in Österreich eine Kampagne gestartet. Die Idee dazu kam von Marja Kantanenen, einer Sozial- und Industriepfarrerin aus Helsinki. Die finnischen IndustrieseelsorgerInnen hatten sich gefragt, wie sich die menschliche Arbeit im dritten Jahrtausend angesichts der weit fortgeschrittenen Deregulierung und Globalisierung entwickeln würde und haben ein »Good Work Project« begonnen.
Gerade in Österreich erscheinen aber Kathedralen und Fabrikshallen als ziemlich unvereinbare Gegensätze - oder zumindest eigene Welten, die kaum Berührungspunkte haben.
Abseits der belasteten Geschichte der Dreißigerjahre gibt es bei uns die Redensart, dass man gelegentlich »den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht«. Den meisten Menschen fallen rasch zwei Bibel-Zitate ein - und diese verstellen den Blick darauf, dass Arbeit gerade im Christentum ganz zentral vorkommt. Bei der Vertreibung aus dem Paradies heißt es im Buch Genesis: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen …« - und das wurde immer nur als Fluch verstanden. Das zweite Zitat stammt aus einem Brief des Apostels Paulus: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« Zugegeben, zwei ziemlich große Bäume. Jetzt aber zum Wald: Zumindest das Judentum und das Christentum berufen sich auf einen biblischen Gott, der genau die damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen des Volkes Israel hernimmt, um zu zeigen, wer er ist. Er führt sie nämlich aus der Knechtschaft in Ägypten heraus - er befreit aus der Unterdrückung und Sklaverei.
Was war dann Arbeit in der Antike: Segen oder Fluch?
Arbeit war in der Antike - und ist bis heute - nicht eindimensional, d. h. es war immer sowohl Mühe, Last, Anstrengung als auch Selbstverwirklichung, soziales Wirken und Selbstbestimmung. Eine bekannte Geschichte erzählt von drei Steinmetzen am Kölner Dom. »Was macht ihr denn da?«, fragt sie ein Fremder. Und der eine antwortet mürrisch: »Du siehst doch, ich behaue Steine.« Der zweite: »Ich arbeite, um meine Familie zu ernähren.« Der dritte wischt sich den Schweiß von der Stirn: »Ich baue mit am großen Dom.« Eine kleine Geschichte, die doch Wesentliches zur Bedeutung von Arbeit enthält, auch wenn sich diese gewandelt hat.
In der Antike wurde Arbeit von Unfreien und Sklaven geleistet, während sich der Adel eher im Betrachten übte - in der Gegenwart scheint man die ganze Welt als »Baustelle« zu begreifen - und fast jede Tätigkeit wird als »Arbeit« bezeichnet. So spricht man heute von Beziehungsarbeit, Trauerarbeit - oder wie zuletzt beim Aids-Kongress in Wien von Sexarbeit.
Dich scheinen diese Bezeichnungen nicht zu freuen?
Auch wenn der Volksmund sagt, dass »Einbrecher in der Nacht an die Arbeit gehen«, meine ich, dass nicht jedwede Tätigkeit Arbeit ist. Auch dann nicht - und es ist mir wichtig darauf hinzuwei-sen -, wenn man damit Geld verdient. Vielmehr sollten wir gerade bei unbezahlter Arbeit genauer hinschauen und uns fragen, was für unser Leben eigentlich wichtig und wertvoll ist. Die deutsche Theologin Dorothee Sölle hat es einmal auf den Punkt gebracht: »Jede Arbeit, die auf Vernichtung der Lebenden, der Nachkommen, der Mitgeschöpfe und der ganzen Erde abzielt, ist mit dem christlichen Gauben unvereinbar. Ein Soldat ist kein Arbeiter.«
Aber schon Ende des vorigen Jahrhunderts hat der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin mit seinem Buch »Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft« für einen Nachruf auf die Arbeitsgesellschaft gesorgt.
Und sich damit ebenso getäuscht wie viele Soziologen, die unsere Gesellschaft nur noch über die Freizeitgestaltung oder Lebensstilfragen definieren wollten. Arbeit wird auch in Zukunft ein Dreh- und Angelpunkt der sozialen Frage bleiben, und heute finden wir Texte wie: »Auf der Suche nach der verlorenen Arbeit« von Peter Zellmann, oder Henrik Müller, der in seinem Buch »Die sieben Knappheiten« Arbeit als die erste Tugend beschreibt. Welchen Beruf ich habe, wird offensichtlich auch in Zukunft ein prägender Teil meiner Identität und ein wichtiger und entscheidender Schlüssel zu gesellschaftlicher Anerkennung sein.
Gerade Erwerbslose spüren, dass sie mit ihrer Arbeit mehr verloren haben, als nur ihr Einkommen. Das allein ist ja schon schlimm genug. Aber sie leiden darunter, nicht mehr gebraucht zu werden - oder um beim Beispiel der Steinmetze zu bleiben, nicht mehr »mitzubauen«. Das ist eine Sinnfrage, die sie Kopf und Kragen kosten kann.
In seinen Manuskripten beschreibt Karl Marx den Menschen als »animal laborans«, als arbeitendes Wesen, der sich allerdings wegen der »Entfremdung der Arbeit« dabei verliere.
Das 19. Jahrhundert - in dem Karl Marx lebte und wirkte - war von heute fast unvorstellbaren Veränderungen und Umbrüchen geprägt. Die industrielle Lohnarbeit war zunächst Zwangsarbeit. ArbeiterInnen wurden mit Gewalt zu ihren Arbeitsstätten gebracht, die Fabriken mussten von Militärs bewacht werden. Bei einem Vortrag hat der Linzer ÖGB-Bildungssekretär Sepp Wall-Strasser die erste Phase der Gewerkschaftsbewegung so beschrieben, dass es galt »Arbeitsbedingungen zu erreichen, die nicht mehr lebensverkürzend und gesundheitsschädigend für die ArbeiterInnen waren«. Im 20. Jahrhundert haben wir - in Europa im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft - um die »Humanisierung der Arbeitswelt« gekämpft und konnten in Kollektivverträgen wichtige Regelungen festschreiben. Und am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen wir vor der großen Herausforderung, ob wir wieder in Zustände des 19. Jahrhunderts zurückfallen oder an einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit mitbauen. Denn mittlerweile sollten wir doch gelernt haben, dass die von Marx beschriebene Entfremdung kein Naturgesetz ist.
Bist du mit deiner positiven Sicht von Arbeit nicht etwas zu »sozialromantisch«? Im heute real existierenden Kapitalismus wird Arbeit doch nach den Gesetzmäßigkeiten des Weltmarkts als Ware gehandelt, und als Kostenfaktor bekämpft. Wo man sie überhaupt noch braucht, wird sie ausgepresst wie eine Zitrone und danach achtlos weggeworfen.
Der deutsche Betriebsseelsorger Paul Schobel hat einmal gesagt: »Die Amerikanisierung der Wirtschaft hat die Brasilianisierung der Arbeit zur Folge!« Gemeint ist damit, dass Wirtschaften im US-Stil bedeutet, so zu tun, als wäre Gewinnmaximierung das einzige Ziel der Wirtschaft. Das war es nie - und wer so etwas behauptet nimmt in Kauf, dass alle anderen Ziele unter die Räder kommen. Die »Brasilianisierung« meint Arbeit ohne gerechten Lohn, Arbeit ohne Anspruch auf soziale Sicherung, Arbeit in Zeitkonstrukten, die Menschen verbiegt (flexibel kommt von flectare: biegen, beugen, krümmen) - ein Zerrbild von Arbeit und Wirtschaft!
Und euer Gegenentwurf heißt »Gute Arbeit«?
Weil Arbeit keine Nebensache ist - und niemals war -, müssen wir um GUTE ARBEIT kämpfen. Mindestens ein Drittel unserer wachen Zeit verbringen wir in der Arbeit. An unseren Arbeitsplätzen wird die Welt gestaltet, werden Ressourcen verbraucht, Produkte erzeugt, Dienste geleistet. Dort entscheiden sich Glück und Unglück, Gerechtigkeit und Ausbeutung, Sinnhaftigkeit und Frustration. Auch die ILO (Internationale Arbeitsorganisation) hat eine Kampagne mit dem Titel »decent work« gestartet. GUTE ARBEIT ist mehr. Mehr als bloße Wirtschaftlichkeit, mehr als reiner Kostenfaktor. Sie muss die Würde des Menschen garantieren, für ein gerechtes Einkommen sorgen und Verantwortung für die Umwelt tragen.
Danke für das Gespräch.
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Weitere Materialien zur Kampagne GUTE ARBEIT unter:
www.gutearbeit.at
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Stundenlohn zehn Euro
Gesucht: Online-PR-Redakteur m/w mit sehr guten Französisch-Kenntnissen, fundiertem Web-2.0-Wissen sowie Interesse an und Kenntnissen über Sportwetten und Online-Poker für selbstständige Online-Themenrecherche und das selbstständige Erstellen und Platzieren von Texten in französischer Sprache auf Online-Plattformen; Werkvertragsbasis, Arbeit von zu Hause aus (Internetanschluss erforderlich), Stundenlohn: EUR 10,-.
Oder: Gerlinde W.*), heute 42, Historikerin, hat nach der Familienpause lange nach einem passenden Job gesucht und schließlich fast zwei Jahre lang als Büroleiterin bei einem Nachhilfeinstitut gearbeitet, als freie Dienstnehmerin, 25 Wochenstunden, Stundenlohn: acht Euro.
Zehn Euro pro Stunde, rund 1.700 brutto pro Monat, das klingt vielleicht für manche gar nicht so wenig. Nur: Es gibt kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, in der Regel auch kein Recht auf Krankenstand u. Ä., Urlaub bedeutet meist Verdienstausfall, von automatischen jährlichen Einkommenszuwächsen ganz zu schweigen. Die Mittelschicht beginnt ab einem Bruttoeinkommen von 2.000 Euro, davon kann der Online-PR-Redakteur oben nur träumen.
Wertvolle Flexibilität
Nun träumen sicher nicht alle Menschen nach abgeschlossener Ausbildung von einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Für persönliche Freiräume und Flexibilität sind viele durchaus bereit, auf Annehmlichkeiten wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu verzichten. Unter Flexibilität scheinen allerdings die Unternehmen etwas ganz anderes zu verstehen: die Bereitschaft, immer mehr Leistung bei - im besten Fall unveränderter Bezahlung - zu erbringen. Und den Willen, die Risiken eines Unternehmers zu bewältigen, aber gleichzeitig die Zuverlässigkeit, Loyalität und rasche Verfügbarkeit eines Angestellten zu bieten. Manfred K.*), Kameramann: »Meist läuft die Auftragsvergabe so ab, dass ich etwa am Mittwoch einen Anruf von einer Produktionsfirma bekomme, dass ich vielleicht am Samstag für einen Dreh gebraucht werde. Das bleibt dann so lange ungewiss, bis die Ab- oder Zusage kommt. Das heißt, ich muss mir den Samstag freihalten, selbst wenn dann vielleicht am Freitag eine Absage kommt.« Feiertags- oder Wochenendzuschläge sind nicht üblich.
Schon 2004 waren in Wien laut der WIFO-Studie »Untersuchung des ökonomischen Potenzials der Creative Industries in Wien« knapp die Hälfte der Unternehmen in den Kreativbranchen Ein-Personen-Unternehmen. Ein Viertel der in diesem Bereich Tätigen hatte einen Hochschulabschluss, weitere 44 Prozent Matura.
Die Wirtschaftskrise hat nicht nur weniger Aufträge, sondern in manchen Branchen auch niedrigere Einkommen für viele Prekäre bedeutet. Zusätzlich drücken PraktikantInnen, die auch mal gratis oder für ein paar Hundert Euro arbeiten (müssen), die Honorare und Gehälter in all jenen Branchen nach unten, in die massenhaft StudienabgängerInnen drängen. Outsourcing und ähnliche Sparmaßnahmen tun ein Übriges. Manfred K.: »Wenn ich meine Honorare in Schilling umrechne, dann komme ich heute für einen Auftrag auf dieselbe Summe wie vor mehr als 20 Jahren - zu schlechteren Bedingungen.« Wie so manche/r seiner KollegInnen versucht auch der Kameramann, sich ein zweites Standbein in einer anderen Branche aufzubauen. Was nicht ganz einfach ist, denn wie soll man mit derart geringem Budget etwa Geld für Weiterbildung lukrieren? »Ich wollte eigentlich nur so lange freiberuflich und zu Hause arbeiten, bis meine Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Mittlerweile dauert dieser Zustand schon 17 Jahre. Das würde mich auch nicht wirklich stören, wenn mein Einkommen adäquat wäre«, erzählte mir kürzlich eine Kollegin. »Ich hab das Gefühl, ich muss jeden Tag mindestens zehn Stunden arbeiten, um auch nur halbwegs über die Runden zu kommen. Und da verbuche ich Notwendigkeiten wie Veranstaltungen besuchen und Netzwerken ohnehin schon als Freizeit.«
StudentInnen und JungakademikerInnen sind oft froh, überhaupt einen Job gefunden haben, Erfahrungen sammeln zu können, den Lebenslauf aufzuwerten und nehmen dafür geringe Bezahlung in Kauf. Coole Sprüche und das Versprechen auf Weiterentwicklung/Fixanstellung sollen den Einstieg versüßen:
Du bist ein Heavy Internet User? Du schreibst sehr gutes Englisch und sehr gutes Französisch? Du bist auch privat viel in Foren und Communities unterwegs? Passt! Du wirst uns beim Aufbau von Identitäten in verschiedenen von uns benannten Diskussionsforen unterstützen und zu Themen deiner Wahl hochwertige Beiträge schreiben.
Anforderungen
In der Öffentlichkeit werden MitarbeiterInnen in der Medien- und Kreativbranche und besonders AkademikerInnen immer noch mit entsprechend gutem Einkommen assoziiert. Bei Mediaanalysen werden AkademikerInnen automatisch zur A-Schicht gerechnet. Doch bald wird sich ein Teil der Bildungsoberschicht die Qualitätszeitungen und -zeitschriften nicht mehr leisten können (außer per Internet), von Weiterbildung ganz zu schweigen. Geldmangel, unsichere Verhältnisse und Selbstausbeutung haben soziale Folgen: Das Geld und/oder die Zeit für Unternehmungen mit Freunden fehlen zum Teil. Die klassischen ArbeitskollegInnen gibt es kaum, denn diese sind im Grunde KonkurrentInnen. Und: Wer kann schon Familiengründung planen, wenn man sich immer nur von Projekt zu Projekt hantelt?
Erste Erfolge
Die GPA-djp weiß, dass etwa freie Dienstverträge häufig Umgehungsverträge sind, mit denen Kosten für eine Arbeitskraft minimiert werden sollen. Andrea Schober von der Interessengemeinschaft work@flex: »In den vergangenen drei Jahren ist die Zahl der freien Dienstverträge um 22 Prozent zurückgegangen. Natürlich wissen auch wir, dass einige davon dann in Werkverträge umgewandelt wurden. Aber etwa in Callcenters und bei Schulungseinrichtungen wurden - nicht zuletzt durch die gute Kooperation mit den Krankenkassen - die meisten Betroffenen tatsächlich angestellt.« Work@Flex fordert außerdem, den ArbeitnehmerInnen-Begriff dahingehend auszudehnen, dass auch als ArbeitnehmerIn gilt, wer im Auftrag und auf Rechnung anderer Arbeit leistet und in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis steht. Nur: Wäre es dann für ein Unternehmen nicht naheliegend, in Zukunft die Zusammenarbeit mit neuen Selbstständigen weniger regelmäßig und »einseitig« zu gestalten, also mehr Prekäre zu beschäftigen, aber diese dann weniger regelmäßig als bisher?
Der Mailänder Soziologe Sergio Bologna sieht angesichts der aktuellen Situation den Bedarf für umfassende politische Reformen. Er fordert das Anrecht auf soziale Absicherung für alle - gleichgültig in welchem Arbeitsverhältnis sie tätig sind. Grundrechte wie etwa das Streikrecht, das für neue Selbstständige, freie DienstnehmerInnen etc. nicht greift, müssten überdacht und die Prekären in stabile Netzwerke integriert werden.
*) Namen von der Redaktion geändert
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Work@Flex:
www.gpa-djp.at/flex
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2003-2005: Hartz I-IV tritt in Kraft
In den Jahren 2003 bis 2005 traten in Deutschland die sogenannten Hartz-Gesetze (Hartz I bis IV) in Kraft, die das bisherige System von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe in Deutschland völlig umkrempelten. Mit dem Argument, Arbeitslose rascher wieder in den Arbeitsprozess eingliedern zu wollen, wurden Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zusammengeführt und die Zumutbarkeitsbedingungen radikal verschärft. Besonders streng sind die Zumutbarkeitsbestimmungen bei Jugendlichen. Schon nach einmaliger Verweigerung eines Arbeitsangebots können ihnen die Leistungen für den Lebensunterhalt gekürzt werden. Die Zumutbarkeit gilt allgemein auch für Löhne bis zu 30 Prozent unter dem Tarifniveau. Daher ist diese Regelung aus Sicht des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) völlig unzumutbar.
Ein-Euro-Jobs
Neben der Reform von Arbeitslosengeld und Zumutbarkeit wurden im Zuge der Hartz-Reformen auch neue Instrumente der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt entwickelt, wie etwa die sog. »Ein-Euro-Jobs« oder korrekt »Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung«. Ein-Euro-JobberInnen erhalten Arbeitslosengeld II (meist einfach Hartz IV genannt) weiter ausbezahlt und verrichten dafür eine Tätigkeit, die zusätzlich sein - also keinen bestehenden Arbeitsplatz ersetzen darf - und zudem im öffentlichen Interesse liegen sollte. Dafür erhalten sie eine »angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen« von ein bis zwei Euro pro Stunde. Daher auch der vielsagende Name. Weigert sich jemand ein Ein-Euro-Job-Angebot anzunehmen, muss er/sie mit Kürzung oder Streichung der Leistung rechnen.
Ziel ist es, Langzeitarbeitslose mit Vermittlungshemmnissen wieder an ein »normales Arbeitsleben« heranzuführen und so ihre Jobchancen zu erhöhen. Genau genommen sollten Arbeitssuchende nur dann in einen Ein-Euro-Job vermittelt werden, wenn andere Möglichkeiten, also die Eingliederung in reguläre Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierung, nicht bestehen.
Die Realität geht jedoch weit darüber hinaus. Im Jahresdurchschnitt gibt es in Deutschland rund 300.000 TeilnehmerInnen in Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung. Da die Arbeitsgelegenheiten maximal zwölf Monate dauern dürfen, ist die Zahl der Teilnahmen pro Jahr noch wesentlich höher: 764.000 gab es im Jahr 2008. Vor allem in Ostdeutschland werden Ein-Euro-Jobs im großen Stil eingesetzt. Sie kommen in etwa eineinhalbmal so oft zur Anwendung wie eine berufliche Weiterbildung.
Kein Wunder übrigens, dass Ein-Euro-Jobs so attraktiv sind, kosten sie doch die ArbeitgeberInnen nur die Mehraufwandsentschädigung und eine sog. Trägerpauschale, insgesamt rund 500 Euro. Die restlichen Kosten werden aus der Weiterzahlung des Arbeitslosengelds II bzw. sonstiger Leistungen gedeckt. Mit Ein-Euro-Jobs lassen sich zudem kurzfristig hohe Aktivierungsraten erzielen. »Quantität von der Stange statt Qualität im Einzelfall«, kritisiert der DGB.
Zwei Drittel entsprachen nicht
Auch der deutsche Bundesrechnungshof kritisierte in seinem Prüfbericht 2008 das System der Ein-Euro-Jobs: Zwei Drittel der geprüften Maßnahmen hätten nicht den gesetzlichen Fördervoraussetzungen entsprochen. In acht von zehn beanstandeten Fällen sei die Tätigkeit keine zusätzliche gewesen. In der Hälfte der beanstandeten Fälle stand die Tätigkeit nicht im öffentlichen Interesse. Die Arbeitsgelegenheiten blieben für drei von vier Hilfsbedürftigen wirkungslos. Messbare Integrationsfortschritte waren nicht erkennbar.
Eine Befragung des DGB unter Ein-Euro-JobberInnen bestätigt diese Kritik. 64 Prozent der Befragten glauben nicht daran, durch den Ein-Euro-Job wieder in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu kommen. 40 Prozent geben an, an seelischen Problemen zu leiden. Jede/r Vierte empfindet die Verpflichtung, an solchen Jobgelegenheiten teilzunehmen als Entwürdigung und nimmt nur wegen der drohenden Kürzungen teil. Dabei zeigt sich ein deutliches Ost-West-Gefälle. Arbeitssuchende in den neuen Bundesländern sehen die Ein-Euro-Jobs deutlich positiver als Arbeitssuchende in den alten Bundesländern, auch wenn damit keine längerfristigen Jobchancen verbunden sind. Offenbar steigt mit zunehmender Aussichtslosigkeit der eigenen Situation die Bereitschaft, sich an jeden Strohhalm zu klammern. 41 Prozent der Ostdeutschen haben sich sogar aktiv für einen Ein-Euro-Job beworben. Das stellt die Sinnhaftigkeit des Zwangs zur Arbeit in Frage. Die Arbeitslosigkeit der Hartz-IV-Bedürftigen resultiert nicht aus einem Mangel an Arbeitswillen, sondern auch aus einem Mangel an Angeboten. 68 Prozent der Befragten verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss. Fast jede/r Zweite gab an, im Ein-Euro-Job dieselbe Tätigkeit gemacht zu haben wie regulär beschäftigte KollegInnen. Jede/r Vierte sagte, dass für seine/ihre Ein-Euro-Tätigkeit eine abgeschlossene Berufsausbildung nötig gewesen sei.
Die Vermittlung in Ein-Euro-Jobs beschränkt sich also bei weitem nicht auf Personen mit Vermittlungshemmnissen und auf zusätzliche Stellen. Tatsächlich verdrängen sie oft reguläre Arbeitsverhältnisse und bringen zudem Tarifsysteme unter enormen Druck. Vor allem in Ostdeutschland werden Ein-Euro-Jobs nicht mehr gezielt eingesetzt, um Einzelne zu unterstützen, sondern großflächig als Marktersatzmaßnahme. Dafür sind sie aber nicht geschaffen. Denn die Menschen in Ein-Euro-Jobs haben weder einen Arbeitsvertrag noch sonstige ArbeitnehmerInnenrechte. Sie sind lediglich staatlich geförderte Billigarbeitskräfte. Der DGB fordert daher dringend vor allem für die neuen Bundesländer, andere Modelle der öffentlich geförderten Beschäftigung anzuwenden, bei denen sozial gesicherte Beschäftigungsmöglichkeiten mit einem Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde entstehen.
Völkerrechtlich bedenklich
Auch völkerrechtlich ist die Arbeitspflicht nicht unbedenklich. Eine arbeitsrechtliche Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass einige Instrumente der Hartz-Gesetzgebung gegen geltendes internationales Recht verstoßen, insbesondere gegen das Verbot der Pflichtarbeit (Übereinkommen Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation).
Die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen der geförderten Billigarbeit zeigen sich am deutschen Arbeitsmarkt. Die Hartz-Reformen haben nicht zu einer nachhaltigen Reduktion der Arbeitslosigkeit geführt, sondern stattdessen die Ausweitung des Niedriglohnsektors unterstützt. Die offensichtlichen Folgen einer Politik, die auf Arbeit um jeden Preis setzt, sind neben einem Rückgang der unteren Löhne ein rasantes Wachstum bei prekären Beschäftigungsverhältnissen und sozialer Ungleichheit. Das sollte uns eher als Abschreckung denn als Vorbild dienen.
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Mehr als 43 Prozent engagieren sich
Durch den größeren Einkommensverlust der Männer bei Beziehung des Kinderbetreuungsgeldes im Vergleich zu den Frauen wird dieser Effekt verstärkt. Die Erwerbstätigkeit erweist sich hier als wichtigster Faktor. Obwohl erwerbstätige Frauen durchschnittlich eine höhere Belastung durch Hausarbeit haben als Männer, zeichnet sich ab, dass mit dem steigenden Einkommen der Frauen der Anteil der Beteiligung der Männer signifikant steigt. Auch im privaten Pflege- und Betreuungsbereich arbeiten vorwiegend Frauen. Hier stellt der steigende Pflegebedarf durch das Altern der Gesellschaft einen immer größeren Erwerbshinderungsgrund dar.
Über 43 Prozent der ÖsterreicherInnen engagieren sich formell (z. B. in einer Organisation/Verein) und/oder informell (z. B. Nachbarschaftshilfe) freiwillig. Freiwilligenarbeit versteht man u. a., dass sie unbezahlt ist, einen Mehrwert für die Gesellschaft darstellt und keine professionellen, bezahlten Arbeitsplätze ersetzt.
Dennoch arbeiten besonders im sozialen Bereich unbezahlte und bezahlte MitarbeiterInnen in gleichen Positionen. Studien zeigen, dass in Organisationen, die Freiwillige einsetzen, der Lohn niedriger ist als mit ausschließlich bezahlten MitarbeiterInnen. Es kann aber auch beobachtet werden, dass bei ausgeglichenem Verhältnis zwischen bezahlten und unbezahlten Arbeitskräften die innerbetriebliche Lohnstreuung geringer ist. Oft setzen Organisationen, die anfangs nur mit Freiwilligen operiert haben, nach erfolgreicher Etablierung bezahlte Arbeitskräfte ein. Unbezahlte werden durch bezahlte Arbeitskräfte ersetzt, umgekehrt ist das keinesfalls zu akzeptieren.
Das Jahr der Freiwilligen
Am 5. Dezember ist Internationaler Tag der Freiwilligentätigkeit und mit dem kommenden Jahr, dem Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit, soll EU-weit eine aktive Bürgerschaft gefördert und Solidarität und Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Eine Freiwilligentour in allen europäischen Hauptstädten, in Wien von 25.-27. Jänner, eröffnet das Jahr, das unter dem Stern der Aufklärung steht. Die Mitgliedsstaaten erhalten Unterstützung bei der Umsetzung von besseren Rahmenbedingungen, bei der Stärkung von Freiwilligenorganisationen sowie bei der Qualitätsverbesserung und der besseren Anerkennung von Freiwilligentätigkeit. Ziel ist die Förderung von formeller Freiwilligentätigkeit und Aufklärung über Rechte und Pflichten der Freiwilligen, Weiterbildung und die Schaffung von Präsenz und Akzeptanz im öffentlichen Diskurs. Geklärt werden soll unter anderem die genaue Definition von »Freiwilligentätigkeit«, damit sichergestellt werden kann, dass mit der Förderung des Freiwilligenbereichs in keiner Branche bezahlte Arbeitsplätze durch unbezahlte ersetzt werden.
Engagement statt Pensionsschock
Studien zufolge, engagieren sich (formell und informell) Erwerbstätige, SchülerInnen und StudentInnen am häufigsten zugunsten der Gesellschaft. Deshalb wird im kommenden Jahr besonderes Augenmerk auf ältere Menschen gelegt. Denn einer der wichtigsten Faktoren ist die Freiwilligentätigkeit vor dem Berufsausstieg. Der Pensionsschock muss oft erst verdaut werden.
Engagieren sich Personen noch in berufstätigen Zeiten, so werden diese das auch im Ruhestand tun. Dem Generationenkonflikt soll das einen positiven Impuls geben, denn mit sozialem Engagement vereinsamen ältere Menschen weniger schnell und bleiben länger fit.
Das Jahr 2011 wird auch Anlass bieten, das »Freiwilligengesetz« ins Gespräch zu bringen. Konkrete Vorschläge des Nationalrates, wie Versicherungsschutz für Freiwillige, Boni für Aufnahmebetriebe und Bevorzugung bei Aufnahme in den öffentlichen Dienst, von 2009 sollen bald wieder diskutiert werden. Diskussionsgrundlagen dafür wird es zur Genüge geben. Eine einheitliche Definition der »Freiwilligentätigkeit« stellt eine der Hürden dar. Die Schaffung eines modernen ArbeitnehmerInnenbegriffs, die Sicherstellung der »Freiwilligkeit« und die dafür notwendigen Begleitmaßnahmen sind die Forderungen, die die AK u. a. mit dem Freiwilligenjahr verbindet. Die Spaltung des Arbeitsmarktes darf jedoch durch die rechtliche Absicherung des freiwilligen Engagements nicht vorangetrieben werden.
Europäisches Soziales Jahr
Die Herausforderung wird sein, eine gesetzliche Definition zu finden. Bisher leitete man die davon ab, dass ein unbezahlter Arbeitsplatz einen bezahlten nicht ersetzen darf, doch das erweist sich in der Praxis als ungenügend. Stellte man auf die arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Absicherung der freiwillig Engagierten ab und erlaubte nur solchen Personen freiwilliges Engagement, entstünden ungewollte Eintrittsbarrieren für junge Menschen oder BerufseinsteigerInnen am Anfang des Arbeitslebens.
Grund für Gespräche wird auch das »Freiwillige Europäische Soziale Jahr« bieten. Es gibt Bemühungen, es in Österreich gesetzlich zu verankern. Bislang ist die Möglichkeit sich diese Berufserfahrung der Ausbildung anrechnen zu können gering, was sich nicht unbedingt ändern soll. Denn das soziale Jahr - in Deutschland gibt es auch die Möglichkeit eines ökologischen Jahres - soll als Berufsorientierung für diesen Bereich dienen. So kann die Drop-out-Quote z. B. bei der Ausbildung von Pflegeberufen gesamt gesenkt werden.
Unbezahlter Berufseinstieg
Freiwillig oder Pflicht, durch den großen Druck in vielen Branchen ist ein Berufseinstieg ausschließlich über unbezahlte Praktika möglich. Dadurch sind auch viele Volontariate de facto Pflichtpraktika, auch wenn die Ausbildung diese nicht ausdrücklich vorschreibt. Oft müssen sich BerufseinsteigerInnen jahrelang durch unbezahlte Kurzpraktika einen geeigneten Lebenslauf erarbeiten, um später ein bezahltes Praktikum zu erhalten.
Schon lange fordern StudentenvertreterInnen und die Arbeiterkammer ein Aus für diese unfreiwillige Freiwilligenarbeit. Nach einem Beschluss des Europaparlaments im Sommer, soll damit auch bald Schluss sein. Praktika sollen demnach befristet und mit genauen Qualifikationsprofilen ausgestattet sein. Eine Mindestzuwendung, Versicherung und Sozialleistungen sollen auch festgelegt werden. Diese Qualitätscharta könnte die ausbeuterischen Praktiken vieler Unternehmen verbieten. Angefangen bei den EU-Institutionen: Künftig sollen auch deren Praktikanten bezahlt werden.
Schwachstellen im Arbeitsrecht
Die Aussichten, dass jede Lücke entdeckt wird, die zu Ausbeutung verleitet, sind dennoch schlecht. Besonders in berufsbildenden höheren Schulen kann der Lehrgehalt gewisser unbezahlter Arbeiten nicht mehr nachvollzogen werden. Ob und wie diese Schwachstellen der Sonderlinge innerhalb des Arbeitsrechts beseitigt werden, wird sich zeigen.
Info&News
2011 ist das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit. Die Europäische Komission (EK) vergibt insgesamt zwei Mio. Euro an Projektförderung, für Österreich stehen für zwei Flaggschiffprojekte rund 50.000 Euro zur Verfügung.
Alle weiteren Infos sind auf der Website der EK: http://europa.eu/volunteering/ abrufbar. Im Rahmen des EJF-2011 initiiert das BMUKK einen Kreativwettbewerb unter dem Titel »projekteuropa«. Dabei sollen SchülerInnen ihre kreativen Talente zum Thema Freiwilligentätigkeit entfalten.
Nähere Informationen finden Sie unter www.projekt-europa.at.
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Wichtige Lohnregelungen
Diese kompliziert klingenden Lohnregelungen sind absolut wichtig. Erstens sichert diese Regelung, dass auch Personen die über eine Ausbildung oder längere Berufserfahrung verfügen, gegen einen Unterbietungswettlauf beim Einkommen geschützt sind. Zweitens sichert dieses System, dass alle Beschäftigten, auch jene in den unteren Verwendungsgruppen, gemäß ihrer Berufserfahrung und ihrer Tätigkeit entlohnt werden. Und drittens bindet dieses System die niedrigsten Mindestlöhne in das System der jährlich verhandelten Lohnerhöhungen ein. Sie sind somit Teil der solidarischen Bemühungen um höhere Löhne und nicht nur die unterste Randgruppe.
Wie wichtig dies ist, kann am Beispiel des Einzelhandels gezeigt werden, dort erreichte im Jänner 2004 der niedrigste Mindestlohn 1.000 Euro, inzwischen durch die jährlichen KV-Verhandlungen auf 1.104 Euro gestiegen. Ziel jeder Mindestlohnkampagne ist es, die gering entlohnten Gruppen in jährliche Lohnerhöhungen, die gemeinsam für alle Beschäftigten verhandelt werden, auf Dauer einzubeziehen. So gilt für Beschäftigte, die 2004 mit 1.000 Euro pro Monat begonnen haben, aufgrund der kollektivvertraglichen Lohnerhöhungen und der Regelungen zur Einstufung im Jahr 2010 ein kollektivvertraglicher Mindestlohn von 1.266 Euro. Selbst wenn der Mindestlohn jährlich an die Inflation angepasst worden wäre, hätten sie jetzt um mehr als eineinhalb Monatsgehälter weniger im Jahr.
Über 95 Prozent (eher 98 Prozent) der Beschäftigten in Österreich werden in Kollektivverträgen erfasst. Die Sicherstellung einer unteren Lohngrenze funktioniert in diesem System also sehr gut.
Viele Beschäftigte, JournalistInnen aber auch PolitikerInnen glauben daher fälschlicherweise, es gebe eine gesetzliche Lohnregulierung. Das ist einerseits Zeichen einer erfolgreichen Kollektivvertragspolitik, andererseits aber auch ein ständiges Problem, wenn es darum geht ArbeitnehmerInnen zu motivieren, sich in der Gewerkschaft für ihre Interessen zu organisieren.
Gesetzlicher Mindestlohn
In Ländern, die tatsächlich auf den gesetzlichen Mindestlöhn setzten (USA, GB) zeigt sich dagegen immer wieder die Problematik gesetzlicher Regelungen im Vergleich zu direkten Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und ArbeitgeberInnen-Organisationen. So wurde der amerikanische Mindestlohn zwischen 1997 und 2007 nie erhöht.
Dennoch könnten durch eine Vereinfachung von Satzungen, die den Geltungsbereich von Kollektivverträgen ausdehnen, Niedriglöhne eher verhindert werden. Die Möglichkeiten, Mindestlöhne auch für arbeitnehmerähnliche Verträge, etwa jene für sogenannte »freie« Dienstnehmer,Innen festzulegen, ist ebenfalls notwendig, nicht nur zum Schutz der Beschäftigten, sondern auch zum Schutz all jener Unternehmen die sich an die gesetzlichen Bestimmungen halten.
Mindestlohnziel nicht unterschreiten
Der »Mindestlohn« wie er in Österreich diskutiert wird, ist eine Zielvorgabe, auf die sich der ÖGB und seine Gewerkschaften verständigen. Er stellt jene Grenze dar, die von keinem kollektivvertraglichen Mindestlohn unterschritten werden soll, die aber gleichzeitig in allen KV überschritten wird. Trotz oder gerade wegen dieses breiten und anpassungsfähigen Systems der Lohnregelung erfüllt die gemeinsame Zielvorgabe, die sich der ÖGB für die unterste Lohngrenze in Form der Mindestlohnbeschlüsse gesetzt hat, eine wichtige Funktion.
Das Mindestlohnziel ermöglicht es, in gewerkschaftlich schwer zu organisierenden Bereichen eine akzeptable Mindestsicherung zu erreichen, wie dies der GPA-djp im Zuge der »Zitronen«-Kampagne bei den Ärzten und Rechtsanwälten gelungen ist. Diese Kampagnen geben den Beschäftigten in diesen Bereichen die Chance, in ein dauerhaftes System von Kollektivvertragserhöhungen einzusteigen. Außerdem wird durch die Auseinandersetzung um die Mindestlohnziele die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die zentrale Frage, was die Arbeit eines Menschen mindestens wert ist gelenkt.
Diese Form der expliziten Zielsetzung für einen Mindestlohn in allen Kollektivverträgen begann mit dem 12. Bundeskongress im Jahr 1987, der eine Mindestlohngrenze von 10.000 ATS (726,72 EUR) beschloss. Derzeit wird ein Mindestlohnziel von 1.300 Euro diskutiert bzw. wurde auch bereits von einigen Gewerkschaften beschlossen.
Die Statistik Austria hat heuer eine Auswertung zu Niedriglohnbeschäftigung veröffentlicht, in der auf Basis von Daten aus dem Jahr 2006 von einer Niedriglohngrenze von 1.325 Euro pro Monat (14-mal) bei Vollzeitbeschäftigung, ausgegangen wird. Rechnet man diese Grenze auf heutige Verhältnisse hoch, so entspräche dies etwa 1.460 Euro und liegt deutlich über den derzeit diskutierten 1.300 Euro. 2006 verdienten etwa neun Prozent der Beschäftigten im Bereich der Sachgütererzeugung und der privaten Dienstleistungen weniger als 1.325 Euro auf Basis einer Vollzeitbeschäftigung. Da Beschäftigte in Unternehmen mit weniger als zehn ArbeitnehmerInnen in dieser Statistik nicht enthalten waren, dürfte der Wert für alle ArbeitnehmerInnen etwas höher sein. Da Löhne und Gehälter inzwischen um zirka zehn Prozent gestiegen sind, kann andererseits von einem geringeren Anteil der Beschäftigten mit unter 1.300 Euro auf Vollzeitbasis ausgegangen werden. Ein Ziel von 1.300 Euro ist realistisch erreichbar. Zum Zeitpunkt der Festlegung des 1.000-EuroMindestlohnziels ging man ebenfalls von ca. acht bis neun Prozent Betroffenheit bei den Unselbstständigen aus.
Mindestlohn im KV einbinden
Die Forderung nach 1.300 Euro Mindestlohn ist ein wichtiger Beitrag zur Vermeidung von Armut trotz Arbeit und zur Bekämpfung von Lohndiskriminierung. Angesichts von zunehmenden atypischen Arbeitsverhältnissen ist es aber umso wichtiger, dass der Mindestlohn in umfassende Regeln zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse in Form von Kollektivverträgen eingebunden ist. Denn ein Mindestlohn kann nur wirksam werden, wenn er gemeinsam mit Regeln zu Arbeitszeiten, Sonderzahlungen, Abrechnungsformen und vielem andern solidarisch von den ArbeitnehmerInnen durchgesetzt wird.
1 Für FerialpraktikantInnen, die nicht länger als drei Monate im Betrieb beschäftigt sind, gilt ein Mindestlohn von 1.104 Euro.
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So sah das Arbeitsleben des jugendlichen Hilfsarbeiters und späteren Dichters Alfons Petzold am Ende des 19. Jahrhunderts aus - und es war ein alltägliches Schicksal.
Damals hatte die junge Gewerkschaftsbewegung dort, wo sie Mitglieder gewinnen konnte, schon erste Erfolge. Alfons Petzold erfuhr, dass Arbeitsbedingungen und Bezahlung in Handels- und Dienstleistungsjobs, wo es nur ganz wenige Gewerkschaftsmitglieder gab, deutlich schlechter waren als ein Taglöhnerjob auf einer Großbaustelle oder in einer Fabrik - und das trotz oft ähnlich schwerer Tätigkeiten. Jeden Tag gekündigt werden konnten aber auch TaglöhnerInnen. Unter diesen Bedingungen mussten Gewerkschaftsmitglieder wie alle anderen mit der ständigen Bedrohung durch Arbeitslosigkeit fertig werden. Denn die Gewerkschaftsbewegung entstand nicht als eine Organisation für Beschäftigte, sondern als eine Organisation der Menschen, die auf abhängige Arbeit angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Einen großen Vorteil hatten die Gewerkschaftsmitglieder aber schon bald: Sie bekamen Arbeitslosenunterstützung, während alle anderen auf private Wohlfahrtseinrichtungen angewiesen waren.
In den Jahren der Wirtschaftskrise vor dem Ersten Weltkrieg wurde die gewerkschaftliche Arbeitslosenunterstützung für viele Menschen die Überlebensbasis. Der Bericht der Freien Gewerkschaften an den Internationalen Sozialistenkongress, der 1914 in Wien stattfand, dokumentierte dies eindrücklich: Die ganz große Steigerung der Ausgaben in den letzten Jahren ist auf das Anschwellen der Unterstützungsausgaben zurückzuführen. Besonders die Arbeitslosenunterstützung erforderte von Jahr zu Jahr größere Summen. Im Jahr 1911 wurden für die Arbeitslosenunterstützung Kr(onen) 1,332.867,78, … im Jahr 1913 Kr 2,204.801,09 ausgegeben.
Erst die große Sozialoffensive am Beginn der demokratischen Republik nach 1918 unter dem Gewerkschafter Ferdinand Hanusch als Leiter des Sozialressorts brachte die Einführung der gesetzlich verankerten öffentlichen Arbeitslosenversicherung. Das gewerkschaftliche Unterstützungsangebot blieb aber bestehen und rettete am Höhepunkt der großen Wirtschaftskrise nach 1930, als die gesetzliche Versicherung praktisch zusammenbrach, wieder viele Menschen vor dem Verhungern. Auch in den skandinavischen Staaten entwickelte sich das gewerkschaftliche zu einem öffentlichen Arbeitslosengeld weiter, aber in anderer Form: Dort kommt es ausschließlich aus Steuermitteln und wird von den Gewerkschaften ausgezahlt.
Zusammengestellt und kommentiert von Dr. Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Programm Dezember 2010:
Mittwoch, 1. 12. 2010, 18.30 Uhr
Buchpräsentation und Podiumsdiskussion »Bildung in der Krise«
mit Josef Broukal, Erwin Niederwieser, Dwora Stein
Donnerstag, 2. 12. 2010, 18.00 Uhr
Ringvorlesung des Instituts für Politikwissenschaft in Kooperation
mit GPA-djp: MigrantInnen - Jenseits der Gewerkschaften?
Donnerstag, 9. 12. 2010, 18.30 Uhr
Buchpräsentation »Das Universum der Dinge«, Konrad Paul Liessmann
Dienstag, 14. 12. 2010, 18.30 Uhr
Diskussion »Wege aus der Krise«
Bücher gegen Sozialabbau, falsche Gewissheiten, Armut und Ohnmacht
mit Michaela Moser, Martin Schenk, Katharina Muhr, Stephan Schulmeister und Fred Luks
ÖGB-Fachbuchhandlung, 1010 Wien, Rathausstr. 21, Tel.: (01) 405 49 98-132 fachbuchhandlung@oegbverlag.at
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Übernommene Werte
Diese Werte formen unsere Gesellschaft, und viele davon übernehmen wir von unseren Eltern, Großeltern und Ahnen. Aber wir passen sie auch unserer individuellen Lebens- und Erfahrungswelt an und so kommt es zu einem steten Wertewandel.
Lange Zeit war die Religion prägend für unser Wertesystem - nicht nur - in Österreich, aber mittlerweile verliert sie an Bedeutung. Das ist ein Ergebnis der Europäischen Wertestudie, die 1981 erstmals erhoben und 1990, 1999 und 2008 wiederholt wurde. Nur noch 45 Prozent der unter 30-Jährigen bezeichnen sich als religiös. Stark mit der Religion verbundene Werte wie Glaubenstreue oder Enthaltsamkeit treten mehr und mehr in den Hintergrund.
Und auch die Politik empfinden wir hierzulande als nicht wirklich wertvoll - ganz im Gegenteil: 80 Prozent der Befragten haben kein Vertrauen zur Regierung, ein Fünftel der BürgerInnen wünscht sich einen starken Führer. Also jemanden, der für sie Werte wie Ordnung und Disziplin durchsetzt.
Aber auch der Lebensbereich Arbeit ist den ÖsterreicherInnen nicht mehr so wichtig wie vor 30 Jahren - während ihn damals noch 61 Prozent als sehr wichtig betrachtet haben, waren es 2008 nur noch 54 Prozent. Zugenommen hat die Wertigkeit von FreundInnen und Bekannten sowie von Freizeit.
Trotzdem gilt auch hierzulande immer noch der Beruf als Merkmal eines anerkennungswerten Lebens. Wir definieren uns oft über unsere Leistung. Unser Beruf zeichnet uns als mehr oder weniger gesellschaftlich wertvoll aus. Als Journalistin mache ich mir da wenig Illusionen, für viele MitbürgerInnen rangiert unsere Branche in den unteren Rängen einer Berufswerteskala. Nicht zuletzt, weil von vielen Medien Werte wie Schamhaftigkeit, Ehrlichkeit, Diskretion etc. stetig verletzt werden.
Zu meinen persönlichen wichtigsten Werten gehören neben Liebe und Freundschaft auch Achtung, Engagement, Gerechtigkeit, Neugier, Verantwortung und nicht zuletzt Wissen. Meine Arbeit gibt mir die Möglichkeit, all diese Werte fast täglich um- und einzusetzen. Ich empfinde sie daher als wertvoll und freue mich über Anerkennung auch in Form materieller Werte, also Geld.
Frieden, Solidarität und Toleranz
Und doch ist mir bewusst, dass es so viele weit wertvollere Tätigkeiten gibt - wie z. B. in der Pflege, in der Bildung, aber auch ganz simpel in der Reinigung - die sozial und materiell oft weit weniger wert geschätzt werden. In unserer »Geiz ist geil«-Gesellschaft scheinen Werte wie Reichtum und Status mehr zu zählen als Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft. Dabei sollte uns gerade das mehr wert sein, denn je seltener etwas ist, desto wertvoller gilt es.
Es ist an uns, die großen Werte wie Frieden, Solidarität und Toleranz umzusetzen - tagtäglich. Sie werden sehen, so wird ihr Leben Tag für Tag ein wenig wertvoller - und das sollte es Ihnen wert sein.
Leisten Manager 300 mal soviel?
Dass manche Menschen mehr leisten, als andere, soll hier nicht angezweifelt werden, doch ob es möglich ist, dass ein Manager das mehr als 300-fache mehr leistet als eine einfache Arbeiterin, kann berechtigter Anlass zu heftiger Diskussion sein.
Mit Kant zum Beispiel kann man gut argumentieren, dass es bei der Bewertung menschlicher Handlungen auf ihre normative Richtigkeit nicht ausreichend ist, auf der Ebene der Gesetze und Verträge zu bleiben, sondern darüber hinausgehende Blickwinkel, die im kategorischen Imperativ verdeutlicht werden und seitdem vielfach weiterentwickelt wurden, anzuwenden sind. Im Gegensatz dazu ist schwer zu erklären, warum verantwortungsvoll und kompetent ausgeführte Tätigkeiten in anderen Berufsfeldern so viel weniger wert sein sollen.
Auch der kleine Dieb wird verurteilt
Dass es immer noch höhere Summen gibt, die genommen werden, ist klarerweise kein normatives Argument. Es wird ja auch ein kleiner Dieb verurteilt, obwohl andere mehr gestohlen haben.
Die Menschen sind auf vielfältige Weise voneinander abhängig, der Markt ist nur eine Form unter vielen, in denen sich die verschiedenen Individuen aufeinander beziehen. In diese Kerbe schlug der bekannte Publizist Robert Misik neulich bei seiner Impulssrede beim Kongress der Gewerkschaft vida: »Man ist ja schon so viel gewohnt, man hat ja eine dicke Haut und eine gewisse Abgeklärtheit. Aber dass man uns jetzt wieder sagt, man muss den Armen die Krümel wegnehmen, damit man sie zur Aufnahme von Arbeit motiviert, da kann ich mich stundenlang richtig aufregen. Weil, wie argumentiert man denn die Phantasiegehälter und die Bonuszahlungen, die man Managern, Brokern, Bankdirektoren zahlt? Man sagt, man müsse denen das zahlen, um sie zur Arbeit zu motivieren, die brauchen das als Anreiz. Da scheint es also zwei Menschenschläge zu geben, ja, man hat den Eindruck, da gibts Bevölkerungsgruppen, die gehören gänzlich unterschiedlichen Spezies an: den einen muss man die Einkommen dauernd kürzen, um sie zu motivieren, den anderen muss man sie dauernd erhöhen, um sie zu motivieren!« Und er führte, in Anlehnung an die Erkenntnisse von Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem Buch »Gleichheit ist Glück« auch aus, dass nicht nur die Ärmsten von Ungleichheit negativ betroffen sind, sondern die gesamten Gesellschaften, genauso wie umgekehrt alle von einer größeren Gleichheit profitieren, da dann alle Schichten der Gesellschaft eher die Möglichkeit haben, ihr ganzes Potenzial zu entfalten. »Eine gerechtere Gesellschaft, die mehr Gleichheit realisiert und all ihre Bürger am Wohlstand beteiligt, ist also auch eine ökonomisch funktionstüchtigere Gesellschaft«, schließt Misik daraus.
Individualethik schützen
Der Ökonom John Maynard Keynes, lange Zeit verpönt, hat das scheinbar schon vor etlichen Jahren gewusst, als er nämlich die Ökonomie als eine Wissenschaft im Wesentlichen der Moral und nicht als der Natur sah.2 Der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann denkt ebenfalls, dass ein alles bestimmender Markt zu Unfreiheit führt, darum sollte dieser in eine gesellschaftliche Werte- und Rechtsordnung eingebettet werden. »Die Einsicht des Einzelnen ist in der Regel zu schwach und führt zu Überforderungen. Darum muss die Individualethik durch ordnungsethisch bestimmte Rahmenbedingungen gestützt werden«, sagt Thielemann.3 »Dabei geht es auch darum, den Einfluss des Kapitals auf die Unternehmensführung zu begrenzen. Das hat auch eine volkswirtschaftliche Dimension. Die Realwirtschaft ist nämlich gar nicht in der Lage, die Renditen zu erwirtschaften, die von einem gigantisch angewachsenen Kapital gefordert werden. Und das sollte sie auch gar nicht sein.« Und Thielemann ergänzt: »Ethisch ist es höchst fragwürdig, Personen durch materielle Versprechen steuern zu wollen.
Dahinter steckt ein verdinglichendes Denken: Es degradiert andere Menschen zu Objekten. Das ist der Generalvorbehalt gegenüber Anreizsteuerungen - obgleich manche sich sehr gerne zu Objekten degradieren lassen, weil das sehr lukrativ ist. Mitarbeiter, die Boni erhalten, lassen sich dadurch häufig ihre Professionalität und Integrität abkaufen.« Thielemann, der als Koryphäe seines Fachs gilt, ist der Meinung, dass die Anbetung des Kapitals wegen der angeblichen Schaffung neuer Arbeitsplätze gründlich überdacht gehört. »Bislang wurde das Kapital ja regelrecht hofiert. Viele Ökonomen meinten, das müsse so sein, um Arbeitsplätze zu schaffen. Aber das ist eine vollkommen naive Vorstellung und vernachlässigt die zerstörerische Kraft, die vom Kapital ausgeht. Statt das Kapital steuerpolitisch zu privilegieren, ginge es heute global darum, es wieder gleichmäßig zu besteuern, auch um Renditedruck aus dem System zu nehmen.«
Der Lohn »guter Arbeit«
Was die Managergehälter und Boni betrifft, sollte erst nach »guter« Arbeit bezahlt werden, und wesentlich geringere Summen. O-Ton Thielemann: »›Gut‹ ist die Arbeit natürlich nicht nur dann, wenn sie dem Shareholder Value dient, sondern wenn sie professionellen Standards genügt und von Integrität getragen ist. Damit lassen sich durchaus Markterfolge und Renditen erzielen, allerdings keine maximalen.« Allerdings ist das einfacher gesagt als getan, denn was Normalsterblichen einfach als dekadente Unsumme erscheint, hat laut dem Technikphilosophen Klaus Kornwachs eine weitere Dimension: »Der Verdacht liegt nahe, dass es sich nicht um eine Entlohnung für Leistung oder Erfolg, sondern eine Apanage handelt, die die Zugehörigkeit zu einer Eliteschicht (...) honoriert. (...) Es ist dies die Herrschaft von Experten des Flexiblen.
Im Laufe seiner Karriere wechselt der Manager die Branchen und Produkte, und diese ökonomische Promiskuität ist nur möglich, weil es letztendlich nicht um Produkte (...), sondern um Marktanteile und die möglichst asymetrische Gestaltung von weltweiten Tauschbeziehungen geht. In dieser Form der Ökonomie lässt sich die Klasse, die diesen Kampf organisiert und führt, mit der finanziellen Garantie bezahlen, nie zu den Verlierern zu gehören. Das ist der Lohn.«4
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Robert Misik:
http://www.misik.at/sonstige/gewerkschaften-sind-mehr-als-blosse-interessensvertretungen.php
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1 Klaus Kornwachs: Zuviel des Guten. Von Boni und falschen Belohnungssystemen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009, S. 22.
2 J. M. Keynes: The General Theory and After, Part II, Collected Writings Vol.XIV, London-Basingstoke 1973, S. 297.
3 »Boni machen Mitarbeiter zu Marionetten«, Der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann von der Universität St. Gallen hält Leistungsanreize grundsätzlich für schädlich, Süddeutsche Zeitung, 23.10.2009.
4 Klaus Kornwachs: Zuviel des Guten. Von Boni und falschen Belohnungssystemen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009, S. 24.
Diffuse Definition
»Wer als KünstlerIn gelten soll, ist in mehrfacher Hinsicht schwierig und uneindeutig«, heißt es in dem Bericht zur »Lage der Lebens- und Arbeitssituation von Kunstschaffenden in Österreich«, der im Oktober 2008 vom Institut L&R Sozialforschung publiziert wurde. Die Berufsgruppe der Kunstschaffenden zeichne sich stark durch Kriterien wie Freiheit, Selbstständigkeit und Individualität aus, sodass sich die Erfassung als eine homogene Gruppe schwierig gestalte. Verlässliche Zahlen liegen aufgrund abweichender Berufsdefinition nicht vor. So erfasst etwa die Statistik Austria die JournalistInnen mit den AutorInnen. Laut Mikrozensus Jahresergebnis von 2006 werden in der »ISCO-Berufsgruppe 245 (die erwerbstätige SchriftstellerInnen, Bildende und Darstellende KünstlerInnen erfasst) 31.817 Personen ausgewiesen. Im Jahr zuvor waren es 33.386 gewesen. Als Kunstschaffende definieren die Studienverfasser »all jene, die mit professionellem Anspruch Kunst schaffen, sie also nicht als Hobby, sondern als berufliche Aufgabe sehen«.
Unter dem Schlagwort »Creative Industries« waren die Beschäftigungspotenziale von Kunstschaffenden und sogenannten Kreativen im Umfeld neuer Formen der Kunstproduktion bereits seit den 1990er-Jahren thematisiert worden.
Gemeinsam waren den Befunden die Feststellung von Prekarisierungstendenzen und vergleichsweise schlechter Einkommenssituation. »Wie unter einem Vergrößerungsglas«, so die Studie von L&R Sozialforschung, »zeigten die im Segment der Kunstschaffenden beobachteten Formen der Arbeitsorganisation und Beschäftigung die voranschreitende Deregulierung der Arbeitswelt.« Wie andere Werktätige auch, können Kunstschaffende immer weniger allein vom künstlerischen Schaffen leben. Mehrfachbeschäftigungen und fragmentierte, wenig planbare Erwerbsläufe werden für die Ausübung der Kunst in Kauf genommen. Als Gemeinsamkeit, so ging es aus zahlreichen Studien hervor, verfügen Kunstschaffende über ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau. Eine gute Ausbildung, die aber nicht automatisch eine finanziell gesicherte Berufslaufbahn garantiert.
Dichtes Angebot
»Der Zugang zu künstlerischer Arbeit über professionelle formale Ausbildungswege zeigt unterschiedliche Facetten«, folgert die genannte Studie. Zum einen bestünde der Wunsch vieler Kunstschaffender nach einer (Lehr-)Tätigkeit in einem kunstnahen Arbeitsfeld. Gleichzeitig stellen sie die Frage, in welche Richtung junge Menschen ausgebildet werden sollen. Als selbst Kunstschaffender kenne man die schlechten Rahmenbedingungen und müsse sich fragen, ob man guten Gewissens den Jungen einen solchen Berufsweg wünschen kann. »Als ließe man AbsolventInnen eines Skigymnasiums danach nicht Ski fahren«, kommentierte etwa ein Studienteilnehmer. Parallel zum Zuwachs der professionellen Ausbildung wird ein Rückgang der Integration von Kunst als Teil der täglichen Kultur beobachtet. In einem Kunstmarkt, in dem die Dichte an Anbietenden ungleich höher als die Nachfrage ist, tun sich Kunstschaffende schwer.
Von zunehmender Bedeutung ist die »Interdiziplinarität und Multifunktionalität in der Arbeit von Kunstschaffenden«, heißt es in der Studie. Viele Kunstschaffende lassen sich nicht mehr allein einer Sparte zuordnen, sondern sind in vielen künstlerischen Bereichen aktiv. Als etabliert gilt, wer »von einer relativ großen Öffentlichkeit kritisch wahrgenommen wird«.
Doch selbst Etablierung ist noch kein Garant für die Möglichkeit, kontinuierlich künstlerisch tätig zu sein. »Einen guten Film gemacht zu haben, heißt nicht automatisch weitermachen zu können«, berichtet ein Filmemacher. Es funktioniere eher umgekehrt: »Wer einen schlechten Film macht, ist auf lange Zeit abgemeldet.« Es mache in Österreich keinen Spaß, Erfolg zu haben, weil es in jeder Weise konsequenzlos bliebe.
Was arbeiten KünstlerInnen?
Unterschieden werden die drei Bereiche »künstlerische«, »kunstnahe« und »kunstferne« Tätigkeiten, in denen Österreichs Kunstschaffende ihr Einkommen erwerben. Die Ergebnisse zeigen, dass die relativ größte Gruppe, nämlich 34 Prozent, »künstlerische und kunstnahe« Tätigkeiten vereinbaren kann. Als kunstnahe Tätigkeiten werden in erster Linie Lehrtätigkeiten und organisatorische Arbeiten, etwa Ausstellungsorganisation, Konzeption und Durchführung von Veranstaltung oder Workshops angeführt. 58 Prozent der Befragten sind in allen drei Bereichen tätig. Die Kombination von künstlerischer und kunstferner Arbeit betrifft mit 18 Prozent die relativ kleinste Gruppe im Sample der Studie. Inhaltlich treten kunstferne Tätigkeiten »in großer Vielfalt« auf - von wissenschaftlichen Arbeiten über handwerkliche Berufe bis hin zu Tätigkeiten in der Gastronomie. Im Spartenvergleich trifft dies besonders bei Literaturschaffenden zu. Ausschließlich künstlerisch tätig ist knapp jede/r Vierte (24 Prozent). In den Sparten Film, Darstellende Kunst und Bildende Kunst am vergleichsweise häufigsten.
Im Durchschnitt, so ergab die Studie, arbeiten KünstlerInnen pro Woche 52,1 Stunden, deutlich intensiver als die gesamte Erwerbsbevölkerung. (Laut Arbeitskräfteerhebung 2006: 34,8 Stunden). Beim Einkommen bestehen große Unterschiede in den verschiedenen Kunstsparten: Mit einem Medianeinkommen von über 8.000 Euro ist es in den Bereichen Darstellende Kunst und Film vergleichsweise am höchsten.
Beides sind Bereiche, in denen sich auch die relativ größte Kerngruppe von Kunstschaffenden findet, also Personen, die auch ihren finanziellen Schwerpunkt in der künstlerischen Arbeit sehen, und bei denen auch Anstellungsverhältnisse »in nennenswertem Ausmaß« auftreten. Für Bildende KünstlerInnen und LiteratInnen ergeben sich die geringsten Einkommen aus künstlerischer Tätigkeit - das mittlere Jahreseinkommen lag im Referenzjahr bei rund 3.000 Euro.
Brotlose Kunst
Über ein Drittel aller Kunstschaffenden verfügte im Referenzjahr über ein Äquivalenzeinkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze (Gesamtbevölkerung: 12,6 Prozent). Die Armutsgefährdung der Kunstschaffenden ist somit dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung.
Nicht nur die Definition was Kunst, was ein Kunstschaffender ist, erweist sich als schwierig. Es geht auch, so die Befragten der Studie, um die Definitionsmacht der Rahmenbedingungen. Die Definition bzw. die Anerkennung des KünstlerInnen-Status etwa durch den Künstler-Sozialversicherungsfonds, die Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft, durch das AMS oder FördergeberInnen werden als problematisch und mitunter persönlich entwürdigend erlebt.
Die Kriterien hätten häufig wenig mit der Arbeitsrealität der KünstlerInnen zu tun. Immerhin, so eine Kunstschaffende, könne man als KünstlerIn höchstens einkommenslos, nie aber arbeitslos sein.
Info&News
Ab 1. Jänner 2011 treten wesentliche Neuerungen im KünstlerInnensozialversicherungsgesetz in Kraft:
Basisinformationen »Unselbstständige - Selbstständig - Erwerbslos«
kulturrat.at/agenda/ams/infoAMS
Maßnahmenkatalog Kulturrat Österreich zur Verbesserung der Arbeitslosenversicherung
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Überblick interministerieller Arbeitsprozess zur Verbesserung der sozialen Lage der KünstlerInnen in Österreich
kulturrat.at/agenda/imag
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Ausbeutung als Kampfbegriff
Dabei erlebte der Begriff in seinen Anfängen geradezu einen Höhenflug: Sogar Adam Smith hatte in der Ausarbeitung seiner klassischen Wirtschaftstheorie Ausbeutung als Art Marktversagen thematisiert. Die neoklassische Schule nahm diesen Faden wieder auf und erklärt das Zustandekommen von Ausbeutung durch einen unvollständigen Wettbewerb, wie etwa durch Monopole. Aufgrund eines solchen Marktversagens würde das gesamtgesellschaftliche Wohl nicht zum Tragen kommen, so ihr Argument. Aber auch in der Wert- und Mehrwerttheorie von David Ricardo hat sich der Begriff fortgesetzt.
Doch vor allem in der antikapitalistischen Literatur erlebte der Begriff Ausbeutung seine eigentliche Ausgestaltung. Insbesondere in der französischen Kritik am Privateigentum - angefangen von Henri de Saint-Simon bis hin zu Pierre-Joseph Proudhon - wirkte der Begriff bis weit in die Arbeiterbewegung. Dort erlebte er seine eigentliche Blüte und wurde zu einem Kampfbegriff gegen die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse.
Seine erste fundierte Ausarbeitung erhielt das Konzept vor allem durch die ökonomischen Studien von Karl Marx. In der Rezeption der Wert- und Mehrwerttheorie Ricardos schuf er ein eigenständiges Konzept, das ein wesentliches Grundproblem der Analyse des Kapitalismus lösen sollte: »Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebenso wenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muss zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen«, bringt Marx die Bedingungen der Analyse im ersten Band des Kapitals auf den Punkt.
Diese Bedingung in der Analyse kapitalistischer Arbeitsbedingungen konnte er durch eine besondere Unterscheidung erfüllen: »Zum Nachweis der Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen - das Geschlecht spielt keine Rolle - benötigt Marx daher neben dem Wertbegriff ein zweites fundamentales Konzept: die Unterscheidung zwischen Arbeitskraft des Arbeiters und der Arbeit, die er (pro Tag) leistet«, erklärt Johannes Berger im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus. Mit dieser Unterscheidung wurde im Wesentlichen die Mehrwertproduktion erklärt, die dem Kapitalisten Profit verschafft: »Die Arbeiter sind dann ausgebeutet, wenn sie länger arbeiten, als nötig wäre, um die Subsitenzmittel zu produzieren, die sie mit ihrem Geldlohn kaufen.«
Einwände der Volkswirtschaft
Doch die moderne Wirtschaftstheorie - gleich ob neoklassisch oder keynesianisch - hat den Begriff aus ihrem theoretischen Repertoire gestrichen. »Mit dem Niedergang der marxistischen Wirtschaftstheorie hat auch der Begriff der Ausbeutung einen Niedergang erlebt«, erklärt Markus Marterbauer vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). »Zu eng war das Konzept mit den Voraussetzungen wie Arbeitswertlehre und Mehrwerttheorie verknüpft«, erklärt der Wirtschaftsexperte.
Heute hat man dafür neue Konzepte gefunden, um Probleme in Bezug auf die Arbeitswelt zu erfassen: » Der Verteilungstitel hat dabei den Begriff der Ausbeutung weitgehend ersetzt«, erklärt Marterbauer weiter. »Es geht heute nicht mehr um die Analyse von Ausbeutungsverhältnissen, sondern um die Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen.«
Doch auch in der Frage der Verteilung ist es schwierig, wissenschaftlich fundierte Parameter zu entwickeln, die objektiv feststellbar wären. »Es kann keinen richtigen Verteilungsschlüssel geben«, argumentiert der Wirtschaftswissenschafter. »Wer von Verteilung spricht muss sich darüber im Klaren sein, dass es sich dabei um einen normativen Begriff handelt.« Somit bleibt auch der Begriff der Verteilung wesentlich an bestimmte Vorstellungen und Prinzipien gebunden, die man ihm voraussetzt.
Suche nach Ersatz
Dennoch hat man - vor allem im Bereich der Gewerkschaften - neue Begriffe entwickelt, um die entstandene Lücke zu füllen: Schlagwörter wie fehlende Lohngerechtigkeit, Sozialdumping und Working poor sollen in der aktuellen Diskussion helfen, die Arbeits- und Lohnsituation kritisch anzusprechen, ohne den Begriff Ausbeutung verwenden zu müssen.
Dabei versucht man aus gewerkschaftlicher Perspektive, durchaus objektive Parameter der Gerechtigkeit zu finden trotz des normativen Charakters des Begriffs. Denn sobald die Lohnsteigerung die gesamtgesellschaftliche Produktivitätsrate plus Inflation unterschreitet, findet eine Verteilung, ja Umverteilung in Richtung Kapital statt. »Hier könnte man von Ausbeutung sprechen, da den ArbeitnehmerInnen der ihnen zustehende Anteil am gesellschaftlichen Wachstum verweigert wird«, meint Michael Mesch von der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik in der Arbeiterkammer Wien.
Die Formel Produktivität plus Inflation ist für die Gewerkschaften immer noch maßgebend, doch die Durchsetzung hängt entscheidend von sozialpolitischen Dynamiken ab, weniger von volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten an sich. Es handelt sich dabei also ebenfalls nicht um einen strengen Mechanismus, sondern um einen Orientierungspunkt für gesellschaftliches Handeln. »Die Durchsetzung jener Forderungen, die sich an solchen Parametern orientieren, hängt stark von der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ab«, erklärt Mesch.
Aber nicht nur in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, auch bei den Arbeitsbedingungen hat man neue Begriffe entwickelt, um dem Konzept der Ausbeutung ausweichen zu können. »Vor allem durch die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen haben sich neue Phänomene herausgebildet wie Working poor und Sozialdumping«, meint der AK-Experte. Die Umgehung arbeits- und sozialrechtlicher Standards steht dabei im Kreuzfeuer der Kritik, doch spricht man dabei nicht von Ausbeutung im strengen Sinne.
Frage der Gerechtigkeit
Letztendlich hat man also den normativen Begriff der Ausbeutung durch den normativen Begriff der gerechten Verteilung in der Volkswirtschaftslehre ersetzt. Ein höheres Maß an Wissenschaftlichkeit hat man also dadurch nicht unbedingt gewonnen, obwohl man damit die Unwegsamkeiten der Arbeitswertlehre umschiffen kann. Der Begriff Ausbeutung ist damit vielleicht aus einer rein volkswirtschaftlichen Perspektive, die sich an mathematischen Modellen der Ressourcenallokation orientiert, vom Tisch. Aus einer umfassenderen sozialwissenschaftlichen Sicht vielleicht aber nicht unbedingt: »Bei dem Begriff Ausbeutung geht es immer um die Frage der Gerechtigkeit. Somit handelt es sich eigentlich um ein philosophisches Thema, weniger um ein streng wirtschaftswissenschaftliches«, meint dazu Michael Mesch.
Kein Beweis
Die Frage nach der Existenz von Ausbeutungsverhältnissen kann vielleicht tatsächlich nicht in einer streng positivistischen, wirtschaftswissenschaftlichen Tradition bewiesen werden. Das ist aber nicht unbedingt notwendig. Hingegen ist der Begriff für eine Kritik bestehender Arbeits- und Gesellschaftsverhältnisse auf einer praktisch-philosophischen und sozialwissenschaftlichen Ebene durchaus unentbehrlich.
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Renate Lehner: Mir fallen zu diesem Thema gleich einige grundlegende Fragen ein:
Wie kann es etwa sein, dass Frauen und Männer in Österreich noch immer einen Stundenlohn von sieben bis acht Euro für oft schwierige und harte Arbeit bekommen und selbst erfolglose ManagerInnen hohe Gagen und Abfertigungen erhalten? Wie kann es sein, dass es eben jenen ManagerInnen möglich ist, zum genau richtigen Zeitpunkt - wenn »zufällig« der Kurs nach oben schnellt - Aktien zu verkaufen und so hohe Gewinne zu lukrieren?
Wie kann es sein, dass die Mehrheit der Menschen am Sparbuch derzeit vielleicht ein Prozent Zinsen bekommt und die Inflation im Endeffekt höher ist? Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Österreich immer breiter und nicht nur in Österreich, sondern weltweit. Das Geldvermögen ist ungleich verteilt. Wieso lassen wir zu - und wir lassen es zu -, dass Millionen Menschen verhungern, damit wir in Europa im Überfluss leben können? Wir beuten die Menschen in den Ländern des Südens aus, ihre Arbeit ist uns nicht viel wert. Es gibt Monokulturen, z. B. die Baumwoll- oder Kautschuk-Plantagen, wo enormer Profit gemacht wird und oft Jahre nach der extremen Bewirtschaftung nichts mehr wächst. Die Menschen dort, auch Kinder, arbeiten oft unter widrigsten Arbeitsbedingungen zwölf Stunden am Tag.
Aber wir müssen gar nicht so weit schauen. Die EU unternimmt z. B. derzeit nichts dagegen, dass 16.000 Vietnamesen für die bulgarische Landwirtschaft angeheuert werden. Der offizielle Mindestlohn in Bulgarien beträgt 85 Cent, diese ArbeitnehmerInnen erhalten 20 Cent. Und das alles bei einer Arbeitslosigkeit von zehn Prozent und einer Jugendarbeitslosigkeit von 20,7 Prozent in Bulgarien.
Moderne Sklaverei?
Könnte man so formulieren. Es gibt einen Kuchen an Geldvermögen, der weltweit aufgeteilt wird: Immer mehr bekommen aber immer kleinere Stücke, während sich einige wenige die großen Stücke und den Zuckerguss nehmen. Es wäre höchste Zeit für Umverteilung, denn es ist genug für alle da.
In den vergangenen Jahren haben vor allem politische Entscheidungen zur Liberalisierung der Finanzmärkte und des Welthandels beigetragen. Das Senken der Steuern auf Kapital hat z. B. bewirkt, dass die Verhandlungsmacht des Kapitals gegenüber dem Rest der Gesellschaft erhöht wurde.
Die Folgen sind, dass die Ungleichheit gestiegen ist und die Lohneinkommen weniger stark gestiegen sind als die Gewinne.
Und menschliche Arbeit ist weniger wert als die des Geldes, das man für sich arbeiten lässt?
Dieses Problem haben wir auch in Österreich. Es kann nicht sein, dass eine Million Menschen in Österreich armutsgefährdet sind und die Hälfte davon von Armut betroffen ist - das sind immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung. Und das in einem der reichsten Länder der Welt.
Dazu kommt - Stichwort »Wert der Arbeit« -, dass rund zehn Prozent der Beschäftigten, rund 250.000 Personen, armutsgefährdet oder arm sind, obwohl sie arbeiten. Der Grund dafür ist die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse wie freie DienstnehmerInnen, neue Selbstständige oder auch Leiharbeit.
In der Krise waren ja die LeiharbeiterInnen die ersten, die gehen mussten - jetzt wissen wir, dass die Leiharbeit wieder boomt. Denn immer öfter wird Stammpersonal durch LeiharbeiterInnen ersetzt, die flexibel bis zum »geht-nicht-mehr« sein müssen. LeiharbeiterInnen können jederzeit an den Überlasser zurückgegeben werden und werden dort gekündigt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Also Ihren Wert veloren haben?
Man fühlt sich nicht sehr wertgeschätzt, wenn man je nach Bedarf den Arbeitsplatz wechseln muss und ihn jederzeit verlieren kann. Daher halte ich es für eine sehr wichtige Forderung der Gewerkschaften, dass LeiharbeiterInnen nach einiger Zeit auf ihren Wunsch hin von dem Unternehmen, in dem sie beschäftigt sind, übernommen werden müssen.
Nicht unproblematisch ist auch die Lage der Teilzeitbeschäftigten. Die Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida betreut einige Branchen, wie die sozialen Dienste oder die Reinigungsbranche, in denen viele Beschäftigte Teilzeit arbeiten. Ja, oft werden gar keine Vollzeitarbeitsplätze mehr vergeben, sondern nur noch Teilzeit. Wenn wenig Arbeit anfällt, gibt es eben weniger Stunden zu leisten, wenn viel Arbeit anfällt müssen mehr Stunden geleistet werden. Das ist Arbeit auf Abruf! Freiwillige Teilzeitarbeit zur Vereinbarung von Beruf und Familie ist dagegen kaum möglich.
Wir haben zwar den Mehrarbeitszuschlag durchgesetzt, in vielen Branchen wird er aber nicht ausbezahlt. ArbeitgeberInnen umgehen ihn durch das Ausstellen neuer Dienstverträge. Eine unserer Forderungen, die wir auch am vida-Gewerkschaftstag im Grundsatzprogramm beschlossen haben, ist, dass diese Lücke im Gesetz geschlossen werden muss, damit die ArbeitgeberInnen den Mehrarbeitszuschlag auch tatsächlich bezahlen müssen. Weiters fordern wir die Anhebung des Mehrarbeitszuschlags auf 50 Prozent.
Davon sind viele Frauen betroffen?
Ja, fast ausschließlich. Frauen leisten gesellschaftlich extrem wertvolle Arbeit, z. B. in der Altenbetreuung, aber auch in der Reinigung und werden in diesen Branchen weit unter ihrem Wert bezahlt.
Mehr als ein Viertel der BerufseinsteigerInnen sind übrigens atypisch beschäftigt, davon acht Prozent in Teilzeit. Das muss man sich vorstellen, was das bedeutet, wenn man so ins Berufsleben startet.
Dass die Menschen mit Teilzeitarbeit weniger verdienen ist klar. Im Vollzeitjob erwartet man sich aber ein Einkommen zum Auskommen. Wie hoch muss das mindestens sein?
Wir haben im Jahr 2007 auf Sozialpartnerebene 1.000 Euro Mindestlohn ausverhandelt, und wir haben das auch mit vielen Anstrengungen durchgesetzt, bei den TaxilenkerInnen mit Jänner 2009, bei den FriseurInnen gibt es ebenfalls erste Erfolge. Unser nächstes Ziel ist 1.300 Euro Mindestlohn - das sind 7,50 Euro in der Stunde. Das muss auch den ArbeitgeberInnen die Arbeitsstunde wert sein.
Bei der aktuellen Lohnrunde im Reinigungsgewerbe konnten wir bereits einen großen Erfolg erzielen, dort beträgt mit 1. Jänner 2011 der Mindestlohn 1.302 Euro - und das betrifft immerhin 40.000 Beschäftigte.
Wäre ein gesetzlicher Mindestlohn sinnvoll?
Wenn wir lediglich 50 Prozent der Branchen mit Kollektivverträgen abgedeckt hätten, wie in vielen anderen Ländern, wäre der gesetzliche Mindestlohn sinnvoll. In Österreich werden 95 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse von Kollektivverträgen erfasst. Beim gesetzlichen Mindestlohn besteht aber die Gefahr, dass die Politik das Sagen hat. In den USA ist z. B. der Mindestlohn über Jahre nicht mehr angehoben worden. Wir als GewerkschafterInnen werden uns deshalb weiterhin bei den KV-Verhandlungen dafür einsetzen, dass der Mindestlohn nicht bei 1.300 Euro stehen bleibt.
Wie stehst du zur bedarfsorientierten Mindestsicherung?
Die bedarfsorientierte Mindestsicherung in der Höhe von 744 Euro gilt in einigen Bundesländern seit Anfang September und wird bereits jetzt stark von AlleinerzieherInnen in Anspruch genommen. Wir wissen, dass viele von ihnen - in der Regel Frauen - an der Armutsgrenze leben.
Ein wichtiger Schritt, um die Einkommensschere zu schließen, ist die Novelle im Gleichbehandlungsgesetz. Es wird ja in Zukunft einen verpflichtenden Einkommensbericht geben, und auch bei den Stellenausschreibungen muss das Mindesteinkommen, das BewerberInnen erwartet, öffentlich gemacht werden. Diese Transparenz halte ich für überaus notwendig. Das wird bei vielen Menschen einen ziemlichen Aha-Effekt auslösen.
Je weniger Menschen in Arbeit sind, desto mehr sind auf diese Leistung angewiesen.
Daher müssen wir endlich offen über die Verteilung der vorhandenen Arbeitszeit diskutieren. Die Menschen müssen mit ihrem Einkommen auch auskommen. Das ist aber - siehe atypische Beschäftigte - im reichen Österreich immer seltener der Fall.
In Österreich leisten die Menschen europaweit am meisten Überstunden, hier bräuchte es ein solidarisches Miteinander. Ein Weg dazu ist, die Überstunden für den Arbeitgeber zu verteuern, damit dieser Boom des flexiblen Arbeitens eingedämmt wird.
Es kann nicht sein, dass jemand jede Woche 60 Stunden arbeitet - ob gewollt oder angeordnet -, und auf der anderen Seite ArbeitnehmerInnen mit 20 Stunden und dem entsprechenden Einkommen auskommen müssen. Das ist auch der Grund, warum viele Menschen einen zweiten oder dritten Job brauchen, um überleben zu können.
Und arbeiten bis zum Burn-out - muss das sein?
In unserer Leistungsgesellschaft hat Arbeit einen hohen sozialen Wert. Viel zu viele definieren sich ausschließlich über ihre Arbeit.
Dabei gibt es auch ein Leben neben der Arbeit. Und ein wichtiger Schritt, um dieses Leben zu verbessern, wäre eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung auf 38 Stunden pro Woche mit vollem Lohnausgleich. Auf Kollektivvertragsebene sollte auf 35 Stunden gesenkt werden - das wäre ein gangbarer Weg, um die Lebenssituation der Beschäftigten zu verbessern, und um mehr Menschen in Arbeit zu bringen.
Im Mai nächsten Jahres wird sich ja der heimische Arbeitsmarkt für BürgerInnen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten öffnen - in der Gewerkschaft vida hat man viel Erfahrung mit diesem Thema, weil schon jetzt viele KollegInnen aus diesen Ländern z. B. im Tourismus tätig sind.
Aus diesem Grund begrüßen wir auch das neue Antilohn- und Antisozialdumpinggesetz. Wir wissen aus der Beratungsarbeit im Burgenland, dass ungarische KollegInnen in Österreich um bis zu 40 Prozent niedrigere Löhne bekommen. Bisher musste jede/jeder Einzelne von ihnen den vorenthaltenen Lohn vor Gericht einklagen, aber wer macht das schon. In Zukunft sollen diese ArbeitnehmerInnen leichter zu dem ihnen vorenthaltenen Lohn kommen.
Die Gewerkschaft vida vertritt auch viele Menschen in pflegenden Berufen. Der Wert ihrer Arbeit wird oft - auch finanziell - zu gering geachtet …
Daher fordern wir als Gewerkschaft vida die Sozialmilliarde. In den sozialen Berufen sind sehr viele Frauen beschäftigt, die für ihre wichtige und oft physisch und psychisch belastende Tätigkeit meist gering bezahlt werden. Das Geld wird dringend gebraucht, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und neue Arbeitsplätze zu schaffen - vor allem in der Pflege.
Woher soll das ganze Geld dazu aber kommen?
In Österreich haben wir einnahmenseitig beim Budget einige unserer Forderungen umsetzen können, wie z. B. die Einführung der Vermögenszuwachssteuer und die Bankenabgabe, aber es braucht dringend mehr Umverteilung. Wir in der Gewerkschaft vida fordern deshalb die Einführung einer Vermögenssteuer auf große Vermögen, also ab 500.000 Euro.
Wir sind auch immer noch der Ansicht, dass eine globale Finanztransaktionssteuer dringend notwendig ist. Hier braucht es auch in der EU endlich einen Schulterschluss. Als die Krise ausgebrochen ist, wurde versprochen, dass diese undurchsichtigen Finanztransaktionen eingedämmt werden, und dass es Kontrollen am Finanzmarkt geben wird. Das ist alles nicht mehr der Fall. Das alte Spiel wird weiter gespielt, da muss sich etwas ändern.
Wir danken für das Gespräch.
Zur Person
Renate Lehner
Geboren: 15.11.1958, Erlernter Beruf: Industriekauffrau
1985-1987: Mitarbeiterin in der Buchhaltung der Gewerkschaft LUGA
1988-1989: Sozialakademie
1989-2000: LUGA-Frauensekretärin, Fachsekretärin Konserven-, Tiefkühl- und Süßwarenindustrie
1999: BRV in der Gewerkschaft ANG
2000-2006: Zentralsekretärin der Gewerkschaft HGPD, seit 2004 AK-Wien-Vizepräsidentin
Seit 7. Dezember 2006 stellvertretende vida-Bundesgeschäftsführerin und Bundessektionssekretärin der vida-Sektion private Dienstleistungen
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Gewerkschaft vida:
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Interview
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Drohungen und Druckausübung
Umso perfider klingt für die Beschäftigten die Belobigung ihres Chefs im »Vorwort« des aktuellen ÖIAG-Geschäftsberichts vom Mai 2010: »Ganz herzlich bedanke ich mich bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zielorientiert und mit hohem persönlichem Einsatz ihrer Arbeit nachgehen. Dank ihres großen Engagements konnten wir wieder ein gutes Ergebnis ... erzielen.«2 Danach kam der Rausschmiss für ÖIAG-Beschäftigte und -BetriebsrätInnen. Die Gewerkschaft GPA-djp vertritt die Betroffenen und weiß von »Umgang mit Drohungen und Druckausübung an der Grenze zur Nötigung«.3 Die GPA-djp sieht außer bei ÖIAG-Aufsichtsratsvorsitzenden Mitterbauer (Fa. MIBA), bei ÖIAG-Chef Michaelis und bei Finanzminister Pröll Handlungsbedarf. Doch der Finanzminister hält am ÖIAG-Chef fest, hält die Leistungen der ÖIAG für herzeigbar und steht voll hinter den von der ÖIAG gemanagten Privatisierungen.4
Noch vor zehn Jahren umfasste die ÖIAG über 20 Beteiligungen, war Voll- oder Mehrheitseigentümer, darunter voestalpine, VA Tech, Böhler Uddeholm, Post, Postbus, Telekom, AUA usw. In den Jahren 2000 bis 2006 gab die ÖIAG ihre Anteile an 14 Unternehmen vollständig ab. Heute beschränken sich die Anteile auf Post (52,9 Prozent) Telekom (31,5 Prozent) und OMV (28,4 Prozent). Außerdem hält die ÖIAG 100 Prozent an der Fimbag, der Banken-ÖIAG: Insgesamt geht es (noch) um mehr als 85.000 MitarbeiterInnen und 33 Mrd. Euro Umsatz.
»Die Aufgabe der ÖIAG ist« laut Geschäftsbericht, »als Eigentümerin von Unternehmensteilen, deren Werterhalt und -steigerung zu sichern.«5 Richtig. Jedoch: Weder frühere (z. B. voestalpine) noch die letzte (AUA), zum Teil bewusst herbei-(herab)gemanagte und für die privaten Unternehmen als Käufer billig und für die (aus-)verkauften Unternehmen und den Staat teuer (d. h. unter dem Wert), durchgeführte Privatisierung entsprechen diesem Auftrag der Werterhaltung. So erhielten etwa die neuen privaten und mehrheitlich ausländischen Eigentümer der voestalpine AG ihre Anteile zum Zeitpunkt des Verkaufs im September 2003 um 400 Mio. Euro unter dem tatsächlichen Unternehmenswert.6 Kein Aufschrei in der Politik. Im Gegenteil, der letzte Ausverkauf, der der AUA an die Lufthansa im vergangenen Jahr, wurde von der Koalition abgesegnet, der Vertrag von ÖIAG-Chef Michaelis zuvor bis 2012 verlängert.
AUA um 366.000 Euro verschenkt
Die AUA wurde an die Lufthansa um 366.000 Euro (!) verschenkt, die Republik Österreich schmiss der Lufthansa noch eine halbe Milliarde Euro in den Rachen und die AUA ist - obwohl vor dem Verkauf schlechtgeredet - so gut, dass sie jetzt als Lufthansa-Tochter Kapazitäten nicht verkaufen darf, um dem EU-Wettbewerbsrecht zu entsprechen. Dafür soll Michaelis eine Prämie von mehr als 52.000 Euro kassiert haben, die er sich zudem im Aufsichtsratspräsidium erst im Nachhinein ausgehandelt hätte.7
Die ÖIAG agiert mit Zustimmung der Politik als Vehikel in- und ausländischer Konkurrenten und zum Schaden der in den Beteiligungsunternehmen Beschäftigten und der österreichischen SteuerzahlerInnen. Denn: Den Einmaleinnahmen für den Staat steht der Verlust von Arbeitsplätzen - im ehemaligen Kernbereich der Verstaatlichten sind dies rund 80.000 seit Ende der 1980er-Jahre - gegenüber.8 Am Ende einer Totalprivatisierung befürchtet der ÖGB den Verlust weiterer Zehntausender Arbeitsplätze. Laut Berechnungen der AK führt eine Totalprivatisierung zu einem Verlust an Steuer- und Dividendeneinnahmen des Staates aus seinen Beteiligungen von jährlich rund 250 Mio. Euro.9
Es wird weiter privatisiert
Doch es wird weiter an der Privatisierungsschraube gedreht. Jüngster Vorstoß ist eine WIFO-Studie10, die »zufällig« zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie sie die Industriellenvereinigung schon seit einiger Zeit fordert: Das Privatisierungspotenzial in Österreich betrüge bei Rückzug von Staat, Land und Gemeinden auf 25 Prozent bis zu 25 Mrd. Euro. Diese Rechnung beinhaltet nicht nur die vollkommene Privatisierung der noch ÖIAG-Beteiligungen Post, Telekom und OMV, sondern auch der Elektrizitätswirtschaft vom Verbund, den Landesgesellschaften bis hin zu Stadtwerken, der Bundesimmobiliengesellschaft, der Bundesforste oder der Wasserversorgung, also klassische Bereiche der Daseinsvorsorge. Wohin die Privatisierung dieser Bereiche führt, zeigt sich nicht nur in Ländern der Dritten Welt, wie z. B. in Südamerika, sondern auch in Großbritannien: Dort kam es zu Versorgungsengpässen, Vernachlässigung der Investitionen in die nötige Infrastruktur für Leitungen etc. und zu Kündigungen finanziell schwacher Kunden/-innen. Wie man gesehen hat, sitzen in der ÖIAG die Millionen locker, wenn es um unvorteilhafte Privatisierungen, um Bonizahlungen oder Freunderlwirtschaft geht. »Wenn die ÖIAG in einer Stellungnahme von notwendigen Umstrukturierungen und Kapazitätsanpassungen im Zuge der Verkleinerungen des Beteiligungsportfolios spricht, dann soll sie am besten an der obersten Spitze damit beginnen«, so der stv. Bundesgeschäftsführer der GPA-djp, Karl Proyer.11
Tatsächlich will die ÖIAG-Spitze unter dem Motto: auch im eigenen Haus muss »gespart« werden, den Beschäftigtenabbau und die Kündigung von BetriebsrätInnen durchziehen. Doch nicht aus echter Notwendigkeit, sondern als Probegalopp: »Michaelis wird dies konsequent durchziehen, heißt es aus der Staatsholding, schon um ein Zeichen für andere Staatsbeteiligungen mit Konsolidierungsbedarf zu setzen«, berichtet das »Wirtschaftsblatt« im Juli und zitiert einen ÖIAG-Insider.
Eine Infrastrukturholding?
Mit der ÖIAG hat sich die Politik auch ein Instrument geschaffen, unangenehme Dinge umzusetzen. Insgeheim wird in der ÖIAG unterstützt von Industriellenvereinigung und ÖVP an einer Neuausrichtung der ÖIAG gebastelt. Stichwort »Infrastrukturholding«: Sie soll die Bundesimmobiliengesellschaft, den Verbund, die Asfinag und Teile der ÖBB, insbesondere die profitable Rail Cargo, umfassen.12 In diesem Zusammenhang bekommt die oben zitierte WIFO-Studie über den Millardenregen möglicher Privatisierungen - vor allem der E-Wirtschaft und profitabler ÖBB-Teile (Rail Cargo) - und die Nicht-Vertragsauflösung von ÖIAG-Chef Michaelis eine ziemliche Brisanz. Daher das Kesseltreiben gegen BetriebsrätInnen in der ÖIAG oder das Schlechtmachen der ÖBB wie seinerzeit der Verstaatlichten. Um ÖBB-Teile leichter und billiger (an die deutsche Konkurrenz?) verscherbeln zu können? Da wird wohl auch nicht vor weiteren Privatisierungen bei OMV, Post oder Telekom haltgemacht werden. An der Spitze der Post etwa sitzt mit Hilfe von Michaelis schon seit Oktober 2009 Georg Pölzl. Der kommt von der deutschen T-Mobile, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Telekom, die wiederum an der Deutschen Post beteiligt ist.
Die Privatisierungsherren wollen sich - mit Rückendeckung der Politik nichts dreinreden lassen. Besonders Gewerkschaften und BelegschaftsvertreterInnen sind ihnen da ein lästiger Dorn im Auge.
1 Die Presse, 11.9.2010
2 ÖIAG Geschäftsbericht 2009, S. 3
3 GPA-djp, 2.7.10
4 Presse, 14.9.2010
5 ÖIAG-Geschäftsbericht 2009, Seite 3
6 siehe: A&W 11/2003: Voestalpine: Verkauft ist verkauft
7 APA, 15.9.10; Wirtschaftsblatt
8 siehe: www.oeiag.at - Geschichte
9 siehe: www.oegb.at; www.arbeiterkammer.at
10 ORF, 6.10.2010; www.wifo.ac.at
11 30.6.10, ÖGB/GPA-djp
12 Wirtschaftsblatt, 22.7.10
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Mehr Infos unter:
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Beispiel Deutschland
Dass es anders geht, zeigt das Beispiel Deutschland. In den Siebzigerjahren entschieden sich dort die politischen BildnerInnen für einen anderen Weg, um Parteilichkeit und Indoktrination in der politischen Bildung zu vermeiden, und einigte sich im Rahmen des sogenannten »Beutelsbacher Konsenses« auf drei Grundprinzipien des Politikunterrichts.
Das »Überwältigungsverbot« bzw. »Indoktrinationsverbot« soll verhindern, dass SchülerInnen die Anschauungen der Lehrkräfte aufgezwungen werden. SchülerInnen sollen vielmehr in die Lage versetzt werden, sich selbst eine Meinung zu bilden. Das »Kontroversitätsgebot« fordert von Lehrenden, die unterschiedlichen Standpunkte zu einer politischen Fragestellung offenzulegen und kontroversielle Ansichten zuzulassen. Das Prinzip der »SchülerInnenorientierung« fordert LehrerInnen auf, den SchülerInnen eine inhaltliche Rutsche zu legen und politische Themen aus Sicht der SchülerInnen aufzubereiten.
Neue Wege
Aber auch in Österreich hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Politische Bildung wurde Schritt für Schritt, zumindest in Kombination mit anderen Gegenständen, eingeführt. Ausgehend von der Wahlaltersenkung starteten außerdem zahlreiche Initiativen und Projekte für eine moderne politische Bildung in der Schule. Diese richtet den Fokus nicht auf Staatskunde, sondern rückt den/die SchülerIn ins Zentrum. Die zentrale Frage lautet dabei: Was braucht ein junger Mensch, um ein reflektiertes und (selbst-)reflexives Politikbewusstsein zu entwickeln und aktiv an einer Demokratie teilzunehmen?
Das neue Kompetenzmodell für politische Bildung in den Hauptschulen und der AHS-Unterstufe macht diesen Anspruch an vier Kernkompetenzen fest: Urteilskompetenz, Methodenkompetenz, Handlungskompetenz und politische Sachkompetenz. Kompetenz wird dabei als Fähigkeit verstanden, bestimmte Handlungskonzepte in unterschiedlichen Situationen anwenden zu können. Das reine Sachwissen dient nur als Werkzeug und steht nicht als Teststoff im Vordergrund.
Viele Ansätze, die fortschrittliche politische Bildung vorantreiben wollen, scheitern an der Struktur unseres Schulsystems, dessen Eckpfeiler sich im vergangenen Jahrhundert kaum verändert haben.
Das Stakkato der 50-Minuten-Einheiten, beengte Klassenzimmer und Notenfixierung erleichtern ebenso wenig den offenen, themenbezogenen und fächerübergreifenden Projektunterricht, wie die autoritäre Rolle der Lehrenden. LehrerInnen, die beurteilen und in der Gelehrten-Rolle den SchülerInnen Wissen vermitteln, werden es schwer haben, einen kontroversiellen, diskursiven Ansatz zur politischen Bildung zu finden.
Den Lehrkräften ist das nicht vorzuwerfen, da man schwer von ihnen erwarten kann, nebenbei einen Gegenstand zu unterrichten, für den sie nie ausgebildet wurden. Es gibt kein Lehramt »Politische Bildung« oder ein Grundmodul in der LehrerInnenausbildung im Sinne des Unterrichtsprinzips. Auch GeschichtslehrerInnen, die jetzt politische Bildung unterrichten, mussten keine Zusatzqualifikation erwerben. Umso mehr Anerkennung gilt jenen Lehrkräften, die es trotzdem schaffen, ihren SchülerInnen anregende politische Bildung zu bieten.
Die gute Nachricht: Interesse ist da
Die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie »International Civics and Citizenship Education Study - ICCS« stimmen optimistisch. Zwar liegt das politische und staatsbürgerliche Wissen im internationalen Mittelfeld, aber eine zentrale Grundlage für den Kompetenzerwerb ist gegeben: Nur in Italien ha-ben SchülerInnen im europäischen Vergleich mehr Interesse an Politik als in Österreich.
Um das Interesse junger Menschen an politischer Bildung abzudecken, sind Erwachsene in Politik und Schulverwaltung gefordert. Der Schwung aus der Wahlaltersenkung darf nicht verloren gehen, und viele weitere Schritte sind nötig:
Vielleicht gelingt es uns mit diesen Maßnahmen und vielen weiteren Schritten, jungen Menschen jene Fähigkeiten mitzugeben, die sie benötigen, um auf demokratischen und solidarischen Wegen unsere Gesellschaft und Zukunft mitzugestalten.
Weblinks
Kooperationsprojekt der Arbeiterkammer Wien und des ÖGB
www.arbeitsweltundschule.at
Multimediale Wikiplattform zur politischen Bildung
www.polipedia.at
Interessengemeinschaft Politische Bildung
www.igpb.at
Angebote und Informationen zur politischen Bildung
www.politik-lernen.at
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Statistiken sind Argumente
Diese Statistiken (siehe Downloads) sollen die Orientierung erleichtern. Die Tabellen sind wichtige Informationen für InteressenvertreterInnen und jede/n politisch Interessierte/n.
Seit 1972 Stiftungspreise
Die große Bedeutung der Facharbeit, insbesondere der manuellen Arbeit, bewusst zu machen, ist das Ziel der heuer zum 19. Mal verliehenen Anton-Benya-Preise. Diese werden seit 1972 vom Anton-Benya-Stiftungsfonds vergeben. Prämiert werden außergewöhnliche berufliche Leistungen von Lehrlingen oder Fachkräften, Verdienste um die Ausbildung zukünftiger Fachkräfte, aber auch wissenschaftliche Untersuchungen, die das gesellschaftliche Ansehen fördern.
Heuer werden 24.500 Euro an 26 Haupt-, Einzel-, Förder- und AnerkennungspreisträgerInnen vergeben. »Viele der ausgezeichneten Projekte arbeiten im Stillen und sind bisher nur einem kleinen Kreis aufgefallen. Der Anton-Benya-Preis soll ihnen darüber hinaus Bekanntheit verschaffen, denn viele der Initiativen könnten als Vorbild für Hunderte andere dienen«, erklärte Alexander Prischl, ÖGB-Referatsleiter für Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik.
Die Hauptpreisträger 2010
Der ÖBB-Lehrlingskoordinator Günter Hell, Lehrlingskoordinator in Kärnten, hat gemeinsam mit der Gewerkschaft vida sechs neue Eisenbahnlehrberufe entwickelt. Auf seinen Ideen beruhen außerdem viele Sozialprojekte, z. B. das Projekt »Fit und Fair« zur Integration ausländischer Jugendlicher.
Der Verein »Vehikel« bildet seit 1983 arbeitslose Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf, ohne Hauptschulabschluss sowie Behinderte zum/zur Kfz-TechnikerIn bzw. KarosseriebautechnikerIn aus. Viele davon finden einen Job.
Hermann Schopf leitete von 1991 bis 2010 das Jugendzentrum Marco-Polo im 21. Bezirk in Wien. Er ist Mitinitiator der »Berufsinformationstage« des Vereins Wiener Jugendzentren. Der engagierte Hobbyjournalist schreibt über Berufsausbildung und Lehrstellenmangel.
Die STIWA Holding ist mit fünf Standorten einer der größten Ausbilder in Oberösterreich für Metallberufe, kaufmännische sowie IT-Berufe. Bei der Auswahl der Lehrlinge bekommen auch leistungsschwache Jugendliche eine Chance.
Gerhard Posset hat seit mehr als 20 Jahren, zuletzt als Landessekretär des ÖGB NÖ, zur Entwicklung des heutigen Standards in der Berufsausbildung beigetragen. Der Gründer des »Verein Startbahn« hat Langzeitarbeitslosen den Wiedereinstieg ins Berufsleben erleichtert.
Das Ziel des Projekts »Complete -Nachholen von Bildungs-/Lehrabschlüssen« ist es, junge Erwachsene, besonders MigrantInnen, die arbeitslos oder ohne Berufsausbildung sind, über einen Lehrabschlusses zu informieren, und bei der Vorbereitung auf die außerordentliche Lehrabschlussprüfung zu unterstützen.
Wolfgang Linke ist Ausbilder und Betriebsrat bei »Jugend am Werk«. Als die überbetrieblichen Ausbildungen ausgebaut wurden, setzte er sich dafür ein, dass neue Einrichtungen in optimaler Qualität für die Ausbildung geschaffen wurden.
»Man muss an den Menschen und seinen Erfolg glauben. Ich habe das immer getan.«
(Anton Benya, ÖGB-Präsident und Stifter der Benya-Preise)
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Ambitionierte Ausbildung
Das Ausbildungsprogramm für die GesundheitslotsInnen wurde auf Basis von Evaluierungen entworfen. Das erworbene Wissen liegt so nah an den tatsächlichen Lebens- und Arbeitsrealitäten. Derzeit werden verschiedene Themen schwerpunktmäßig behandelt, wie etwa Konflikte und Mobbing, alternsgerechtes Arbeiten, Ernährung oder Ergonomie. »Es geht natürlich auch darum, Wünsche und Anregungen zur Verbesserung der Arbeitssituation zu diskutieren, bevor überhaupt erst Probleme auftreten«, so Kronabeter, der bei dem Projekt GesundheitslotsInnen einen starken Fokus auf Prävention sieht.
Die Ausbildung zum/r GesundheitslotsIn ist ambitioniert: 13 Module müssen von den MitarbeiterInnen in 26 Ausbildungstagen absolviert und mit einer Projektarbeit abgeschlossen werden. Die GesundheitslotsInnen sind allerdings danach nicht als ExpertInnen anzusehen, sondern als Anlaufstellen bzw. Informations-Drehscheiben. Neben der Identifikation von gesundheitsgefährdenden Quellen helfen sie dabei, wo für welche Fragestellung oder Problematik die richtigen AnsprechpartnerInnen und ExpertInnen zu finden sind. In weiterer Folge werden dann SpezialistInnen unter anderem aus dem ÖGB, der AUVA, aus der Arbeitsinspektion oder der Arbeiterkammer herangezogen: »Wir schaffen in den Betrieben damit erstmals klare Anlaufstellen, damit ArbeitnehmerInnenschutz umfassend umgesetzt werden kann«, so Kronabeter.
Der Handlungsbedarf in diesem Bereich lässt sich durch zahlreiche Statistiken belegen: So klagt etwa ein Drittel der ArbeitnehmerInnen ständig über gesundheitliche Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz, und mehr als die Hälfte der ArbeitnehmerInnen sieht die Ursache ihrer Erkrankungen in ihrem Arbeitsumfeld.
Derzeit ist das Projekt in der Pilotphase und wird vonseiten der Gewerkschaft finanziert. In Zukunft soll es aber eine klare finanzielle und organisatorische Verankerung bei den ArbeitgeberInnen geben: »Das Ziel ist, diese Funktion ähnlich der Sicherheitsvertrauenspersonen im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz zu verankern«, so Kronabeter. Erste Erfolge in diese Richtung sind etwa die abgeschlossene Betriebsvereinbarung der GesundheitslotsInnen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung im Fonds Soziales Wien und in der MA 34. Für die Wiener Kindergärten wird derzeit noch verhandelt, in der GdG-KMSfB herrscht diesbezüglich Zuversicht. Auch weitere Dienststellen haben schon Interesse am Programm angemeldet.
Auch PRO-GE bildet aus
Das Konzept wird aber bereits jetzt auch über die derzeitigen Testläufe und Wiens Stadtgrenzen hinaus umgesetzt. So bildet etwa die Arbeiterkammer Salzburg ebenfalls sogenannte »Gesundheits-Vertrauenspersonen« aus, Die Produktionsgewerkschaft PRO-GE bildet ebenfalls bereits aus. Im Humanisierungsreferat der GdG-KMSfB ist die Überzeugung groß, dass die GesundheitslotsInnen wegweisend sind: »ArbeitgeberInnen ist durchaus klar, dass hier auch Staub aufgewirbelt wird - im Endeffekt ist aber mit zufriedeneren, gesünderen MitarbeiterInnen und weniger Krankenständen zu rechnen«, so Kronabeter.
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Schutzschild oder Lotusblumeneffekt
Verpackungen werden mit Nanosensoren ausgestattet, um den Zustand des Inhalts zu überwachen. Sie kontrollieren Luftfeuchtigkeit und die Einhaltung der Kühlkette, spüren unerwünschte Keime auf etc. Wer heute Schutzschild oder Lotusblumeneffekt sagt, meint damit fast immer Nanotechnologie. In Sonnenschutzmitteln helfen Titandioxid-Partikel, den Lichtschutz zu verbessern und den unerwünschten weißen Film auf der Haut zu vermeiden. Manche Hersteller schmücken sich mit den Silben Nano (z. B. Imprägnierungen, Nano-Versiegelung an Tankstellen etc.), die meisten allerdings hängen dieses Detail nicht an die große Glocke. Da derzeit nicht genau deklariert werden muss, ist meist nicht zu erkennen, in welcher Form die verschiedenen Bestandteile eines Produkts verwendet wurden.
Ausgehend von bekannten Materialien arbeitet die Nanotechnologie mit Teilchen, die in einer oder mehreren Dimensionen kleiner als 100 Nanometer sind (1 nm = 1 Millionstel Millimeter). Diese Partikel haben allerdings häufig andere Eigenschaften als das Ausgangsmaterial, so sind etwa Stahl-Nanoröhrchen hundertmal fester, aber viel leichter als normaler Stahl. Naturgemäß bieten derart winzige Partikel für Industrie und Forschung viele faszinierende Möglichkeiten. Aber sie haben auch einige Nachteile: Je kleiner das Teilchen, desto größer ist die Gefahr, dass es unbeabsichtigt und (vorerst) unbemerkt in die Lunge, ins Blut oder sogar ins Gehirn gelangen kann. Durch die Partikel könnten vermehrt Freie Radikale gebildet werden, wodurch letztendlich DNA-Schäden, Krebs etc. entstehen können. Sind unlösliche oder schwer lösliche Nanoteilchen einmal im Körper, so lassen sie sich derzeit fast nicht mehr entfernen. Schwellenwerte (ab welcher Menge Partikel gefährlich werden können) fehlen. Mittels Nanotechnologie aufgepeppte Pflanzenschutzmittel könnten unkontrolliert in die Umwelt gelangen. Und derzeit sieht man etwa an den weltweiten Problemen mit resistenten Bakterien, was der massenhafte Einsatz einer an sich großartigen Errungenschaft wie der Antibiotika bewirken kann.
Während Nano-ExpertInnen mit Hochdruck forschen, sind PolitikerInnen, Interessenvertretungen, Behörden etc. beim Verhandeln. Von 2006 bis 2009 diskutierten beim EU-Projekt NanoCap Gewerkschaften, NGOs und ExpertInnen über mögliche Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken der Nanotechnologie. Anlässlich der Schlusskonferenz im April 2009 präsentierte ETUC unter anderem folgende Forderungen:
2009 schließlich wurde der Österreichische Aktionsplan Nanotechnologie (NAP) abgeschlossen. Die Beteiligten konstatierten, dass es in vielen Nanotechnologie-Bereichen noch Wissenslücken gibt (auch wegen nicht vorhandener Deklarationspflicht) und sich »die Dokumentation über Effekte von Nanopartikeln auf Organismen heute noch auf Blitzlichtaufnahmen beschränkt«. Allerdings wurde nicht nur der Ist-Stand erhoben, sondern konkrete Forderungen und Ziele erarbeitet. Punkto Arbeitsplatzssicherheit etwa sind Grenzwerte und kostengünstige, zuverlässige Messsysteme nötig. 2011 soll eine Nano-Informationsplattform (NIP) mit verständlichen Informationen für alle Interessierten entstehen, die laufend von ExpertInnen aktualisiert wird. Obwohl Lacke in Form von Additiven und Pigmenten schon seit Jahrzehnten Nanopartikel enthalten, bedeutet die Ausbreitung der Nanotechnologie eine neue Herausforderung beim ArbeitnehmerInnenschutz. Derzeit sind mögliche Gefahren noch kaum bekannt - selbst in Unternehmen, die Nanoteilchen produzieren. Mangels Kennzeichnungspflicht wissen nicht nur KonsumentInnen, sondern zum Teil auch ArbeiterInnen und Angestellte nicht, wann sie mit Nanopartikeln in Kontakt kommen. Manche Anwender kennen das Grundmaterial ihrer Nanomaterialien nicht.1 Chemiker Dr. Günther Kittel, ppm Forschung und Beratung: »Es ist verständlich, dass Unternehmen derzeit verunsichert sind. Aber die Arbeitgeber müssen für gesunde und sichere Arbeitsplätze sorgen und können nicht warten, bis alle Gefahren bekannt sind. Denn die Wissenslücken lassen sich schon allein wegen der enormen Vielfalt an Nanomaterialien nicht kurzfristig schließen. Außerdem sind ungewisse Risiken in der Arbeitswelt ja nichts Neues und können nicht als Ausrede genommen werden, nichts zu tun.«
Schutzmaßnahmen notwendig
Solange nicht klar nachgewiesen ist, dass von den hergestellten Materialien keine Gefährdung ausgeht, müssen im Sinne des Vorsorgeprinzips Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Das beginnt mit geschlossenen Systemen bei der Synthese von Nanomaterial und endet bei der Schutzausrüstung (z. B. Schutzkleidung, Atem-schutz), wenn sich ein offener Umgang nicht vermeiden lässt. Wichtig ist, die Bildung von Aerosolen zu vermeiden, d. h. trockene Pulver dürfen nur so verarbeitet werden, dass die Partikel nicht in die Luft abgegeben und eingeatmet werden könnten. Der Umgang mit Suspensionen oder festen Kompositmaterialien ist hier deutlich unbedenklicher.
Bei einer Untersuchung zum Thema »Umgang mit Nano im Betrieb«1 äußerten die Befragten ganz konkrete Unterstützungswünsche: brauchbare Sicherheitsdatenblätter, Positiv- und Negativlisten von Nanomaterialien, Pilotprojekte zur Praxis des Nano-Risikomanagements sowie entsprechende Leitfäden, mehr Information über gesetzliche Rahmenbedingungen etc.
Immerhin gibt es punkto KonsumentInnenschutz eine Positivmeldung: Ab Juli 2013 nimmt die neue EU-Kosmetikverordnung die Hersteller in die Pflicht. Nanomaterialien dürfen nur dann verwendet werden, wenn deren Anwendung sicher ist und müssen deklariert werden. Wo Nano drin ist, muss dann auch Nano draufstehen.
Weblinks
Infos zum Thema: Institut für Technikfolgenabschätzung:
www.oeaw.ac.at/ita
www.arbeitsinspektion.gv.at
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1 ppm Forschung und Beratung: »Umgang mit Nano im Betrieb«, Linz, 2009; im Auftrag von BM für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und Zentral-Arbeitsinspektorat
]]>Tabu-Thema
Gewalt am Arbeitsplatz ist nach wie vor ein unterschätztes Problem, sowohl hinsichtlich des Vorkommens als auch hinsichtlich des Wissens über die verschiedenen Formen der Gewalt. So lassen sich die Hauptergebnisse der Befragung, die das Forschungsinstitut ifes im Auftrag der Gewerkschaft vida unter den Beschäftigten aus dem Verkehrs- und Dienstleistungsbereich durchgeführt hat, auf den Punkt bringen. Um die Situation in Österreich genauer einschätzen zu können, hat ifes über 1.800 Beschäftigte aus unterschiedlichen Branchen und Betrieben interviewt. Denn da Gewalt am Arbeitsplatz leider nach wie vor ein Tabu-Thema ist, gab es davor wenig aussagekräftiges Datenmaterial. Mehr als 60 Betriebsratsteams haben die Umfrage tatkräftig unterstützt. Denn nur wenn die Fakten auf dem Tisch liegen und alle offen darüber reden, kann man etwas verändern.
Tatort Transport
Rund jede/r zweite Befragte hat am derzeitigen Arbeitsplatz schon einmal die eine oder andere persönliche Gewalterfahrung gemacht. Am stärksten davon betroffen sind die in der Verkehrsbranche Tätigen, wo drei Viertel angeben, in der Arbeit schon einmal persönlich Opfer von Gewalt gewesen zu sein. Die Beschäftigten dieser Branche sehen sich vor allem Hänseleien, Verspottungen, diskriminierenden Witzen sowie Bedrohungen und Einschüchterungen durch Kunden/-innen ausgesetzt. Auch von Tätlichkeiten und Handgreiflichkeiten waren Beschäftigte in den Transportberufen etwa dreimal so häufig betroffen wie der Durchschnitt der ArbeitnehmerInnen aus dem Dienstleistungssektor.
Gewalt im Job geht vorwiegend von den Kunden/-innen bzw. KlientInnen aus. Das trifft insbesondere auf den Verkehrs- sowie den Gesundheitssektor zu. Im Tourismusbereich wird hingegen häufiger beobachtet, dass die Gewalt von Vorgesetzten und KollegInnen ausgeht. Steigender Arbeitsdruck wird als häufigster Grund für die Gewalt genannt, gefolgt von Angst um den Arbeitsplatz und einem schlechten Führungsstil.
Als Gewalt stuften die Befragten neben körperlichen Übergriffen auch mehrheitlich sexuelle Belästigungen sowie Herumschreien und Einschüchterungen ein. Zumindest »unter Umständen« werden Ausgrenzung, anzügliche und diskriminierende Witze und Bemerkungen sowie Hänseleien und Verspottung als Gewalt angesehen.
Letzteres wird aber von einem Viertel der Befragten dezidiert nicht als Gewalt eingestuft, und weitere zwölf Prozent wollten keine Angabe dazu machen. »Das kann auf mangelnde Sensibilität zurückzuführen sein, weil die vielen Facetten von Gewalt bisher nicht thematisiert wurden. Vielfach werden unangenehme Situationen aber auch verdrängt, unter dem Motto: Das gehört zum Job dazu«, so die stellvertretende vida-Bundesgeschäftsführerin Renate Lehner zu dem Ergebnis.
vida-Initiative
Die Gewerkschaft vida möchte mit der Initiative »Tatort Arbeitsplatz. Gib der Gewalt im Job keine Chance« die Beschäftigten für die unterschiedlichen Formen der Gewalt sensibilisieren und ihnen Mut machen, derartige Vorfälle zu melden statt hinzunehmen. Außerdem sei es »hoch an der Zeit«, dass auch die Arbeitgeberseite und die Politik das Thema ansprächen und aktiv dagegen vorgingen, erklärt Renate Lehner. So fordert vida unter anderem ein klares Bekenntnis der Betriebe, dass Gewalt nicht toleriert wird in Form von schriftlichen Leitlinien, mehr Prävention durch Schulungen für Führungskräfte und Beschäftigte im Umgang mit Konflikten, aber auch die Sicherstellung, dass genügend Personal im Einsatz ist.
Seit 2010 hat die Gewerkschaft vida ein neues Seminar für BetriebsrätInnen sowie Jugend-, Sicherheits- und Behindertenvertrauenspersonen im Angebot. »Dabei lernen die TeilnehmerInnen nicht nur, Konflikte zu lösen, Aggression zu bewältigen oder Gewalt zu verringern. Sie erfahren auch, was Gewalt überhaupt ist, wer davon betroffen ist, wie man Betroffene unterstützen kann und vor allem, wie man präventiv im Betrieb gegen jegliche Form von Gewalt aktiv wird«, erklärt Peter Traschkowitsch, Projektleiter der vida-Initiative. Das Feedback der bisherigen TeilnehmerInnen sei mehr als positiv. Beschäftigte aus den unterschiedlichen Branchen seien zusammengekommen, um sich gemeinsam gegen Gewalt im Job zu rüsten.
Der Wunsch einer Fortsetzung sei laut, auch nach regelmäßigen Treffen, um Erfahrungen auszutauschen, so Traschkowitsch. Heuer finden noch drei Betriebsratsseminare statt. vida arbeitet derzeit auch an einem Seminarangebot für Mitglieder. Sie sollen vor allem einen besseren Umgang mit Stress, Gewalt und Zeitmanagement erlernen.
Klare Spielregeln
Für BetriebsrätInnen, die gegen Gewalt im Job aktiv werden wollen, hat die Gewerkschaft vida eine Musterbetriebsvereinbarung ausgearbeitet. Darin ist einerseits das Bekenntnis zum wertschätzenden Umgang miteinander festgehalten. Andererseits sieht die Vereinbarung verbindliche Leitlinien für den Umgang mit Gewalt im Betrieb vor - also Maßnahmen, die in Kraft treten, wenn sich jemand nicht an diese Regeln hält oder die Gewalt durch Dritte - Kunden/-innen, PatientInnen - ausgeht. Als erstes Unternehmen nach vida hat die Privatklinik Goldenes Kreuz die ausgearbeitete Vereinbarung gegen Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz unterzeichnet.
Gemeinsam aktiv
Auch Austro Control, Österreichs Flugsicherungsunternehmen, hat den unterschiedlichen Formen von Gewalt am Arbeitsplatz den Kampf angesagt. Und dabei ziehen BetriebsrätInnen und Dienstgeber an einem Strang. Mit einer Betriebsvereinbarung haben nämlich sowohl Belegschaftsvertretung als auch Geschäftsleitung ein wirksames Instrument, um erstmals strukturiert, ergebnisorientiert und vor allem verbindlich mit allen Facetten der Gewalt im Job umgehen zu können, ist Betriebsratsvorsitzender Norbert Payr überzeugt.
Kernstück der Vereinbarung, die derzeit mit Unterstützung der Gewerkschaft vida ausgearbeitet wird, ist eine betriebliche Beratungsstelle. Sie soll sich kontinuierlich mit den verschiedenen Gewaltformen - von Beleidigungen über Mobbing bis hin zu tätlichen Angriffen - beschäftigen und den MitarbeiterInnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Darüber hinaus sind Schulungen für alle Beschäftigte und Führungskräfte angedacht. So wollen die BetriebsrätInnen der Austro Control Bewusstsein und Sensibilität für das brisante Thema schaffen. Damit »Gewalt-Phänomene« frühzeitig erkannt werden oder im besten Fall gar nicht erst entstehen.
Die Musterbetriebsvereinbarung gibt es unter www.tatortarbeitsplatz.at im Internet - der Informationsplattform zur vida-Initiative. Hier finden sich neben den detaillierten Umfrageergebnissen Informationen zu den Service- und Hilfsleistungen der Gewerkschaft, zu der geltenden Rechtslage und den Forderungen von vida. Darüber hinaus kommen ExpertInnen wie beispielsweise Kriminalpsychologe Dr. Thomas Müller, aber auch BetriebsrätInnen und Betroffene zu Wort.
Sie sprechen in Audio- und Videobeiträgen über ihre Erfahrungen mit den unterschiedlichen Facetten von Gewalt im Job. Und seit kurzem bietet die Website auch ein Info-Angebot in den Sprachen Türkisch, Bosnisch, Serbisch und Kroatisch.
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Atypisch und prekär
Die Prekarisierung der Arbeitswelt ist eine Dynamik, die vor allem seit den 1980er-Jahren in Österreich eingesetzt hat. Zwar ist die Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse nicht per se gleichzusetzen mit einer Prekarisierung, dennoch ist sie ein starkes Indiz dafür. Der weiße männliche Arbeiter, von dessen Lohn eine Familie ernährt werden konnte, der sich Auto und Fernseher geleistet hat, und der einmal im Jahr mit seinem Anhang in den Urlaub gefahren ist, dieser fordistische Lohnarbeiter ist heute in Bedrängnis geraten. Freie Dienstverträge, Werkverträge und Teilzeitarbeit bestimmen in manchen Branchen die Arbeitsbedingungen.
Dabei versteht man in der sozialwissenschaftlichen Debatte unter Normalarbeitsverhältnis zumeist eine dauerhafte Vollbeschäftigung, die mit bestimmten Rechten - bezogen auf Arbeitsbedingungen, über gewerkschaftliche Organisierung bis hin zur Sozialversicherung - verknüpft ist. Demnach wären atypische Beschäftigungsverhältnisse eben solche, die von diesem Normalarbeitsverhältnis abweichen, angefangen von Teilzeitkräften bis hin zu Scheinselbstständigen mit Werkverträgen.
Diese atypischen Arbeitsverhältnisse hatten sich vor allem in Branchen etabliert, die einem starken Wandel unterworfen waren, wie etwa im Bereich des Marketings, in der IT-Branche oder in der Medienbranche. »In diesen Segmenten verabschiedeten sich die DienstgeberInnen von dem Normalkollektivvertrag und griffen auf freie Dienstverträge und Ähnliches zurück«, erklärt Andrea Schober, Sekretärin der GPA-djp und zuständig für die Interessengemeinschaft »work@flex«.
Tamara Geisberger und Käthe Knittler beziffern in den Statistischen Nachrichten den Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse bei unselbstständig Erwerbstätigen mit fast 30 Prozent. Dennoch lässt sich die gesellschaftliche Bedeutung nicht bloß am statistischen Anteil ermessen: »Die atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind kein Phänomen, das wir isoliert von der restlichen Arbeitswelt betrachten können. Es gibt entscheidende Rückwirkungen auf die Normalarbeitsverhältnisse, sodass man von einem Wandel der gesamten Arbeitswelt sprechen kann«, argumentiert Schober. »Hier lastet durch die neuen Verträge ein Druck auf der gesamten Belegschaft.« Der Verzicht auf eigentlich schon vorhandene Rechte wird nahegelegt, da man ja auf Arbeitskräfte mit »flexibleren« Verträgen zurückgreifen könne.
Aber nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch bei den Lohnverhandlungen steigt durch die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse der Druck bei den Normalarbeitsverhältnissen. »Die Keule der ArbeitgeberInnen führt auch in diesem Bereich zu einer Zurückhaltung auf Arbeitnehmerseite«, so Schober. Die Kräfteverhältnisse zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen haben sich somit durch die atypischen Beschäftigungsverhältnisse deutlich verschoben.
Diese Phänomene will Schober aber nicht bloß auf die veränderte Situation am Arbeitsmarkt zurückführen. Das Problem sei demnach nicht bloß eines von Angebot und Nachfrage am Markt der Arbeitskräfte: »Entscheidend ist auch das Niveau der gewerkschaftlichen Organisierung. Gerade in den erwähnten Bereichen ist sie leider noch sehr niedrig.«
Wirkung auf Arbeits- und Sozialrecht
Jene sozialen Rechte, die mit den Normalarbeitsverhältnissen verknüpft sind, haben - in unterschiedlicher Form und Abstufung - bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen nur beschränkt Gültigkeit. Denn je nachdem, ob es sich um formal selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit handelt, ist die sozialrechtliche Stellung zu beurteilen. Freie DienstnehmerInnen beispielsweise sind nun zwar seit 2008 umfassend sozialversichert, doch das Arbeitsrecht hat nur Gültigkeit, wenn dies ausdrücklich vereinbart wurde. Neue Selbstständige im Rahmen eines Werkvertrages hingegen müssen sich selbst bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft versichern.
Gesetzesfreier Raum
Die Situation erinnert dabei an die Anfänge der gewerkschaftlichen Organisierung: »Wir befinden uns hier in einem gesetzesfreien Raum. All jene Errungenschaften, die von der Gewerkschaftsbewegung mühevoll erkämpft wurden, sind in diesen Branchen ausgesetzt. Wir stehen aus unserer Perspektive - etwas überspitzt formuliert - in einer ähnlichen Situation wie vor etwa 140 Jahren«, argumentiert Schober.
Auch im Sozialrecht ergibt sich dadurch eine neue Problematik: »Konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten wie Österreich, Deutschland oder Frankreich zeichnen sich durch erwerbsarbeitsorientierte und vorwiegend beitragsfinanzierte Systeme aus.
Durch die Dominanz des Versicherungs- und Äquivalenzprinzips wirken sich vergleichsweise niedrige und/oder diskontinuierliche Einkommen, wie sie bei atypischen Beschäftigungsverhältnissen relativ häufiger vorkommen, aber auch nicht durchgängige Erwerbsbiografien, leistungsmäßig negativ aus«, erklärt der Politikwissenschafter Marcel Fink in einem Artikel in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft aus dem Jahr 2000.
Strategien zur Bewältigung
Dennoch kann die Gewerkschaft auch im Kampf um die Besserstellung von prekär Beschäftigten auf Erfolge verweisen. Zunächst hatte man sich auf die Verbesserung der sozialrechtlichen Situation konzentriert: »Die sozialrechtliche Angleichung der freien Dienstverträge an die normale Erwerbstätigkeit im Jahre 2008 war ein großer Erfolg«, erklärt Schober. Tatsächlich wurde damit der freie Dienstvertrag für ArbeitgeberInnen weniger attraktiv und die Verbreitung der atypischen Beschäftigung in dieser Form konnte zurückgedrängt werden. Schon im Juli 2008 sanken die freien Dienstverträge im Vergleich zum Juli 2007 um 22 Prozent. In einem nächsten Schritt fordert die Gewerkschaft nun vor allem eine arbeitsrechtliche Angleichung der freien DienstnehmerInnen.
Ein größeres Problem stellen hingegen die Werkverträge dar: »Hier gibt es aus gewerkschaftlicher Sicht kaum Chancen zur Intervention, da sich diese Verträge unserem Wirkungskreis entziehen. Die einzige Chance besteht meist in der rechtlichen Prüfung der Verträge«, erklärt Schober. Dies sei aber ein individueller Lösungsansatz, jedoch keiner, der dies für die Branche insgesamt lösen könne.
Aber auch die Integration atypischer Beschäftigungsverhältnisse in das Arbeitsrecht würde nur einen Teil des Problems abdecken: »Die faktische Wirksamkeit solcher Maßnahmen ist betreffend die Einkommensdimension jedoch fraglich, unter anderem aus dem Grund, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse häufig in Niedriglohnbranchen, -berufen und -firmen zu finden sind. Einen positiven Ansatzpunkt stellen unter Umständen allgemeine Mindestlohnregelungen mit einem möglichst breiten Anwendungsspektrum dar«, schlägt Fink vor.
Außerdem argumentiert Fink, dass eine arbeitsrechtliche Gleichstellung in der Realität politisch kaum durchsetzbar sei: »Daneben würde eine uneingeschränkte arbeitsrechtliche Gleichstellung mit einem (umfassend regulierten) Normalarbeitsverhältnis unter Umständen quasi das ›atypische‹ an atypischen Beschäftigungsverhältnissen aufheben und einem - politisch und realiter kaum durchsetzbaren - Verbot derselben nahekommen.«
Weblinks
Homepage:
www.gpa-djp.at/flex
Blog:
workflex.wordpress.com
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IMPULS-Projekte in elf Betrieben
In Betrieben wird durchaus bemerkt, wenn es irgendwo in der Organisation reibt und knirscht. Sehr häufig gibt es aber eine gewisse Hilflosigkeit, etwas dagegen zu tun. Wie es gehen könnte, zeigt die nachfolgend dargestellte Aktion »IMPULSe gegen Arbeitsstress«.
Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) und der ÖGB fördern von 2008 bis 2010 im Rahmen der Aktion »IMPULSe gegen Arbeitsstress« die Durchführung von nachhaltigen betrieblichen Stresspräventionsprojekten. Daran nehmen elf österreichische Betriebe unterschiedlicher Größe in verschiedenen Branchen teil (Kommunikation, Verkehr, IT, Gesundheit, Lebensmittelindustrie, Bildung, Spedition, Pharmazie).
Basis dieser IMPULS-Projekte sind die IMPULS-Werkzeuge, in deren Zentrum der IMPULS-Test steht. Das ist ein Fragebogen zur Bewertung der Stressoren und Ressourcen der Arbeitssituation. Die Befragten schätzen dabei einerseits ihre konkreten Arbeitsbedingungen ein (Real-Zahlen) und füllen auch aus, wie diese Arbeitsbedingungen im Idealfall aussehen würden (Wunsch-Zahlen). Die Abweichungen zwischen Real- und Wunsch-Zahlen zeigen, ob und in welchem Ausmaß die Arbeitsbedingungen als mehr oder weniger passend bzw. veränderungsbedürftig bewertet werden. Die Ergebnisse des IMPULS-Tests werden im IMPULS-Stern dargestellt.
Aber eine Befragung der Beschäftigten ist noch keine Problemlösung. In jedem betrieblichen IMPULS-Projekt entwickeln daher Führungskräfte und MitarbeiterInnen auf Basis der größten Abweichungen zwischen Real- und Wunsch-Zahlen passende Maßnahmen zur Reduktion ihrer Stressoren und zum Ausbau ihrer Ressourcen.
Erfolg braucht Kontrolle
Es gibt zwei Schritte zur Evaluation des Projekterfolges in den Betrieben:
Über die Ergebnisse dieser zweiten Befragung und das Gesamtprojekt wird in einem Schlussworkshop Bilanz gezogen, an dem die Projektgruppe und auch MitarbeiterInnen teilnehmen.
Zwischenergebnisse
Das Projekt wird Ende 2010 mit einer Gesamtauswertung abgeschlossen. Jetzt liegen erste Zwischenergebnisse vor. In allen elf Betrieben wurden bei der ersten IMPULS-Befragung insgesamt ca. 630 MitarbeiterInnen befragt. Unter den drei Themen mit den geringsten Abweichungen zwischen Real- und Wunsch-Zahl lag bei zehn Betrieben das Thema »Inhaltliche Arbeitsanforderungen«. Die Befragten schätzen also die Aufgabenanforderungen und ihre dazu nötige Qualifikation als durchaus zusammenpassend ein. In sieben der elf Betriebe passen Realität und Wunsch auch beim Thema »Zusammenarbeit« gut zueinander. Das bedeutet, die Möglichkeiten zu Austausch und Feedback entsprechen weitgehend den Erwartungen der befragten MitarbeiterInnen. In fünf bzw. vier Betrieben liegen Real- und Wunsch-Zahlen der Themen »Ganzheitliches Arbeiten« (Vollständigkeit der Tätigkeit) und »Vielseitiges Arbeiten« (Abwechslung, Lernen, Vielfalt) auch nahe beisammen.
Die größten Mängel
Betrachtet man die wichtigsten betrieblichen Stressoren bzw. Ressourcen, so führen in allen elf Betrieben folgende Themen die Top-Liste der Fehlbelastungen an:
In neun von elf Betrieben werden Mängel bei »Entwicklungsmöglichkeiten« wahrgenommen und in den IMPULS-Workshops konkretisiert. Sehr häufig wurden die fehlende Transparenz bzw. Information über Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung sowie der beruflichen Entwicklung genannt. Ebenfalls in neun Betrieben gehört zu den größten Problembereichen die »Information und Mitsprache«: Es gibt Unsicherheit über Pläne und Ziele des Betriebes und deren Auswirkungen auf die eigene Tätigkeit. Auch für die Arbeitsausführung nötige Informationen stehen oft nicht, zu spät, unvollständig oder widersprüchlich zur Verfügung. Hinweise der MitarbeiterInnen zur Verbesserung von Arbeitsvorgängen werden oft nicht ausreichend wahrgenommen bzw. verwertet. Auch Mängel der »Arbeitsumgebung« gehören in sieben der elf Betriebe zu den häufigsten Problemen. Angesprochen werden dabei Platzmangel, Ordnung, defekte Arbeitsmittel, Probleme mit der EDV sowie spezifische Beeinträchtigungen durch Lärm oder Raumklima. In vier Unternehmen zeigt sich das Thema »Arbeitsabläufe« als problematisch, wobei es hier darum geht, dass Arbeitsabläufe und -prozesse nicht plangemäß durchgeführt werden können, weil es zu Unterbrechungen durch fehlende Materialien und Informationen kommt.
Bei allen Betrieben ging es darum, die festgestellten Probleme aktiv zu lösen. Pro Betrieb wurden durchschnittlich fünf bis zehn Verbesserungsmaßnahmen zur Optimierung der festgestellten Mängel bzw. Fehlbelastungen der Arbeitsbedingungen von Führungskräften und MitarbeiterInnen vereinbart. Insgesamt wurden von allen elf Betrieben rund 175 Maßnahmen vorgeschlagen. Von allen vereinbarten Maßnahmen zur Veränderung von Fehlbelastungen sind ca. 90 Prozent solche, die nicht mit Investitionskosten verbunden sind (siehe Kasten). Die Ergebnisse der Gesamtevaluation aus den elf Betrieben werden nach Beendigung der Förderaktion und Abschluss aller IMPULS-Projekte Ende 2010 publiziert.
Info&News
Beispiel Firma Ankerbrot
Das Unternehmen hat ca. 1.800 MitarbeiterInnen und hat das IMPULS-Projekt auf die FilialleiterInnen und MitarbeiterInnen konzentriert.
G. Kastner, (Betriebsrätin): »Das IMPULS-Projekt war für uns DER wichtige Anstoß, die Wertschätzung und Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen in den Mittelpunkt zu rücken.«
Weblinks
Mehr Infos unter: www.impulstest.at
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Mehrheit geht mit 55 Jahren
Die Beschäftigungsquoten der über 55-Jährigen liegen in Österreich noch immer unter 40 Prozent, also deutlich unter dem EU-Schnitt. Die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung erreicht nicht das reguläre Pensionsalter: 2009 wurden rund 27.000 Alterspensionen, 38.600 vorzeitige Alterspensionen und 30.000 krankheitsbedingte Frühpensionierungen zuerkannt. Salopp könnte man sagen, ab 55 Jahren verschwindet die Mehrheit aus dem Arbeitsprozess in den Ruhestand.
Diese Entwicklung ist wissenschaftlich und auch wirtschaftlich unsinnig. Denn in Österreich ist bereits die Mehrheit der Bevölkerung über 40 Jahre alt, und es ist kein Naturgesetz des Älterwerdens, dass wir nicht mehr arbeitsfähig sind. Alle wissenschaftlichen Studien zeigen, dass das Geburtsalter für die Leistungsfähigkeit der Personen im Arbeitsprozess nur sehr bedingt Relevanz als Kriterium hat. Alter wird nur dort für Arbeitsfähigkeit schlagend, wo es um körperliche Kraft, Stärke oder Schnelligkeit geht. Ältere können bei entsprechenden Tätigkeiten voll leistungsfähig sein.
Die Stärken und das Potenzial Älterer liegen im Fachlichen, im Erfahrungswissen, im sozialen Bereich, in ihren Netzwerken und im Einstellungsbereich wie bei Arbeitsmoral und Loyalität. Im Laufe des Arbeitslebens entwickeln sich mit den konkreten Erfahrungen Qualitäts- und Verantwortungsbewusstsein, Urteilsfähigkeit und Selbstständigkeit ebenso wie Kompetenz zur Anleitung anderer. Damit diese Stärken auch in der Arbeitswelt gelebt werden, bedarf es eines entsprechenden altersgerechten Arbeitsumfeldes, einer positiven Einstellung von Führungskräften und eines Klimas, in dem Weiterentwicklung gefordert und gefördert wird. Ein alters-diskriminierendes Unternehmen, wird die Schätze der Älteren nicht bergen können!
Es sind neben individuellen Unterschieden vor allem arbeitsbezogene Einflussfaktoren und Bedingungen, die jemanden älter oder jünger »aussehen« lassen und Gesundheit und Arbeitsfähigkeit beeinflussen.
Nur zu oft wird vergessen, dass die Arbeitswelt diese veränderten Leistungsfähigkeiten nicht berücksichtigt. So kommt es zum Verschleiß körperlicher Arbeitsfähigkeit durch starke körperliche Anforderungen oder zur Unterforderung der mentalen und sozialen Entwicklung durch monotone Tätigkeiten mit wenig Lernanreizen. Nur wer falsch oder einseitig beansprucht wird, verliert an Leistungsfähigkeit.
Über 60-Jährige, die aktiv im Arbeitsprozess stehen, sind eine Minderheit. Ihre KollegInnen sind mehrheitlich zuvor ausgestiegen, nicht aufgrund des Alters, sondern aufgrund alternsungerechter Bedingungen, und weil sie keinen Sinn im längeren Verbleib sahen, da bspw. ihre Fähigkeiten nicht wertgeschätzt wurden.
Stärken fördern, Bedürfnisse achten
Gesellschaft und Unternehmen sind also aufgefordert, sich rasch vom Defizitmodell des Älterwerdens zu verabschieden. Die Förderung von Stärken und Entwicklung über die gesamte Berufsdauer sollte zu einem wichtigen Ziel der Personalpolitik werden, so wie die Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse einzelner Altersgruppen in der Ausübung des ArbeitnehmerInnenschutzes eine zentrale Rolle spielen muss.
Nicht zuletzt sind es aber auch zutiefst menschliche Gründe, die eine Förderung von Arbeitsfähigkeit über eine längere Berufsdauer sinnvoll machen, denn höhere Arbeitsfähigkeit ist mit höherer Lebensqualität und besserer Gesundheit im späteren Alter eng verknüpft.
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Maßnahmen zur Person
Die Schwierigkeit im Umgang mit Burn-out liegt darin, dass Ursachen und Hintergründe sehr oft in belastenden Rahmenbedingungen im Betrieb liegen, sich die Auswirkungen aber an der Person zeigen. In vielen Fällen werden deshalb nur die Personen in das Blickfeld gerückt, indem Entspannungstrainings oder Stress-Seminare angeboten werden. Diese Maßnahmen können für den/die Einzelne unterstützend sein, nachhaltig sind sie zumeist nicht.
Die ÖGB-Broschüre »Burn-out an der Wurzel packen« beschreibt Interventionsmöglichkeiten, die ArbeitgeberInnen als umfassend Verantwortliche für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten setzen können, um Burn-out möglichst im Vorfeld zu verhindern, wie z. B.:
Weblink
Die Broschüre kann unter
www.gesundearbeit.at
heruntergeladen werden oder im ÖGB-Servicecenter unter Tel.: 01/534 44-39100 bzw. per E-Mail: servicecenter@oegb.at bestellt werden.
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1 Siehe dazu www.gesundearbeit.at
]]>Auch unterwegs versichert
Darunter fallen aber auch Unfälle auf dem direkten Weg von der Wohnung oder ständigen Unterkunft zur Arbeit, zum Mittagessen oder auf dem Heimweg, da sind Fahrgemeinschaften sowie Wege zum Geldinstitut mitgedacht. Ebenfalls dazu zählen Schulungsmaßnahmen, die zum Erwerb konkreter beruflicher Kenntnisse dienen, wobei auch ein Unfall bei der An- und Abfahrt zur bzw. von der Ausbildungsstätte als Arbeitsunfall betrachtet wird. Auch Unfälle auf dem direkten Weg von zu Hause oder von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte zu einem Arzt oder einer Ärztin und zurück fallen in die Kategorie Arbeitsunfall, vorausgesetzt, dass der Arztbesuch dem Arbeitgeber gemeldet worden ist. Weiters zählen auch Unfälle dazu, die auf dem direkten Weg zu einem Kindergarten, einer Kindertagesstätte, zur Unterbringung der Kinder in fremder Obhut und auf dem Weg zurück in die Arbeit oder nach Hause passieren. Zu guter Letzt zählen Unfälle bei der Inanspruchnahme von Interessenvertretungen oder Berufsvereinigungen (z. B. AK, ÖGB, Innung etc.) ebenfalls als Arbeitsunfälle. Damit der größtmögliche Schutz gewährleistet ist, sollten auch Nebenwohnsitze gemeldet werden. Um die Zahl der Arbeitsunfälle möglichst gering zu halten, geht man konsequent den Weg der Prävention, indem der ArbeitnehmerInnenschutz ausgebaut und weiterentwickelt wird.
»Der ArbeitnehmerInnenschutz ist, wenn man die vergangenen 20 Jahre hernimmt, eine Erfolgsgeschichte«, sagt Anton Hiden, ArbeitnehmerInnenschutzexperte von der PRO-GE: »Und zwar wegen der Zusammenarbeit und den Bemühungen aller Beteiligten. Besonders wichtig ist die AUVA, die sich wirklich anstrengt.«
Bei der AUVA, der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, sind rund 4,5 Mio. Personen gesetzlich gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten versichert. Diese unterteilen sich in 1,2 Mio. ArbeiterInnen, 1,6 Mio. Angestellte, 420.000 Selbstständige sowie 1,3 Mio. SchülerInnen und StudentInnen. Die AUVA finanziert ihre Aufgaben als soziale Unfallversicherung aus Pflichtbeiträgen der DienstgeberInnen. Prävention ist dabei die vorrangige Kernaufgabe der AUVA.
»Aber das ist ja klar: Prävention rechnet sich etwa drei bis fünf Mal mehr. Wir sind also am richtigen Weg, aber es gibt eine Restmenge von etwa 100.000 Arbeitsunfällen pro Jahr, die in den vergangenen Jahren leider ziemlich konstant ist. Natürlich sind das 100.000 zu viel, aber es gibt ja immer mehr ArbeitnehmerInnen, d. h. prozentuell geht es immerhin zurück«, so Hiden. »Bei Arbeitsunfällen ist bei uns der Versicherte bestens versorgt. Man ist vom ersten Arbeitstag, von der ersten Stunde, der ersten Minute, die man zur Arbeit losgeht, schon versichert. Da gibt es keine Wartezeit! Es wird sofort geholfen.« Die Art, wie im Fall des Falles geholfen werden kann, erklärt der Gewerkschafter so: »Wir haben vier Säulen, auf denen das System basiert: Erste Hilfe, dann medizinische Hilfe, Rehabilitation, und finanzielle Hilfe. Auch im sozialen Bereich wird alles getan, um die Wiedereingliederung in ein möglichst normales Leben zu ermöglichen, also von Umschulungen, über geförderte Arbeit, bis hin zu Autos und Wohnungen, die auf die Bedürfnisse hin abgestimmt werden. Dem Liedermacher Sigi Maron wäre es bei uns nicht so schlecht ergangen, wie in dem Lied, in dem er über dieses Thema singt.«
Zahl der Arbeitsunfälle rückläufig
Nach der Auswertung der anerkannten Arbeitsunfälle der AUVA für das Jahr 2009 ist die Zahl der Arbeitsunfälle weiterhin rückläufig: Österreichweit konnte bei den Arbeitsunfällen der Erwerbstätigen (Arbeitsunfälle im engeren Sinn und Wegunfälle) mit 117.538 Unfällen ein Minus von 12,4 Prozent verbucht werden.
Der große Rückgang bei den Arbeitsunfällen 2009 ist neben der erfolgreichen Präventionsarbeit der AUVA aber leider auch auf die durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sinkende Anzahl der Beschäftigten sowie den Anstieg von Kurzarbeit zurückzuführen.
»Jeder einzelne Arbeitsunfall ist einer zu viel, aber es ist erfreulich, dass die Zahl der anerkannten Arbeitsunfälle seit 2006 durchschnittlich um 5,8 Prozent zurückgegangen ist. Der langfristig rückläufige Trend bestätigt, dass unsere Maßnahmen greifen«, so AUVA-Obfrau KommR. Renate Römer. Um die ArbeitnehmerInnen bestmöglich über die Präventionsmaßnahmen bei der Instandhaltung zu informieren, hat die AUVA spezielle Materialien entwickelt. Ein Merkblatt, ein Info-Folder sowie zwei Checklisten werden den Unternehmen ab sofort und kostenlos zur Verfügung gestellt. Es ist notwendig, dass ArbeitnehmerInnen den ArbeitnehmerInnenschutz als das erkennen, wozu er dient: nämlich das Leben und die Gesundheit zu schützen. Denn Leid kann mit Geld nicht abgegolten werden.
Über 100 Jahre Arbeitsinspektoren
Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Bau-Holz (GBH), Johann Holper, ist aber noch lange nicht zufrieden: »Jeder siebente Bauarbeiter war 2009 von einem Arbeitsunfall betroffen. Viele weitere Unfälle und auch Berufskrankheiten könnten vermieden werden, wenn die Präventionstätigkeit verstärkt würde und die ArbeitgeberInnen flächendeckend die gesetzlich geforderten Schutzeinrichtungen und -ausrüstungen zur Verfügung stellen würden.« Der Bau scheint ja sowieso eine der gefährlichsten Branchen zu sein, denn jeder fünfte Arbeitsunfall in Österreich ist im Bauwesen passiert. »Sehr oft handelt es sich leider auch um sehr schwere Unfälle. 32 der insgesamt 89 tödlich verunfallten ArbeitnehmerInnen waren 2009 im Bauwesen zu beklagen. Hinter diesen Zahlen stehen tragische menschliche Schicksale, das darf man nie vergessen. Das Thema Sicherheit und Gesundheitsschutz darf deshalb nicht auf die leichte Schulter genommen werden!« Ins gleiche Horn stößt der ArbeitnehmerInnenschutzexperte der GBH, Andreas Huss: »Dieses Thema muss offensiv angegangen werden. Wir brauchen eine begleitende und verpflichtende betriebliche Gesundheitsvorsorge über das gesamte Arbeitsleben und ein Arbeitsinspektorat, das sich wieder als Kontroll- statt als Beratungsorgan versteht. Für die Beratung gibt es die ArbeitsmedizinerInnen und Sicherheitsfachkräfte. Außerdem müssen die ArbeitgeberInnen in aller Deutlichkeit daran erinnert werden, dass sie gesetzlich verpflichtet sind, für Schutzmaßnahmen zu sorgen, um Arbeitsunfällen und berufsbedingten Erkrankungen bzw. Berufskrankheiten vorzubeugen.«
Bereits vor über 100 Jahren wurden in Österreich die ersten Arbeitsinspektoren eingesetzt, denn schon damals wurde die Notwendigkeit erkannt, gesetzliche Regelungen zum Schutz der arbeitenden Menschen festzulegen, und deren Einhaltung durch eine unabhängige Behörde zu überwachen. Die Arbeitsinspektion ist die größte gesetzlich beauftragte Organisation zur Bekämpfung von Defiziten im Sicherheits- und Gesundheitsschutz bei der Arbeit in Österreich. Sie gewährleistet auch heute den Schutz von Leben und Gesundheit der arbeitenden Menschen durch die Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrags.
Nicht nur beraten, auch strafen
»Zum Arbeitsinspektorat ist zu sagen, dass sie ihre Hack‘n unter den gegebenen Umständen gut machen. Zur Zeit der schwarz-blauen Regierung, wo nicht gerade arbeitnehmerInnenfreundliche Politik betrieben wurde, haben sie es nicht leicht gehabt, aber jetzt sind sie gut unterwegs«, weiß Anton Hiden, und ergänzt: »Es gibt halt zu wenige, aber das war schon unter Kreisky so. Wir wollen eh, dass aufgestockt wird, aber es geht halt politisch nicht durch. Das Arbeitsinspektorat muss weiter das Recht haben, zu strafen, es darf kein ausschließlich beratendes Gremium sein, das würde die ganzen Maßnahmen zahnlos machen. ArbeitnehmerInnenschutz darf kein Orchideenthema sein.«
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Wesentliche Neuerungen im Überblick
ArbeitgeberInnen dürfen nach § 3 ihren ArbeitnehmerInnen nur solche Arbeitsmittel zur Verfügung stellen, die den für sie geltenden Rechtsvorschriften entsprechen. Anhang A listet die Rechtsgrundlagen auf, für die der Vertrauensgrundsatz gilt. Bei Arbeitsmitteln, die nach einer im Anhang A angeführten Vorschrift gekennzeichnet sind, kann davon ausgegangen werden, dass diese den Anforderungen der AM-VO genügen. Neu in den Anhang A aufgenommen wurden die Maschinen-Sicherheitsverordnung 2010 und die Aufzüge-Sicherheitsverordnung 2008.
Auch IngenieurInnen dürfen prüfen
Der Prüferkreis bei Abnahmeprüfungen und wiederkehrenden Prüfungen wurde erweitert, so dürfen z. B. nun auch Ingenieurbüros (Beratende IngenieurInnen) einschlägiger Fachrichtungen für Abnahmeprüfungen herangezogen werden.
Für Autogenschweißgeräte sowie für Bolzensetzgeräte müssen keine schriftlichen Betriebsanweisungen mehr erstellt werden. Dafür muss jedoch unter Berücksichtigung der betrieblichen Gegebenheiten und unter Beachtung der Bestimmungen der Verordnung mindestens einmal jährlich eine nachweisliche Unterweisung über das Verwenden dieser Arbeitsmittel erfolgen.
Bei den Bestimmungen über festverlegte Leitern und Anlegeleitern wurden Änderungen vorgenommen, so müssen z. B. Rückensicherungen von (neuen) festverlegten Leitern nicht mehr aus mindestens drei, sondern aus mindestens fünf vertikal verlaufenden Stäben bestehen.
Die Paragrafen 41 bis 46 (4. Abschnitt) der Verordnung wurden komplett neu gestaltet und erweitert. Neu wurden die Bestimmungen über Ergonomie (§ 41) und Steuersysteme (§ 42) von Arbeitsmitteln aufgenommen. So müssen bei der Gestaltung von Arbeitsmitteln, insbesondere bei den Bedienungseinrichtungen, Bedienplätzen und Schutzeinrichtungen arbeitsphysiologische und ergonomische Erkenntnisse berücksichtigt werden. Bei den Steuersystemen wiederum wird vor allem auf Zuverlässigkeit, Störsicherheit und Schutzmaßnahmen eingegangen.
Die Bestimmungen über Gefahrstellen und Gefahren (§§ 43, 44), Ein- und Ausschaltvorrichtungen (§ 45) sowie Not-Halt-Befehlsvorrichtungen (§ 46) wurden neu strukturiert und an die MSV 2010 angepasst.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Auch wenn einige aus Sicht des ArbeitnehmerInnenschutzes durchaus gerechtfertigten Aspekte nicht umgesetzt wurden, kann die Novelle zur AM-VO als eine notwendige und weitgehend gelungene Anpassung an die sich weiterentwickelnde Technik sowie an andere neue Rechtsvorschriften, insbesondere die MSV 2010, gesehen werden.
Aktuelles zur Arbeitsplatzevaluierung
Seit nunmehr bald 15 Jahren ist der österreichische Arbeitgeber nach § 4 ASchG dazu verpflichtet, die Gefahren in Zusammenhang mit der Arbeit zu ermitteln und zu beurteilen, und entsprechende Maßnahmen festzulegen.
Dieser Prozess wird auch »Arbeitsplatzevaluierung« genannt. Nach § 5 ASchG und der Dokumentationsverordnung (DOK-VO) muss die Evaluierung in sogenannten Sicherheits- und Gesundheitsschutzdokumenten dokumentiert werden.
Auch wenn die Evaluierung Verpflichtung des Arbeitgebers selbst ist, müssen bestimmte Personen verpflichtend bei der Evaluierung beteiligt werden: Sicherheitsfachkraft, ArbeitsmedizinerIn, Betriebsrat und Sicherheitsvertrauenspersonen (wenn es in der Arbeitsstätte keinen Betriebsrat gibt) sind die Personen, die vom Arbeitgeber bei der Durchführung der Evaluierung eingebunden werden müssen. Diesem Personenkreis müssen auch die Dokumente zugänglich gemacht werden.
Sicherheit und Gesundheitsschutz
Ziel der Evaluierung ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz für ArbeitnehmerInnen zu sichern und laufend zu verbessern. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es zu wissen, dass es bei der Evaluierung nicht um die Einhaltung gesetzlicher Mindestforderungen geht. Es geht vor allem um die konkrete Umsetzung von Schutzzielen im Betrieb, wobei unter dem Begriff »Schutzziel« ein unbestimmter Rechtsbegriff zu verstehen ist, der im Einzelfall bewertet und umgesetzt werden muss.
Beispiel für ein Schutzziel (nach § 42 AStV): In jeder Arbeitsstätte muss eine ausreichende Anzahl geeigneter Löschhilfen bereitgestellt sein. Was ist nun ausreichend, was ist geeignet? Wenn dies nicht seitens der Behörde vorgeschrieben ist, ist es Sache der Gefahrenermittlung und -beurteilung, dieses allgemeine Schutzziel umzusetzen.
Die Forderung nach der Durchführung der Evaluierung wird für bestimmte Teilbereiche im ArbeitnehmerInnenschutz noch näher spezifiziert, es sind dies vor allem:
Als Hilfestellung zur Durchführung und Dokumentation wurde von der AUVA in Kooperation mit den Sozialpartnern (AK, ÖGB, WKÖ, IV) bereits vor über zwölf Jahren das Internetportal www.eval.at entwickelt, dessen Herzstück die rund 450 teilweise vorausgefüllten Dokumente für verschiedenste Maschinen, Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe (die sogenannten »Grundevaluierungen«) sind. Eine Grundevaluierung stellt eine Basis für die eigene Evaluierung dar und kann auch als Checkliste (Soll/Ist-Vergleich) verwendet werden. Eine neue intelligente Suchfunktion, die laufend verbessert und verfeinert wird, erleichtert das Suchen von konkreten Dokumenten. Aber auch diverse Leerformulare (z. B. Evaluierung nach MSchG, KJBG oder zur Dokumentation von PSA oder Gefahrstoffen), Checklisten, Betriebsanweisungen sowie ein ArbeitnehmerInnenschutzlexikon sind auf der Seite zu finden.
Diese Internetseite wurde im Som-mer 2010 technisch komplett überholt (»relauncht«) und auch inhaltlich erweitert. Wesentliche Neuerungen sind vor allem die Gefahrstoffdatenbank, die auch REACH und GHS berücksichtigt sowie die Lärm-Expertenversion, die eine Beurteilung und Dokumentation von mehreren Lärmbereichen ermöglicht. Um es mit Karl Farkas zu sagen: Schauen Sie sich das an!
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Durchführung und Dokumentation der Evaluierung:
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20 Prozent der Krankenstandstage
Rund 20 Prozent der Krankenstandstage, so verzeichnet die Statistik, entfallen auf Beschwerden des Bewegungs- und Stützapparates. Probleme mit Muskeln, Nerven und Knochen nehmen zu und sind auch häufigste Ursache für Berufsunfähigkeits- und Invaliditätspensionen. Etwa acht Prozent der Muskel- und Skeletterkrankungen (MSE) sind arbeitsbedingt.
Die direkten betriebswirtschaftlichen Kosten für Entgeltfort- und Krankengeldzahlungen werden auf rund 200 Mio. Euro geschätzt. (Nähere Daten zu den gesamtwirtschaftlichen Kosten mit Schwerpunkt auf die psychischen Belastungen sind der Studie »arbeitsbedingte Erkrankungen 2008« zu entnehmen, die von der AK-Wien und dem Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO durchgeführt wurde.)
Als wissenschaftlich bewiesen gilt, dass schlechte Arbeitsbedingungen und arbeitsbedingte Fehlbelastungen den Bewegungs- und Stützapparat stark beanspruchen - wie sehr, ist im Arbeitsalltag meist gar nicht bewusst. Oft fehlt auch das Wissen, welche konkrete Belastung Beschwerden verursacht. Muskel- und Skeletterkrankungen sind meist mit Symptomen, wie Schmerzen und Bewegungseinschränkungen verbunden, weiß der Facharzt für Orthopädie Martin Pinsger. Sitzende Tätigkeit, manuelle Handhabung von Lasten, wie Heben oder Ziehen, Zwangshaltungen, Vibrationen, Stress und Zeitdruck sind die häufigsten Ursachen.
Die zunehmenden Beschwerden bei Wirbelsäule und Muskeln sind weniger auf »individuelle Risikofaktoren« wie Alter oder Geschlecht zurückzuführen. Vielmehr, so die ArbeitsmedizinerInnen, ist die jahrelange berufliche Fehlbeanspruchung einer der Hauptgründe. Maßnahmen dagegen, so weiß die Medizin heute, müssen immer von der »Belastung des Körpers insgesamt« ausgehen.
Pack’s leichter an
An die sieben Mio. Frauen im Gesundheitssektor heben und bewegen täglich Geräte und PatientInnen mit nicht unerheblichem Gewicht. Zwei Drittel der Beschäftigten, so ergibt eine aktuelle europäische Umfrage, leiden an Rückenschmerzen. Im Handel sind es vier bis fünf Mio. Frauen, die täglich schwere Lasten handhaben.
»Viele ArbeitnehmerInnen bewegen in Summe mehr als zehn Tonnen pro Tag«, berichtet die Ärztin Susanne Pinsger vom Arbeitsinspektionsärztlichen Dienst für Wien, Niederösterreich und Burgenland.
Seit dem Jahr 2000 werden von der Arbeitsinspektion Kampagnen zu Muskel- und Skeletterkrankungen, mit Schwerpunkt manuelle Lasthandhabung durchgeführt. Die erste Kampagne 2000 galt der Beurteilung manueller Lasthandhabung, sprich: jede Beförderung oder Abstützen einer Last, die durch ihre Merkmale oder ungünstige ergonomische Bedingungen die ArbeitnehmerInnen gefährden können. Seither wurden spezifische Methoden entwickelt, um die Beanspruchung, insbesondere des Stützapparates, zu quantifizieren. Aufgrund der erzielten Ergebnisse wurden unter dem Motto »Pack’s leichter an« umfassende Kampagnen zum »richtigen Heben und Tragen« durchgeführt. (Siehe Link zum Arbeitsinspektorat).
Good Practice
Im Verlauf von Kampagnen der Arbeitsinspektion und der Verkehrsarbeitsinspektion zur »manuellen Handhabung von Lasten« wurden zahlreiche »Good Practice«-Beispiele zur Minimierung von Belastungen in den unterschiedlichsten Branchen erfasst und dokumentiert.
»Betriebe mit möglichst systematischer Berücksichtigung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit können neben Arbeitsunfällen auch arbeitsbedingte Erkrankungen - und somit Krankenstände - erheblich senken«, kommentiert Zentral-Arbeitsinspektor Josef Kerschhagl. So wurde etwa in einem Spital die schwere Arbeitssituation allein durch organisatorische Maßnahmen verbessert. Die Bestandsaufnahme bei Evaluierung des Arbeitsumfeldes: Die MitarbeiterInnen hatten Operationsinstrumente zu reinigen und in Instrumentenkisten zu verpacken. Nach der Sterilisation wurden die zwischen 18 bis 24 kg schweren Instrumentenkisten über den Kopf in die Lagerregale einsortiert.
Fazit der ArbeitsinspektorInnen: Die Last wird nicht körpernahe manipuliert. Nach der Reorganisation des Lagers entfallen nunmehr die »Überkopfarbeiten«. Die Instrumente werden nun auf mehrere Kisten aufgeteilt, das Gewicht somit auf cirka 10 bis 15 kg reduziert.
Tipps
Beim Heben mit gebeugtem Rücken werden die Bandscheiben ungleichmäßig und höher belastet. Dies begünstigt Rückenleiden. Beachten Sie: Je stärker der Oberkörper nach vorne geneigt wird, umso größer ist die Belastung der Rückenmuskeln und der Bandscheiben. Um Rückenprobleme zu vermeiden, sollten Sie beim Heben und Tragen von Lasten stets auf eine gerade Haltung achten. Die Bandscheiben werden nicht verformt und gleichmäßig und somit geringer belastet.
Wichtig ist z. B. die Stärkung der Rückenmuskulatur durch häufiges Schwimmen und anderen Ausgleichssport, eine bewusst aufrechte Körperhaltung und das Vermeiden von Übergewicht. Wer schon an Rückenschmerzen leidet, sollte sich über gezielte Übungen von seinem Arzt beraten lassen. Empfehlenswert ist auch der Besuch einer Rückenschule. Am schonendsten für die Gesundheit transportieren sie Lasten unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln. Treppensteiger oder Scherentische entlasten ihren Rücken enorm.
Werden schwere und sperrige Waren transportiert, bewegen Sie sich oft ruckartig. Ruckartige Bewegungen belasten ihre Wirbelsäule sehr. Daher gilt: Wenn es irgendwie geht, holen sie sich Hilfe!
Fassen und Heben der Last:
Die Last niemals ruckartig anheben, sondern den Körper gleichmäßig und langsam aufrichten.
Die Last möglichst körpernah tragen, den Rücken dabei gerade halten.
Tragen sie Lasten möglichst körpernah, denn dadurch wird die Belastungshöhe etwas reduziert. Falls möglich: Verteilen sie die Last auf beide Arme. Halten sie ihren Rücken möglichst gerade.
Denken sie beim Lastentransport daran: Verdrehungen des Oberkörpers und ruckartige Bewegungen erhöhen die Belastung der Wirbelsäule massiv. Wie können sie für Abhilfe sorgen? Indem sie ihre Bewegungsrichtung immer über ein Drehen des ganzen Körpers mit den Füßen ändern (erst die Last heben, dann den ganzen Körper durch Schritte in die Bewegungsrichtung drehen, und dann die Last mit gebeugten Knien und geradem Rücken absetzen).
Neben der Hebe- und Trageweise ist auch die Größe des Gewichtes für die körperliche Belastung von entscheidender Bedeutung. Allerdings bereitet das Festlegen bzw. Beurteilen von Gewichtsgrenzwerten Schwierigkeiten, da viele Einflussgrößen zu berücksichtigen sind, etwa: Alter, Geschlecht, körperliche Statur, körperliche Verfassung der Person, Hubhöhe, Transportweg, Haltezeit, Häufigkeit des Hebens und Tragens.
Wer ständig Büroarbeit leistet und außerdem körperlich untrainiert ist, kann durchaus mit einer Last überfordert sein, die ein an körperliche Arbeit gewohnter Gleichaltriger mit Leichtigkeit handhabt.
Rückenschmerzen und Probleme mit der Wirbelsäule sind kein Sachzwang. Grundvoraussetzung für Maßnahmen ist eine Evaluierung des Arbeitsplatzes, bei der nicht nur die Belastung der Arbeitsumgebung, sondern auch die individuelle Arbeitsfähigkeit berücksichtigt wird, meint Arbeitsmedizinerin Susanne Pinsger.
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Beteiligung der ArbeitnehmerInnen
Auf Basis von EU-Richtlinien sieht das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (§§ 12, 13) vor, dass Sicherheits- und Gesundheitsschutz alle Führungsebenen umfasst und ArbeitnehmerInnen bzw. ihre VertreterInnen über Angelegenheiten des ArbeitnehmerInnenschutzes informiert, angehört und beteiligt werden.
Dies ist vor allem in Betrieben wichtig, in denen es keinen Betriebsrat (BR) gibt. Hier kann der/die ArbeitgeberIn die ArbeitnehmerInnen bei Maßnahmen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes einbeziehen oder mit Zustimmung der ArbeitnehmerInnen SVP bestellen.
Der BR muss Durchführung und Einhaltung der Vorschriften u. a. des ArbeitnehmerInnenschutzes überwachen (§ 89 Z. 3 Arbeitsverfassungsgesetz). Um sich vom aktuellen Stand zu überzeugen, kann er betriebliche Räumlichkeiten, Anlagen und Arbeitsplätze besichtigen.
Dabei muss er den/die ArbeitgeberIn auf Missstände hinweisen und über deren Abstellung beraten. Er kann vom Arbeitsinspektorat eine Kontrolle des Betriebes verlangen. Bei Betriebsbesichtigungen im Zuge behördlicher Verfahren (Bauverfahren, Genehmigung von Betriebsanlagen, Kontrollen durch die Arbeitsinspektion) ist er beizuziehen. Der Betriebsinhaber muss den BR bzw. die SVP über Auflagen, Vorschreibungen, Bewilligungen und behördliche Informationen im ArbeitnehmerInnenschutz informieren.
Der BR achtet, dass ArbeitnehmerInnen zu Gefahren und Schutzmaßnahmen unterwiesen werden:
Der/die BetriebsinhaberIn ist verpflichtet, den BR von jedem Arbeitsunfall unverzüglich in Kenntnis zu setzen.
Über gesetzliche Bestimmungen hinaus können Betriebsvereinbarungen zwischen ArbeitgeberIn und BR abgeschlossen werden, wie Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten, zum Schutz der Gesundheit und zur menschengerechten Arbeitsgestaltung (Arbeitsverfassungsgesetz § 97).
Bei Betriebsänderungen kann der BR durch Mitwirkung an der Gestaltung und Ausführung der geplanten Maßnahmen nachteilige Folgen auf den betrieblichen ArbeitnehmerInnenschutzstandard verhindern oder mildern. Der BR muß angehört werden zu Informationen, die sich aus Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung ergeben, zur Information der ArbeitgeberInnen betriebsfremder ArbeitnehmerInnen über Gefahren, Schutzmaßnahmen und Maßnahmen der Gefahrenverhütung sowie über Erste Hilfe, Brandbekämpfungs- und Evakuierungsmaßnahmen.
Weiters muss mit dem BR über die Bestellung oder Abberufung von Sicherheitsfachkräften, ArbeitsmedizinerInnen sowie von Personen für Erste Hilfe, Brandbekämpfung und Evakuierung beraten werden, außer wenn die beabsichtigte Maßnahme im Arbeitsschutzausschuss behandelt wird. Der BR hat das Recht, das Arbeitsinspektorat zu den Beratungen beizuziehen. Werden solche Beratungen nicht vorgenommen, ist die Bestellung von Sicherheitsfachkräften und ArbeitsmedizinerInnen rechtsunwirksam.
Der/ die BetriebsinhaberIn muss dem BR Unterlagen über Aufzeichnungen und Ergebnisse von Messungen und Untersuchungen (Arbeitsstoffe, Lärm, …), die mit dem ArbeitnehmerInnenschutz in Zusammenhang stehen, zur Verfügung stellen, ihn über Grenzwertüberschreitungen sowie Ursachen und Maßnahmen informieren und Einsicht in Aufzeichnungen und Berichte über Arbeitsunfälle gewähren.
BR und SVP müssen Sicherheits- und Gesundheitsschutzdokumente erhalten.
Der BR kann folgende Befugnisse im ArbeitnehmerInnenschutz an SVP delegieren:
Anhörung bei der Planung und Einführung neuer Technologien zu Auswirkungen der Wahl der Arbeitsmittel und Arbeitsstoffe, der Gestaltung der Arbeitsbedingungen und zu den Einwirkungen der Umwelt sowie Beteiligung bei der Auswahl der persönlichen Schutzausrüstung, der Ermittlung und Beurteilung der Gefahren, der Festlegung der Maßnahmen sowie der Planung und Organisation der Unterweisung. Dieser Beschluss ist den SVP mitzuteilen und wird mit deren Verständigung rechtswirksam.
Zur Verbesserung und Kontrolle der Umsetzung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes ist die Bestellung von SVP in Betrieben ab elf ArbeitnehmerInnen vorgeschrieben.
SVP informieren, beraten und unterstützen ArbeitnehmerInnen und Belegschaftsorgane zu Sicherheit und Gesundheitsschutz. Sie müssen mit Belegschaftsorganen, Sicherheitsfachkräften und ArbeitsmedizinerInnen zusammenarbeiten und sollen auf die Verwendung von Schutzeinrichtungen bzw. die Anwendung von Schutzmaßnahmen achten. Über Mängel sind ArbeitgeberInnen bzw. Sicherheitsfachkraft und BR zu informieren. SVP sollen Vorbild sein - eine wichtige Aufgabe ist, KollegInnen zur Einhaltung der ArbeitnehmerInnenschutzvorschriften und zur Mitarbeit im ArbeitnehmerInnenschutz anzuregen.
Bestellung
Für die Bestellung ist die Zustimmung des BR erforderlich. Wenn es keinen BR gibt, müssen alle ArbeitnehmerInnen über die Bestellung informiert werden. Wenn mindestens ein Drittel innerhalb von vier Wochen Einwände erhebt, muss ein/e anderer/andere ArbeitnehmerIn vorgeschlagen werden. SVP können über Verlangen des BR abberufen werden, wenn es keinen gibt, über Verlangen von mindestens einem Drittel der ArbeitnehmerInnen. Der Arbeitgeber muss die bestellten SVP dem Arbeitsinspektorat melden. Die Meldung leitet das Arbeitsinspektorat an die gesetzliche Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen (Arbeiterkammern) weiter.
Wer kann SVP werden?
Entscheidend für die Tätigkeit ist das Fachwissen zu Sicherheit und Gesundheitsschutz. Der Arbeitgeber muss der SVP Erwerb und Erweiterung der Kenntnisse bei Entgeltfortzahlung ermöglichen. Neu bestellte SVP müssen eine Ausbildung im Ausmaß von 24 Unterrichtseinheiten auf dem Gebiet des ArbeitnehmerInnenschutzes besuchen. Diese bieten z. B. Arbeiterkammern und Gewerkschaften an.
SVP sind in der Erfüllung ihrer Aufgaben weisungsfrei. Durch eine Novellierung des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes werden sie vor Benachteiligung ebenso geschützt wie vor Kündigung und Entlassung.
SVP sind berechtigt, im Sicherheits- und Gesundheitsschutz bei Arbeitgebern sowie zuständigen Stellen Vorschläge für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu machen, und Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln zu verlangen.
ArbeitgeberInnen sind verpflichtet, SVP im Voraus über Ergebnisse von Messungen (z. B. Lärm), Grenzwertüberschreitungen, Aufzeichnungen über Arbeitsunfälle, die beabsichtigte Bestellung und Abberufung von ArbeitsmedizinerInnen sowie von für Erste Hilfe, Brandbekämpfung und Evakuierung zuständigen Personen zu informieren.
SVP sind im Voraus zu Gefahren für Sicherheit und Gesundheit sowie über Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung zu informieren und anzuhören.
Die Mitwirkungsrechte der SVP sind also umfangreich. Wenn es überdies einen BR gibt, sind die Chancen für eine gute Interessenvertretung im ArbeitnehmerInnenschutz sehr gut.
Die Arbeiterkammer bietet unter www.svp.at für Sicherheitsvertrauenspersonen und BetriebsrätInnen wichtige Informationen zum ArbeitnehmerInnenschutz.
Hier finden sie Kurzinfos zu häufig auftretenden Problemen, Broschüren mit ausführlicheren Informationen (z. B. zu Bildschirmarbeit, Arbeitsstättengestaltung oder Stress am Arbeitsplatz) sowie alle Seminartermine.
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Gesundheitsrisiken
Die Minimierung von Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Unfälle und Verletzungen steht traditionell im Zentrum des herkömmlichen ArbeitnehmerInnenschutzes. Die Einschätzung des subjektiven Risikos ist - insbesondere bei Beschäftigten in Arbeitertätigkeiten - teilweise erheblich, wie die folgende Darstellung auf Grundlage des Österreichischen Arbeitsklimaindex1 zeigt: Insgesamt fühlt sich rund jeder/jede vierte ArbeiterIn durch Unfall- und Verletzungsgefahr belastet, in der Baubranche steigt der entsprechende Anteil auf 42 Prozent und im Verkehrssektor sogar auf mehr als die Hälfte (siehe Grafik).
Beschäftigte in Angestelltentätigkeiten müssen sich also weniger vor arbeitsbedingten Verletzungen fürchten, dafür lauern hinter dem Schreibtisch andere Gefahren für die eigene Gesundheit: Die häufigsten Beeinträchtigungen sind etwa Muskelverspannungen im Nacken-, Schulterbereich, unter denen rund sechs von zehn Angestellten leiden, oder Augenprobleme - etwa durch ständige Bildschirmarbeit, von denen in letzter Zeit knapp ein Viertel der Angestellten betroffen waren (Quelle: Österreichischer Arbeitsgesundheitsmonitor IFES/AKOÖ; Welle 1-3/2010).
Schleichende Erkrankungen
Das Risikobewusstsein hinsichtlich derartiger »schleichender« Gesundheitsbeeinträchtigungen durch die Berufstätigkeit ist - etwa im Gegensatz zum Unfallrisiko - eher schwach ausgeprägt: Vielfach werden die wahrgenommenen Symptome nicht den Arbeitsbedingungen zugeschrieben, obwohl sich dieser Zusammenhang statistisch oft klar nachweisen lässt.
Der Täter ist (nicht) immer der Kunde!
In stressigen Arbeitssituationen mit intensiven zwischenmenschlichen Kontakten bleiben Konflikte nicht aus, und nicht immer finden die Beteiligten - Vorgesetzte, KollegInnen und Kunden/-innen - gütliche Lösungen. Dann köcheln derartige Konflikte dahin und belasten das Arbeitsklima oder sie entladen sich im Extremfall in handfester Gewalt.
Im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft vida hat das IFES im Rahmen einer schriftlichen Befragung unter rund 1.800 Beschäftigten in insgesamt 51 Betrieben der Branchen Verkehr, Gesundheit und Tourismus die Wahrnehmung und Betroffenheit von Gewalterfahrungen untersucht - mit folgenden Ergebnissen:
Knapp die Hälfte der Befragten (drei Viertel jener im Sektor Verkehr) waren in der Arbeit schon einmal von Gewalt betroffen. In den meisten Fällen han-delte es sich dabei um verbale Gewalt wie etwa Hänseleien, Verspottungen und diskriminierende Witze bis hin zu Bedrohungen und Einschüchterungen durch Kunden/-innen. Rund ein Viertel insgesamt musste derartiges schon einmal erdulden. Auch von Bedrohungen und Einschüchterungen durch Vorgesetzte sowie Mobbing und Ausgrenzung war zumindest jede/r Zehnte schon einmal betroffen.
Neun Prozent insgesamt und - wieder deutlich über dem Durchschnitt - 26 Prozent im Verkehrssektor waren sogar schon einmal Opfer von Tätlichkeiten und Handgreiflichkeiten.
Viele tun nichts gegen Übergriffe
Sämtliche Gewaltformen gehen in den untersuchten Dienstleistungsbranchen am häufigsten von den Kunden/-innen (Gäste, PatientInnen, Fahrgäste) aus, lediglich in der Gastronomie überschreiten auch Konflikte zwischen den KollegInnen häufiger die Schwelle zu verbaler und handfester Gewalt.
Ein maßgeblicher Befund der Studie ist, dass - je nach Gewaltform - zwischen rund einem Drittel und der Hälfte der Betroffenen nichts gegen die erlittenen Übergriffe unternimmt. Zum Teil liegt das an den vermuteten geringen Erfolgsaussichten bzw. werden derartige unliebsame Erfahrungen als zu geringfügig abgetan - man will ja nicht »zickig« sein! So charakterisieren etwa nur 27 Prozent Hänseleien und Verspottungen sowie 38 Prozent anzügliche oder diskriminierende Witze und Bemerkungen eindeutig als Gewalt.
Ein weiteres Feld der Sicherheit von Beschäftigten ist jenes der personenbezogenen Daten. Die Angestelltengewerkschaft GPA-djp hat 2007 zu diesem Thema eine Aktionswoche veranstaltet und IFES mit einer begleitenden Studie beauftragt, für die eine repräsentative Stichprobe von rund 1.000 Beschäftigten befragt wurde.
Sorglosigkeit im Umgang mit Daten
Demnach gehen die heimischen ArbeitnehmerInnen mit ihren persönlichen Daten im Betrieb eher sorglos um: Der Informationsstand in Bezug auf die personenbezogenen Daten ist eher gering - es herrscht überwiegend das Prinzip »Vertrauen«.
Obwohl etwa nur zwei von zehn wissen, wie lange derartige Daten im Betrieb aufbewahrt werden, haben nur sechs Prozent wenig oder gar kein Vertrauen in den sorgsamen Umgang mit den persönlichen Daten und in die Einhaltung des Datenschutzes.
Aber andererseits haben immerhin 27 Prozent der Befragten das Gefühl, an ihrem Arbeitsplatz über Datenerfassungssysteme kontrolliert zu werden. Das subjektive Risikobewusstsein der Beschäftigten in Bezug auf den betrieblichen Datenschutz ist also (noch) schwach ausgeprägt.
Fokus auf soziale Aspekte
Diese wenigen Beispiele aus jüngeren einschlägigen IFES-Studien zeigen, dass die subjektiven und objektiven Schutzbedürfnisse von ArbeitnehmerInnen den engeren Bereich von Unfallverhütung und Gesundheit am Arbeitsplatz bei weitem überschreiten, und dass die Einrichtungen des ArbeitnehmerInnenschutzes - neben den körperlichen und psychischen - auch die sozialen Aspekte der Integrität von Beschäftigten noch stärker in den Fokus zu nehmen hätten.
1Der Österreichische Arbeitsklimaindex wird von IFES im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich quartalsweise in repräsentativen Stichproben von jeweils ca. 900 Beschäftigten erhoben. Die obige Darstellung basiert auf drei Quartalserhebungen 1-3/2010 mit insgesamt ca. 3.600 Beschäftigten.
Weblinks
Institut für empirische Sozialforschung
www.ifes.at
Der aktuelle Arbeitsklimaindex:
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Man behauptet, die englischen Staatsmänner haben erst in einem Alter von 60 Jahren die größte Leistungsfähigkeit erreicht. Bei den Arbeitern liegt die höchste Leistungsfähigkeit um das 30. Lebensjahr herum. Von 40 Jahren an geht es bergab. Daraus ist zu schließen, dass der Arbeiter mit seinen Kräften Raubbau treibt. … Man betrachtet den Menschen oft als reine Maschine. Man sollte aber bedenken, dass der Mensch eine Maschine besonderer Art ist: Er hat ein Gehirn und seine Arbeitsleistung hängt auch von seinen seelischen Zuständen ab. … Diese »organische« Maschine kennt auch das Gefühl der Ermüdung. Die Ermüdung ist ein Vergiftungsprozess. … Der Mensch braucht Arbeitspausen und freie Zeit, damit diese Giftstoffe beseitigt werden. Gibt man dem Körper diese Erholungszeit nicht, so wird er krank und kann schließlich zugrunde gehen. Man sieht: Arbeitspausen sind für den Körper ebenso wichtig wie die Zufuhr von Nahrung. …
Es lassen sich einige Feststellungen über die Wechselwirkung zwischen Arbeitszeit und Arbeitsintensität machen. Erstens: Die Verkürzung der Arbeitszeit macht es möglich, die Arbeit zu intensivieren. Zweitens: Die Verkürzung der Arbeitszeit gestattet es, die Arbeitsintensität zu steigern ohne Verkürzung des Lebens des Arbeiters. …
Wenn aber die Arbeitszeitverkürzung ohnehin aufgewogen wird durch gesteigerte Leistung, hat dann der Kampf um die kurze Arbeitszeit einen Sinn? O ja, die kurze Arbeitszeit ist für den Arbeiter viel vorteilhafter. Das Leben des Arbeiters beginnt ja erst nach der Arbeitszeit. …
Bis in die achtziger Jahre hat man in Österreich bis zu 14 Stunden gearbeitet … Heute haben wir den Achtstundentag! … Soll man die 48 Stunden in fünf oder sechs Tagen arbeiten? Da bei uns Samstag nur bis Mittag gearbeitet wird, rentiert sich die Anheizung der Dampfkessel nicht. Die Unternehmer sind deshalb dafür, die 48 Stunden in fünf Tagen zu arbeiten. Der freie Samstag entspricht auch den Wünschen der Arbeiter. Zwei freie Tage in der Woche bedeuten, wenn sie richtig verbracht werden, sehr viel für die Gesundheit und kulturelle Weiterbildung des Arbeiters.
Ausgewählt und eingeleitet von Dr. Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
* Otto Bauer: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Mit einer Einleitung von Ernst Winkler und einem Nachwort von Benedikt Kautsky. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1956.
]]>Wenn Arbeit krank macht
So manches, was wir aus den Medien erfahren oder tagtäglich erleben, schlägt uns auf den Magen, wir haben alle unser Packerl zu tragen und schleppen oft schwer daran, aber nicht alle Folgeerscheinungen des Arbeitsalltags fallen unter den ArbeitnehmerInnenschutz. Auch wenn in den vergangenen Jahren geistig-psychische Folgen der Arbeit - wie Burn-out - mit einbezogen werden. Dabei geht es nicht aber nicht nur um Fürsorge für die abhängigen Beschäftigten, sondern auch um jede Menge Geld. Der ArbeitnehmerInnenschutz stand am Anfang des Arbeitsrechts in Österreich. 1842 wurde per Hofdekret die Arbeit von Kindern unter neun Jahren verboten und Arbeitszeitbeschränkungen für ältere Kinder und Jugendliche erlassen. Nicht aus reiner Menschlichkeit, sondern weil der Kaiser später Soldaten brauchen würde. Es waren die Gewerkschaften, die ab 1870 das Arbeitsrecht und den Schutz der arbeitenden Menschen vorantrieben. Und es sind heute noch die Gewerkschaften und Arbeiterkammern, die sich für Belange des ArbeitnehmerInnenschutzes stark machen, z. B. mit der Ausbildung von Sicherheitsvertrauenspersonen.
Die ArbeitgeberInnen nehmen es mit den (SVP) Schutzvorschriften nämlich nicht immer sehr genau. Bei fast jeder dritten von Tausenden Betriebsüberprüfungen durch das Arbeitsinspektorat im Jahr 2009 wurden Übertretungen der ArbeitnehmerInnenschutzvorschriften festgestellt. Und doch: Die Zahl der Arbeitsunfälle ist auf 99.052 gesunken, 98 Menschen haben bei so einem Unfall ihr Leben verloren. Zahlen hinter denen sich oft traurige Schicksale verbergen.
Wem die nicht berühren, den berühren vielleicht die Kosten: 1,5 Mrd. Euro sind der volkswirtschaftliche Schaden, der jährlich durch Arbeitsunfälle erwächst, schätzen ExpertInnen. Gute Gründe Unfallverhütung ernst zu nehmen. Immerhin sind die Arbeitsunfälle seit Inkraftreten des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes 1995 deutlich zurückgegangen.
Ebenso wichtig sind Prävention und Schutz, wenn es um Berufskrankheiten geht. Leider werden noch immer sehr viele arbeitsbedingte Erkrankungen, oft gerade bei »Frauenberufen«, nicht anerkannt.
Zur Ruhe gezwungen
Es sind BetriebsrätInnen, PersonalvertreterInnen und SVP, die sich am Arbeitsplatz um Schutz und Sicherheit der KollegInnen kümmern. Sie haben es nicht immer einfach dabei, denn manche Schutzvorschriften gefallen nicht allen, die sich danach richten müssen.
Ein wichtiges Kapitel im ArbeitnehmerInnenschutz, das nur allzu gerne ausgespart wird, ist die Arbeitszeit. Viel zu viele KollegInnen wollen oder können auf das Extra-Geld durch Überstunden nicht verzichten und arbeiten auch mehr als es ihnen gut tut.
Und manchmal gehöre ich da auch dazu - wenn sich nicht ein Zahn als SVP meldet und mich zur Ruhe zwingt. Denn wie meinte schon Voltaire: »In der einen Hälfte des Lebens opfern wir unsere Gesundheit, um Geld zu erwerben. In der anderen Hälfte opfern wir Geld, um die Gesundheit wiederzuerlangen.« Und das muss nicht sein.
Arbeiten im Freien
Laut dröhnen die Geräte, Baustaub wirbelt auf, aus der Porr-Baustelle am Wiener Praterstern wächst ein bombastischer Komplex - das neue Bürogebäude der ÖBB. Stahl, Glas, über den weiten Hof wölbt sich ein zehn Zentimeter dickes mit Luft gefülltes Plastikdach. Im Frühjahr 2011 sollen die Arbeiten beendet sein. Viele Container rundum, wie überall nahe der Großbaustelle. Die weißen und blauen Quader, kleine Büros und Aufenthaltsräume, prägen Kremsners Leben im Freien in jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Saisonal bedingte Pausen gibt es hier keine. Vor zehn Jahren begannen massive körperlichen Probleme, Bandscheibenvorfall, Kur in Köflach. Eine Operation hat der Maurer abgelehnt: »Die Chance, dass ich im Rollstuhl ende lag bei 50 Prozent. Ich will es nicht riskieren.« Moorpackungen, jede Woche Physiotherapie, traditionelle chinesische Medizin - zwei blaue Gesundheitspflaster kleben an seiner Halswirbelsäule. Mit all seinen Schmerzen wäre Rudolf Kremsner gerne am 1. Jänner endlich in Pension gegangen, doch »pro Monat hätte ich 380 Euro verloren«. Erst 2011 wird er in den verdienten Ruhestand wechseln. Derweil tritt er kürzer, versucht, die schwersten Arbeiten zu meiden.
Rudolf Kremsners 37-jähriger Sohn ist Starkstrom-Monteur. Wie sein Vater hat auch er schon als Jugendlicher zu arbeiten begonnen, die Schule verlassen, um gutes Geld zu verdienen. Die Tochter, 27, ist Chef-Rezeptionistin in Lutzmannsburg - ein fordernder, aber sicherer Job. Denn das Leben am Bau und das Klettern auf Starkstrom-Masten und Sender geht täglich Hand in Hand mit der Gefahr. »Sicher ist es gefährlich, aber mein Sohn reist viel, war sogar in Chile tätig.«
Der Lohn hat auch Rudolf Kremsner in die Baubranche gezogen: »Als ich in den 1970er-Jahren anfing, war es ein Superverdienst, so lange bis der Euro kam - das hat alles verändert.« Doch er ist keiner, der seinen Job schlecht macht, bloß ein Kämpfer für gute Arbeitsbedingungen und die Sicherheit: »Ich setze mich sehr für die Leute ein, aber man braucht einen dicken Schädel, der was aushält. 15 bis 16 Stunden Arbeit pro Tag geht heute nimmer.« Geändert hat sich vieles am Bau, hart ist der Beruf der Maurer, Poliere, Bauschlosser, Zimmermänner und aller anderen auf den Baustellen immer noch. »Heute wird alles mechanisch hinaufgehoben, früher haben wir das Material händisch geschleppt. Richtiges Heben haben wir damals nicht gekannt.«
Besserer ArbeitnehmerInnenschutz
Karl Hold, 58, Sekretär der Gewerkschaft Bau-Holz, ist seit 40 Jahren in der Branche, arbeitete 22 Jahre in der Bauindustrie: etwa auf den Baustellen der UNO-City, Reichsbrücke, Fernwärme und acht verschiedenen U-Bahn-Baustellen.
Was sich beim ArbeitnehmerInnenschutz am Bau gebessert hat, weiß Karl Hold nur zu gut. Bessere Arbeitskleidung, festeres Schuhwerk, geringeres Verpackungsgewicht beim Baumaterial und mehr maschinelle Hilfe bieten eine große Entlastung. »Eine zusätzliche Verbesserung der Situation bringt die Einführung von Sicherheitsingenieuren, die permanent auf Gefahren auf den Baustellen hinweisen, sie dokumentieren und bei Betriebsversammlungen erläutern.« Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz bei den Lehrlingen sind der Gewerkschaft ein besonderes Anliegen: »Lehrlinge sind der Gefahr durch Unerfahrenheit und Risikofreudigkeit weit mehr ausgesetzt, als erfahrene Facharbeiter.«
Im Berufsschulunterricht wird längst vermehrt auf Sicherheitsvorkehrungen am Bau hingewiesen. Unterstützt durch Filmmaterial und praktische Übungen am Bauhof, informieren Gewerkschaftssekretäre, Lehrkörper und AUVA-Beauftragte die Lehrlinge über Gesundheit und Sicherheit: »Maurer und Schalungsbauer nehmen sogar in ihrem dritten Lehrjahr an einer Sicherheitsolympiade teil.« Doch Karl Holds Körper nutzt dieser Fortschritt nichts mehr: Seit 19 Jahren leidet er an Wirbelsäulenproblemen, hatte zwei Bandscheibenvorfälle. Der gelernte Bäcker hat »wegen des Geldes den Beruf gewechselt«. Heute kennt er die Risiken der Baubranche, doch den Bäckern ergeht es nicht anders.
Wenn der Beruf krank macht
Sehr viele ArbeitnehmerInnen erkranken durch ihren Beruf: »Großteils BäckerInnen und FriseurInnen.« Der Rest sind Arbeitsunfälle. Mehlstaub und Hitze sorgen bei BäckerInnen für Allergien und Asthma, Chemikalien schädigen FriseurInnen. Die Folge: teure Umschulungen, plötzlicher Branchenwechsel und Jobsuche. »Schnupperlehren in den Polytechnischen Lehranstalten sind gut, aber man müsste auch Allergietests in den Hauptschulen machen«, fordert Hold. Er denkt auch an tägliche 15 Minuten Lockerungsübungen auf der Baustelle: »Das nützt dem Stützapparat und der Firma, aber es muss bezahlt werden.« Rudolf Kremsner könnte sich für das Turnen begeistern, ist aber schon froh, dass seine Firma sportliche Aktivitäten der Mitarbeiter unterstützt: u. a. Kegeln oder Fußball.
Ein Leben ohne Schmerzen ist zumindest noch den Jungen vergönnt. »Die Lehrlinge kommen heute zu uns und wissen genau, worauf sie körperlich aufpassen müssen. Sie haben mehr Rechte als wir damals, dafür habe ich auch gekämpft«, erklärt Rudolf Kremsner doch zufrieden. Gewerkschaftssekretär Karl Hold: »Sicherheit auf den Baustellen ist vorrangig. Wir sind eng mit der AUVA verbunden, sorgen für Prävention.« Besonderes Augenmerk gilt heute auch dem Sonnenschutz am Bau. In Wien hat die Gewerkschaft mit der AUVA 15 Baustellen besucht, informiert, Sonnencreme Faktor 25 verteilt und Hauttests gemacht. Nach sechs Wochen wurden die Arbeiter wieder vom Hautarzt untersucht. »Die Sonne ist sehr gefährlich, wir arbeiten ständig im Freien und da wollen die Politiker, dass wir bis 65 arbeiten«, ärgert sich Kremsner. Sein größter Wunsch: Bauarbeiter sollen endlich in die Schwerarbeiter-Regelung aufgenommen werden. Denn 72 Prozent aller Bauarbeiter müssen wegen gesundheitlicher Probleme in Invaliditätspension gehen. Nicht nur durch Heben und Tragen werden sie schwer belastet. Bei vielen Bauverfahren werden sie Chemikalien ausgesetzt: Biozide etwa, die in Wandfarben und Dichtungsmassen als Anti-Schimmelmittel-Zusatz Verwendung finden, können langfristig zu allergischen Reaktionen, in drastischen Fällen sogar bis zur Schädigung des Nervensystems führen. Hautleiden gehören zu den häufigsten Berufskrankheiten: Als Reaktion darauf gibt es in der EU seit 2005 nur noch chromatarmen Zement. Damit wurde eine effektive Maßnahme gegen eine der Hauptursachen für die häufige allergische Hauterkrankung Chromatdermatitis - im Volksmund »Maurerkrätze« oder »Zementekzem« - gesetzt.
Die Gewerkschaft Bau-Holz setzt sich intensiv für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein. Gemeinsam mit der Neuen Heimat/GEWOG wurde ein Chemikalienmanagement entwickelt. Etwa 90 Prozent der Lösungsmittel können dadurch am Bau eingespart werden. Bei einem Wohnbauprojekt in der Wiener Roschégasse wurde so der Einsatz von rund 1.000 Kilogramm Lösungsmitteln, die häufig in Klebstoffen, Lacken, Farben, Voranstrichen zugesetzt sind, vermieden. Dies entspricht etwa 31 Tonnen CO2, dem Äquivalent von 230.000 gefahrenen Kfz-Kilometern - etwa sechs Autorunden um den Äquator.
Es bleibt viel zu tun
Gewerkschafter Hold ist oft mit Pensionsanträgen beschäftigt, mit Hilfestellungen für Erkrankte und allen Fragen zur medizinischen Behandlung. So viel sich auch im ArbeitnehmerInnenschutz verändert und verbessert hat, Leidensgenossen wie Kremsner und Hold wissen: Es bleibt noch viel zu tun für Bauarbeiter, BäckerInnen, Lkw-Fahrer, FriseurInnen und zahlreiche Berufsgruppen, deren Jobs schlicht krank machen.
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Gefährliche Partikel
Man muss nicht hoffnungslos altmodisch sein, um sich manchmal zu fragen, wie weit Feinstaub aus Druckern, schlecht gewartete Klimaanlagen, WLAN, permanentes Arbeiten bei künstlichem Licht und last but not least stundenlanges Telefonieren per Handy vielleicht doch die Gesundheit beeinträchtigen. Und ob nicht unter Umständen die Kombination mehrerer (unter den Grenzwerten liegender) Umweltfaktoren über Jahre hinweg doch negative Auswirkungen auf den menschlichen Körper hat.
So hat man jetzt herausgefunden, dass Ausdünstungen von Klebstoffen, Putzmitteln etc. miteinander oder mit Feinstaub reagieren und dann zu ultrafeinen Partikeln werden können, die sich nicht mehr so schnell verflüchtigen. Die Effekte dieser Wechselwirkungen sind noch nicht erforscht, aber generell gilt: je kleiner die Partikel, desto größer die potenzielle Gefahr (v. a. für Lunge, Herz-Kreislaufsystem und Haut).
Punkto Gesundheitsgefährdung durch Feinstaub im Bereich von Laserdruckern, digitalen Kopierern und Faxgeräten ist die Situation seit einiger Zeit ziemlich klar: Partikel von Toner, Aluminiumverbindungen und Ähnlichem können abhängig von der Dosis unter anderem zu Lungentumoren führen. Selbst wenn Feinstaub aus Druckern harmloser ist als die von der WHO als krebserregend anerkannten Dieselpartikel, sollten derartige Geräte in einem eigenen belüfteten Bereich aufgestellt werden. Die Zusammensetzung der Toner ist je nach Hersteller unterschiedlich, das Magazin Öko-Test fand giftige Substanzen selbst in Druckerkartuschen, die mit dem Prüfsiegel »Blauer Engel« gekennzeichnet waren. Viele Geräte setzen auch Ozon frei. Gewisse Vorsichtsmaßnahmen sind daher immer sinnvoll:
Wie so oft gibt es auch beim Raumklima Unterschiede zwischen Theorie und Praxis. Man weiß beispielsweise, dass Klimaanlagen entsprechend eingestellt und regelmäßig gewartet werden müssen, oder wie man richtig lüftet. Laut Arbeitsstättenverordnung (AStV) sollten bei normaler Bürotätigkeit auch im Sommer 25 Grad nicht überschritten werden - entweder durch Klimaanlagen oder durch Ausschöpfung sämtlicher sonst möglicher Maßnahmen. Ideal sind 50 bis 65 Prozent Luftfeuchtigkeit, was auch elektrostatischer Aufladung entgegenwirkt.
Mehr Luft, mehr Leistung
Ein wichtiger Indikator für die Qualität der Raumluft ist der Kohlendioxid-Gehalt. Umweltanalytiker DI Peter Tappler: »Mehrere Menschen in einem schlecht belüfteten Raum, das bedeutet hohe CO2-Werte. Meistens wird unterschätzt, wie rasch es dadurch zu Einschränkungen der Leistungsfähigkeit kommen kann.« Ist der CO2-Wert zufriedenstellend und damit die Belüftung ausreichend, ist auch das Risiko, dass es zu erhöhten Konzentrationen möglicherweise gefährlicher Substanzen kommt, relativ gering. Bei entsprechender Belastung durch Lärm oder möglicher Gefährdung (etwa Bürogebäude auf Industriegeländen) ist laut Arbeitsinspektorat eine kontrollierte mechanische Lüftung vorzusehen. Das Thema Elektrosmog ist derzeit vor allem durch die von der EU favorisierten Energiesparlampen aktuell. Im Gegensatz zu Glühbirnen erzeugen sie auch hochfrequente elektrische Felder. Die Intensität hängt stark von Material und Bauweise ab. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) empfiehlt - auch für Halogenlampen - einen Mindestabstand von 1,5 Metern oder geerdete Leuchten zu verwenden.
Als Elektrosmog wird die Gesamtheit aller technisch verursachten elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Felder bezeichnet. Deren Wirkung auf den Organismus hängt von Schwingung, Frequenz (= Schwingungszahl) und Stärke ab, aber auch von der individuellen Konstitution des Menschen. Statische elektrische Felder sind manchmal daran zu erkennen, dass sich die Haare aufrichten oder durch Entladungen etwa beim Berühren der Türklinke. Durch niederfrequente Felder kann es zu Reizungen von Sinnes-, Nerven- und Muskelzellen kommen. Zahlreiche moderne Technologien nutzen hochfrequente elektromagnetische Felder (Radio und Fernsehen, WLAN, Babyphone, Bluetooth, Mikrowellenherde, Handys usw.). Entscheidend ist hier auch die Stärke des Feldes.
Besser vorbeugen
Selbst wenn die gesundheitliche Gefährdung durch Elektrosmog im Bürobereich bisher nicht bewiesen ist, kann Prophylaxe nicht schaden:
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Informationen zum Schutz vor Elektrosmog:
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Informiert und unterwiesen?
Die Sachlage ist klar: ArbeitnehmerInnen haben die Pflicht zur Mitwirkung zum Gefahrenschutz und zu gefahrenvermeidendem Verhalten. Für die Information über die Gefahren für Sicherheit und Gesundheit ist der Arbeitgeber zuständig. Auch Ronald Zucker ist informiert und unterwiesen worden.
Der Servicetechniker der Firma Schiebel Antriebstechnik ist zuständig für elektrische Stellantriebe. Seiner Arbeit geht er meistens in großen Ölraffinerien nach, wo besondere Sicherheitsbestimmungen gelten. Die 15-minütigen Sicherheitsfilme zu diesen Themen hat er schon oft gesehen. Er kennt seine Vorschriften und hält sich auch daran. Jedoch »es ist so wie überall, es gibt verantwortungsvolle MitarbeiterInnen, die auf eventuelle Mängel, zum Beispiel bei der Kleidung hinweisen, und andere, die Schutzbestimmungen manchmal nicht einhalten«, meint Zucker.
Wer passt auf? Und warum?
Der vom Arbeitgeber eingesetzte Beauftragte legt besonderen Wert auf die Bestimmungen. Eine Nicht-Einhaltung kann auch eine Weisung vom Werk bedeuten. »Weil’s auch eine Förderung für unfallfreie Tage im Werk gibt«, erklärt sich Zucker das Engagement seitens der ArbeitgeberInnen.
Bei bestimmten Arbeiten muss aber auch dieser zusehen, wie sich die Theorie der Praxis fügt: Beim Zuschneiden einiger Metallplatten verhindert die Schutzvorrichtung das Durchführen der Arbeit. So muss sie der Techniker deaktivieren. Und es kann passieren, dass ein Mitarbeiter den Daumen verliert, wie Zucker einmal beobachtet hat.
Für den Maschinenbautechniker ist klar, dass auch die Unternehmen bei den Kosten der Arbeitsausrüstung ansetzen wollen, zum Beispiel bei der Qualität der Arbeitsschuhe. Notdürftig musste er einmal ein kleines Loch seiner Arbeitshose mit Klebeband verschließen. Damit der Beauftragte nicht meckert. Obwohl die ArbeitnehmerInnen informiert sind, kommt es doch zu Unfällen. »Da helfen keine Informationsfilme, denn die Risiken sind klar, aber die Bereitschaft muss von jedem selbst kommen.«
Versuche, die MitarbeiterInnen für Sicherheitsfragen zu sensibilisieren, so wie bei der OMV im Jahr 2008 die »Sicherheitsinitiative 2010+« ins Leben gerufen wurde, sind in den Augen des Servicetechnikers kein Fehler, aber nicht ausschlaggebend. Die konzernweite Initiative, bei der Sicherheits-Coaches beraten und die Arbeiten sicherheitstechnisch überwachen, hat durchaus positives Feedback vom Betriebsrat bekommen. Doch sind die Gründe für die Vernachlässigung des eigenen Schutzes oft banal.
Zu unangenehm ist das Material der Handschuhe, zu lang die Dauer für die Einrichtung des optimalen Arbeitsplatzes oder gar kontraproduktiv. So ist die Vorbildwirkung anderer verantwortungsbewusster MitarbeiterInnen essenziell. Denn die Auswirkungen müssen nicht in einem schweren Arbeitsunfall enden. So kann eine Computertastatur bei falscher Handhabung Probleme mit den Handgelenken auslösen.
Die Macht der Gewohnheit
Bei kleinen Unternehmen ist meist der Arbeitgeber im ausreichenden Ausmaß im Unternehmen anwesend, dass er selbst über die Gefahren aufklärt und die Arbeitsabläufe überwacht. Mit mehr als zehn ArbeitnehmerInnen muss eine Sicherheitsvertrauensperson (SVP) bestellt werden, die in Sicherheitsfragen unterstützt, informiert, berät und mit ArbeitsmedizinerInnen und Sicherheitsfachleuten zusammenarbeitet. Gegen die Gewohnheiten der MitarbeiterInnen ist es jedoch schwer anzugehen. Da kommt es auf das Geschick des Einzelnen an.
Mut zu Selbstaufklärung
Zwar wird die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen durch Arbeitsinspektorate, die dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit unterstehen, kontrolliert, aber das Hauptaugenmerk muss auf der Motivation zur Selbstaufklärung und der Evaluierung eventueller Gefahren liegen.
So sieht das auch Claudia Kretschenberger, Frisörin bei Brigittes Hair Design. Aus eigenem Interesse an ihrer Sicherheit hält sie sich gerne an die Vorschriften. Sie legt Wert auf die richtige Haltung, trägt bequeme Schuhe und auch beim Haare waschen Handschuhe. Sie lässt sich nicht mehr auf Trockenschneiden ein, was früher noch als Arbeitsverweigerung gegolten hätte. Heute, meint sie, sei das aus Hygienegründen nicht mehr erlaubt.
Auch informiert sie sich selbst über mögliche Verbesserungen und technische Entwicklungen in ihrem Berufsfeld. So wie Frau Kretschenberger den Racer gegen das Messer eingetauscht hat, womit sie Schnittverletzungen vermeiden kann.
Und der Hausverstand wird durch die Statistik bestätigt: 70 Prozent des sicherheitswidrigen Verhaltens begründet sich auf bewusstes oder fahrlässiges Handeln gegen bestehende ArbeitnehmerInnenschutzvorschriften, nur 20 Prozent darauf, nur unzureichend informiert oder unterwiesen zu sein. Denn die Pflicht zur Mitwirkung zum Gefahrenschutz (zum Beispiel die Meldung von »Beinahe«-Unfällen) und zu gefahrenvermeidendem Verhalten des/der Arbeitnehmers/in muss genauso ernst genommen werden, wie die Pflicht des/der Arbeitgebers/in zur regelmäßigen Evaluierung der Gefahren und Reaktion auf Meldung von Mängel.
Beratung auf allen Seiten
Die Arbeiterkammer bietet mit einem umfassenden Beratungs- und Servicepaket für ArbeitgeberInnen und -nehmerInnen eine Ansprechpartnerin in Sicherheitsfragen. Auch darf laut Arbeiterkammergesetz eine gemeinsame Begehung des Betriebes oder der Baustelle mit dem Arbeitsinspektorat beantragt werden.
Die besondere Pflicht zur Vermeidung von Verstößen gegen die Arbeitsvorschriften sieht die AK in der Evaluierung von Mängeln nach einer Veränderung im Betrieb, die Bestellung einer geeigneten Sicherheitsvertrauensperson und deren fachliche Ausbildung. Auch sollte die Dokumentation der Arbeitssicherheit nicht nur phasenweise, sondern dauerhaft sein. Dafür sind die ArbeitgeberInnen zuständig, auch wenn sie einen/eine MitarbeiterIn dafür beauftragen, diese Arbeiten für sie zu übernehmen.
Die psychische Belastbarkeit darf zudem nicht außer Acht gelassen werden. 63 Prozent der Arbeitsunfälle sind auf psychisch belastende Arbeitsbedingungen zurückführbar.
Hohes Arbeitstempo und Stress
Besonders im produzierenden Bereich und im Baugewerbe sind ein hohes Arbeitstempo und Stress oft beklagte Übel, denen zum Beispiel mit dem Einsetzen von Arbeitspsychologen/-innen etwas entgegengewirkt werden kann.
Diese Fachkräfte nehmen, bei guten Kenntnissen über Betrieb und MitarbeiterInnen, die soziale Verträglichkeit der Arbeitsbedingungen wahr und können das Arbeitsklima verbessern sowie wichtige AnsprechpartnerInnen für die MitarbeiterInnen darstellen.
Stressmanagement kann den Anfang machen, doch das eigene Verantwortungsgefühl zeigt am Schluss die größte Wirkung.
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Arbeitspsychologie im Betrieb:
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Arbeit&Wirtschaft: Kollege Cerny, Gratulation zum 70. Geburtstag. In den vergangenen 50 Jahren hast du die österreichische Sozialpartnerschaft aufseiten der ArbeitnehmerInnenvertretung mitgeprägt. Schwerpunktthema dieser A&W ist ArbeitnehmerInnenschutz - dazu gehört auch das Thema Arbeitszeit, mit dem du dich intensiv befasst hast.
Josef Cerny: Arbeitszeit war schon immer ein zentrales Thema der Sozialpolitik - sogar ihr Ursprung. Die ersten Arbeitszeitbegrenzungen gab es in der Monarchie, allerdings nicht aus Gründen des Arbeitsschutzes, sondern um wehrfähige Soldaten zu bekommen. Dieses Motiv spielt zwar keine Rolle mehr, aber ArbeitnehmerInnen- und Arbeitszeitschutz sind nach wie vor zentrale Themen der Sozialpolitik. Hier passiert derzeit in vielen Bereichen Verschleierungstaktik, wie die ständig wiederkehrende Diskussion über »Flexibilisierung« - dabei sind rechtliche Möglichkeiten, Arbeitszeiten an die Bedürfnisse der Betriebe und der Branchen anzupassen, in ausreichendem Maße vorhanden. Trotzdem wird immer wieder beklagt, dass das Arbeitszeitrecht zu starr sei und man Flexibilisierungsmöglichkeiten schaffen solle. Inzwischen müsste man draufgekommen sein, dass es dabei einfach um Lohnkürzungen durch den Wegfall von Überstundenzuschlägen geht. Hält man sich vor Augen, dass wir trotz Arbeitszeitverkürzung in den 1970er-Jahren heute bei einer Unmenge von Überstunden stehen und viele ArbeitnehmerInnen bis zu 60 Stunden und mehr in der Woche arbeiten, muss man sagen, unter dem Gesichtspunkt des ArbeitnehmerInnenschutzes wäre eher eine Arbeitszeitverkürzung oder -beschränkung notwendig.
Hauptaufgaben der ArbeitnehmerInneninteressenvertretung sind die Information über die Auswirkungen einer übermäßigen Inanspruchnahme der Arbeitskraft und die Schaffung entsprechender Schutzbestimmungen. Im Arbeitnehmerschutz ist sehr viel Positives. Die Zahl der Arbeitsunfälle ist zurückgegangen, und die Zahlen der Langzeitgeschädigten und Toten sind gesunken. Da ist viel erreicht worden, aber das reicht nicht aus. Es muss auch bei scheinbar kleineren Fragen mehr Bewusstsein bei den KollegInnen geschaffen werden.
Im Übrigen hat das auch volkswirtschaftliche Auswirkungen. Ich finde es geradezu absurd, dass man derzeit über eine Beschränkung der Invaliditätspension nachdenkt und die Leute in Rehabilitation schicken möchte, anstatt darauf zu achten, dass sie während des aktiven Arbeitslebens gesund bleiben, dass der Arbeitnehmerschutz funktioniert, dass die Menschen länger in Arbeit bleiben können und dann - altersgerechte - Arbeitsplätze haben.
Was würdest du in 50 Jahren Engagement für die ArbeitnehmerInnen dieses Landes als deine größten Erfolge sehen?
An und für sich mag ich Rückblicke anlässlich des 70ers nicht so sehr. Das Buch »Zeitenblicke« mit Beiträgen aus verschiedenen Zeiten hat mich aber zu einer Art Rückblick gezwungen. Der hat nur dann einen Sinn, wenn man Schlüsse für künftige Entwicklungen zieht. Nur zurückschauen heißt stehen bleiben; nur nach vorne schauen, ohne zu wissen, woher man kommt, heißt die Orientierung zu verlieren. Nur beides zusammen ergibt Sinn und Anstöße für neue Diskussionen und neue Entwicklungen. So ist das Buch gemeint. Wichtige Ereignisse im Rückblick waren die Sozialpartnerverhandlungen über die Arbeitsverfassung, das Urlaubsrecht, das Abfertigungsrecht - Maßnahmen, die sich unter Sozialminister Gerhard Weißenberg in den 1970er-Jahren entwickelt haben.
Was die AK betrifft, betrachte ich es als wichtigen Erfolg, dass wir Anfang der 1990er-Jahre rechtliche und organisatorische Grundlagen für eine Reform gelegt haben. Bei der Mitgliederbefragung 1996 haben wir die positive Antwort auf diese Reform bekommen und damit den Bestand und den Ruf der AK für die Zukunft abgesichert. Ich glaube, das positive Standing, das die Arbeiterkammern heute haben, geht auf diese Reformen in den 1980er- und 1990er-Jahren zurück.
Wie du richtig sagtest, muss es auch den Blick nach vorne geben. Was sind die großen Themen, die, deiner Einschätzung nach, auf AK und ÖGB zukommen?
Es ist dringend an der Zeit, einen neuen Arbeitnehmerbegriff zu schaffen. Da müssen auch die Gewerkschaften über ihren Schatten springen. Die Differenzen über einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff sind ja eine der Ursachen, dass es bisher nicht zu einer Kodifikation des Arbeitsrechts mit allen Konsequenzen gekommen ist. Jeder Gewerkschaftskongress in den vergangenen 50 Jahren hat diese Forderung erhoben, sie steht in jedem Regierungsprogramm, auch im aktuellen - es ist höchste Zeit, diesen Schritt zu tun.
Notwendig ist auch eine Erneuerung der Arbeitsverfassung in den Bereichen, die den praktischen Gegebenheiten nicht mehr entsprechen. Dazu gehört es meiner Ansicht nach, neue flexiblere Organisationsformen sowie Zusammenschlüsse zwischen Interessenvertretungen zu ermöglichen, in den Betrieben verschiedene Organisationsmöglichkeiten durch Kollektivvertrag neu zu regeln. Da gibt es eine Fülle von Möglichkeiten.
Das ganz große Thema neben Arbeitsrecht und Arbeitsverfassung bleibt die Aufrechterhaltung der sozialen Sicherheit. Wir müssen das Sozialsystem und das Pensionssystem langfristig sichern und weiterentwickeln. Auch der Bereich der Pflege wird in Zukunft mehr und mehr an Bedeutung gewinnen - schon allein aufgrund der demografischen Entwicklung. Das darf nicht als finanzielle Belastung, sondern muss als gesellschaftliche Verpflichtung gesehen werden. Statt Horrorszenarien über die Kosten des Alterns zu verbreiten, sollte man sich darüber freuen, dass die Menschen länger leben. Natürlich verursacht das Kosten, aber die müssen von einer Gesellschaft, die sich zu den Grundwerten Solidarität und soziale Gerechtigkeit bekennt, auch solidarisch getragen werden. Außerdem bietet der Ausbau des Pflege- und Gesundheitssektors auch enorme Chancen für künftige Arbeitsplätze.
Du hast von sozialer Sicherheit gesprochen. Die wird gerne heftig diskutiert mit Schlagworten wie soziale Hängematte.
Ich habe da immer wieder Déjà-vu-Erlebnisse. Solche Diskussionen kenne ich seit mehr als 30 Jahren; wenn man sich die Argumente ansieht, die dabei verwendet werden, dann sind es immer wieder die gleichen: Es hängt alles an der demografischen Entwicklung, man tut so, als wäre die ein Naturgesetz. Natürlich gibt es diese demografische Entwicklung. Aber dass daraus automatisch die Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems folgt, ist ein Schmäh, der nicht zuletzt dazu gedient hat, das Geschäft der Privatversicherungen anzukurbeln. Das Geld muss ja auch für die Sicherung der Pensionen vorhanden sein, wenn sie privat finanziert werden. Will man, dass das Geld vorhanden ist und aufgebracht wird, ist das auch machbar. Die wichtigsten Faktoren für eine langfristige Sicherung des Systems der sozialen Sicherheit sind Beschäftigung, Produktivität und eine gerechte Verteilung der Beiträge. Letztlich ist es immer eine Frage der politischen Wertung und Entscheidung, welche Priorität soziale Sicherheit haben soll.
In deine Zeit als AK-Direktor ist auch der EU-Beitritt Österreichs gefallen - wie stehst du zur EU?
Das Schlagwort von der europäischen Sozialunion ist ein Schlagwort geblieben. Die EU war immer eine Wirtschaftsunion, wirtschaftliche Ziele wie Wettbewerb und Profit sind immer im Vordergrund gestanden. Daran hat auch die neue EU-Verfassung nichts geändert. Es gibt zwar einen Katalog von sozialen Grundrechten darin, aber die stehen auf dem Papier und von einer Umsetzung sind wir weit entfernt. Trotzdem ist in der Sozialpolitik einiges auch positiv zu sehen. Die EU-Vorschriften auf dem Gleichbehandlungssektor haben z. B. auch innerstaatlich dazu geführt, dass das Gleichbehandlungsrecht weiterentwickelt worden ist. Was jetzt geschehen muss ist, dass die gesellschaftliche Realität diesen Rechtsnormen weiter folgt und angepasst wird.
Auch im Arbeitnehmerschutzrecht sind sehr positive Impulse von der EU ausgegangen, aber eben aus wirtschaftlichen Gründen, um die Arbeitskraft der Beschäftigten für die Wirtschaft zu erhalten und nicht, um die Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern. Die EU ist eine Wirtschaftsunion. Wie schwierig dort sozialpolitische Themen zu behandeln und unterzubringen sind, sieht man nicht nur an den Bestrebungen, die Mitbestimmung auf EU-Ebene weiterzubringen. Stichwort Betriebsräte-Richtlinie - das war ein jahrzehntelanger Kampf oder jetzt der Kampf um Neuregelung der Arbeitszeitrichtlinie. All das scheitert immer wieder am Widerstand von Wirtschaftslobbys oder an Staaten, die eine andere Sozialpolitik betreiben, als wir sie uns in der EU wünschen.
Wenn man erreichen will, dass die Menschen die EU nicht nur als anonymen bürokratischen Moloch oder als Hort des Neoliberalismus erleben, muss die immer wieder in Sonntagsreden beschworene »soziale Dimension« der EU endlich realisiert und für die Bürger spürbar werden.
Du warst auch als ArbeitnehmerInnenvertreter in der Grundrechtsreform …
Das ist auch so ein Jahrzehnteprojekt, das bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist - trotz Österreich-Konvent vor einigen Jahren. Es ist von Beginn der Diskussion an darum gegangen, dass es neben den bürgerlichen Grundrechten, die als Konsequenz der bürgerlichen Revolution des 19. Jahrhunderts entstanden sind, keine sozialen Grundrechte gibt. Ich meine damit Grundrechte, die der Bürgerin, dem Bürger Anspruch auf gewisse Leistungen des Staates sichern; nicht nur Freiheitsräume, wie es die bürgerlichen Grundrechte tun. Mitte der 1980er-Jahre hat es so ausgesehen, als ob diese Reform in Österreich tatsächlich zustande käme. Es hat bereits einen ausformulierten und sozialpartnerschaftlich verhandelten Grundrechtskatalog gegeben. Letztlich ist alles dann an einem österreichischen Phänomen gescheitert. Es wurde als politischer Preis dafür verlangt, dass auch der Bestand und die Förderung der Landwirtschaft als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen werden. Nachdem das nicht geschehen ist, ist der ganze Grundrechtskatalog nicht zustande gekommen.
Beim Österreichkonvent hat es aber einige positive Bekenntnisse und sogar Teilergebnisse gegeben - so gibt es seit 2008 eine Garantie der Sozialpartnerschaft und der sozialen Selbstverwaltung in der Bundesverfassung. Aber soziale Grundrechte, wie die Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit, angemessene Arbeitsbedingungen, die seit Jahrzehnten z. B. in der Europäischen Sozialcharta stehen, gibt es in der österreichischen Bundesverfassung nach wie vor nicht. Das wäre eines der größten Projekte der nächsten Zeit, aber dafür braucht man eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Es wäre sehr wichtig, sozialen Rechten ein festes politisches Fundament zu schaffen, damit sie nicht Spielball der Tagespolitik bleiben.
Können wir es uns leisten, solche Grundrechte in der Verfassung zu verankern?
Das ist die alte Diskussion über die Finanzierbarkeit des Sozialstaates. Ich will es nicht auf die Primitivformel mit den Abfangjägern bringen, aber Entscheidungen über die Verwendung des Budgets sind politische Entscheidungen, und da die richtigen Prioritäten zu setzen würde es ermöglichen, soziale Grundrechte auch zu verwirklichen. Das ist letztlich eine Frage der Verteilungspolitik. Allerdings muss man auch vor Illusionen warnen. Wer unter einem Recht auf Arbeit z. B. versteht, dass ihm lebenslang ein bestimmter Arbeitsplatz garantiert wird, der gibt sich einer Täuschung hin. Das kann kein Staat. Was man garantieren kann ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Leistung des Staates für den Arbeitsmarkt, ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen, den Menschen auch Arbeitsplätze anzubieten. Und zwar durch Bildung, durch Umschulung, durch positive Förderung des Arbeitsmarktes. So verstanden würde ein Recht auf Arbeit auch Verpflichtungen des Staates bedeuten für ausreichende Finanzierung zu sorgen.
Wir danken für das Gespräch.
Katharina Klee für Arbeit&Wirtschaft
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Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit
Sowohl Lissabon-Agenda wie auch Europa 2020 sehen zu geringes Wirtschaftswachstum, zurückzuführen auf ein Produktivitätsgefälle gegenüber den wichtigsten Handelspartnern, als das Hauptproblem der EU an. Folgerichtig streben beide Strategien ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum an, was nur durch Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Europa zu erreichen sei. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass man im Jahr 2000 bezüglich der künftigen Wachstumsaussichten übertrieben optimistisch war (»die besten makroökonomischen Perspektiven seit einer ganzen Generation«) und nun, angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise vergleichsweise verzagt wirkt. (»Durch die Krise ist auch die Sicherung des künftigen Wirtschaftswachstums schwieriger geworden.«)
Immerhin wird in Europa 2020 Wirtschaftswachstum nicht als Selbstzweck angesehen, sondern definiert, welchen Prioritäten es dienen soll: Es soll »intelligent« (auf Wissen und Innovation gestützt), »nachhaltig« (ressourcenschonend) und »integrativ« (hoher Beschäftigung und ausgeprägtem sozialen Zusammenhang dienend) sein. Um dies zu erreichen, gibt die Strategie fünf Kernziele vor, deren Erreichung durch sieben Leitinitiativen ermöglicht werden soll. An wichtigen Problemfeldern wurden demografische Entwicklung, Neuordnung der globalen Finanzwirtschaft sowie Klimawandel und Rohstofflage aufgenommen. Ein System von Länderberichten soll die Mitgliedsstaaten stärker in die Verantwortung einbinden. Von der Europäischen Kommission erarbeitete und vom Europäischen Rat beschlossene »Integrierte Leitlinien für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik« sollen ihnen einen Handlungsrahmen für die Formulierung nationaler Strategien und Ziele vorgeben.
Möglichst hohes Wirtschaftswachstum als Priorität einer wirtschaftspolitischen Strategie für Europa wirft drei grundsätzliche Fragen auf: Aus ökonomischer Perspektive, die das Ziel an sich nicht in Frage stellt, jene, wie es erreicht werden soll, aus sozialer jene, wem es zugute kommen soll und vom Standpunkt der Nachhaltigkeit aus, ob hohes Wirtschaftswachstum in der herkömmlichen Form überhaupt noch wünschenswert ist.
Die Kritik aus der ökonomischen und sozialen Perspektive - formuliert auch durch die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen - bemängelt einerseits, dass nach wie vor Wachstumsförderung mit den in den vergangenen Jahrzehnten praktizierten Rezepten der neoliberalen Schule betrieben werden soll. An erster Stelle stehen dabei Budgetkonsolidierung ohne Rücksicht auf konjunkturpolitischen Gestaltungsraum und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsposition, da Wachstumsimpulse primär von Exporten ausgehen sollen. Die Binnennachfrage jedoch, die mit 85 Prozent den überwiegenden Anteil am EU-BIP hat, wird vernachlässigt. Eine starke Exportindustrie ist für jede Volkswirtschaft wichtig. Die ausschließliche Fixierung auf Wettbewerbsfähigkeit hat aber schon dem Euroraum Probleme bereitet. In der Konkurrenz gegenüber Standorten mit weit niedrigeren sozialen Standards, setzt man sich obendrein der Gefahr aus, selbst nach unten nivellieren zu müssen. Soziale Fragen, wie etwa jene von Verteilungsgerechtigkeit und Armutsbekämpfung oder jene nach Qualität der Arbeitsverhältnisse treten so in den Hintergrund.
Berechtigte Vorbehalte
Wie berechtigt solche Vorbehalte sind, zeigt die Entwicklung wichtiger Wirtschafts- und Sozialindikatoren im vorigen Jahrzehnt: Schon vor Ausbruch der Krise im Jahr 2008 war das durchschnittliche BIP-Wachstum in Westeuropa das niedrigste seit den 1940er-Jahren und wurde durch die Rezession 2009 weiter gedrückt. Die höhere Beschäftigungsquote wurde zum größten Teil durch den Zuwachs von atypischen Arbeitsverhältnissen erzielt, also durch Verschlechterung der Bedingungen für die ArbeitnehmerInnen. Die Reallöhne sind im Euroraum nicht gestiegen, die Einkommensverteilung ist ungleicher geworden, die Armutsgefährdung hat zugenommen.
Ein Kapitel besonderer Art stellen die Finanzmärkte dar. Im damaligen Mainstream der Liberalisierer segelnd gab die Lissabon-Agenda eine breite Palette von »Erleichterungen« für die Finanzmärkte vor und negierte dabei vollkommen die Risiken weitreichender Deregulierungen und die Gefahrenpotenziale sich verselbstständigender »innovativer« Finanzprodukte. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist bekannt, davon ist aber in der gemeinsam mit Europa 2020 von der Europäischen Komission vorgelegten Evaluierung der Lissabon-Agenda kaum die Rede, ebensowenig wie von anderen Kollateralschäden. Es wird lediglich eingestanden, dass diese ihre Kernziele (Beschäftigungsquote von 70 Prozent, Forschungs- und Entwicklungsausgaben von drei Prozent des BIP) nicht erreicht habe. Es wird auch konzediert, dass zuwenig Augenmerk auf »jene Elemente, die maßgeblich zur Entstehung der Krise beigetragen haben«, gelegt worden ist.
Auch wenn nach offizieller Diktion der Europäischen Kommission die Lissabon-Agenda einen »wesentlichen Beitrag zum übergeordneten Ziel der nachhaltigen Entwicklung« hätte leisten sollen, gilt hier Ähnliches wie auf sozialem Gebiet: Die Lage ist eher schlechter geworden, was daran abzulesen ist, dass - vom verringerten CO2-Ausstoß abgesehen - sich die meisten wichtigen Umweltindikatoren verschlechtert haben. Auch das sollte zur Erkenntnis führen, dass der zugrunde liegende Wachstumsbegriff nach wie vor zu undifferenziert und Effizienzgewinne im Ressourcenverbrauch zu gering sind, um von Nachhaltigkeit zu reden.
Es hat sich also schon bei der Lissabon-Agenda gezeigt, dass eine Strategie, deren Kern auf ungehinderter Wirksamkeit von Markt und Wettbewerb beruht, mehr Probleme schafft als löst. Daran wird auch Europa 2020 mit seinen Etiketten »integrativ« und »nachhaltig« nichts ändern.
Konstituierender Faktor Solidarität
Statt einfach zu postulieren, dass Wirtschaftswachstum das Maß aller Problemlösungen darstellt, wäre es sinnvoller gewesen, zuerst die Gemeinsamkeiten des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells herauszuarbeiten, und seine Probleme aus einem breiteren Blickwinkel als dem der Wettbewerbsfähigkeit zu analysieren. Dies geschieht im Bericht Projekt Europa 2030 einer Reflexionsgruppe unter Vorsitz des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzales an den Europäischen Rat. Hier findet sich »Solidarität« als konstituierender Faktor, und es wird festgehalten, wie grundlegend das »Gleichgewicht zwischen seiner sozialen und marktwirtschaftlichen Dimension« für Euopa ist. Erst darauf aufbauend sollte man diskutieren, welche Instrumente notwendig sind, um dieses Modell zukunftsfähig zu erhalten. Eines davon wird wohl eine Art von intelligentem, integrativem und nachhaltigem Wachstum sein. Ob dieses allerdings ident ist mit jenem von Europa 2020 darf angezweifelt werden.
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Exzessives Kennzahlensystem
Erfahrene BetriebsrätInnen können ein Lied davon singen: Nirgendwo sonst wurde ein derartig exzessives Kennzahlensystem aufgebaut wie im Shareholder Value-Kapitalismus. Ob es die einlangenden Telefonanrufe sind, die Dauer für deren Bearbeitung, ob es die Zeilen des Programmierers sind, ob es die Anzahl der Kunden/-innen pro KassiererIn ist - alles kann heute gemessen werden. Mit dem Ziel, den Ertragserwartungen der InvestorInnen gerecht zu werden und die kleinste Unternehmenszelle darauf hinzutrimmen. Dabei gilt mehr denn je: Das Kapital ist ein scheues Reh. Die Rendite muss für InvestorInnen mindestens so hoch sein wie die Rendite, die sie erzielen könnten, wenn sie woanders eine entsprechende Veranlagung vornehmen würden. Und alle tanzen - kennzahlengesteuert - nach diesem Takt.
Sobald es allerdings um die gesellschaftspolitische Verantwortung von Unternehmen geht, verblasst dieses Bedürfnis nach einem Erfolgsnachweis durch valide Kennzahlen. Trotz oder vielleicht gerade wegen der grafisch und publizistisch meist recht aufwendig gestalteten Nachhaltigkeitsberichte.
Wer erinnert sich noch an den Vertrag von Lissabon? Die EU sollte zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt gemacht werden - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen«. Weniger bekannt ist, dass nach Meinung der EU die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR) zur Verwirklichung dieses strategischen Zieles erheblich beitragen kann: Zwar bestehe die primäre Auf-gabe von Kapitalgesellschaften darin, Gewinne zu erzielen, gleichzeitig sollten Unternehmen jedoch soziale und ökologische Ziele verfolgen, indem sie soziale Verantwortung in Unternehmensstrategie, Managementinstrumente und Unternehmensaktivitäten einbeziehen. Schon im EU-Grünbuch 2001 wird die CSR der Unternehmen als eine »im wesentlichen« (?) freiwillige Verpflichtung der Unternehmen definiert.
»What’s not measured isn’t done« - sollte es sich bei der sozialen Verantwortung von Unternehmen tatsächlich um einen Managementansatz handeln, so wäre dazu konsequenterweise auch ein entsprechendes Kennzahlen- und Reportingsystem zu entwickeln. Tatsächlich geht die EU in ihrer sogenannten »Modernisierungsrichtlinie« einen Schritt in diese Richtung, indem festgelegt wird, dass die Informationen im Lagebericht (Geschäftsbericht) künftig nicht auf finanzielle Aspekte zu beschränken sind, sondern auch jene ökologischen und sozialen Aspekte einzubeziehen sind, die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses oder der Lage des Unternehmens erforderlich sind. Nach der Übernahme dieser Richtlinie in das österreichische Recht sind seit 1. Jänner 2005 ca. 850 große Kapitalgesellschaften und offenlegungspflichtige Konzerne verpflichtet, u. a. auch Informationen über Umwelt- und ArbeitnehmerInnenbelange in den Lagebericht aufzunehmen.
Sozialberichterstattung im Argen
Was liegt also näher, als die praktische Umsetzung dieser Vorgaben zu überprüfen? Eine von der Arbeiterkammer in Auftrag gegebene Studie sollte deshalb die Nachhaltigkeitsberichterstattung in Österreich evaluieren. Der Einfachheit halber beschränkte sich die Analyse auf »ArbeitnehmerInnenbelange« gemäß der GRI-Dimension »Arbeitspraktiken und menschenwürdige Beschäftigung«. Die dort aufgelisteten Kriterien wurden in ein eigenes Bewertungsschema übersetzt, das dann auf eine Stichprobe von 108 der umsatzstärksten Unternehmen Österreichs nach dem Magazin »trend top 500« angewendet wurde.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass die Sozialberichterstattung österreichischer Kapitalgesellschaften im Argen liegt. Am ehesten wird noch über die Beschäftigungsentwicklung berichtet und - mit einigem Abstand - allgemein über Aus- und Weiterbildung. Detaillierte Einblicke in das Human Capital Management bleiben verwehrt. Auch wird kaum über die Einbeziehung der ArbeitnehmerInneninteressenvertretungen und die Förderung benachteiligter Gruppen am innerbetrieblichen und/oder überbetrieblichen Arbeitsmarkt (Diversität) berichtet.
Beispiele OMV und ÖBB
Wie eine Berichtslegung zu den zuletzt genannten zwei Aspekten aussehen könnte, zeigen folgende Beispiele: Im Nachhaltigkeitsbericht 2008 der OMV AG wird sowohl die Reichweite der Interessenvertretung durch Gewerkschaften, BetriebsrätInnen bzw. der KV-Vereinbarungen sowie der kollektivvertraglichen oder gesetzlichen Regelungen über den Mindestlohn erwähnt. Ebenso wird jener Prozentsatz der Beschäftigten angeführt, der für Mindestankündigungsfristen bei größeren betrieblichen Änderungen oder Umstrukturierungen gilt. Weiters wird über ein Projekt zur Sensibilisierung der Beschäftigten bezüglich ihrer Rechte berichtet. Der Nachhaltigkeitsbericht erwähnt auch die Betriebsvereinbarung der OMV über die Errichtung eines Europäischen Betriebsrates.
Die ÖBB Holding AG führt bereits im Nachhaltigkeitsbericht 2006 an, dass mit Hilfe von Diversity Management auf die vielfältigen Bedürfnisse der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen wie etwa Frauen eingegangen werden soll. Der Bericht erwähnt u. a. eine Seminarreihe und Vernetzungstreffen für Frauen als erste Schritte. Weiters wird darüber berichtet, dass schwerpunktmäßig weibliche Lehrlinge gesucht werden, um das Ziel der Hebung des Frauenanteils auf zehn Prozent bis 2010 verwirklichen zu können, dies kann bereits im heurigen Geschäftsbericht evaluiert werden.
Ein Ranking der Top-10-Unternehmen in Bezug auf die Sozialberichterstattung zeigt, dass kein Unternehmen nur annährend die zu vergebende Höchstpunktezahl erreicht: Angeführt wird die Reihung von der OMV, die immerhin zwei Drittel der Maximalpunkte erzielt, gefolgt von den ÖBB, dem Flughafen Wien und den Österreichischen Lotterien. Lediglich diese vier Unternehmen konnten mehr als die Hälfte der Gesamtpunkte erzielen. Das macht deutlich, dass es großen Aufholbedarf in Bezug auf die Berichterstattung zu den relevanten Indikatoren gibt und es zudem oft an der notwendigen Transparenz für eine Evaluierung fehlt. Das ernüchternde Ergebnis der Studie: Die überwiegende Mehrheit der österreichischen Kapitalgesellschaften kommt dem gesetzlichen Auftrag, nichtfinanzielle Leistungsindikatoren in ihren Bericht aufzunehmen - zumindest was ArbeitnehmerInnenbelange betrifft - nicht nach. Ganz zu schweigen von einer adäquaten Parametrisierung in Form eines Kennzahlensystems.
»What’s not measured isn’t done« - so gesehen fehlt es also an einer gesellschaftspolitisch verantwortlichen Unternehmensführung in Österreich. Deshalb sollten folgende Maßnahmen in Angriff genommen werden:
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Mehr Infos unter:
wien.arbeiterkammer.at/online/page.php?P=68&IP=55414&AD=0&REFP=2990
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Nicht alle sind fair
Nicht alle bieten, was sie eigentlich sollten, nämlich gute, gesetzlich geregelte Bedingungen. »Viele Firmen halten sich nicht an die gesetzlichen Bestimmungen und viele LeiharbeiterInnen haben gerade in der Krise Angst um ihren Arbeitsplatz und nehmen dafür einiges, wie etwa täglichen Arbeitsplatzwechsel oder unrichtige Bezahlung, in Kauf«, weiß Gabi Berger, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der Firma APS (Austrian Personalservice GmbH & Co KG). »Nur so etwa 20 haben einen Betriebsrat. Dabei sollte doch grundsätzlich jeder, der bei einer Zeitarbeitsfirma arbeitet, schauen können, ob die Stundenlöhne stimmen.« Leiharbeit ist gerade in Zeiten sanfter wirtschaftlicher Erholung ein von Unternehmen gerne genütztes Mittel, um kurzfristigen Arbeitskräftebedarf zu decken. In Deutschland wird bald jeder fünfte Arbeitsplatz ein Leiharbeitsplatz sein. Eine ähnliche Entwicklung ist auch für Österreich zu erwarten. Seit 1997 ist die Branche kontinuierlich angewachsen. 2008 hat die Zahl den Höchststand von 80.000 bis 90.000 Beschäftigten erreicht. Mit der Krise schrumpfte der Bereich der Arbeitskräfteüberlassung signifikant. Gerade in der Sparte Industrie - bis 2008 waren dort die meisten LeiharbeitnehmerInnen beschäftigt - war der Einbruch dramatisch. Mehr als ein Drittel wurde nicht weiterbeschäftigt, besonders betroffen ZeitarbeiterInnen in der Metallindustrie, 2009 war mehr als die Hälfte der rund 7.000 Beschäftigten dieser Branche arbeitslos. Demnach ist nicht verwunderlich, dass 90 Prozent der befragten Zeitarbeitskräfte in der Industrie das Risiko arbeitslos zu werden, als sehr hoch einschätzen. Die AK hat deshalb in einer Studie durchleuchtet, wie es um die derzeit etwa 60.000 LeiharbeiterInnen in Österreich steht. Rund 65 Prozent aller LeiharbeiterInnen möchten gar nicht sein, was sie sind, sondern einen festen Arbeitsplatz. Und zur Überbrückung vorerst in einem Leiharbeitsverhältnis zu arbeiten, um später eine feste Anstellung zu bekommen, spielt es nicht oft: Nur jede/r Fünfte hat es zwischen 1997 und 2008 geschafft, am Ende einen festen Arbeitsplatz zu haben. Usus ist vielmehr, dass LeiharbeitnehmerInnen großen saisonalen Einflüssen ausgesetzt sind. Gerade im letzten Quartal des Jahres, in der kalten Zeit also, steigt die Arbeitslosigkeit rapide an und erreicht Höchstwerte von 20 Prozent und mehr. Generell sind ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse in der Leiharbeitsbranche nach einem Monat zu Ende, nur 55 Prozent werden bis zu drei Monaten »gehalten«. Auf zwölf Monate und mehr bringen es nur 22 Prozent der ArbeitnehmerInnen.
Schlampige Verhältnisse
Fast 40 Prozent der LeiharbeiterInnen werden vom gleichen Arbeitgeber immer wieder eingestellt und auch wieder entlassen, wenn es keine Arbeit gibt. Häufig kommt es dann zwischen der Leiharbeitsfirma und den ArbeitnehmerInnen zu einer »einvernehmlichen« Kündigung, nicht selten unter Druck. Ein Facharbeiter verliert dabei gut und gerne bis zu 1.200 Euro pro Kündigung und das oft mehrmals im Jahr. Eine »Unart« - aber bei Überlasser-Betrieben immer beliebter, wie in der Studie festgestellt wird. So kommt es, dass mehr als die Hälfte aller Beschäftigungsverhältnisse einvernehmlich gelöst werden. Auch wenn man die »druckfreien Einvernehmlichen« abzieht, bleibt ein Anteil von 39 Prozent. Die Beliebtheit dieses Instruments liegt schlicht darin, dass damit die Einhaltung der Kündigungsbestimmungen, die Bezahlung von Stehzeiten oder Krankenständen einfach umgangen werden kann. Um die Unterschrift zu bekommen, tendieren manche Zeitarbeitsfirmen dazu, die ArbeitnehmerInnen unter Druck zu setzen. Im Falle eines Krankenstandes wird jeder/m Zehnten, vor allem jenen mit geringem Qualifikations- bzw. Tätigkeitsniveau, eine einvernehmliche Auflösung »angeboten«. Mehr als zwei Drittel stimmten der Auflösung zu.
Zweitbelegschaft im Betrieb
Jeder/jede Vierte der befragten LeiharbeiterInnen ist mit der Bezahlung unzufrieden. Erst recht, wenn der »Leihlohn« mit dem der Stammbelegschaft verglichen wird, sieht knapp die Hälfte der Befragten eine Ungleichbehandlung. Innerhalb eines Betriebes entstehen so regelrechte Zweitbelegschaften. Dass es auch hier zu einer Benachteiligung von Frauen kommt, ist fast so sicher wie das Amen im Gebet: 2007 verdienten 48 Prozent der Männer mehr als 2.000 Euro aber nur 24 Prozent der Frauen. Dabei schlägt durch, dass Leiharbeit vor allem im Bereich von Hilfsarbeiten und angelernten, mittleren Tätigkeiten angesiedelt ist und somit zum niedrigen Lohnniveau beiträgt. Dem zu entkommen, die Qualifikation durch berufliche Weiterbildung im Rahmen ihrer Beschäftigung zu heben, ist für zwei Drittel der LeiharbeiterInnen nicht möglich. Nur etwas mehr als zehn Prozent haben 2008 an einer beruflichen Weiterbildung teilgenommen. Dabei wäre das Interesse groß: Mehr als 40 Prozent der Nicht-TeilnehmerInnen zeigen Interesse daran. Die Leiharbeit wird zum strategischen Management-Instrument, um flexibel zu bleiben und zugleich die Kosten möglichst niedrig zu halten. Spätestens wenn die Unternehmen nach der Krise wieder Personal brauchen, werden sie sich an die Vorzüge der Leiharbeit erinnern und noch stärker darauf zurückgreifen. Ursprünglich sollte sie Unternehmen die Möglichkeit eröffnen, in Boomzeiten und im Fall kurzfristigen Personalausfalls vorübergehend neue Mitarbeiter einzustellen. Inzwischen gehen immer mehr Betriebe dazu über, Leiharbeit als Instrument einer kurzfristigen Absicherung der Kapitalrendite einzusetzen. Absatz- und Kapitalrisiko der Unternehmen wird ausgelagert und den Leiharbeitern »umgehängt«. Benachteiligungen, die nach Regelungen verlangen, weil ihre Beschäftigung so unsicher ist: So wie etwa in Frankreich, wo LeiharbeiterInnen tatsächlich gleichen Lohn und zusätzlich eine »Prekaritätsprämie« in Höhe von zehn Prozent der Bruttolohnsumme erhalten.
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Statistiken sind Argumente
Diese Statistiken (siehe Downloads) sollen die Orientierung erleichtern. Die Tabellen sind wichtige Informationen für InteressenvertreterInnen und jede/n politisch Interessierte/n.
Als Deutscher wundert man sich ...
Roger Baumeister, Architekt aus Konstanz kam zu einem Praktikum nach Wien und wusste bald: Ich gehe wieder! Der passionierte Radfahrer hatte mehr als ein unliebsames Zusammentreffen mit dem Wiener Berufsverkehr und bekam bald mit, dass das Mietrecht in Wien eine ganz besondere Wissenschaft ist: Er wohnte in (unerlaubter - wie sich später herausstellte) Untermiete in einer Gemeindewohnung. »Als Deutscher wundert man sich schon oft über österreichische Besonderheiten, zum Beispiel das komplizierte Mietrecht. Ich glaube auch, dass gesellschaftliche Reformen nicht angegangen werden«, meint Baumeister. Ihn ärgert, dass er zwar Steuern zahlen darf, aber nicht wählen, und dass der Standard als irgendwie linke Zeitung so »piefkefeindlich« ist.
Ingo S. kommt aus Berlin und hat seine Übersiedlung nach Österreich noch keine Sekunde bereut: Er arbeitet bei einem Diskonter und ist mittlerweile Filialleiterstellvertreter. Auf die Frage, ob der denn alles verstehe, was ihm bei der Kasse so zu Ohren kommt: »Ich habe eine Zeit bei einer Freundin im 22. Bezirk gewohnt, und da sind wir auch weggegangen - da hab ich eine harte Schule gehabt, wenn die alten Männer dort so richtig losgelegt haben.« Österreich hat er sich bewusst ausgesucht: »Die Lebensqualität ist in fast allen Belangen besser als in Deutschland und der Sozialstaat funktioniert besser.« Nachsatz: »Noch.« Abgehen tut ihm kaum etwas, von einigen Freunden, die er in Berlin zurückgelassen hat, einmal abgesehen: Berliner Jubiläumspilsen, Zuckerrübensirup und Zitronenteegranulat fehlen ein wenig, ansonsten identifiziert Ingo sich mit seiner neuen Heimat voll: »Klar will ich später die Staatsbürgerschaft.« Anders als andere Deutsche Zuwanderer kennt er den Unterschied zwischen Weckerl und Semmerl ganz genau und lächelt nur noch über die sprachlichen Hürden, die am Beginn zu nehmen waren.
Kamen am Anfang klassische »Schlüsselarbeitskräfte« und später die Ossis in schlecht bezahlte Jobs im Tourismus, so zieht es heute Deutsche aus allen Teilen des Landes nach Österreich: Auf der Homepage www.justlanded.com kann man lesen: »Für deutsche Arbeiter und Angestellte stehen die Chancen gar nicht mal so schlecht, einen Arbeitsplatz in Österreich zu finden ...«
Doch es ist immer noch nicht ganz leicht für Deutsche hier Fuß zu fassen, Baumeister: »In Berlin kann man an einem Abend beim Ausgehen leicht Kontakt bekommen, hier ist das kaum möglich.« Das mag auch daran liegen, dass Deutsche (hier besonders TouristInnen) nach wie vor der Österreicher liebste Hassobjekte sind: Sie lieben unseren Schmäh und die angebliche Gemütlichkeit, und wir verachten sie dafür.
Mit großem Ego ist man netter
Doch nach und nach ändert sich das: Denn wenn das »Fräulein« oder der »Ober« im Stammlokal mit deutscher Zunge spricht, dann ist des Österreichers Ego plötzlich wieder ganz groß: Und mit großem Ego kann man auch ein bisschen leichter nett sein. Und so schaffen die freundlichen deutschen GastarbeiterInnen im Tourismus, in der Pflege oder im Handel, was Millionen TouristInnen nicht geschafft haben: Schön langsam können wir die Deutschen leiden.
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Einwandern, aber richtig:
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Doppelnutzen
Die Finanzierung und die Sicherung der professionellen Arbeit des Integrationshauses ist Jahr für Jahr eine schwierige Aufgabe. Ungefähr 20 bis 25 Prozent des Gesamtbudgets müssen durch die Hilfe von privaten SpenderInnen, Unternehmenskooperationen und Veranstaltungserlöse aufgebracht werden. Das Integrationshaus kann auf vielfältigste Weise unterstützt werden: durch Geld- und Sachspenden, mit der Organisation einer Benefizveranstaltung oder klassischem Sponsoring.
Der PR-Fachmann des Integrationshauses, Nikolaus Heinelt, erklärt, wie Veranstaltungen und Events zum Trademark-Fundraising des Integrationshauses wurden: »Das Veranstaltungskonzept setzte immer auf Doppelnutzen: Also wir bringen unsere Botschaften unter die Leute, und bekommen dabei auch noch Geld für das Integrationshaus. Das hat damals wie heute funktioniert. Da es aber immer mehr an Benefiz-Veranstaltungen gibt, ist es immer schwieriger, neue Veranstaltungen zu etablieren. Daher sind wieder andere Konzepte des Fundraisings gefragt.«
Flagship-Event Flüchtlingsball
Dies kann in kleinem Rahmen, wie zum Beispiel als Basar zur Weihnachtszeit oder als Sommerfest mit Tombola, stattfinden. Konzerte, Theaterveranstaltungen, Sportturniere oder Bälle verursachen dagegen mehr Aufwand und dadurch auch mehr Kosten. Bevor ein Fundraising-Event geplant wird, muss man entscheiden, ob der Nutzen solch einer Veranstaltung im vertretbaren Verhältnis zum Aufwand steht. Zwei Ziele werden verfolgt: Geld einzunehmen, doch das noch wichtigere Ziel liegt darin, die jeweilige Organisation und ihre Anliegen in sichtbarer, ja greifbarer Form darzustellen.
»Der Vorteil ist, dass man den Menschen durch die Veranstaltung direkt etwas zurückgeben kann und auch, in kleinerem Maße, gleich auch Botschaften direkt ans Publikum bringt. Nachteil ist sicher, dass das mit sehr viel - zeitlichem - Aufwand verbunden ist und manchmal erst nach Jahren Früchte trägt«, meint dazu Nikolaus Heinelt. Ein weit verbreitetes Vorurteil bezüglich des Flüchtlingsballs, der als das »Flagship-Event« des Integrationshauses jedes Jahr im Rathaus veranstaltet wird, ist, dass diese Veranstaltung immer die gleichen Leute erreicht, nämlich die, die oft als »Gutmenschen« abqualifiziert werden. Auch da kann laut Nikolaus Heinelt Entwarnung gegeben werden. »Gerade wenn man sich das Publikum bei den verschiedenen Veranstaltungen des Integrationshauses anschaut - Flüchtlingsball, Kabarettgala ›Lachen hilft‹, Weinversteige-rung -, sieht man, dass sehr heterogene Zielgruppen damit angesprochen werden. Also nicht nur die ›üblichen Verdächtigen‹, sondern Menschen, die auch erstmal nur an der Veranstaltung interessiert sind. Und auch beim Response der ›Guten Zeitung‹ sieht man, dass ein sehr breites Publikum angesprochen wird, das vielleicht nur einmal im Jahr darüber liest und dann spendet.« Auch »Die Gute Zeitung« nützt das Integrationshaus, um an Spenden zu kommen. Alljährlich wird die Zeitung in der Vorweihnachtszeit von einem engagierten Team produziert und an alle Haushalte in Wien verteilt. So, wie auch beim Flüchtlingsball, wäre es wahrscheinlich ohne wohlwollende Unterstützung der Stadt Wien schwer, diese erfolgreichen Formen aufrechtzuerhalten. Auf eine Abhängigkeitssituation angesprochen sagt Nikolaus Heinelt nur lächelnd: »Es gibt keine Abhängigkeit von der Stadt Wien, aber eine gute Zusammenarbeit.«
PartnerInnen ÖGB und AK
Für die Geschäftsführerin des Integrationshauses, Andrea Eraslan-Weninger, sind neben der Stadt Wien sowohl der ÖGB wie auch die AK wichtige strategische PartnerInnen. Insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktintegration und Bildung wird in den verschiedensten Projektnetzwerken intensiv zusammengearbeitet. Für kleinere Projekte gibt es auch immer wieder finanzielle Unterstützung.
»Ich kann halt für meinen Bereich nur sagen, dass ÖGB und AK unsere Veranstaltungen regelmäßig als Sponsoren unterstützen, die AK uns ab und an ein Radl als Hauptpreis für die Tombola spendet und sie uns Räumlichkeiten im AK-Bildungszentrum für Veranstaltungen zur Verfügung stellen«, sagt Heinelt.
Die Bevölkerung steht NGOs oft mit höherer Akzeptanz gegenüber und unterstützt diese in ihrem Handeln mehr, als vergleichbare staatliche Organisationen. Dies liegt nicht zuletzt an der fachlichen Kompetenz, der Nähe zu den BürgerInnen und der Effektivität des Handelns bei den NGOs.
Kritische Stimmen
Aber es gibt auch kritische Stimmen, die meinen, dass NGOs dem neoliberalen Anti-Etatismus sehr förderlich sind, dem die Verlagerung staatlicher Aufgaben im Bereich Soziales, Umwelt und Entwicklung an private Träger ein prinzipielles Anliegen ist.
Bei Organisationen, die auf Spenden angewiesen sind, stellt sich auch die Frage, was mit den Spendengeldern tatsächlich passiert, ob sie für den angegebenen Zweck eingesetzt werden. »Das Integrationshaus schaut bei allen Projekten, dass sie so weit über Förderungen und Sponsoren abgedeckt sind, dass der Reinerlös der Veranstaltungen und der Guten Zeitung direkt für die Flüchtlingshilfe eingesetzt werden kann.«
Dabei ist das Integrationshaus beileibe nicht nur eine Servicestelle, auch politisch setzt man sich ein. »Lobbying für unsere Zielgruppe ist ein großer Teil unserer Tätigkeit. Bei Projekten des Integrationshauses, Veranstaltungen und der Öffentlichkeitsarbeit, aber insbesondere auch bei den internationalen Vernetzungen - mit der Ausarbeitung von Vorschlägen, Stellungnahmen und Resolutionen zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Lage von Flüchtlingen und MigrantInnen«, sagt Nikolaus Heinelt. »Wir verbreiten die Botschaften über die klassischen Medien wie Presseaussendungen, Plakate und Flyer, neuerdings auch über social networks wie facebook. Und bis jetzt gab es keinerlei negative Reaktionen auf unsere diversen Veranstaltungen, jeder pickt sich halt das raus, was im taugt.«
Dass die Botschaft, die man transportieren möchte, in dem medialen Trubel untergeht, wie es manche Kritiker dem Lifeball vorwerfen, sieht er nicht: »Beide Veranstaltungen haben erstmal einen sozialen Grundgedanken. Nur Flüchtlinge sind halt immer noch kein ›sexy‹ Thema für die High Society, wo man gesehen werden möchte, während Aids mittlerweile vernünftig diskutiert werden kann. Der Flüchtlingsball gilt halt immer noch eher als politische Veranstaltung, während der Lifeball zum Societyevent wurde. Aber wie gesagt, den sozialen Grundgedanken spreche ich beiden nicht ab.«
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Was war im August 2009 geschehen?
Am 28. Juli 2009 war Almaz’ Halbbruder zusammen mit 81 weiteren Flüchtlingen in einem einfachen Schlauchboot aus Libyen losgefahren. Die 82 kamen mehrheitlich aus Eritrea, wo viele vor der restriktiven Wehrpflicht flüchten, einige stammten aus Äthiopien und kurz vor der Abfahrt kamen noch fünf junge Frauen aus Nigeria an Bord (die bis heute nicht identifiziert werden konnten). Während der anschließenden dreiwöchigen Überfahrt verhungerten, verdursteten oder ertranken 77 von den 82, nur vier junge Männer und eine Frau überlebten. Wann genau ihr Halbbruder starb, weiss Almaz nicht, vermutlich Mitte August. Die toten Körper wurden nie geborgen.´
Nur fünf Überlebende
Immer wieder waren Schiffe an dem kleinen Schlauchboot vorbeigefahren - ohne Hilfe zu leisten, wie es das internationale Seerecht vorschreibt. Erst am 21. August barg die italienische Küstenwache die fünf Überlebenden. Zwei Tage zuvor waren sie bereits von einem Schiff der Marine von Malta angehalten worden. Anstatt sie zu retten, gaben die maltesischen Matrosen den ausgezehrten Flüchtlingen einige Flaschen Wasser, wiesen sie an »nach Hause« zu fahren und ließen sie dann einfach im Stich. Später veröffentlichte die maltesische Marine ein Foto des Gummibootes - als Nachweis, dass die fünf wohlauf und handlungsfähig gewesen waren.
Almaz hatte in jenem Juli Eritrea besucht. Nach ihrer Rückkehr versuchte sie, ihren Halbbruder in Libyen zu kontaktieren. Er sei nicht da, sagte man ihr. Sie insistierte, rief immer wieder an, bis sie schließlich hörte, dass er in einem Boot losgefahren war. Nach einigen Mühen gelang es ihr, mit dem Schlepper zu sprechen. Der versicherte ihr, dass die Flüchtlinge »gerade wohlbehalten in Malta angekommen« seien. Tatsächlich hatte der Schlepper kurz zuvor einen Anruf vom Satellitentelefon erhalten, das man den Flüchtlingen mitgegeben hatte, es war ein Notruf: Der Treibstoff ging zur Neige und der Schlepper riet den Schiffbrüchigen, Malta anzupeilen. Dann brach die Verbindung ab. Almaz kontaktierte den Kölner Flüchtlingsrat, den Suchdienst des Roten Kreuzes, den Malteserorden. Nichts. Weitere Angehörige schlugen unabhängig voneinander Alarm, so auch Esaias* aus England - er vermisste seinen Bruder. Erst nach der Rettung durch die italienische Küstenwache kam die Gewissheit: Almaz’ Halbbruder, Esaias’ Bruder und 75 weitere waren tot. Mithilfe der Organisation Borderline Europe reiste Almaz nach Sizilien und traf die Überlebenden. Die Staatsanwaltschaft in Agrigent erhob Anklage gegen Unbekannt wegen »unterlassener Hilfeleistung« - die kurz nach der Rettung der Fünf routinemäßig erfolgte Anklage wegen des seit einem Jahr in Italien strafrechtlich relevanten Delikts der »illegalen Einreise« wurde nach wenigen Tagen fallen gelassen. Obwohl Oberstaatsanwalt Renato Di Natale sehr vorsichtig meint: »Es kann durchaus sein - ich spreche hier rein theoretisch -, dass italienische oder maltesische Einheiten ein solches Delikt begangen haben«, ist es unklar, ob es zu einem Prozess kommen wird.
Kein Wort aus Malta und Italien
Nach dem Unglück traten die Angehörigen der Opfer miteinander in Kontakt. Sie leben über die ganze Welt zerstreut, sind in Kanada, den USA, in Australien und Europa. Gemeinsam schrieben sie im November 2009 einen Brief an den EU-Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg: »Wir fordern eine Untersuchung hinsichtlich des Versagens der EU-Mitgliedsländer Italien und Malta, um die 77 AfrikanerInnen zu retten, die in den Küstengewässern Europas ertrunken sind.« Darin warfen sie Fragen auf wie: Warum wurde das Flüchtlingsboot trotz moderner Radarsysteme und Satellitenüberwachung nicht entdeckt und gerettet? Und sie stellten fest: »Ihr Leben hätte gerettet werden können, wenn die Flüchtlinge als Menschen und nicht als ›illegale afrikanische ImmigrantInnen‹ betrachtet worden wären.«
Thomas Hammarberg richtete noch Ende August 2009 offizielle Anfragen an Italien und Malta. Von keinem der beiden erhielt er eine befriedigende Antwort. Er wiederholte und veröffentlichte seine Anfrage im Dezember - wieder ohne Ergebnis. Seit vorigem Sommer haben sich auf Almaz Initiative hin weltweit Hunderte Angehörige der Opfer vernetzt. Sie versuchen, die Geschichten und Schicksale der Toten und ihrer zu Hause verbliebenen Familien zu dokumentieren und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Bei der Trauerfeier in Frankfurt trafen sich viele Angehörige erstmals persönlich. Auch Stefan Schmidt reiste zur Gedenkfeier. Der Mitbegründer von Borderline Europe und ehemalige Kapitän des Frachtschiffs «Cap Anamur» hatte 2004 vor der Insel Lampedusa 37 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und war vom italienischen Staat daraufhin wegen Schlepperei angeklagt worden. Erst im Oktober 2009 wurde er freigesprochen. Die fünf Überlebenden selbst konnten nicht an der Feier teilnehmen. Zur Anreise aus Italien fehlten ihnen Geld und die nötigen Papiere.
Das Sterben geht weiter
Seit Mai 2009 kooperieren Italien und Libyen in der Flüchtlingsabwehr, 1.409 Flüchtlinge wurden seither auf hoher See kollektiv abgewiesen, obwohl dies die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet. Diese abgewiesenen Flüchtlinge landen meist in libyschen Lagern. Im Juli 2010 kam es zu einem Eklat: 205 eritreische Flüchtlinge, eingeschlossen im Lager Misratah in Libyen, weigerten sich, sich identifizieren zu lassen - aus Angst abgeschoben zu werden, und aus Sorge um die zurückgebliebenen Angehörigen (in Eritrea wird Flucht mit 2.600 Euro oder Gefängnis bestraft). Aus Strafe für die Rebellion wurden sie misshandelt und in drei Lastwagencontainer gepfercht nach Braq, ein Lager in der Wüste transportiert. Mittlerweile wurden sie freigelassen, sie erhielten die Erlaubnis sich in der Wüstenstadt Sebha drei Monate aufzuhalten und wurden ihrem Schicksal überlassen.
15.000 Tote seit 1988
Allein im Juni, Juli, August starben 57 Menschen auf dem Weg nach Europa, in Ägypten (israelische Grenze), Algerien, Griechenland, Spanien, Italien.
Die Liste ist lang und ähnelt einem Kriegsbulletin. Seit 1988 sind nachweislich mehr als 15.000 Menschen an Europas Grenzen gestorben, die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Zur Erinnerung: An der deutsch-deutschen Grenze beklagte man 300 Tote bis 1989.
*Alle Namen von der Redaktion geändert.
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Migration verändert die Gesellschaft
Dass die Gastarbeiter aus den 1960er-Jahren nicht mehr zurückkehren werden, gehört längst zur Binsenweisheit des politischen Sachverstandes - selbst in der politischen Rechten. Dass Migration eine Gesellschaft verändert, und wie mit diesen Veränderungen umzugehen ist bleibt aber weiterhin Thema hitziger Debatten. Dabei hat sich vor allem der Begriff »Parallelgesellschaft« zu einem Schlagwort entwickelt, mit dem man versucht, die Probleme von Migration und Integration begrifflich zu fassen.
Das reizt natürlich zu Fragestellungen: Haben wir es tatsächlich mit Phänomenen von Parallelgesellschaften zu tun? Wenn ja, welche politischen Konzepte könnten dieses Problem bewältigen? Oder müssen wir uns von den alten Vorstellungen einer kulturell homogenisierten, gemeinsamen Grundwerten verpflichteten Gemeinschaft verabschieden?
Mit dem rhetorischen Angriff auf die Parallelgesellschaft wird vor allem die multikulturelle Sozialstruktur ins Visier genommen. »Ursprünglich wurde der Begriff von dem deutschen Politikwissenschafter Bassam Tibi in die Diskussion eingeführt. Damit hatte er sich polemisch gegen die Krisenerscheinungen des Multikulturalismus gewandt«, erklärt Hildegard Weiss, Professorin am Institut für Soziologie der Universität Wien mit Forschungsschwerpunkt Migration. »Mit dem Konzept wollte er die Bildung von ethnischen Enklaven in einer Gesellschaft aufzeigen. Der Multikulturalismus sei uns über den Kopf gewachsen und am Kippen.«
Doch der Begriff Multikulturalismus ist mehrdeutig - und damit auch die Kritik daran. Denn wenn etwa die politische Rechte von multikultureller Gesellschaft spricht, dann meint sie eigentlich Einwanderungsgesellschaften schlechthin. Der Begriff »Parallelgesellschaft« dient in diesem Zusammenhang vor allem dazu, das Phänomen Migration als solches zu denunzieren.
Ein Teil der sozial- und politikwissenschaftlichen Debatte meint mit Multikulturalismus jedoch etwas anderes. Hier stellt er eine bestimmte ordnungspolitische Alternative von Einwanderungsgesellschaften dar, die von anderen politischen Modellen zu unterscheiden sind. Konkret wird meist das Modell des Multikulturalismus kanadischer Prägung dem Modell des Nationalstaates französischer Provenienz entgegengestellt.
Multikulturelle Gesellschaft
Aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion gibt es Stimmen, die den Multikulturalismus als ein konstitutives Merkmal der modernen - manche mögen auch sagen postmodernen - Gesellschaft schlechthin ansehen und nicht als konkretes ordnungspolitisches Modell. Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Baumann hat dies in dem Text »Making and Unmaking of Strangers« dargelegt. Er sieht im Umgang mit dem Fremden einen Paradigmenwechsel: »Alle Gesellschaften bringen Fremde hervor; aber jede Gesellschaft bringt ihre ganz und gar eigene Art von Fremden hervor … Während die modernen Fremden für die Vernichtung vorgesehen waren und als Markierung für die nach vorn sich verschiebende Grenze der Konstruktion befindlichen Ordnung dienten, sind die postmodernen Fremden - darin besteht freudige oder missgelaunte Übereinstimmung oder Resignation - hier, um hier zu bleiben.«
Während also die politische Rechte die Verallgemeinerung des Multikulturalismus dazu nutzt, Einwanderungsgesellschaften als solches zu kritisieren und den Prozess der Migration als umkehrbar darzustellen, geht es hier darum, den Multikulturalismus als neuartiges Phänomen von modernen Gesellschaften aufzuzeigen, mit dem man einen Umgang finden muss, ob man will oder nicht.
Die im Titel angedeutete Feststellung, dass die GastarbeiterInnen gekommen sind, um zu bleiben, hat somit eine tiefere Bedeutung, die sich auf den ersten Moment noch nicht erschlossen hat. Denn damit haben wir uns nicht nur mit einer sozialen Gruppe auseinanderzusetzen, sondern mit dem gesamten Diskurs darüber, was denn eigentlich das Fremde bedeutet. Der Gastarbeiter der 1960er-Jahre entsprach dem modernen Paradigma des Fremden, der entweder assimiliert oder zurück nach Jugoslawien geschickt wird. Sohn und Tochter des Gastarbeiters hingegen sind mit ganz anderen Problemen und einer ganz neuen Debatte über das Fremde und die multikulturelle Gesellschaft konfrontiert.
Integration oder Spiel mit Differenzen
Diesem postmodernen Fremden wird mit Angst begegnet, die im Begriff Parallelgesellschaft mitschwingt: die Kopftuch-tragende oder gar Burka-tragende Muslima, die nur in türkischen Läden einkauft und der deutschen Sprache kaum mächtig ist. Gerade das Kopftuch und die Burka - und damit der Islam - stehen seit geraumer Zeit im Brennpunkt der Multikulturalismus-Debatte. Dass gerade in Frankreich ein Burka-Verbot beschlossen wurde ist kein Zufall, sondern eng mit dem Konzept des französischen Nationalstaates verknüpft.
Auch die Migrationsexpertin Hildegard Weiss argumentiert, dass für eine Gesellschaft ein gewisser Katalog an Grundwerten verbindlich sein müsste: »Insbesondere der Säkularismus in Europa gehört zu diesen Werten. Die Religion muss in dem Dualismus Öffentlich-Privat dem Privaten zugeordnet werden.«
Während also Weiss durchaus Berechtigung für den Begriff Parallelgesellschaft sieht, gibt es dazu aber auch provokante Gegenstimmen. So meinen deutsche SozialwissenschafterInnen in der Einleitung des Sammelbandes »Was heißt hier Parallelgesellschaft?«: »Die Debatte um die Parallelgesellschaft findet in einer virtuellen, vormodernen Welt der gefühlsmäßigen Orientierung an überkommenen gemeinschaftsgesättigten, gesamtgesellschaftlich angelegten Deutungsmustern statt.«
Die Politik stellt immer wieder neue Konzepte vor, um die angebliche Bedrohung von Parallelgesellschaften abzuwenden. »Die Stadt Wien ist in diesem Bereich wirklich bemüht und kann auf einige erfolgreiche Ideen verweisen«, erklärt Universitätsprofessorin Weiss. Entscheidend für den Erfolg solcher Angebote seien die politischen Grundsätze, denen sie folgen: »Stigmatisierung und Zwang bringen dabei überhaupt nichts, sondern wirken nur kontraproduktiv.«
Auch der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) setzt in diesem Bereich an. »Wir müssen zunächst genauer die Einwanderungsgruppen differenzieren«, erklärt Bernhard Achitz, Leitender Sekretär im ÖGB. »Während sich etwa bei den Schlüsselarbeitskräften kaum Probleme der Integration ergeben, bildet vor allem die Gruppe des Familiennachzuges eine Herausforderung.«
Menschen, die Arbeit hätten, wären demnach durch die berufliche Situation in die Gesellschaft integriert. Dies wäre aber bei den nachgezogenen Frauen und Kindern nicht der Fall, so Achitz. »Dabei spielt die Schule eine entscheidende Rolle. Denn über diese Institution können nicht nur die Kinder, sondern auch die Mütter erreicht werden. Dies wird teilweise auch schon umgesetzt«, so Achitz.
Wie Sisyphos und sein Felsen
Auf politischer Ebene wird also die Hoffnung gehegt, mit einem entsprechenden Bündel an Maßnahmen einen Integrationsprozess einleiten zu können, um so Parallelgesellschaften zu verhindern. Dennoch könnten die Akteure damit einem ähnlichen Schicksal unterliegen wie Sisyphos mit seinem Felsen. Denn unter dem Blickwinkel der postmodernen Differenzgesellschaft, geht es vielmehr um die Steuerung des Spiels mit diesen kulturellen Differenzen, als um die Integration zu einer homogenen Lebenswelt mit für alle verbindlichen Leitwerten.
Weblink
Institut für Soziologie, Universtität Wien:
www.soz.univie.ac.at/forschung/migration-ethnizitaet/
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Arbeiten unter Qualifikationsniveau
In der Gruppe der hochqualifizierten ArbeitnehmerInnen ist Österreich laut OECD-Statistik das Land »mit dem geringsten Anteil« an akademisch ausgebildeten Einwanderinnen, d. h. Österreich liegt mit 11,3 Prozent nach Polen an letzter Stelle. Im Vergleich zu 29 Prozent der österreichischen HochschulabsolventInnen arbeiten ca. 47 Prozent der ausländischen AkademikerInnen häufiger in Jobs, die unter ihrem Qualifikationsniveau liegen. Allein in Wien sind ca. 14.000 MigrantInnen aus Nicht-EWR-Ländern mit Hochschulabschluss nicht adäquat beschäftigt oder gar arbeitslos. In den übrigen Bundesländern sind es zusätzlich ca. 10.000 EinwanderInnen, die sich in derselben Situation befinden.1 Zudem werden qualifizierte Migrantinnen, die als Familienangehörige einreisen und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen bzw. aufgrund der Selbstverständlichkeit der Versorgungsarbeit, von den Statistiken natürlich nicht erfasst.
Bei der Anwerbung von ausländischen Schlüsselkräften wird die Tatsache, dass sich Migrantinnen mit der geeigneten Qualifikation bereits im Land befinden, übersehen, denn etwa die Hälfte der migrantischen Arbeitnehmerinnen besetzen eine Stelle weit unter ihren Qualifikationen oder gehen einer Teilzeitarbeit nach.2 So geht bereits vorhandenes Humankapital verloren (brain waste). Warum diese Verschwendung?
Eine wesentliche Anerkennungsbarriere stellt die unzureichende Informationslage in Bezug auf die komplexen Anerkennungsmöglichkeiten und -zuständigkeiten dar. Dies betrifft nicht nur Antragstellerinnen, sondern ebenso BeraterInnen, ArbeitsvermittlerInnen und Unternehmen. Die mit einer Anerkennung verbundenen Kosten sind ein weiteres Hindernis. Neben den Kosten für Beglaubigungen und Übersetzungen ist eine Nostrifizierungstaxe in der Höhe von derzeit 150 Euro zu leisten. Hinzu treten weitere Gebühren und Verwaltungsabgaben. Oftmals sind im Zuge der Anerkennung Prüfungen zu absolvieren, die wiederum hohe Kosten verursachen.
Wenn die Unterschiede zum österreichischen Studium zu groß sind, kann um Zulassung zum österreichischen Studium angesucht werden. Nach erfolgter Zulassung kann die Anerkennung von Prüfungen aus dem ausländischen Studium, so weit sie den österreichischen gleichwertig sind, erfolgen. Solche Anpassungsqualifizierungen können sich über Monate und Jahre erstrecken, wobei nur die Lehrpläne verglichen werden. Die bereits erworbenen Erfahrungen und Kompetenzen der Migrantinnen werden überhaupt nicht berücksichtigt. Während des Prozesses der Anerkennung müssen die Frauen bzw. ihre Männer alle Kosten tragen, und die Frauen sind gezwungen, einer niedrig qualifizierten Teilzeitarbeit nachzugehen, oder sie müssen die totale ökonomische Abhängigkeit von ihren Männern im Kauf nehmen.
Unsicherheiten und Ängste
Viele von den Einwanderinnen können es sich finanziell oder zeitlich nicht leisten, die Ausbildung im Aufnahmeland zu wiederholen bzw. eine andere gleichwertige Ausbildung zu absolvieren. Arbeit und Familie zu vereinbaren, stellt ein weiteres Problem dar, da das soziale Netz, auf das viele österreichische Frauen im Notfall zurückgreifen können, fehlt.
Aus diesen Gründen entstehen Unsicherheiten und Ängste bei den Frauen, die an Autonomie und Selbstwertgefühl verlieren. In weiterer Folge erschwert sich dadurch ein Eintritt in den Arbeitsmarkt. Eine entsprechende Beschäftigung wird dadurch erschwert, dass in vielen Betrieben die Einwanderinnen mindestens zwei Qualifikationsstufen mehr vorweisen müssen, um die gleiche Position wie Einheimische einnehmen zu können.3 Eine Leitungsposition ist unter diesen Umständen kaum vorstellbar.
Arbeitsmarktpolitische Hindernisse
Arbeitssuchende qualifizierte Migrantinnen werden beim Arbeitsmarktservice (AMS) als »Ungelernte« eingestuft, sofern sie keine Anerkennung ihrer Abschlüsse oder ihrer im Herkunftsland gesammelten Berufserfahrungen vorweisen können. Dementsprechend werden sie auch in inadäquate Jobs vermittelt, obwohl ihr Know-how laut der momentanen Debatte über geregelte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften sehr gefragt wäre.
Die Integrationspolitik zielt auf Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau und unterstützt keinesfalls qualifizierte Frauen. So gibt es kaum Deutschkurse für Fortgeschrittene, um die Sprache zu perfektionieren, obwohl das sehr wichtig wäre, vor allem wenn Frauen einen qualifizierten Job anstreben. Die Perfektionierung der deutschen Sprache ist - mehr als soziale Kompetenz und berufliche Erfahrung - eine Voraussetzung dafür.
Förderungen (z. B. in Form von Stipendien), aber auch spezifische Weiterbildungsangebote, fachspezifische Deutschkurse oder Deutschkurse mit unterschiedlichen Schwerpunkten und auf verschiedenen Niveaus sind notwendig, um die Anerkennung der mitgebrachten formalen Qualifikation zu erzielen.
In Dänemark werden die ausländischen Bildungsabschlüsse gänzlich anerkannt, sofern keine wesentlichen Unterschiede zwischen den ausländischen und inländischen Bildungsabschlüssen bestehen.4 Die Anerkennungsprinzipien basieren auf den Lernergebnissen und nicht auf formalen Abschlüssen. Dieses flexible System verfügt über eine zentrale Koordinationsstelle und unterstützt den Erwerb von Fachwissen bezüglich Anerkennungsprinzipien und -verfahren. Die internationalen Bildungssysteme sind einheitlich dokumentiert, und BeraterInnen, Ämter und ArbeitgeberInnen können sich bei der dafür zuständigen Koordinationsstelle informieren.
Es handelt sich um eine Bewertung und einen Vergleich der Qualifikationen (»Letter of Assessment«) von der Grundschule bis zum Doktoratsstudium. Die Bewertung ist kostenlos und die durchschnittliche Bearbeitungszeit pro Fall beträgt ca. 30 Tage. Da diese Bewertung auch von den ArbeitgeberInnen anerkannt wird, können Einwanderinnen sich schneller am Arbeitsmarkt eingliedern und einen ihren Qualifikationen entsprechenden Job anstreben. Auch Flüchtlinge und Asylwerberinnen können ohne Dokumente eine Bewertung ihrer Qualifikationen beantragen. So können sie ihre Kompetenzen und Berufserfahrungen auch während des Asylverfahrens einsetzen. Migrantinnen haben durch den »Letter of Assessment« leichter Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen.
Status quo in Österreich
Seit kurzem findet eine Diskussion zwischen Politik und Sozialpartner über das Thema »Zuwanderung und Qualifikation« statt. Vertreter der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung verlangen gut ausgebildete MigrantInnen, um dem wachsenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. PolitikerInnen aus den eigenen Reihen möchten den Wünschen der Wirtschaft nachkommen, gestalten allerdings die Rahmenbedingungen so, dass Österreich als Einwanderungsziel für Fachkräfte eher abschreckend ist. Die Arbeiterkammer sieht die Lösung des Problems eher in der besseren Ausbildung der in Österreich lebenden MigrantInnen. Diese Diskussion würde eventuell gar nicht stattfinden, wenn sich Österreich ein Beispiel am dänischen Modell nähme, denn innerhalb kürzester Zeit würden Tausende gut ausgebildete Migrantinnen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und ihre Qualifikationen würden sichtbar werden.
Erwerbstätigkeit ist ein wichtiger Faktor für die soziale Integration (Einkommen, Anerkennung, Kontakte, Selbstbewusstsein). Für die Aufnahmegesellschaft gilt es, die Partizipation dieser Frauen am Arbeitsmarkt zu fördern und insbesondere gut ausgebildeten Arbeitskräften den Zugang zu Stellen zu ermöglichen, die ihren Qualifikationen entsprechen.
1Der Standard vom 7.11.2009: Hoch qualifizierte Migranten - Österreich an letzter Stelle
2Riaño, Yvonne; Baghdadi, Nadia (2006): Hoch qualifizierte Migrantinnen aus Entwicklungsländern in der Schweiz und ihr Wirkpotenzial für die Entwicklung ihrer Herkunftsländer. In: Interdialogos. La Chaux-de-Fonds
3Rommelspacher, Birgit: »Wenn sie so wären wie wir«. Gastvortrag vom 18.12.09. FH St. Pölten
4Bruun Pedersen, Allan: »Recognition of foreign qualifications in Denmark«. Vortrag vom 3.12.09. Wien.
Weblink
VSG-Woman Frauenberatung in Linz:
www.vsg.or.at/woman_angebot.php
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Bildungsstruktur und Qualifikationen
Egal wie man zu kriteriengeleiteten Ansätzen bei der Zuwanderung steht, ist es interessant, einen Blick auf die Bildungsstruktur und die Qualifikationen der in Österreich lebenden Menschen mit Migrationshintergrund zu machen. Daran kann man dann die Fragen anschließen, ob Österreich dieses Potenzial im Sinne einer guten Integrationspolitik auch nützt.
Höchst unterschiedliches Niveau
Im Durchschnitt des Jahres 2009 lebten in Österreich rund 1,5 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, davon etwas mehr als eine Million (1,083) selbst im Ausland geboren.
Das Bildungsniveau all dieser Menschen ist höchst unterschiedlich, und sie sind statistisch sowohl in den höchsten Bildungsabschlüssen (Hochschulabschluss) als auch in niedrigsten (Pflichtschulabschluss) überproportional vertreten.
Betrachtet man im Jahr 2009 die Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren, ergibt sich dazu Folgendes: Hatten damals 13,70 Prozent der ÖsterreicherInnen einen Hochschulabschluss, waren es bei den Menschen mit Migrationshintergrund 17,40 Prozent. Am anderen Rand des Bildungsspektrums verfügten im gleichen Jahr 13,30 Prozent der ÖsterreicherInnen über maximal einen Pflichtschulabschluss, bei den Menschen mit Migrationshintergrund war dieser Anteil mit 31,30 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Der über dem österreichischen Durchschnitt liegende Anteil qualifizierter MigrantInnen ist vor allem auf die Zuwanderung aus der EU, und da vor allem auf die aus Deutschland zurückzuführen. Die deutlich geringer Qualifizierten kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei. Gibt es also unter den Zugewanderten einerseits besonders viele niedrig Qualifizierte, und andererseits viele hoch qualifizierte Personen?
Der Eindruck entsteht leicht aufgrund der österreichischen Situation: Wir haben eine breite mittlere Bildungsebene der Lehr- und Fachschulausbildungen, welche die inländische Bevölkerung seit Jahrzehnten überdurchschnittlich in Anspruch nimmt und abschließt. Dieser Mittelbau ist in Österreich durch gesetzliche Bestimmungen hoch formalisiert und findet in anderen Ländern kaum eine Entsprechung.
Eine Ausnahme bildet die Lehre bzw. die duale Ausbildung, wie wir sie kennen. Sie gibt es in sehr ähnlicher Form auch in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz, zwischen denen es Übereinkommen zur gegenseitigen Anerkennung der Abschlussprüfung gibt. Damit ist die Lehre der am ehesten vergleichbare Ausbildungstyp in Europa. Der Rest der Berufsausbildungen und ihre Abschlüsse sind in Europa und auch anderswo kaum vergleichbar, was die berufliche Anerkennung international so schwierig macht.
Taxler Arzt - Putzfrau Ingenieurin?
Wer hat ihn noch nicht erlebt, den »ausländischen« Taxifahrer, der in seinem Herkunftsland einen vorzüglichen akademischen Abschluss gemacht hat, hier in Österreich aber keine adäquate Beschäftigung findet? Er hat schon alles versucht, erzählt er, aber Österreichs Bürokratie verwehrt die entsprechende Anerkennung seiner Abschlüsse, Quali-fikationen, beruflichen Erfahrungen, Kompetenzen etc.
Was so am konkreten Beispiel in Erscheinung tritt, nennt die Berufsbildung bzw. der Arbeitsmarkt »Dequalifizierung« und liegt dann vor, wenn die Beschäftigung hinsichtlich Anspruch und Bezahlung nicht dem Niveau der Ausbildung oder Qualifikation entspricht.
Eine Befragung der Erwerbstätigen im Jahr 2008 ergab, dass sich damals zehn Prozent der in Österreich Geborenen für ihre aktuelle Beschäftigung überqualifiziert fühlten. Bei jenen mit Migrationshintergrund waren es hingegen 28 Prozent! Dabei waren die Frauen in beiden Gruppen in höherem Ausmaß betroffen: 12 Prozent bei den ÖsterreicherInnen, 32 Prozent bei den Frauen mit Migrationshintergrund.
Insgesamt sind MigrantInnen verglichen mit in Österreich Geborenen knapp dreimal häufiger für ihre Tätigkeit überqualifiziert. Ohne Zweifel bestimmen persönliche Bildungsabschlüsse und Qualifikationen wesentlich die spätere berufliche Entwicklung. Mangelt es den »importierten« Qualifikationen an Qualität oder Anerkennung durch den Arbeitsmarkt?
Berufsanerkennung
Für MigrantInnen ist es eine zentrale Frage, was ihnen der mitgebrachte Ausbildungsabschluss auf dem Arbeitsmarkt oder in der Weiterbildung in Österreich nützt. Können sie damit den gewünschten oder ihren Fähigkeiten adäquaten Arbeitsplatz leichter bekommen? Welche Chancen haben sie, sich in Österreich weiterzubilden? Entscheidend kann sein, ob ihre ausländischen Bildungsabschlüsse in Österreich eine formale Anerkennung erlangen oder nicht. Ohne Zweifel sind die verschiedenen Anerkennungsverfahren in Österreich, und nicht nur bei uns, formal sehr anspruchsvoll; egal, ob es sich um die Nostrifikation von Diplomen (Reifezeugnis oder Hochschuldiplom) handelt oder, im Falle der Ausübung eines reglementieren Berufes, um die Anerkennung der Qualifikation nach der geltenden EU-Anerkennungsrichtlinie (2005/36/EG).
Nur wenige Anerkennungsverfahren
Gesicherte und zentral zugängliche Gesamtdaten über laufende oder abgeschlossene Anerkennungsverfahren in Österreich sind nicht bekannt. Es ist daher der Statistik Austria zu danken, im Rahmen der Arbeitskräfteerhebung 2008 unter anderem Folgendes zu Tage gebracht zu haben:
In Österreich leben 745.000 Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren, die ihre Ausbildung nicht in Österreich abgeschlossen haben. Davon haben sich 131.000 Personen (18 Prozent) um die formale Anerkennung ihrer Ausbildung in Österreich bemüht.
Die übrigen 614.000 (82 Prozent), taten das nicht und begründeten dies folgendermaßen: 512.000 (69 Prozent) gaben an, dass sie für die Ausübung ihres Berufs bzw. ihrer Tätigkeit keine formale Anerkennung brauchten. Die restlichen 102.000 (14 Prozent) nannten andere Gründe, wie den Mangel an Information, Ausübung eines anderen Berufes als des erlernten, kein Interesse, Sprachprobleme, zusätzliche Prüfungen, Zeitmangel sowie Probleme mit dem Nachweis von Dokumenten.
Fazit
Sieben von zehn MigrantInnen haben in der Vergangenheit die formale Anerkennung ihrer Abschlüsse als nicht notwendig erachtet. Sie üben einen Beruf oder eine Tätigkeit aus, die in Österreich nicht reglementiert ist, also ohne besondere Anforderungen an die Qualifikation zugänglich ist. Diejenigen aber, die eine formale Anerkennung brauchen, stehen vor einer existenziellen, weil massiven bürokratischen Hürde. Viele scheuen sie, in dem sie ein Anerkennungsverfahren erst gar nicht anstreben, viele, die es tun, scheitern daran.
Auf der anderen Seite gibt es unter MigrantInnen einen hohen Anteil jener, die sich für ihre aktuelle Tätigkeit als überqualifiziert einstufen. In beiden Fällen wird auf ein fachliches und gesellschaftliches Potenzial verzichtet, das bereits im Land angekommen ist.
Weblink
Statistik Austria: Statistisches Jahrbuch für Migration & Integration,Zahlen. Daten. Indikatoren 2010 www.statistik.at/web_de/services/publikationen/2/index.html?id=2&listid=2&detail=579
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Begabungen fördern
Ein weiteres Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung in Österreich ist die Alterung unserer Gesellschaft - sollen Wohlstandsniveau und Entwicklungsstand erhalten und gesichert werden, darf kein Talent, keine Befähigung von Menschen mehr verloren gehen. Bereits hier wird die zentrale Bedeutung einer auf soziale Inklusion ausgerichteten Bildungspolitik deutlich sichtbar. Denn ein Bildungssystem, das Bildungschancen und soziale Schichtung vererbt, das anstelle von Förderung auf Defizite orientiert ist, das viel zu früh Bildungswegentscheidungen erzwingt und damit über die Entwicklungschancen eines Menschen bereits mit 14 Jahren entscheidet, ist nicht geeignet, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Potenziale so weit wie möglich zu entfalten. Potenziale, die gerade auch für die wirtschaftliche Entwicklung in Österreich wichtiger denn je sind.
Die wachsende soziale und ethnische Heterogenität in den Klassenzimmern ist die Herausforderung für unser künftiges Schulsystem. Die Bildungspolitik hat auf die steigende Anzahl von Menschen mit Migrationshintergrund und die wachsenden sozialen Unterschiede in der Gesellschaft bislang nur unzureichend reagiert. Viele Jugendliche erreichen nur einen Pflichtschulabschluss und nicht ein nach ihren Begabungen mögliches Bildungsniveau und sind daher von der Facharbeit oder Tätigkeiten, die höhere Qualifikationen erfordern, ausgeschlossen. Damit gehen viele Talente verloren, vor allem können Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schwachen Familien und aus Familien mit Migrationsgeschichte ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Die Entwicklung Österreichs hin zu einer Wissensgesellschaft zieht steigende Qualifikationsanforderungen an alle Erwerbstätigen mit sich. Mit steigendem Qualifikationsniveau und umfassenderen Produktivitätsanforderungen an die ArbeitnehmerInnen sinken die Beschäftigungschancen von formal gering Qualifizierten und BildungsabbrecherInnen rapide. Das erhöhte Risiko von Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden sozialen Exklusion führt zu volkswirtschaftlichen Nachteilen und ist eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt.
In diesem Zusammenhang rückt der Anteil der frühen BildungsabbrecherInnen in den Vordergrund. Der Anteil der sogenannten Early School Leavers liegt in Österreich bei 10,1 Prozent (EUROSTAT 2008). Dabei gibt es eklatante Unterschiede nach ethnischer Herkunft. In der IHS-Studie »Early School Leaving in Österreich 2008« (Steiner, Mario 2008) zeigt sich: »Während ›ÖsterreicherInnen‹ einen Anteil früher BildungsabbrecherInnen von nur 4,5 Prozent aufweisen, steigt dieser Anteil innerhalb der zweiten Generation auf 20,8 Prozent und erreicht bei MigrantInnen einen Höchststand von 30 Prozent. Während bei manchen ›MigrantInnen‹ noch vermutet werden kann, dass Bildungszertifikate vorliegen, die in Österreich nicht anerkannt wurden, es sich also bei einigen nur de jure um Early School Leavers handelt, haben Jugendliche, die der zweiten Generation zugerechnet werden, einen Großteil ihrer Bildungslaufbahn im österreichischen Bildungssystem absolviert und kann ihr vorzeitiger Abbruch dem hiesigen System zugerechnet werden.« Daraus lässt sich die hohe soziale Selektivität des österreichischen Bildungssystems in Abhängigkeit von der ethnischen Herkunft mehr als deutlich ablesen.
Gute Ausbildung für alle
Für Österreichs Zukunft ist es wichtig, alle jungen Menschen möglichst so gut auszubilden, dass sie später an einem zunehmend auf Wissen basierendem Wirtschaftsleben voll teilhaben können. Damit wird ein erfolgreicher Bildungsweg ein Schlüssel zur Inklusion am Arbeitsmarkt, und dieser wiederum ist der Schlüssel für die volle soziokulturelle Teilhabe.Die Alternativen sind gesellschaftliche Missverhältnisse, prekäre Erwerbs- und Einkommensverläufe und hohe volkswirtschaftliche Kosten.
Ein Bildungssystem, das inklusiv wirkt, setzt auf die Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten junger Menschen. Es berücksichtigt kulturelle und soziale Unterschiede. Ein inklusiver Unterricht akzeptiert bewusst die Vielfalt aller Kinder und schafft ein schulisches Klima der Anerkennung und Förderung. Es schafft Raum, Fähigkeiten und Fertigkeiten junger Menschen zu entwickeln, setzt sie in die Lage, die Veränderungen sozialer Realitäten der Arbeitswelt erfolgreich bewältigen zu können. Sprachliche und kulturelle Vielfalt wird in so einem Bildungssystem nicht als Problem, sondern als Chance und Mehrwert gesehen.
Dieses Verständnis, Verschiedenheiten sehen, fördern und nutzen zu können, hat zum Beispiel das Toronto District School Board (TDSB) mit beachtenswertem Erfolg umgesetzt. Die Schulbehörde, die für knapp 600 Schulen und mehr als 250.000 SchülerInnen zuständig ist, hat erkannt, dass systemische Veränderungen notwendig sind und verfolgt in ihrer Bildungspolitik einen Ansatz, der Vielfalt als Chance versteht. In manchen Schulen des TDSB erreicht der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund 80 Prozent und mehr, und ein Drittel der SchülerInnen stammt aus den ökonomisch schwächsten Familien. Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass die SchülerInnen der zweiten Generation gleich abschneiden wie ihre gleichaltrigen einheimischen KollegInnen.
Das Gelingen, dass die SchülerInnen mit Migrationshintergrund so gute Erfolge erzielen, ist zu einem Gutteil auf das vom TDSB entwickelte Leitbild, für ein inklusives Bildungssystem, das »Equity Foundation Statement«, zurückzuführen, das Chancengleichheit und die gerechte Teilhabe aller postuliert. Der eigentliche Maßstab für Gerechtigkeit im Schulsystem sind die schulischen Ergebnisse der Kinder. Torontos inklusive Schulkultur baut Brücken zwischen jenen, die leichter lernen, und denen, die Unterstützung brauchen, und setzt auf kontinuierliche Aus- und Weiterbildung ihres Lehrpersonals.
Ein neues Verständnis unserer Schulpolitik muss die Wichtigkeit der frühzeitigen Förderung der Kinder sowie die Unterstützung der Eltern beachten. Gleichzeitig darf die Lernarbeit nicht in die Familien ausgelagert werden. Um positive Rollenvorbilder und einen besseren Zugang zu Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihren spezifischen Themen und Problemen zu finden, sollte die ethnische Vielfalt der Gesellschaft auch im Lehrkörper abgebildet sein. Die Basis für die Neuorientierung unserer Schule soll Förderung, Unterstützung und Kompetenzaufbau anstelle von Selektion und Aussortieren sein.
Paradigmenwechsel ist notwendig
Ein Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik hin zu einer inklusiven, individuelle Begabungen aller fördernden Schule ist dringend notwendig. Denn eine Fortsetzung der derzeitigen Ausrichtung der Bildungspolitik der Defizitorientierung und des Aussortierens ist die größte Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die erfolgreiche Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen vor denen die österreichische Gesellschaft steht.
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Integration auf mehreren Stufen
Um zu verstehen, was in Sachen Integration gut und was schief läuft, sollte man sich die verschiedenen Stufen der Integration vor Augen halten. Soziologen haben diese Stufen benannt: Bei der strukturellen Integration erhalten MigrantInnen und ihre Kinder Zugang zu gesellschaftlichen Positionen. Dazu müssen sie sprachliche Fähigkeiten erwerben und die kulturellen Regeln des Zuwanderungslandes kennen.
Während der kulturellen Integration werden Normen verinnerlicht, und eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wird möglich.
Danach erfolgt die soziale Integration. In diesem Stadium akzeptiert die Aufnahmegesellschaft die Einwanderer auch im privaten Bereich. Die vierte Phase ist die »identifikatorische Integration«. In dieser Phase entwickeln die MigrantInnen und ihre Kinder ein neues persönliches Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft.
Was hier so theoretisch klingt, spielt sich im Leben jedes/r Zugezogenen in jedem Land der Welt ab. Der Unterschied liegt in den Rahmenbedingungen, die die Aufnahmegesellschaft bietet und den Möglichkeiten der Zugezogenen. »In Österreich«, so Kenan Güngör, »funktioniert die ›Integrationsmaschine‹ alles andere als schlecht. Wir leiden auf hohem Niveau«. Das Problem mit der Integration in Österreich ist die Tatsache, dass die Anerkennung für die MigrantInnen fehlt, meint Güngör: »Genau die braucht es aber, wenn Integration glücken soll. Wir sollten sagen: Liebe Leute, ihr seid willkommen und ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Wir investieren in euch und eure Lebensumstände. Und wir erwarten dafür auch etwas.« Zum Beispiel das Erlernen der Sprache. Und dafür muss es auch gute und ausreichende Angebote geben.
Um nicht nur »auf hohem Niveau« zu jammern, ist es hilfreich, sich andere Modelle anzuschauen und der Frage nachzugehen, was Integration für alle Beteiligten erfolgreich machen kann. Seit einigen Jahren bemüht sich die Stadt Basel um ein geglücktes Miteinander zwischen alteingesessenen BaselerInnen und neu zugezogenen Menschen. Die Baseler Integrationspolitik baut auf drei Leitideen auf: Das vorhandene Potenzial der Eigenschaften und Fähigkeiten aller Beteiligter wird als Chance gesehen und genutzt. Die gesamte Bevölkerung ist in den Prozess der Integration einzubeziehen. Und jeder Mensch wird als Individuum gesehen. Das führt dazu, dass neben einem Schwerpunkt auf Spracherwerb auch Abschlüsse, die Menschen im Ausland gemacht haben, anerkannt werden. Eine Praxis, die den MigrantInnen ebenso nützt wie den BaselerInnen. Basel dient mittlerweile als Vorbild für die Integrationsmodelle anderer Städte.
Das Niederländische Modell
Das vielgerühmte »Niederländische Modell« galt jahrelang als Vorbild, muss sich aber zunehmend Kritik gefallen lassen: Die hoch gehaltene Toleranz gegenüber der anderen Lebensweise von ethnischen Minderheiten hatte letztendlich dazu geführt, dass die niederländische Öffentlichkeit die schlechte sozioökonomische Situation einer Vielzahl der in den Niederlanden lebenden MigrantInnen nicht wahrgenommen hat. Konflikte wurden toleriert, aber nicht ausgetragen. Heute fordern zunehmend mehr ExpertInnen und PolitikerInnen einen »ehrlicheren Umgang« mit den durch das Zusammenleben von MigrantInnen entstehenden Problemen: Seit 1998 gibt es in den Niederlanden ein obligatorisches Integrationsprogramm für Neuzuwanderer bei denen Aussicht auf dauerhaften Verbleib besteht.
Schweden hat die Sache von Beginn weg ganz anders angepackt: Es hatte einfach im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Zuwanderungsländern nie eine »Gastarbeiterpolitik«. Schweden ist immer davon ausgegangen, dass die Menschen bleiben werden und hat sich entsprechend verhalten. Eine vergleichsweise offene Zuwanderungspolitik und eine auf Eingliederung ausgerichtete Integrationspolitik gilt trotz einiger Defizite und Probleme als international vorbildlich. SpitzenpolitikerInnen mit Migrationshintergrund sind in Schweden keine Seltenheit. In Schwedens Schulen lernen Kinder von MigrantInnen nicht nur Schwedisch, sondern haben auch das Recht, regelmäßig Unterricht in ihrer Muttersprache zu erhalten - eine Grundvoraussetzung dafür, die Fremdsprache Schwedisch schnell und leicht zu lernen.
Schweden setzt auf Zuzug
Schweden empfängt MigrantInnen unter bestimmten Voraussetzungen mit offenen Armen: Wer in Folge des Familienzuzugs ins Land kommt, darf vom ersten Tag an einer Arbeit nachgehen. Wessen Asylantrag abgelehnt wurde, der kann innerhalb einer bestimmten Frist Arbeit suchen. Findet er eine, kann er Antrag auf Zulassung als Arbeitsmigrant stellen. Die schwedische Regierung geht davon aus, dass Schweden Zuzug braucht, will es keine Probleme mit einer überalterten Gesellschaft bekommen. Heute gibt es Kurse »Schwedisch für Einwanderer/-innen«, die obligatorisch von allen besucht werden müssen, die sich in Schweden niederlassen wollen. Der Kurs wird von der Allgemeinheit bezahlt. Neben der Sprache werden auch Kenntnisse über die schwedische Tradition und Gesellschaftsordnung vermittelt.
Die USA sind, trotz der Diskussion über die ungeregelte Einwanderung aus dem Süden, immer noch stolz, ein Einwanderungsland zu sein. Es wird zwar zunehmend eine strengere Anwendung der Gesetze gefordert, aber der Großteil der Bevölkerung befürwortet ungebrochen den Zugang zu legalem Aufenthaltsstatus für all jene, die sich schon in den USA aufhalten. Neben Familienzusammenführung und arbeitsmarktorientierter Einwanderung finden Zuwanderer/-innen auch in der Diversity Lottery eine Möglichkeit, eines der begehrten US-Visa zu bekommen. Diese Lotterie lost jährlich 55.000 Visa an Personen aus, aus deren Heimatländern in den vergangenen fünf Jahren nicht mehr als 50.000 Menschen eingewandert sind. So sorgen die USA für eine starke Durchmischung der Einwanderer/-innen.
Einen großen Unterschied machen die verschiedenen Staatsbürgerschaftsrechte aus: Während in Europa das Erlangen der Staatsbürgerschaft oft ein langwieriger Prozess ist und selbst Kinder aus gemischten Ehen nicht automatisch ÖsterreicherInnen werden, erhalten alle Menschen, die in den USA geboren werden, automatisch die US-Staatsbürgerschaft.
Wie Integration glücken kann
Welches ist also nun das beste Modell? Unter welchen Umständen kann Integration glücken?
Andrea Eraslan-Weninger, Geschäftsführerin des Integrationshauses in Wien, legt ihr Augenmerk auf die Sprache: »Österreich ist ein monolinguales Land, das Ziel sollte Mehrsprachigkeit sein. Dann kann jeder seinen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft finden.« Und in einem Punkt sind sich Kenan Güngör und Andrea Eraslan-Weninger einig: »Das Problem ist vielmehr ein soziales, als ein ethnisches.« Eraslan-Weninger: »Jede/r braucht einen Job, von dem man gut leben kann.« Güngör: »Wir ethnisieren sehr viele Probleme. Das ist aber der falsche Weg.« Auf der anderen Seite darf man Menschen aus der Mehrheitsbevölkerung ihre (manchmal auch schlechten) Erfahrungen nicht »wegnehmen«, indem sie kleingeredet oder negiert werden. Viel wird, so Güngör, durch die Art wie hauptsächlich PolitikerInnen und JournalistInnen über das Thema sprechen, kaputt gemacht.
Mehr Eigenverantwortung
Wenn die Anerkennung fehlt, kann Integration nicht glücken. »Diese Missliebigkeit wirft uns gut dreißig Jahre zurück.« Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben, ein Leben in größtmöglicher Eigenverantwortung zu führen, und ihr Leben souverän zu gestalten. Und: »Wir dürfen die Opfermentalität der MigrantInnen nicht verstärken.«
Weblink
Kenan Güngörs Büro [difference:]
www.think-difference.org
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Heimat: Kosova
Mittlerweile ist in Österreich das Amselfeld »Kosovo polje« - dank Arigona - recht bekannt. Im 14. Jahrhundert gab es dort große Schlachten. Gewonnen haben die Türken, die in der Folge bis vor Wien kamen. Kosova blieb über 400 Jahre ein Teil des osmanischen Reichs. Während von den damals katholischen Albanern die überwiegende Mehrheit islamisiert wurde, blieben trotz Unterdrückung und Verfolgung rund zehn Prozent christlich. Sie flüchteten in die Berge Nordalbaniens - und behielten dort ihre Religion und Kultur. Dieser kleinen Minderheit gehört auch meine Familie an. In den Balkankriegen am Beginn des 20. Jahrhunderts zerfiel das osmanische Reich, Albanien wurde unabhängig, Kosova ein Teil Serbiens. Es folgten die zwei Weltkriege, Kosova wurde zuerst von italienischen und danach von deutschen Truppen besetzt. 1945 marschierten die Deutschen ab und die Tito-Partisanen ein, was in meiner Heimatstadt Prizren dazu führte, dass der Bürgermeister samt Gemeinderat am Hauptplatz aufgehängt wurden. Sie hätten mit dem Feind »kollaboriert« wurde den Kosovo-Albanern mitgeteilt - und ab jetzt seien sie BürgerInnen der »Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien«.
Während erste Verwandte unserer Minderheit verhaftet wurden und in Umerziehungslager kamen - noch heute kann man die Insel »Goli-Otok« rund 20 km südlich von Senj besuchen, wo »politische Gefangene« gefoltert wur-den -, wagten andere, um Haft und Folter zu entgehen, eine erste Flucht bei Nacht und Nebel an die Adria-Küste. Zwar blieben Häuser und Geschäfte zurück - aber mit ihrem zähen Überlebenswillen und ihrem Geschäftssinn betreiben viele Kosovo-Albaner bis heute ihre Silberschmiede-Läden an der Adria.
Push’n Pull
In den 70er-Jahren trug eine Grazer In-Disco diesen Namen. Unser Jugendproblem war meist, die Stunden zwischen vier Uhr früh - wo die Disco zusperrte - und sechs Uhr durchzubringen, wo das Buffet in der Sporgasse aufsperrte. Manchmal halfen die Parkbänke auf dem Grazer Schlossberg. In der Migrationsforschung meint »Push« und »Pull« jene Faktoren, die abstoßen (von jenem Land, das man verlässt) und anziehen (in jenes Land, wo man hin will). Meine Eltern waren in den 50er-Jahren von der Adria-Küste bis nach Slowenien gelangt, mein Vater betrieb ein Silberschmiedegeschäft in Maribor.
Dem Unrechtssystem entfliehen
Als 1956 die Sowjet-Panzer in Ungarn den Freiheitswillen der Bevölkerung brutal niederwalzten und danach in demütigenden »Schauprozessen« Todesurteile ausgesprochen wurden, packte mein Vater seinen Rucksack. Er musste diesem Unrechtssystem entfliehen. Nur mit Kompass und Wanderkarte konnte er in einer Nacht über die »grüne Grenze« - zwischen Slowenien und Österreich gab es nie Stacheldraht - flüchten. Meine Mutter blieb schwanger - und mit meinen beiden älteren Geschwistern - in Maribor zurück.
Ich wurde im Februar 1957 geboren, im Sommer durften wir mit einem »Touristenvisum« ausreisen - allerdings musste mein älterer Bruder als »Pfand« dafür, dass meine Mutter nach drei Wochen zurückkehren würde, in Jugoslawien verbleiben. Es dauerte noch drei Jahre, bis wir in zahllosen schriftlichen Anträgen der Parteizentrale in Beograd klar machen konnten, dass ein sechsjähriger Bub nicht die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien retten würde - so durfte er schließlich 1960 ausreisen. Österreich hatte 1955 die Freiheit wiedererlangt - in Jugoslawien sollte noch 40 Jahre die Diktatur einer Partei herrschen: Push und Pull.
Reset 1957: Zurück zum Start
Zum zweiten Mal waren nicht nur alles Hab und Gut zurückgeblieben, sondern auch alle Freunde und Verwandten - der Inhalt eines Rucksacks und zweier Koffer musste für den Neustart in einem Land mit fremder Sprache und Kultur reichen. Allerdings war Österreich 1957 anders: Obwohl - oder vielleicht weil? - viele Menschen durch Krieg und Bomben ebenfalls alles verloren hatten, wurde allein in diesem einen Jahr über 180.000 UngarInnen - fast selbstverständlich - Asyl gewährt. Heute, 2010, bin ich zwar kein Flüchtlingskind mehr, sondern wie es politisch korrekt heißt: »Sekretär mit Migrationshintergrund«, dennoch beiße ich mir manchmal auf die Lippen, wenn ich aktuelle Zeitungsmeldungen zum Ausländerthema lese.
Eine Kindheit, wo die Eltern Albanisch sprachen, wir Deutsch antworteten und oft schwierigere Worte übersetzten. Ein Vater, der nach seiner Tagesarbeit als Goldschmied in Graz auch regelmäßig an den Abenden am Werktisch saß, um seine Familie durchzubringen. Und meinte: »Man muss so tanzen, wie die Musik spielt.« Nach zwölf Jahren, 1969, endlich die österreichische Staatsbürgerschaft. Damals erschien die Melodie, die Österreich bewegte, eindeutig: »Die schlechten Zeiten - der Krieg, der Hunger - sind hinter uns. Die guten Zeiten, liegen vor uns.« Rund 20 Jahre sollte dieses Lebensgefühl der ÖsterreicherInnen andauern - ehe es sich in den 1980er-Jahren ins Gegenteil verkehrte, wie Caritas-Präsident Franz Küberl oft ausführt. Heute gilt das allgemeine Lebensgefühl: »Die guten Zeiten liegen hinter uns, vor uns liegen die schlechten Zeiten.« Und die Angst vor dem Krieg, ist durch die Angst vor der Armut ersetzt worden. Nicht mehr dazuzugehören, sich die »richtige Marke« nicht mehr leisten zu können - in der Familie, im Freundeskreis bei ArbeitskollegInnen nicht mehr bestehen zu können, bilden als ständige Drohung den Gegenpol zu den Glücksversprechen vieler Werbekampagnen: »Komm auf die Cola-Seite des Lebens!«
Integration - wozu?
Österreich erlebt gerade eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte. Und ist darauf offensichtlich nicht vorbereitet. Wenn alle paar Jahrzehnte sowieso alles durch Kriege zerstört wird, ist höhere Mathematik bedeutungslos. Als StudentIn fünf Jahre Miete zahlen ist kein Problem - aber rechnet noch jemand nach, was bei 70 Jahren Miete zusammenkommt? Wir lernen zwar in den Schulen, dass Zinseszins eine »Exponentialfunktion« ist - schwieriges Wort - aber bedenkt jemand die Auswirkungen?
Wenn die Studie AUTREICH halbwegs stimmt, dann gibt es in einem der reichsten Länder der Welt mittlerweile vier Millionen »Habenichtse« - diese besitzen gerade drei Prozent aller Vermögenswerte - zusammen! Das Auseinanderfallen der Gesellschaft passiert aber nicht nur beim Besitz, sondern durchzieht alle Lebensbereiche. Was gilt in Österreich heute als »gute Musik«? Wie soll man seine Kinder erziehen? Und wie sich »richtig« ernähren?
Eingliederung, Vereinigung
Es sind besonders Menschen mit Migrationshintergrund, die sich orientieren wollen, die solche Fragen stellen. Und damit offensichtlich den Finger auf offene Wunden legen. Gepaart mit Zukunftsangst entsteht der unsägliche Brei, den wir seit Jahren »Ausländerthema« nennen. Das »Österreichische Wörterbuch« beschreibt Integration als »Eingliederung, Vereinigung«. Aber wie gliedert man sich in eine Gesellschaft ein, die immer weiter auseinanderfällt? Fragen, die wohl ernsthaftere Antworten verdienen, als holprige Reime auf Wahlplakaten. Hoffentlich!
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AUTREICH-Studie:
www.bmsk.gv.at/cms/site/attachments/5/3/8/CH0107/CMS1218533993618/11_reichtum.pdf
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Seit 2000: 315.000/Jahrzehnt
Nach Ende der 1980er-Jahre beschleunigte sich die Zuwanderung dramatisch. Die Zuwanderung pro Jahrzehnt hatte in den 1980er-Jahren 138.000 betragen, in den 1990er-Jahren bereits 238.000 und in den neun Jahren seit der Jahrtausendwende sogar 315.000. Die höchsten Zuwanderungszahlen wurden dabei in Jahren mit guter Konjunktur registriert. Im Unterschied zu den 1980er-Jahren kam es auch in Phasen der Rezession bzw. des schwachen Wirtschaftswachstums zu keiner Rückwanderung. Seit 2000 blieb die Zuwanderung auch bei sehr schwachem Wirtschaftswachstum (2001 bis 2004) hoch. Bemerkenswert dabei ist, dass die vermehrte Zuwanderung mit einem langfristig unaufhaltsamen Anstieg der Arbeitslosenrate einherging.
Die seit 2000 kontinuierlich hohe Zuwanderung ist nicht eine Folge von Arbeitskräfteknappheit auf dem österreichischen Arbeitsmarkt, sondern eines Zustroms aus dem Ausland, primär aus benachbarten Ländern, durch drei Faktoren bedingt: ein hohes Einkommensgefälle, eine relativ bessere Arbeitsmarktsituation in Österreich und die Erleichterung des Familiennachzuges. Ein hohes Einkommensgefälle besteht nach wie vor gegenüber den östlichen Nachbarländern, die 2004 der EU beigetreten sind. Das war auch der Grund dafür, dass für eine Übergangszeit von sieben Jahren nach dem Beitritt der Arbeitsmarktzugang aus diesen Ländern reglementiert blieb (sog. »Übergangsfristen«). Seit der Osterweiterung der EU (Mai 2004) stieg die Zahl der Beschäftigten aus den Beitrittsländern um 25.000. Nach dem Auslaufen der Übergangsbestimmungen im April 2011 (Rumänien und Bulgarien 2013) ist mit verstärktem Zustrom zu rechnen, vor allem durch das dann unbeschränkte Pendeln von Arbeitskräften über die Grenze, das erst durch die Ostöffnung nach der politischen Wende 1989 möglich geworden ist.
Die meisten aus Deutschland
Die größte Zahl an Zuwanderern/-innen kam in den vergangenen Jahren aus einem Land, mit dem beim EU-Beitritt Österreichs 1995 niemand gerechnet hat: aus Deutschland, mit einer Netto-Zuwanderung von 60.000 seit 2002. Das Wohlstands- und Einkommensniveau ist in beiden Ländern annähernd gleich, wohl aber ist die Arbeitsmarktsituation in Österreich trotz der auch bei uns hohen Arbeitslosigkeit erheblich besser als in Deutschland, insbesondere in Ost- und Norddeutschland.
Seit den 1980er-Jahren haben sich die Verhaltensweisen der ArbeitsmigrantInnen deutlich geändert. Während vorher Zu- und Rückwanderung einander ablösten (sog. »Rotationssystem«), bevorzugten Zuwanderer/-innen aus den Balkanländern und der Türkei in zunehmendem Maße Österreich als ständigen Wohnort und nahmen vielfach auch die österreichische Staatsbürgerschaft an. Die weitere Konsequenz war der Nachzug von Familienmitgliedern. Dies machte eine grundlegende Neuorientierung der Migrationspolitik notwendig. Im Unterschied zum früheren Rotationssystem steht jetzt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration der Zugewanderten und ihrer Familien im Vordergrund. Zweifellos wurden hier die Probleme lange Zeit unterschätzt bzw. Grenzen der Integrationsmöglichkeit zu spät erkannt.
Im unaufhaltsamen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den letzten drei Jahrzehnten zeigt sich ein wachsender Angebotsüberschuss auf dem Arbeitsmarkt, der nicht ohne Auswirkung auf die Lohnentwicklung bleiben konnte. Während früher die Löhne annähernd parallel mit der steigenden gesamtwirtschaftlichen Produktivität gestiegen waren, bleiben sie seit etwa 1990 deutlich hinter der Produktivität zurück. Der Lohnanteil am Volkseinkommen sank von 73 Prozent 1993 auf 69 Prozent 2009. Unter dem Druck steigender bzw. anhaltend hoher Arbeitslosenraten konnten die Gewerkschaften die Kaufkraft der Löhne im Durchschnitt vor der Aushöhlung durch die Inflation schützen, Reallohnerhöhungen konnten jedoch nur noch in geringem Ausmaß erreicht werden. Dieser Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnentwicklung ist der Hauptgrund, warum die Gewerkschaften immer für eine Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung eingetreten sind und den Anspruch erhoben haben, an der Gestaltung und Verwaltung des dafür notwendigen Regelungswerkes aktiv mitzuwirken. Bei den auf absehbare Zeit weiterhin gegebenen starken Anreizen zur Migration nach Österreich kann es weder eine Liberalisierung der Zuwanderung geben, noch kann ein von Unternehmerseite immer erneut eingebrachter »Bedarf« an zusätzlichen Arbeitskräften aus dem Ausland zum Maßstab der Migrationspolitik gemacht werden.
Blick in die Zukunft
Innerhalb der auf 27 Mitgliedsländer erweiterten EU werden spätestens ab 2014 alle Beschränkungen der freien Arbeitskräftewanderung weggefallen sein. Mittel- und langfristig ist mit einem Nachlassen der Migrationsbewegungen aus den neuen in die alten Mitgliedsländer in dem Maße zu rechnen, in dem das Einkommensgefälle reduziert werden kann. Gegenüber allen Drittstaaten muss der Zugang zum Arbeitsmarkt weiterhin reglementiert bleiben, mit der Beschränkung auf jene Qualifikationen, für die am österreichischen Arbeitsmarkt Knappheit nachgewiesen werden kann. Hinter der Behauptung eines »Facharbeitermangels« von Unternehmerseite verbergen sich nur allzu oft Wünsche nach möglichst billigen Arbeitskräften mit mittlerer und geringer Qualifikation. In Österreich wird es in den nächsten Jahren vor allem darum gehen, den Nachholbedarf bei der Integration von MigrantInnen zu bewältigen (»Integration vor Neuzuzug«), um der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken, und den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit den Zuwanderern/-innen wieder zu verstärken.
Nicht zuletzt aber sollte Migrationspolitik gegenüber Drittländern in einer zusammenwachsenden EU als gesamteuropäische Aufgabe begriffen werden. Vor allem muss auf EU-Ebene eine Konzeption entwickelt werden, wie mit dem wachsenden Immigrationsdruck aus den Kontinenten Afrika und Asien langfristig umgegangen werden soll, der in den Mittelmeerländern unmittelbar wirksam wird, aber als gesamteuropäisches Problem gesehen werden muss. In vielen afrikanischen und einigen asiatischen Ländern sind die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse mehr oder weniger desolat, sodass die Tendenz zur Abwanderung in absehbarer Zeit anhaltend stark bleiben wird. Andererseits ist es aufseiten der EU-Länder legitim, sozialen Zusammenhalt und Sozialstandards vor Erosion durch übermäßige Einwanderung zu schützen. Am besten könnte dies durch eine Konsolidierung der Verhältnisse in den Auswanderungsländern erreicht werden.
Generell, d. h. unabhängig vom Herkunftsland, ist für die EU in ihrer Gesamtheit eine einheitliche Regelung der Zulassung und Reglementierung der Beschäftigung von Arbeitskräften aus Drittstaaten dringend notwendig, da die länderspezifisch recht unterschiedlichen Regelungen und Praktiken auch Auswirkungen in den anderen Mitgliedsländern haben.
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Bisch a Tiroler ...
AusländerInnen kannte ich wenige, als ich ein kleines Mädchen war. Lange Jahre haben kaum »Gastarbeiter« in der Röhrenwerksiedlung nebenan gewohnt. Die, die es gab, kamen aus Jugoslawien und der Türkei. Und dann gab es noch Flüchtlinge; damals sagte man noch nicht Asylanten, sondern auch im Wort war enthalten, dass diese Menschen auf der Flucht vor irgendetwas waren. Und irgendetwas bedeutete Verfolgung, Krieg oder Not, wie bei der netten Sikh-Familie oder den persischen Studenten auf der Flucht vor Khomeini.
An Fremdenfeindlichkeit kann ich mich nicht erinnern, wenn man davon absieht, dass mir schon damals viele Landsleute feindlich allem Fremden gegenüber eingestellt erschienen. »Bisch a Tiroler, bisch a Mensch« heißt es noch immer gerne mit stolz geschwellter Brust, und wofür man die NichttirolerInnen so hält, wissen die meistens selbst. In Tirol muss keiner aus dem Ausland kommen, um Integrationsprobleme zu haben, da reicht es oft schon, aus Vorarlberg, Salzburg oder gar Wien zu stammen.
»Mensch sein« allein reichte mir nicht, und so machte ich mich auf nach Wien, wo alle fremd zu sein schienen. Es dauerte Jahre bis ich auch »echte Wiener« kennenlernte. Zuvor hatte sich mein Freundes- und Bekanntenkreis um BewohnerInnen aller Bundesländer, Deutsche und sogar Türken erweitert. Damals war der Brunnenmarkt voll schillernder Exotik - für eine Tirolerin zumindest. Wien war Multikulti und das begeisterte mich.
Multikulti ist mehr geworden in den letzten 20 Jahren. In Wien und in Tirol. In der Röhrenwerksiedlung wohnen fast nur noch Menschen mit Migrationshintergrund. Auf den Almhütten bedienen deutsche GastarbeiterInnen russische Gäste. In Telfs steht seit Jahren eine Moschee.
Irgendwie kann ich auch verstehen, dass das Fremde manchen Menschen Angst macht. Es ist irritierend, wenn man im Straßenbahnwaggon kein Wort versteht. Auch ich frage mich, ob alle Mädchen diese Kopftücher gerne tragen. Immer wieder prallen die Kulturen aufeinander. Das ist heute schwieriger als damals. Was ich nicht verstehen kann, ist die Fremdenfeindlichkeit, die mir im Wiener Wahlkampf wieder einmal von den Plakaten entgegenschreit. Und nicht nur dann.
Melange der Kulturen
Immer noch begeistern mich der Brunnenmarkt und die »Melange der Kulturen«. Ich erfreue mich an internationalen Lokalen, am bunten Straßenbild und an den KollegInnen aus aller Welt, die mir seit ein paar Jahren häufiger in der ArbeitnehmerInnenvertretung begegnen. Da ist die türkischstämmige Rechtsberaterin, deren Vorname Liebling heißt, der in Ägypten geborene Betriebsrat, der seine KollegInnen in Europa vertritt, oder die Redakteurin, deren Eltern aus Bosnien fliehen mussten. Und da ist der hilfsbereite Nachbar in Tirol, der als Fünfjähriger aus Anatolien hergezogen ist oder das äthiopische Waisenkind, das mein Cousin adoptiert hat. Ohne alle diese »Fremden« kann und will ich mir meine Heimat Österreich nicht mehr vorstellen.
]]>Srebrenica für Anfänger
Srebrenica ist eine Kleinstadt in Ostbosnien, die verborgen in einem tiefen Talkessel unweit des Flusses Drina und der Grenze zu Serbien liegt. Während des Bosnienkriegs war Srebrenica 1993 zur Schutzzone der Vereinten Nationen erklärt worden. Ein Bataillon von 450 Blauhelm-Soldaten sollte die Sicherheit der zum größten Teil muslimischen Bevölkerung garantieren. Vor dem Bürgerkrieg lebten etwa 6.000 EinwohnerInnen in dem Städtchen, nach der Erklärung zur »Schutzzone« suchten 40.000 ZivilistInnen aus dem Umland hier Zuflucht. Anfang Juli 1995 überrannten serbische Truppen den Ort. Die systematische Aussonderung der ganz jungen bis ganz alten Männer begann - vor den Augen der UN-Soldaten. Sie wurden verschleppt, erschossen und verscharrt. Geschätzte 8.000 Menschen wurden so ermordet. Im Umland von Srebrenica werden heute noch Massengräber gefunden. Dabei handelt es sich meist um Sekundärgräber, die Toten wurden wieder ausgegraben und ein zweites Mal verscharrt, um die Spuren zu verwischen. Jedes Jahr am 11. Juli finden eine Beerdigung der Identifizierten und eine Gedenkveranstaltung für alle Opfer statt. In Srebrenica geschah das einzige Kriegsverbrechen auf europäischem Boden in den letzten 60 Jahren, das mit einem rechtskräftigen Gerichtsurteil als Völkermord tituliert wird.
Ob in Wien, Sarajevo, Srebrenica oder Graz; ob Krankenschwester, Lehrerin, Bürokauffrau oder Anwältin; was aus Adelina und ihrer jüngeren Schwester eines Tages werden sollte, welchen Beruf sie ausüben würden, in welchem Land sie leben werden, darauf hatten die Eltern in den Jahren nach ihrer Flucht auch keine Antwort. Heute, 18 Jahre später, haben die jungen Frauen ihren Lebensmittelpunkt in Wien. Adelina studiert Bildungswissenschaften an der Universität Wien und finanziert sich ihren Lebensunterhalt als Assistentin in Teilzeit. Dabei unterstützt sie ein Programm, welches mit SchülerInnen zusammenarbeitet. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, nach meinem Studium in diesem Programm weiterzuarbeiten, aber auch etwas im ›Beratungsbereich‹ würde mich interessieren«, erzählt Adelina über ihre Pläne nach Studienabschluss. Wie für Adelina, so ist auch für ihre jüngere Schwester Mersiha die Bundeshauptstadt zur zweiten Heimat geworden. Zurzeit genießt Mersiha ihre freie Zeit mit ihrer kleinen Tochter, nach der Karenz möchte sie wieder als Programm-Assistentin tätig sein. »Für ein friedliches Zusammenleben ist es wichtig, anderen Kulturen offen gegenüberzutreten und Menschen zu akzeptieren. Meine Familie ist dankbar, dass wir damals so gut aufgenommen und beim ganzen Integrationsprozess unterstützt wurden«, sagt die 26-jährige Adelina.
Integration
Obwohl in Österreich aufgewachsen und der deutschen Sprache mächtiger als der eigentlichen Muttersprache, sind nicht alle Angehörigen der zweiten Generation bei der Integration am Arbeitsmarkt erfolgreich. Laut dem Arbeitsklimaindex 2010 liegen diese noch weit hinter den Beschäftigten ohne Migrationshintergrund. Zwar haben es diese jungen Menschen leichter als ihre Eltern, trotzdem bleibt die Diskriminierung aufgrund Zuwanderung - Name, Aussehen, mangelnde Sprachkenntnisse - bestehen. Oft ist aber auch der Wunsch, möglichst früh eigenes Geld zu verdienen, der ausschlaggebende Grund, weswegen viele MigrantInnen auf höherwertige Ausbildung verzichten. »Mittlerweile nehmen immer mehr Kinder am Muttersprachenunterricht teil. Das ist genauso wichtig für ihre berufliche Zukunft wie auch zur Kommunikation mit den eigenen Landsleuten«, ist sich Suljo Nalic, Muttersprachenlehrer, sicher. »Das sind Kinder, deren Eltern oder Großeltern ohne Sprachkenntnisse, ohne Dach über dem Kopf und ohne Arbeit nach Wien kamen. Sie mussten sich eine neue Existenz aufbauen.« Der 52-Jährige war einst Geografie-Professor, unterrichtete in Srebrenica und floh kurz vor Kriegsausbruch nach Österreich. »Viele Statistiken zeigen, dass sogenannte Kriegsflüchtlinge, die hier die Pflichtschule besuchten, immer größeren Wert auf eine gute Ausbildung legen und höhere Schulen abschließen. Im Gegensatz zu früheren Wirtschaftsflüchtlingen haben wir es hier mit gut ausgebildeten Personen zu tun, die für ein Land wie Österreich auch viel beitragen können.«
Die Mühe lohnt sich
Was wäre mit Nalic geschehen, hätte er sich nicht zur Flucht entschieden? Hätte er sich im Juli 1995 für den »Pfad von Leben und Tod« entschieden, der sich zwischen Srebrenica und Tuzla erstreckt und in dem Tausende Menschen die einzige Chance zum Überleben sahen? Hätte er den Juli 1995 überlebt? Aus heutiger Sicht entschied er sich damals für das einzig Richtige: die »rechtzeitige« Flucht. Aber aller Anfang ist schwer. Nalic belegte kurz nach der Ankunft in Wien einen Deutschkurs, lange kämpfte er um die Anerkennung seines Studiums. Zwar unterrichtet er heute nicht mehr Geografie, aber er vermittelt bosnischen Kindern die eigene Muttersprache an einer Wiener Volksschule. Die Chance, sein Wissen weitergeben zu können, half ihm dabei, seine Deutschkenntnisse zu verbessern. »Die Mühe zahlt sich aus, das Gefühl, wieder als Mensch gesehen zu werden und nicht als Migrant, ist viel wert«, erzählt der Lehrer. MigrantInnen sind auf die Hilfe anderer angewiesen, leben in einer ungewohnten Umgebung, und nicht immer besitzen sie die Kraft sich zu engagieren. Jeder Flüchtling hat seine Geschichte, eine Vergangenheit, mit der er lernen muss umzugehen. So wie Nalic, der am Begräbnis seiner Mutter nicht teilnehmen konnte und dessen Vater eines der Opfer vom 11. Juli 1995 war. Ein respektvoller Umgang und Verständnis von Zuwanderern und Einheimischen fördert die gesellschaftliche Integration. Mittlerweile hat Nalic Bekannte und Freunde in Wien, mit seinen ArbeitskollegInnen versteht er sich gut. Doch seine freie Zeit im Sommer verbringt er in Srebrenica. Ob er sich vorstellen kann eines Tages zurückzukehren? »In der Pension, wahrscheinlich ja - auch wenn in Srebrenica oft eine traurige Atmosphäre in der Luft liegt. Vergessen können wir nicht, aber lernen damit zu leben.«
11. Juli 2010
Zum 15. Jahrestag der Massaker wurden in diesem Sommer mehr Opfer bestattet als in den Jahren zuvor. Ein Konvoi mit 775 Särgen, begleitet von TeilnehmerInnen eines Friedensmarsches, brachte die sterblichen Überreste zur Gedenkstätte Potocari, wo sie zeremoniell bestattet wurden. Rund 40.000 BesucherInnen wurden gezählt, darunter viele Mütter Srebrenicas. Frauen, die Väter, Ehemänner, Söhne und Brüder verloren haben. Viele brachen beim Anblick der Särge zusammen; auch viele junge Männer, die um ihre Väter trauerten, die sie nicht kennenlernen durften, ohne die sie erwachsen werden mussten. »Srebrenica darf nicht nur der 11. Juli sein, beim Anblick dieser Menschen ist Srebrenica 365 Tage im Jahr. Unfassbar, und das am Ende des 20. Jahrhunderts«, ist Haris Jatic, Schüler aus Wien, entsetzt. Der Schüler stammt nicht aus Srebrenica, aber nur eine Stunde Autofahrt trennt seinen Heimatort von Srebrenica. Heuer war er zum ersten Mal bei der Gedenkfeier dabei. »Darüber sollte auch in den Schulen erzählt werden, denn das geschah nicht hinter einem Busch am Ende der Welt, sondern mitten in Europa«, sagt Jatic. »Die Toten können wir nicht mehr retten, aber den Überlebenden helfen und dafür kämpfen, dass nie wieder Srebrenica geschieht«, weint eine Mutter am Sarg ihres Sohnes.
Weblink
Dokumentarfilm Srebrenica 360°:
www.srebrenica.ch
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Wiener Blut - Vielfalt tut gut
Hikmet Kayahan ist einer der drei Vorstände von »Das Bündnis für Menschenrechte & Zivilcourage - gegen Diskriminierung & Extremismus«. Der studierte Pädagoge und Germanist, geboren in der Türkei und im Alter von fünf Jahren nach Deutschland übersiedelt, ist Koordinator der »Beratungsstelle Courage« in Wien. Um den blauen Wahlplakaten ein Korrektiv zu bieten, hat »Das Bündnis« gemeinsam mit »Comics gegen Rechts« (Initiative der österreichischen Comicszene) Ende August die Plakatkampagne »Wiener Blut - Vielfalt tut gut« gestartet und eine typische Wiener Gegensprechanlage plakativ aufbereitet: Namensschilder mit Darabos, Wrabetz, Dogudan, Prohaska und Plachutta sind darauf vertreten.
Die durch Spenden finanzierten Poster können gegen einen freiwilligen Betrag bestellt werden. Mitinitiator Kayahan: »Die Reaktionen sind überwältigend und sehr positiv. Gerade, weil das Plakat ein ruhiges und schlichtes Bild präsentiert ohne ein Feindbild aufzubauen. Die ersten 1.500 Stück sind schon weg«.
Aus welchen Ländern die Urgroßeltern einwanderten, ist meist bekannt. Welche Bedingungen und Nachbarn sie vorfanden, schon nicht mehr. Wiens Ex-Bürgermeister Helmut Zilk war von der Ausstellung »The Peopling of London« (1993/1994, Museum of London) so begeistert, dass er sich Ähnliches für Wien wünschte und bekam.
Dr. Peter Eppel, Historiker im Wien Museum, war Kurator von »WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien« (1996). Allein das Plakat zur Schau wusste das Grübeln anzuregen: ein dichter Baum, in dessen Krone die WienerInnen grünen. Zum Stamm hin wachsen nebst Deutschmährern und Albanern, Briten, Lombarden und Hunnen auch die Römer an den Zweigen - jeder Stamm, jede Nation ist im Wien-Baum vertreten.
Auslöser für die Ausstellung waren freilich auch die Geschehnisse von 1993: das FPÖ-»Österreich zuerst«-Volksbegehren und das daraus resultierende Protest-Lichtermeer von SOS Mitmensch. Bei der Nationalratswahl am 9. Oktober 1994 wurde die FPÖ drittstärkste Partei.
»Die Fremdenfeindlichkeit war in den Straßen Wiens präsent, gemeinsam mit Eva Zitterbart von Radio Wien startete ich den Aufruf ›Zukunft braucht Herkunft‹«, erinnert sich Peter Eppel. Die Wiener Bevölkerung wurde mittels »ORF« und »Kurier« aufgefordert, dem Museum Unterlagen zu bringen, die etwas über ihre Herkunft aussagten. Viele Dokumente und interessante Stücke durfte das Wien Museum behalten. Darunter eine Ziegelform, die der Nachfahre eines tschechischen Wienerberger-Ziegelarbeiters stiftete. »Um 1900 hatte Wien die zweitgrößte tschechische Bevölkerung nach Prag«, weiß Historiker Eppel.
Positive Reaktionen
Die Reaktionen auf »WIR« waren überwiegend positiv, eine Schulklasse setzte sich nach dem Museumsbesuch mit der echten Wiener Küche auseinander, die sich nicht zuletzt aus böhmischen Spezialitäten zusammensetzt. Andere SchülerInnen besuchten das Wiener Integrationshaus und sammelten Spenden für die BewohnerInnen. Im Gegenwartsteil der Ausstellung fanden sich viele Aufnahmen des Fotografen Didi Sattmann: Brunnenmarkt, Mexikoplatz, Wohnungen. »Die Bevölkerung und die Geschäfte vom Mexikoplatz verändern sich permanent. Handelsplatz von Zuwanderern und Matrosen ist er geblieben.«
»Der echte Wiener ist jener, dessen Vorfahren aus anderen Gebieten, etwa den ehemaligen Kronländern kommen. Ein Problem, das es bezüglich der nationalen Zugehörigkeit immer wieder gibt, wie etwa im zerfallenen Ex-Jugoslawien, ist der Unterschied zwischen Selbstverständnis und dem, was tatsächlich im Pass steht.« Der Wiener Historiker selbst stammt mütterlicherseits aus Mähren, väterlicherseits aus Niederösterreich ab. Migration, ein Thema, das Wien immer ausgemacht hat und auch zukünftig wird - egal, wie oft noch gegen Zuwanderung gehetzt wird.
Zur aktuellen FPÖ-»Wiener Blut«-Kampagne hat sich der Privatmensch Eppel eine klare Meinung gebildet: »Ich persönlich finde die Plakate der FPÖ widerlich und unappetitlich. Die diskriminierenden Bemerkungen unserer Innenministerin über Roma und Sinti sowie ihre Asylpolitik halte ich aber für noch schlimmer.« Zufällig hängt im Atrium des Wien Museums das Plakat zu Willi Forsts Operettenverfilmung »Wiener Blut« von 1942, während rund um den Karlsplatz weniger Heiteres affichiert ist.
80 Jahre Kal-Marx-Hof
Im zweiten Hof des Karl-Marx-Gemeindebauareals wird gefeiert: 11. September 2010, 80 Jahre »KMH« (initiiert von Bezirksrätin Brigitte Achtig). Vier Langzeitbewohnerinnen sind mit dabei: Erna Mörixbauer (geb. 1929), Doris Nasty (geb. 1928), Margarethe Bruckner (geb. 1920) und Hertha Strosche (geb. 1923). Alle Damen haben eine bewegte Geschichte, keine Interesse an rechter Hetze.
Der Vater von Erna Mörixbauer, 81, stammt aus dem tschechischen Iglau, ihre Mutter aus dem niederösterreichischen Hohenau. »Ich habe mich immer als Wienerin gefühlt«, erzählt Mörixbauer, die in der elterlichen Wohnung im Karl-Marx-Hof geboren wurde. »Ich wähle nicht Strache, das kann ich sagen. Das Wiener Blut ist gut, weil es eine Mischung ist.« Nur für kurze Zeit hat Erna Mörixbauer nicht in Heiligenstadt gewohnt: Nach ihrer Eheschließung 1954 zog sie mit ihrem Mann nach Kaisermühlen und schon 1960 zurück in den Karl-Marx-Hof: »Es ist selbstverständlich, dass Menschen aus Kroatien, Serbien, Tschechien, Slowakei und Ungarn für ein besseres Leben nach Wien gezogen sind. Die Wiener sind für mich eine Mischung und man kann das Wiener Blut nur aus dieser Mischung zusammensetzen.«
Bisweilen ärgert sich Mörixbauer, dass die Hausordnung im Karl-Marx-Hof nicht mehr eingehalten wird und das liegt auch an den nicht »üblichen Gewohnheiten«, wie sie sagt. »Aber das hat es in der 1. Republik auch schon gegeben. Auf der einen Seite, die unter furchtbarsten Bedingungen lebenden tschechischen Ziegelarbeiter im 10. Bezirk. Auf der anderen Seite die Hautevolee, die von diesen Arbeitern gelebt hat. Die Spannung war groß, die beiden wollten nie zusammengehören.«
Geholt zum Arbeiten
Jeden Donnerstag arbeitet Erna Mörixbauer sechs Stunden ehrenamtlich im Archiv des »Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung«. Aktuell betreut sie den Nachlass der Sozialdemokratin Hilde Krones. »Ich habe den Eindruck, dass die FPÖ mit den niedrigsten Gefühlen spekuliert. Man hat die Migranten viel zu wenig mit unseren Lebensgewohnheiten vertraut gemacht - geholt hat man sie, weil man sie zum Arbeiten brauchte, der Rest war wurscht. Der Karl-Marx-Hof war ein rotes Bollwerk, durch den Zustand der SPÖ ist das anders geworden.«
Bis auf wenige Kilometer genau können WissenschafterInnen der »University of Edinburgh« angeblich die Herkunft eines Menschen per DNA-Analyse klären. Kleinste Unterschiede zeigen, von welchem Kontinent die Vorfahren stammen. Der belgische Journalist Jean-Paul Mulders sammelte gar Speichelproben von Hitlers männlichen Verwandten in Österreich und den USA. Über die väterliche Y-DNA glaubt Mulders, eine Verwandtschaft zu Berbern in Marokko bis hin zu Somalia entdeckt zu haben.
Ob solche Forschungen fremdenfeindlichen Menschen nicht noch mehr Auftrieb geben, wird zu beobachten sein.
Weblinks
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www.das-buendnis.at
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»Ausländer raus war gestern«
»Ausländer raus war gestern« schreibt »Biber« (türkisch: Paprika; Synonym für scharf), eine Zeitung vorwiegend für junge Menschen mit Migrationshintergrund, und bringt damit den Wandel in der »Ausländerdebatte« auf den Punkt. Während gerade rechte Gruppen bestimmte MigrantInnen (z. B. Serben/-innen) sogar gezielt umwerben, stehen in vielen Ländern Europas speziell Menschen aus Staaten mit muslimischer Mehrheit unter einer Art Generalverdacht. Sie gelten als nicht integrierbar und anfällig für terroristische Gruppen.
»Türk‘ und Jud‘, giftig‘s Blut« wurde im März 2010 auf die Außenmauer des ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen geschmiert. Es sind freilich nicht nur die Hetzparolen der Neonazis, welche einen neuen »Kulturkampf« nach altem Muster erahnen lassen. Dessen Kreise ziehen sich bereits weiter: Obwohl der Islam hierzulande seit 1912 eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft ist, war Österreich - und nicht etwa die Schweiz - der erste Staat, in dem im Zuge der neu entflammten Islam-Debatte 2007/2008 Moscheen- und Minarettverbote mittels bürokratischer Schikanen umgesetzt wurden. Der Politikwissenschafter Farid Hariz weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass bei den entsprechenden Beschlüssen u. a. die ÖVP-Landesgruppen in Kärnten und Vorarlberg mit im Boot waren.
Dass auch Gruppierungen und Personen diesen »Kampf der Kulturen« führen, die sich selbst gerne als »normal« oder in der »Mitte der Gesellschaft« betrachten, erscheint dabei als besonders bedrohlich. Paradebeispiele dafür sind selbsternannte Bürgerinitiativen gegen den Bau von Gebets- und Kulturzentren, die sich im Laufe der Zeit radikalisieren und als Plattform für Rechtsextreme fungieren können. Traurige Berühmtheit erlangte hier die »Bürgerinitiative Dammstraße gegen die Errichtung von Moscheen/Veranstaltungszenren im dicht verbauten Wohngebiet«. Auf deren Demonstrationen tummeln sich inzwischen regelmäßig aus ganz Österreich angereiste Neonazis. Doch auch auf höherer Ebene wird der Islam zunehmend als das zentrale Problem ausgemacht: Für Furore sorgte bereits vor Jahren eine vom Innenministerium lancierte Studie, in welcher behauptet wurde, 45 Prozent aller Muslime wären nicht integrationswillig. Untersuchungen der Universität Wien haben den Behauptungen des BMI allerdings entgegnet, dass z. B. 97 Prozent der befragten Jugendlichen der zweiten Generation - die stets als besondere »Problemgruppe« genannt werden - Gewalt im Namen des Islam vehement ablehnen würden.
Weltbild und »Lösungen«
Nicht nur rechtsextreme Vorkämpfer wie z. B. Andreas Mölzer sind trotzdem der Meinung, dass wir in einer »Art von Kulturkampf zwischen der über 2.000 Jahre christlich geprägter Leitkultur Europas und einem militanten Zuwanderungsislam« leben. Auch der aus der SPD kommende Ex-Senator und Bundesbanker Thilo Sarrazin vertritt in seinem neuen Buch ähnliche Thesen. Die Idee, dass geopolitische oder gesellschaftliche Spannungen nicht in erster Linie ökonomisch oder sozial, sondern durch religiöse, ethnische oder kulturelle Faktoren bedingt sind, ist dabei keineswegs neu. In den vergangenen Jahren ist jedoch ihr fulminanter Aufstieg unübersehbar. Dieser hängt mit dem Wegfall alter Feindbilder im Osten und neuen Konflikten im Zuge der kapitalistischen Globalisierung und deren Folgen zusammen. Populär »neu entdeckt« wurde die These »Kampf der Kulturen« zunächst von konservativen US-Ideologen wie Samuel Huntington. Bereits in den 1990er-Jahren verkündete dieser einen langen und globalen Krieg zwischen unterschiedlichen Zivilisationen. Im innerstaatlichen Bereich folgen solche Befunde im Grunde dem gleichen (rassistischen) Muster. Die Scheinlösungen für die als »Feinde« ausgemachten Bevölkerungsteile - ob nun »katholische« Latinos in den USA oder »muslimische« Türken/-innen und AraberInnen in Europa - liegen dabei auf der Hand. Bestenfalls totale Assimilation, eher aber Abschottung und/oder »Rückführung« lauten die Konzepte. Nicht umsonst bezeichnete Huntington schon in den 1960er-Jahren, das Apartheitsregime in Südafrika als »zufriedene Gesellschaft«.
Parallelgesellschaft und Leitkultur
Nicht nur aus gewerkschaftlicher Perspektive wäre es fatal, Kampfbegriffe wie »Leitkultur« oder »Parallelgesellschaft« stillschweigend zu akzeptieren. Vielmehr gilt es, die jeweiligen »Communities« mit ihren Interaktionen innerhalb der Gesamtgesellschaft, aber auch ihren (»internen«) Unterschieden und Konflikten wahrzunehmen. Dafür plädiert jedenfalls Ernst Orhan von work@migration. Fortschrittliche türkische und kurdische Menschen, die wie Orhan in Vereinen wie »Alternative Solidarität« organisiert sind, befinden sich real in einer doppelten Auseinandersetzung mit fundamentalistischen und rechten Strömungen. Geführt wird diese nämlich nicht nur mit österreichischen »Kulturkämpfern«, sondern z. B. auch mit der »Dachorganisation der Türkischen Kultur- und Sportgemeinschaft (ADÜFT)« (hinter der die rechtsextremen »Grauen Wölfe« aus der Türkei stecken). KollegInnen wie Orhan weisen aber ebenso auf jene Rahmenbedingungen hin, welche Integration in Österreich behindern. So begünstigen z. B. rechtliche Regelungen, die bei Trennung von EhepartnerInnen zum Verlust der Aufenthaltserlaubnis führen können, patriarchale Strukuren unter MigrantInnen. Ebenso ist der Umstand, dass rund 80 Prozent der Türken/-innen noch immer maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügen, v. a. ein vernichtendes Urteil für das selektive Bildungssystem. Und nicht zuletzt sind es die weite Verbreitung von Niedriglöhnen und damit Armut unter bestimmten MigrantInnengruppen, die zum Gefühl führen können, vielleicht nie »dazu«zugehören.
Bereits im Habsburgerstaat waren die Gewerkschaften bemüht, dem »Kulturkampf« gegen tschechische, polnische und jüdische (...) MigrantInnen die Idee der Solidarität und der gemeinsamen Organisierung entgegenzusetzen. Dass Fragen ethnischer, kultureller oder religiöser Diskriminierung auch heute gewerkschaftliche Fragen sind, wird z. B. durch die Publikation »Arbeit ohne Unterschiede.Arbeit ohne Vorurteile« des ÖGB unterstrichen. Es liegt wohl auf der Hand: Eine tiefer werdende Kluft zu Hunderttausenden KollegInnen, die aus Ländern mit muslimischer Mehrheit stammen - aber hier leben und arbeiten - wäre letztlich eine Bedrohung für die gesamte österreichische Gewerkschaftsbewegung. Neben dem Kampf gegen Diskriminierung stellt gerade die effiziente Umsetzung gewerkschaftlicher Interessen eine zentrale Basis für erfolgreiche Integration dar. Denn Erfolge, die gemeinsam errungen wurden, stärken den Zusammenhalt. Das gilt natürlich besonders, wenn z. B. Niedriglöhne verschwinden bzw. Verbesserungen in Bereichen errungen werden, in denen z. B. viele türkische KollegInnen beschäftigt sind. Ernst Orhan thematisiert übrigens im Zusammenhang mit solcher - explizit gewerkschaftlicher - Integrationsarbeit ein interessantes Beispiel aus der Türkei. Dort hat jüngst ein großer Arbeitskampf beim staatlichen Tabakkonzern TEKEL in ganzen Regionen den ursprünglich massiven Einfluss fundamentalistischer und nationalistischer Kräfte zurückgedrängt.
Weblinks
Der Historiker Wolfgang Benz über Antisemiten und Islamfeinde
www.sueddeutsche.de/politik/antisemiten-und-islamfeinde-hetzer-mit-parallelen-1.59486
Infos über die »Alternative Solidarität«
www.ada.co.at
Sprache(n) und Integration
www.vhs.at/jubiz_aktuelles.html
Infos zum TEKEL-Streik in der Türkei
labournet.de/internationales/tr/tekel.html
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Arbeit&Wirtschaft: Josef Wallner, du bist Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration der AK Wien. Migrationspolitik ist da ein wichtiges Thema. Betrachtet man aktuell die Plakate zwischen »Wiener Blut« und »Reden wir über Bildung. Am besten auf deutsch«, fragt man sich schon, was ist da los?
Josef Wallner: Migration ist eines der Megathemen der nächsten Jahre. In den letzten vier Jahrzehnten hat Zuwanderung in relevantem Maße stattgefunden, weil unsere Gesellschaften ökonomisch und sozial nur noch unter der Voraussetzung von Zuwanderung funktionieren. Andererseits gibt es noch keinen tragfähigen Konsens darüber, wie die Regeln dafür sein sollen. Die Bewusstseinsbildung für diesen Prozess startet im Grunde genommen erst jetzt ernsthaft, weil wir eben jetzt eine »kritische Masse« von dauerhafter Zuwanderung erreicht haben und uns das bewusst geworden ist. Traditionelle Einwanderungsländer wie USA und Australien unterscheiden sich hier stark. Diese Staaten sind ja von Einwanderern gegründet worden. Sie haben daher auch andere Einwanderergruppen angezogen: Nämlich die, die z. B. nach Amerika gehen, um Amerikaner zu werden. Und eben nicht die, die dort hingehen, um temporär Geld zu verdienen und dann heimzukehren. Genau das ist aber das Konzept, das in den 1960er-Jahren in Europa entstanden ist.
Der sogenannte Gastarbeiter …
Genau - und im Bewusstsein vor allem der deutschsprachigen Länder ist erst jetzt die Erkenntnis angekommen, dass dieses »Rotationskonzept« nicht mehr funktioniert. Ein Alternativkonzept muss aber erst gesellschaftlich ausverhandelt werden mit allen Schwierigkeiten auch auf der emotionalen Ebene, die es dabei gibt. Daher kommt es zu Konflikten.
Hat das Gastarbeiter-Konzept denn je funktioniert und wenn ja, wie lange?
Es hat bestenfalls kurzfristig funktioniert bis Anfang der 1970er-Jahre. Es ist allerdings immer leicht, mit dem Wissen von heute zu sagen der damalige Zugang war falsch. In den 1960er-Jahren gab es einen illusionären Konsens zwischen den Aufnahmeländern, die einen Arbeitskräftemangel temporär abdecken wollten, und den Zuwanderern, die ihrerseits nur vorübergehend nach Europa wollten, um mit dem hier verdienten Geld später daheim eine Existenz aufzubauen.
Ist Österreich ein Einwanderungsland?
Geht es um Zahlen, Daten, Fakten ist Österreich ganz klar ein Einwanderungsland - mit einem Bevölkerungsanteil an Menschen mit Migrationshintergrund von rund 17 Prozent. Auf der Bewusstseinsebene muss der Abschied vom Gastarbeitersystem erst verarbeitet werden. Das ist der Unterschied zu den klassischen Einwanderungsländern, wo ein Großteil der Bevölkerung weiß, dass die eigenen Vorfahren eingewandert sind. Die »Gastarbeiter-Länder« Deutschland, Schweiz, Österreich haben das Rotationssystem auf die Spitze getrieben. Die Schweiz hat aber vor Jahren die Bremse gezogen, indem sie ihr berüchtigtes Saisoniermodell praktisch abgeschafft haben. Vielleicht am konsequentesten von allen drei Ländern wurde die Lage in Deutschland neu überdacht und die Weichen in Richtung Einwanderungsland gestellt. Österreich steht im Grunde genommen am Beginn dieser Diskussion.
Österreich hat ja eine Geschichte als Vielvölkerstaat. Wenn ich an die »Wiener Blut«-Debatte denke, habe ich den Eindruck, dass manche das verdrängen?
So ist das wahrscheinlich, allerdings wurden auch im Vielvölkerstaat Konflikte auf die ethnische Ebene verlagert. Eine der Ursachen, warum die Debatte heute so konfliktreich verläuft, ist ihre Instrumentalisierung. Einerseits gibt es die bekannten Demagogen, deren Politik von unsachlicher Zuspitzung lebt. Andererseits wird oft ignoriert, dass z. B. die Perspektive des reichen Vorstandsmitglieds in seiner Döblinger Villa eine andere ist als die der 80-jährigen Rentnerin, die seit 40 Jahren in Ottakring lebt und jetzt damit zu Rande kommen soll, dass sich ihre direkte Umgebung sozial komplett verändert hat. Es ist auch der Bobo nicht in derselben Lage, der bewusst auf den lebendigen Yppenplatz zieht. Er könnte nämlich auch in den 13. Bezirk ziehen …
… und später, wenn die Kinder in die Schule kommen, wird er das auch tun …
Ja, dann schicken viele ihre Kinder in Privatschulen und nicht in solche, wo es 80 Prozent Migrantenanteil gibt. Der hohe Migrantenanteil an manchen Schulen rührt ja auch daher, dass die situierte Mittelschicht ihre Kinder dort herausnimmt, aber gleichzeitig mit erhobenenem Zeigefinger anderen Fremdenfeindlichkeit vorwirft. Diese fühlen sich dann nicht verstanden, was wieder die Sache der Demagogen sehr erleichtert. Ich glaube, dass zu wenig bedacht wird, dass die neue gesellschaftliche Situation für Zuwanderer und für unsere 80-jährige Rentnerin in Ottakring in mancher Hinsicht ähnlich ist. Zuwanderer kommen, fühlen sich in der fremden Umgebung oft nicht wirklich wohl und versuchen, sich ihre Nestwärme in ihren Communities zu holen. Der in ihrem Viertel seit Jahrzehnten verwurzelten alten Rentnerin geht es genauso: Ihr ist Ottakring fremd geworden, sie fühlt sich nicht mehr wirklich wohl. Auch sie muss Anpassungsarbeit leisten und das ist nie leicht, egal für wen. Undifferenziert gleich den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit parat zu halten, ist unsensibel und ebenso falsch wie das ständige Beschwören einer drohenden »Parallelgesellschaft«.
Wie könnte Integration funktionieren?
Es ist klar, dass der große Wohlstandszuwachs seit den 1960er-Jahren ohne Zuwanderung nicht gekommen wäre. Aber das erleben nicht alle gleich. Unternehmen profitieren ganz unmittelbar und kräftig von Zuwanderung und forcieren sie aktiv, weil sie billige und gut qualifizierte Arbeitskräfte erhalten. Auf der anderen Seite stehen Gruppen, die nicht unmittelbar einen Vorteil in der Zuwanderung sehen können; ihr Umfeld hat sich verändert, ohne dass sie darauf Einfluss hatten, und auf dem Arbeitsmarkt erleben sie oft verschärften Konkurrenzdruck.
Wenn wir wollen, dass der wirtschaftliche Nutzen weiterhin überwiegt und der soziale Zusammenhalt erhalten bleibt, dann brauchen wir eine integrationsorientierte Politik, die alle gesellschaftlichen Gruppen ernst nimmt und die ohne Oberlehrergehabe auskommt. Basis dafür sind Verteilungsgerechtigkeit und sichere Arbeitsplätze. Von der EU-Erweiterung haben vor allem Industrie und Banken profitiert, nicht ArbeitnehmerInnen, Arbeitslose oder PensionistInnen. Es muss daher wieder ein höherer Anteil der Gesamtwertschöpfung bei den Lohnabhängigen landen. Hauptansatz für die eigentliche Integrationsarbeit ist die Bildungsebene: Gerade unter den Bedingungen der Zuwanderung sind zu frühe Bildungswegentscheidungen schlecht. Die Potenziale der Zuwandererkinder werden nicht ausgeschöpft. Ein weiteres Problem: Informelle und mitgebrachte Kompetenzen werden in der Arbeitswelt nicht anerkannt. Das erschwert die Arbeitsmarktintegration, nicht nur bei MigrantInnen. Das schöne Modell »Du kannst was!« der Arbeiterkammer Oberösterreich zeigt, wie es gehen könnte. Die haben gemeinsam mit dem AMS, dem ÖGB und der Wirtschaftskammer ein Pilotmodell gestartet, in dem Menschen ohne formale Facharbeiterausbildung aber mit fundierter Berufserfahrung in einem Berufszweig die Chance bekommen, den Lehrabschluss nachzuholen.
Ein wichtiges Thema bei der Integrationspolitik bleibt die Sprache …
Ja - häufig leider auch für die zweite und dritte Generation. Einerseits gibt es zunehmend Jugendliche, die höhere Schulen besuchen und einen Universitätsabschluss machen. Es gibt aber auch viele, die weder Deutsch noch die Muttersprache der Eltern wirklich beherrschen. Diese jungen Leute haben es schwer, selbst wenn sie intelligent sind. Auch hier ist schon beim Schulsystem anzusetzen. Wichtig sind aber auch Initiativen bei denen die Eltern an Bord geholt werden - wie »Mama lernt deutsch«.
Die Migrations- und die Asylfrage werden gerne miteinander vermischt - wo kann man Unterschiede festmachen?
Da gibt es unterschiedliche Modelle. Schweden hat z. B. schon in den 1980er-Jahren Arbeitsmarktmigration stark heruntergefahren. Zuwanderung aus Drittstaaten erfolgt primär über den Asylweg. Gesteuert wird über Kontingente. Wer kommen darf, erhält echte Integrationsbegleitung: Da gibt es umfangreiche Sprachschulung und sogar subventionierte Einstiegsjobs; der Aufbau eines Systems zur Anerkennung mitgebrachter Qualifikationen wird vorangetrieben. In Österreich war es zwar phasenweise deutlich leichter Asyl zu erhalten, für die Integration der Asylsuchenden wird aber im Vergleich nichts getan. Daraus resultieren soziale Probleme. Bei uns wären auch klare Strukturen zu schaffen.
An dem Problem wird man auch in Zukunft nicht vorbeikommen - so fliehen weiterhin aus Afrika jede Menge Menschen vor Gewalt und Armut.
Eine Entschärfung der Situation setzt auch die gezielte wirtschaftliche Kooperation mit den Anrainerstaaten voraus und zwar so, dass die Wertschöpfung nicht nur bei den europäischen Konzernen bleibt.
Auch eine Aufgabe für die internationale Gewerkschaftsbewegung?
Ja, weil die ArbeitnehmerInnen die ersten sind, denen die ungelösten Probleme auf den Kopf fallen. Allerdings kommt den Gewerkschaften in der Migrationspolitik eine weit schwierigere Rolle zu als dem Kapital, das mobiler ist als Menschen. So kann es leicht in globalen Strukturen handeln und denken. Für Gewerkschaften ist es viel schwieriger, den Ausgleich zu finden, wenn z. B. eine Fabrik verlegt wird.
Ist das auch einer der Gründe weswegen sich ÖGB und AK für die EU-Übergangsfristen stark machen?
Diese Übergangsfristen wurden mit gutem Grund ausgehandelt, weil die EU-Erweiterung die Fusion zweier ökonomischer Systeme bedeutet, deren Leistungskraft und Standards weit auseinanderklaffen. Das führt zu großen Anpassungsproblemen. Ohne Begleitmaßnahmen, z. B. dem Ausbau einer unterstützenden aktiven Arbeitsmarktpolitik, ist sowas nicht zu bewältigen. Das Aufsetzen von Anpassungsmaßnahmen erfordert aber mehrere Jahre. Österreich hat die Übergangsfristen übrigens sehr durchlässig gehandhabt, daher sind trotz der Fristen wesentlich mehr Zuwanderer/-innen zu uns gekommen als in die meisten anderen EU-Länder ohne solche Fristen.
Die Migrationsdiskussion artete in den vorigen Jahren immer mehr zu einer Religionsdiskussion aus. Dabei wird der Islam häufig als Bedrohung gesehen.
Diese populistische Zuspitzung wird vor allem durch die europäischen Rechtsparteien geschürt. Die haben erkannt, dass sie MigrantInnen als WählerInnen brauchen. Als neues Feindbild haben sie daher die Untergruppe der muslimischen Zuwanderer ausgewählt und versuchen zu spalten. Gleichzeitig geben sie vor, damit die »europäischen Werte«, die ihnen sonst kaum geläufig sind, hochzuhalten. Gearbeitet wird dabei wie üblich mit Verunglimpfung, Unterstellung und Vereinfachung. Eine Werte- und Demokratiediskussion müssen wir in einer lebendigen Demokratie natürlich immer führen, aber fair und nicht mit zweierlei Maß.
Abgesehen davon, dass Österreich heute wirtschaftlich ohne MigrantInnen nicht existieren könnte, was bringt es uns, ein Einwanderungsland zu sein?
Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen bildet die Basis für Kreativität. Die extreme »Geniedichte« Wiens um die Wende zum 20. Jahrhundert hat damit zu tun, dass Wien ein melting pot war, und viele der großen Geister, die wir als unser kulturelles Erbe sehen, hatten Migrationshintergrund. Dieses gelungene Zusammenspiel unterschiedlichster Kulturen ist ja das eigentlich Typische für Österreich und daher »österreichische Heimat«.
Wir danken für das Gespräch.
Katharina Klee für Arbeit&Wirtschaft
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Die gesamtwirtschaftliche Ebene
Seit 1990 dient der dreiseitige »Interessenabstimmungsrat« (OÉT) als Forum für Informationsaustausch, Beratung und Begutachtung, Verhandlungen sowie den Abschluss von Abkommen. Vertreten sind dort neben der Regierung die repräsentativen Gewerkschaftsdachverbände und die neun wichtigsten Arbeitgeberdachverbände.
Sechs nationale Gewerkschaftskonföderationen erfüllen die Kriterien der Repräsentativität:
Die bis heute nicht überwundene Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung war das Ergebnis des politischen Umbruchs um 1989. Damals entstanden neue politische Parteien sowie neue Gewerkschaften, die sich entweder mit einer der Parteien verbündeten oder sich parteipolitisch neutral erklärten. Der OÉT dient erstens als Plattform für Informationsaustausch und Beratungen über die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zweitens verhandeln alljährlich im Herbst Sozialpartner und Regierung über eine Empfehlung an die Kollektivvertrags(KV)-Partner des privaten Sektors bezüglich des Anstiegs der KV-Löhne im jeweils folgenden Jahr und über das Ausmaß der Anhebung des nationalen Mindestlohns. Lohnempfehlung und Mindestlohnanpassung dienen für die KV-Verhandlungen auf Branchen- und Unternehmensebene als wichtige Orientierung. Die Mitwirkung am sozialen Dialog auf gesamtwirtschaftlicher Ebene sichert den Gewerkschaften doch einen gewissen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Branchen-KV bestehen nur in wenigen Wirtschaftszweigen, etwa im Bereich der Energieversorgung, des öffentlichen Verkehrs und der Post. Viele dieser KV sind wenig konkret, enthalten keine Festlegung des jährlichen Lohnanstiegs oder eines Lohntarifs.
Die Gründe für die schwache Regulierungseffektivität auf der Branchenebene sind in den meisten Ländern Mittelosteuropas ähnliche wie in Ungarn: Erstens fehlt es den Branchengewerkschaften an den für eine effektive Interessenvertretung notwendigen finanziellen Ressourcen. Das hat nicht zuletzt mit dem hohen Grad an Autonomie der betrieblichen Basisorganisationen zu tun, von denen viele als eigenständige rechtliche Einheit registriert sind.
Und zweitens ziehen die ArbeitgeberInnen kollektive Lohnverhandlungen - falls überhaupt - auf der Unternehmensebene oder individuelle Lohnfestsetzung vor. Aus diesem Grund existiert in nicht wenigen Branchen gar kein Arbeitgeberverband. Die Branchenebene stellt also - im Gegensatz zu Österreich - den Schwachpunkt des Lohnverhandlungssystems dar.
Die Unternehmensebene
Die wichtigste Ebene der kollektiven Lohnverhandlungen ist in Ungarn die Unternehmensebene. Nur im jeweiligen Unternehmen repräsentative Gewerkschaften sind berechtigt, einen KV auszuhandeln und abzuschließen - dazu müssen sie mindestens zehn Prozent der Stimmen bei der jüngsten Betriebsratswahl erreicht haben.
KV-Bestimmungen sind rechtlich bindend. Rechtsstreitigkeiten fallen in die Zuständigkeit spezieller Arbeitsgerichte. Gemäß dem 1992 beschlossenen Arbeitsgesetzbuch können Gewerkschaften nicht unmittelbar wegen eines Verstoßes im Namen eines Mitglieds Klage führen, sondern dieses muss selbst aktiv werden. Unternehmens-KV haben Außenseiterwirkung auch auf jene Beschäftigte des abschließenden Arbeitgebers, die nicht Mitglied der abschließenden Gewerkschaft sind. Entsprechend dem Günstigkeitsprinzip dürfen Unternehmens-KV nur für die ArbeitnehmerInnen günstige Abweichungen von einem Branchen-KV oder vom Arbeitsgesetzbuch enthalten.
Kollektivverträge fehlen
2008 waren 1.040 Unternehmens-KV für rund 562.000 Beschäftigte des privaten Sektors in Kraft. Von diesen KV wurden 2008 lediglich 216 wiederverhandelt oder erstmals abgeschlossen. Im großen Bereich der Kleinunternehmen sind Gewerkschaften kaum vertreten - allein schon deshalb, weil für die Gründung einer betrieblichen Gewerkschaftsvertretung zehn Beschäftigte benötigt werden. Daher fehlen dort auch KV - abgesehen von den wenigen Branchen, wo ein KV allgemeinverbindlich erklärt wurde.
Viele ungarische Unternehmens-KV sind keine ausverhandelten Vereinbarungen, sondern wurden entweder einseitig vom Arbeitgeber vorgegeben oder wiederholen Passagen aus dem Arbeitsgesetzbuch. Fast 40 Prozent enthalten keine Festlegung des jährlichen Lohnanstiegs oder eines Lohntarifs. ArbeitgeberInnen haben also, selbst wenn ein Unternehmens-KV besteht und ein Abkommen über einen Lohntarif enthält, großen Spielraum.
Wird in einem Unternehmens-KV der jährliche Lohnanstieg geregelt, dann in der Form eines Anhangs, dem sog. »Lohnabkommen«. Diese regeln jedoch meist nur die Anhebung der niedrigsten Basislöhne. Alles in allem bestanden 2008 in Ungarn 2.309 KV für rund eine Mio. Beschäftigte. Der Deckungsgrad der KV betrug - unter Berücksichtigung des Effekts von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen - 36 Prozent. Erwartungsgemäß zog der starke Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades - nur noch rund 17 Prozent - ein Absinken der Zahl der Unternehmens-KV und ein Fallen des Deckungsgrades nach sich. In einer derartigen Situation verstärkt sich für UnternehmerInnen mit gewerkschaftlich organisierter Belegschaft der Anreiz, auf einen Antigewerkschaftskurs einzuschwenken. Somit steigt das Risiko einer Abwärtsspirale: Sinkender Organisationsgrad bedeutet unter den Bedingungen von Unternehmenskollektivverträgen fallenden Deckungsgrad, was wiederum die Gewerkschaften schwächt usw.
Lohnentwicklung
Die Lohnentwicklung in Ungarn wird seit 1989 - auch weil die Gewerkschaften in einigen Bereichen nur schwach vertreten sind - v. a. durch direkte Wirtschafts- und Arbeitsmarkteinflüsse sowie durch massive staatliche Eingriffe bestimmt.
Die Weltwirtschaftskrise, die im September 2008 einsetzte, hat in Ungarn besonders schwerwiegende Auswirkungen, weil sich diese Volkswirtschaft bereits vor der Krise durch starke makroökonomische Ungleichgewichte auszeichnete (Haushaltsdefizit, Auslandsverschuldung, Leistungsbilanzdefizit). 2009 verringerte sich die reale Wirtschaftsleistung um 6,3 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg von 7,8 Prozent 2008 auf zehn Prozent 2009. Der Lebensstandard der unselbstständig Beschäftigten sinkt erheblich: Der Reallohnrückgang zwischen 2006 und 2010 wird auf insgesamt 9,7 Prozent geschätzt.
Sozialpartner und Regierung vereinbarten im Dezember 2009 im Interessenabstimmungsrat eine Anhebung des monatlichen Mindestlohns per 1. 1. 2010 um 2,8 Prozent auf 73.500 HUF (279 Euro), bei einer prognostizierten Teuerungsrate von 3,9 Prozent. Die Empfehlung an die KV-Verhandler im privaten Sektor lautet, Sorge zu tragen, dass 2010 die Reallöhne aufrecht erhalten werden, und dort, wo die betriebliche Situation dies erlaubt, sogar steigen. Angesichts der Krise und der damit einhergehenden weiteren Schwächung der Gewerkschaften ist die Tatsache, dass Vereinbarungen zustande kamen, an und für sich schon bemerkenswert. Aus der Sicht der Gewerkschaften stellt bereits dieses Faktum allein einen Erfolg dar.
Weblink
Gewerkschaftskooperation Österreich-Ungarn
www.sk-at.eu/at-hu/de/news.php
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Wachstum in China, Indien, Brasilien
Besonders kräftig ist derzeit das Wachstum in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Aber auch die USA und Japan verzeichnen ein dynamisches Wachstum, da die Wirtschaftspolitik in diesen Ländern wesentlich üppigere Sanierungspakete schnürte als es etwa in Europa der Fall war. Die Erholung im Euroraum fällt dagegen äußerst schaumgebremst aus. Die weiterhin schwache Binnennachfrage bremst das Wachstum nach wie vor, und die makroökonomischen Ungleichgewichte zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten der Währungsunion machen KonsumentInnen und Investoren sowie die Finanzmärkte nervös, wie die jüngsten Turbulenzen zeigen. In seiner neuesten Konjunkturprognose von Anfang Juli 2010 rechnet das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) für den Euroraum mit Wirtschaftswachstumsraten (reales BIP) in der Höhe von 0,9 und 1,2 Prozent für die Jahre 2010 und 2011. Da in Europa die Wachstumsimpulse von außen und nicht von innen kommen, wachsen stark exportorientierte Länder wie Deutschland - auch dank niedrigem Euro-Kurs - überdurchschnittlich, wovon wiederum Österreich profitieren kann.
Zwar musste das WIFO die Wachstumsprognose für Österreich im Jahr 2010 geringfügig reduzieren, doch ist dies dem enttäuschenden Ergebnis des ersten Quartals zuzuschreiben, in dem die Investitionen erneut negativ ausfielen und auch das schlechte Wetter bremsend wirkte. Es wird ab dem zweiten Quartal wieder mit kräftigerem Wachstum gerechnet, insbesondere da die Exporte wieder spürbar anziehen.
Die Bruttoanlageinvestitionen werden nach dem Einbruch im Vorjahr auch heuer zurückgehen, da die Kapazitäten bei weitem nicht ausgelastet sind. Im Laufe des Jahres wird aber durch Erholung des Welthandels, Stärkung des Vertrauens, bessere Finanzierungsbedingungen und eventuell Vorzieheffekte wegen des Auslaufens steuerlicher Investitionsbegünstigungen eine leichte Wiederbelebung erwartet.
Ein Beschäftigungswunder?
Im Verhältnis zu den schwachen Ergebnissen bei Produktion und Investitionen überaus erstaunlich entwickelt sich die Beschäftigung. Die Verschlechterung am Arbeitsmarkt fiel - so negativ diese insbesondere für die direkt Betroffenen auch ist - deutlich schwächer aus als erwartet. Nach einem Anstieg der Zahl der aktiven Beschäftigten um über 80.000 im Jahr 2008 ging diese 2009 um knapp 40.000 zurück, doch 2010 und 2011 wird wieder ein Anstieg um 16.000 bzw. 18.000 (oder um jeweils 0,5 Prozent) prognostiziert. Dennoch steigt die Arbeitslosigkeit weiter, da sich auch das Arbeitskräfteangebot ausweitet. Nach dem Tiefpunkt der Arbeitslosenzahl von ca. 212.000 im Jahr 2008 wird diese bis 2011 auf 269.000 ansteigen, was einer Arbeitslosenquote von 7,3 Prozent nach nationaler Definition bzw. von 5,0 Prozent nach EU-Definition entspricht. In der Eurozone erreichen nur die Niederlande einen ähnlich niedrigen Wert.
Hier zeigt sich wieder einmal die große Bedeutung der Rolle der Sozialpartner und der öffentlichen Hand. Im Wesentlichen gibt es drei Gründe dafür, dass die Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt so weit abgefedert werden konnten: Erstens die Kurzarbeitsmodelle, zweitens die Ausweitung der Schulungsmaßnahmen, und drittens der Beschäftigungszuwachs in öffentlichkeitsnahen Dienstleistungen (vor allen Erziehung und Unterricht sowie Sozialwesen). Mit der Konjunkturbelebung sollte sich langsam auch die Beschäftigung in der Sachgüterproduktion wieder erholen, allerdings aufgrund des »Hortens« von Arbeitskräften durch Kurzarbeit nur sehr zögerlich.
Netto-Reallöhne sinken wieder
Während die realen Pro-Kopf-Einkommen im Vorjahr - als Folge kräftiger Lohnabschlüsse im Herbst 2008, der Entlastung durch die Steuerreform und durch das Sinken der Inflationsrate - relativ kräftig (um 2,3 Prozent) angestiegen waren, wird für 2010 und 2011 jeweils ein Rückgang um einen halben Prozentpunkt erwartet. Dazu tragen der stärkere Preisauftrieb infolge der Belebung des Welthandels, aber auch schwächere Bruttozuwächse bei, welche aus der angespannten Lage der Sachgüterproduktion zu erwarten sind. Die Konsumnachfrage, bislang die wesentlichste Konjunkturstütze, wird weiterhin leicht positiv bleiben. Denn einerseits steigen die Einkünfte aus Besitz und Unternehmen zyklisch bedingt wieder kräftig, sodass sich gesamtwirtschaftlich ein Zuwachs der verfügbaren Einkommen ergibt, andererseits senken die Haushalte ihre - auch weiterhin recht hohe - Sparquote etwas ab, um Einkommenseinbußen zu kompensieren.
Keine übereilten Sparpakete
Ein Fragezeichen für die weitere Entwicklung des privaten Konsums ergibt sich allerdings aus den Sparplänen der Regierung. Noch sind dazu keine Details bekannt, dennoch ist es offensichtlich, dass Budgetsanierungsmaßnahmem im angekündigten Umfang eine spürbare Dämpfung sowohl für Investitionen als auch für den privaten Konsum darstellen und somit das Wirtschaftswachstum um einige Zehntel Prozentpunkte reduzieren werden. Zusätzlich könnte eine Erhöhung von Steuern und Abgaben die Inflationsrate um bis zu einem halben Prozentpunkt erhöhen, was sich wiederum negativ auf Realeinkommen und damit den Konsum auswirkt.
Der Wirtschaftsaufschwung ist weiterhin ein zartes Pflänzchen, welches eines sorgsamen Umgangs bedarf, um nicht gleich wieder abgewürgt zu werden. Es reichen die Bedrohungen aus den Unsicherheiten und Risiken auf den überaus nervösen Finanzmärkten. Eine zusätzliche Bedrohung durch übereilten Sparaktivismus in der Budgetpolitik ist derzeit mehr als verzichtbar. Ein nachhaltiger selbsttragender Wirtschaftsaufschwung ist weiterhin nicht in Sicht. Einzig die Unternehmensgewinne erholen sich schon wieder, bei den Unselbstständigen ist dagegen - wie die weitere Verschlechterung der Nettoeinkommen und der Arbeitslosenquote zeigt - von Erholung noch nichts zu spüren. Deshalb forderte AK-Präsident Tumpel, bei der Budgetkonsolidierung insbesondere auf folgende Punkte zu achten:
Weblink
Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung:
www.wifo.ac.at
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Zeitarbeit im Wandel
Zeitarbeit wandelte sich vom ursprünglichen Ad-hoc-Einsatz bei kurzfristigem Personalausfall in den 1970er-Jahren zunehmend zu einem strategischen Instrument zur Profitsteigerung.
Der Arbeitsmarkt verändert sich. Das traditionelle Arbeitsverhältnis verliert an Relevanz, während atypische Beschäftigungsverhältnisse rasant zunehmen. Für sozial- und gesellschaftspolitischen Sprengstoff ist daher auch in Zukunft gesorgt. Auch Gewerkschaften und BetriebsrätInnen werden durch diese Entwicklungen enorm gefordert. Plötzlich im Schnittpunkt »zweier Klassen« von MitarbeiterInnen im eigenen Betrieb zu stehen, bedeutet für viele BelegschaftsvertreterInnen mit Neuem und Unbekanntem konfrontiert zu sein. Auch das Spannungsfeld zwischen Stammbelegschaft und Zeitarbeitskräften kann, speziell in größeren Unternehmungen, von BetriebsrätInnen so manchen Spagat abverlangen. Verdichtet wird diese Anspannung auch noch durch die Interessen der Unternehmensführung.
Mit den Anforderungen in diesem Spannungsdreieck beschäftigen sich auch Arbeiterkammern und Gewerkschaften schon länger intensiv. Die Erkenntnis, das Zeitarbeit, mit all ihren Facetten, realistischerweise nicht mehr unterbunden werden kann, ist ein Faktum. Es verlangt aber von allen »Beteiligten«, diese sozialverträglich und vor allem menschenwürdig zu gestalten.
Nicht alle dieser Zeitarbeitsverhältnisse laufen rechtlich und menschenfreundlich ab. Trotz gesetzlicher und kollektivvertraglicher Regelungen tauchen immer noch vermehrt »Bad Practices«, wie aus den frühen Tagen der Arbeitskräfteüberlassung bekannt, auf.
Im Rahmen des GeDiFo innerhalb der AK beschäftigte sich im vorigen Jahr eine BetriebsrätInnen-Projektgruppe mit der Situation von Belegschaftsvertretungen in Unternehmen, welche Zeitarbeitskräfte beschäftigen oder zur Verfügung stellen.
GeDiFo ist die Abkürzung für »Gesellschaftspolitisches Diskussions-Forum«, welches formfreie Diskussionen aller Art fördert, die ausgehend von der aktuellen gesellschaftspolitischen Strömung die Situation der arbeitenden Menschen beleuchten und sich als Plattform für Projekte zur Verfügung stellt, die die Verbesserung dieser Situation anstreben.
Die Projektgruppe »Zeitarbeitskräfte - BetriebsräteNetzwerk« ist primär aus zwei Gründen entstanden:
Beiden Gruppen ist mit einem praxisorientierten Erfahrungsaustausch gedient. Die Zusammenarbeit sowohl innerhalb der jeweiligen Gruppe als auch zwischen VertreterInnen der jeweils anderen Gruppe scheitert aber bisher oft an der Unkenntnis der potenziellen AnsprechpartnerInnen. Als Ergebnis dieser Projektarbeit entstand eine Web-Plattform, die Zusammenarbeit und Dialog zwischen den BelegschaftsvertreterInnen fördern soll.
Über alle Grenzen hinweg, unabhängig von Fraktionen, Fachgewerkschaften usw. soll die Vernetzung von BelegschaftsvertreterInnen, Gewerkschaften und Arbeiterkammern im Vordergrund stehen. Sehr wichtig war außerdem, nicht eine starre/statische, sondern eine möglichst lebendige, schnelle und (inter)aktive Plattform zu kreieren.
Weblog als Diskussionsplattform
In Form eines Weblogs (blog.betriebsraete.at/zeitarbeit) soll alles für BetriebsrätInnen wichtige, zur Zeitarbeit, deren Voraussetzungen, aber auch bekannte Probleme, gebündelt und einfach abrufbar sein.
Von den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Grund-/Basisinformationen über erläuternde Artikel zum Thema, FAQs für betroffene BetriebsrätInnen, Erfahrungsberichten sowie, zu einem späteren Zeitpunkt geplant, auch ein Erfahrungsranking von Überlasserbetrieben wird auf der Plattform zur Verfügung stehen.
In belebter Art und Weise kann/soll auch jede/r interessierte Betriebsrat seine ganz persönlichen Erkenntnisse oder Fragen zur Zeitarbeit im Blog posten. Das Herzstück bildet aber eine interaktive Datenbank, in der sich BelegschaftsvertreterInnen mit Erfahrung zum Thema Zeitarbeit als AnsprechpartnerInnen eintragen und ihr Wissen so weitervermitteln können. Auch VertreterInnen von Gewerkschaften und Kammer werden in dieser Datenbank auffindbar sein. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit für den »suchenden/unerfahrenen« Betriebsrat ohne Umständlichkeiten, einfach per Mausklick, durch ein Telefonat oder einfach »Face to Face« mit »wissenden/erfahrenen« BetriebsrätInnen in Kontakt zu treten.
Alle genannten Personen sind zur Mitgestaltung der weiteren Entwick-lung dieses BetriebsrätInnen-Netzwerks eingeladen. Je umfangreicher diese »Selbsthilfe«-Plattform für BetriebsrätInnen gedeiht, umso mehr Wissen und Kenntnis kann rund um die Zeitarbeit weitervermittelt werden.
Druck wächst
Zeitarbeitskräfte waren in Österreich vornehmlich und in hoher Anzahl in den industriellen Fertigungsbereichen beschäftigt. Gefolgt vom Bau und dem Dienstleistungssektor. Durch die krisenbedingte Reduktion von Vermittlungen in diese Bereiche haben Personaldienstleister aber auch zunehmend die KMUs für ihre Vermittlungsgeschäfte entdeckt. Auch bei den klassischen »Angestellten«-Tätigkeiten ist ein extrem gesteigerter Druck zur Arbeitskräfteüberlassung festzustellen. Eine stete Zunahme ist und wird in allen Bereichen unserer Arbeitswelt zu verzeichnen sein.
Als Betriebsrat darauf zu achten, dass Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen tätig sind, gleichberechtigt und gleichwertig behandelt werden, dient primär auch dem Schutz der Stammbelegschaften. Auch sie stehen unter extremem »Wettbewerbsdruck« am Arbeitsplatz.
Ein System, das rechtliche, finanzielle oder gar gesellschaftliche Mankos einer ArbeitnehmerInnen-Gruppe zum Vorteil macht, darf nicht zur gesellschaftlich geduldeten Lehre werden. »Just in time« den Lebensunterhalt zu verdienen kann nicht das Ziel einer modernen Gesellschaft weden. Der Druck auf alle Betroffenen nimmt zu. Unternehmen wir mit diesem neu geschaffenen Werkzeug gemeinsam etwas dagegen!
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Mehr Infos unter:
blog.betriebsraete.at/zeitarbeit
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Unter Downloads gibt es
Statistiken sind Argumente
Diese Statistiken (siehe Downloads) sollen die Orientierung erleichtern. Die Tabellen sind wichtige Informationen für InteressenvertreterInnen und jede/n politisch Interessierte/n.
Lust und Liebe stehen am Anfang - mit ein bisschen Glück und gutem Willen wird manchmal auch eine Familie draus. Die hat in unserem Sozialstaat alle möglichen Rechte und Pflichten.
ÖGB und Arbeiterkammer bieten jede Menge Rechtsinformationen zu diesem Themenbereich an.
So wurde das neue Baby-Package mit den Inhalten der Broschüren »Elternteilzeit« und »Hurra, ein Kind ist da« kombiniert, um ein kompakteres Serviceangebot für Gewerkschaftsmitglieder bereitzustellen.
Mitglieder finden alle Infos im Internet auf www.oegb.at/frauen unter Rechtsinfos. Die ÖGB-Frauen Rechtsinfos leisten als Rechts- und Beratungsleitfaden in diversen Arbeits- und Lebensphasen nicht nur für Frauen Hilfestellung. 2009 haben sie ihr Rechtsinfo-Sortiment nach Themenbereichen abgestimmt und eine zielgruppenorientierte Zusammenführung vorgenommen.
Die Inhalte im Überblick
Baby-Package inklusive Bildungskarenz Nr.1 / Stand Jänner 2010
1.In der Schwangerschaft
2.Nach der Geburt
3.Die Elternteilzeit
4.Geldleistungen
5.Bildungskarenz
6.Beihilfen und steuerliche Vergünstigungen
7.Terminkalender
8.Musterformulare
9.Adressen der ÖGB-Frauen
Gleichbehandlung in der Arbeitswelt inklusive Hilfe bei sexueller Belästigung Nr. 2 / Stand Jänner 2010
1.Das Gleichbehandlungsgesetz
2.Diskriminierung
3.Belästigung und sexuelle Belästigung
4.Wie kann ich mich wehren?
5.Wer muss was beweisen - Beweislast
6.Rechtliche Möglichkeiten für Betroffene
7.Hier gibt es Hilfe für Betroffene!
8.Nicht zuschauen - Handeln! Courage ist wichtig!
9.Aus der Praxis: Entscheidungen der Kommission
10.Nützliche Adressen
Der Dienstleistungsscheck Nr. 3 / Stand Jänner 2010
1.Anwendungsbereich
2.Wert und Kosten des Dienstleistungsschecks
3.Wo gibts den Dienstleistungsscheck?
4.Rechte und Pflichten
5.Sonstiges
6.Adressen der ÖGB-Frauen
Familienhospizkarenz Nr. 4 / Stand Jänner 2010
1.Grundsätzliches
2.Arbeitsrechtliche Bestimmungen
3.Sozialversicherungsrechtliche Absicherung
4.Der Familienhospiz-Härteausgleich
5.Anhang: Formulare
Rechtsinfos als Druckversion
Bestellung unter frauen@oegb.at oder Tel. 01/534 44-39042
Und auch am Portal der Arbeiterkammer finden Sie umfangreiche Informationen zum Thema Beruf und Familie auf www.arbeiterkammer.at/berufundfamilie.htm
Neben Informationen zu Kindergeld oder Karenzteilung stellt die AK auch einen Familienbeihilfen- oder einen Haushaltsbudgetrechner zur Verfügung.
Ausführliche Informationen und weiterführende Links finden Sie unter: www.arbeiterkammer.at/arbeitsrecht/arbeitsklima.htm - hier geht es um Gleichbehandlung, Diskriminierung, sexuelle Belästigung oder HIV und Aids in der Arbeitswelt.
]]>Mit dem Übergang von der Mangel- zur Überflussgesellschaft wurde diese Haltung überflüssig.Wo Konsum dominiert, ist Verzicht schädlich für Geschäfte und Wirtschaft. Das gesellschaftliche Anerkennungsmuster wechselte - statt sozialer Konformität fand nunmehr demonstrativer Konsum hohe Anerkennung. Dazu kam, dass die Wirtschaft umfassend nach ökonomischer Verwertung neuer Bereiche des Lebens suchte. Wenn gesellschaftliche Tabus schwächer werden, lassen sich mit rauschenden Festen, mit Angeberei, Sex, Glücksspiel, Gewalt und Luxuskonsum neue lukrative Geschäft machen.
Diese Rücknahme von Verfeinerung und Verzicht (= Entsublimierung), diese Enttabuisierung bislang als Schmutz und Schund geächteter dunkler Gassen, blieb aber repressiv. Statt Sparsamkeit und überlegtem Konsum gilt heute Konsumzwang. Wer hier nicht mithält, ist »draußen«, gehört nicht »dazu«. Darum der Ausdruck: repressive Entsublimierung oder repressive Toleranz. Er kommt aus der Kritischen Theorie, eine Gesellschaftskritik, die sich intensiv mit Marx und Freud beschäftigte. Bekannte Vertreter waren Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer.
Auch wenn sich das Korsett des erwünschten Verhaltens gelockert hat, frei ist diese Gesellschaft, sind die Menschen nicht. Verwertungschancen für Unternehmen wurden größer, Konsummöglichkeiten stiegen ins Ungeahnte. Das wird nur ungern kritisch hinterfragt. Äußert sich doch wer kritisch zu Werbung oder Glücksspiel - immerhin frisst Werbung schon rund ein Zwölftel des Konsumbudgets, die Ausgaben für Glücksspiele sind noch wesentlich höher - kommt rasch der Vorwurf von Zensur und Entmündigung.
Neue Anerkennungsformen
Gründe für die Liebe zum Konsum und die Bereitschaft vieler Menschen, sich seinen Zwängen zu unterwerfen, liegt wohl darin, dass Konsumieren heute eigentlich das einzige Lebensfeld ist, das seine Glücksversprechen halbwegs hält. Zufriedenstellende, sichere Arbeitsverhältnisse sind selten geworden, Liebesbeziehungen zerbrechen schnell, und Kinder verursachen Ärger mit ihrer entfesselten Konsumgier.
Auch haben die Enttabuisierung von Sexualität und ihre universelle Präsenz in Werbung und Medien zu neuen Zwängen geführt. Eine Sechzehnjährige, die noch Jungfrau ist, wird heute von ihrer Umwelt, den Gleichaltrigen und Medien, dazu gebracht, sich als nicht normal zu empfinden. Den wirtschaftlich Schwachen geht es mit ihren gefühlten Konsumdefiziten nicht anders.
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Ausstieg geschafft
Joana Adesuwa ist eine der wenigen, denen frühzeitig der Ausstieg gelungen ist. Mehr noch, sie schaffte es auch, aus der Anonymität zu treten, gründete 2006 den Verein EXIT, der sich für vom Menschenhandel betroffene Frauen und Mädchen einsetzt. 2008 erschien ihr Buch »Die Wassergöttin«, in dem sie ihre Jugend in Nigeria und die ersten Monate in Wien beschreibt.
Vielen Afrikanerinnen, Asiatinnen und Südamerikanerinnen, die von einem regelmäßigen Einkommen, von Sicherheit und einem selbstbestimmten Leben träumen, ergeht es noch viel schlechter als Joana. Ihnen wird versprochen, dass sie in Europa oder den USA studieren, als Kellnerin, Stubenmädchen oder Tänzerin arbeiten können. Sie stürzen sich in Schulden, erleben Traumatisches auf strapaziösen Reisen, müssen hungern, werden ständig geschlagen, zur Prostitution gezwungen - und dann womöglich wieder abgeschoben.
Nach dem kürzlich präsentierten Bericht des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) werden in Europa jährlich 140.000 Menschen Opfer von Menschenhandel (human trafficking). Der neueste Trend sind SüdamerikanerInnen, darunter auch Transgender aus Brasilien. Laut OSZE sind 50 bis 75 Prozent aller Prostituierten durch Schlepper ins Land gekommen. Mit einem geschätzten Jahresumsatz von zwölf Mrd. US-Dollar weltweit rangiert Frauenhandel nach Waffen- und Drogenhandel an dritter Stelle. Die meisten Frauen (und Mädchen) werden in der Sexindustrie eingesetzt, aber auch als Hausangestellte, Kranken- und AltenpflegerInnen. In der Regel wird den betroffenen Frauen der Pass weggenommen, und sie müssen in einer Art moderner Sklaverei leben ohne Rechte, Sozialleistungen etc.
Die Gründe dafür, dass (junge) Frauen ans Auswandern denken sind vielfältig: In Filmen, Videoclips und in Touristengebieten quasi direkt vor der Haustür sehen sie nicht nur, dass es manchen Frauen finanziell viel besser geht, sondern auch dass diese wesentlich mehr Freiheiten haben. Moderne Frauen können selbst entscheiden, welchen Beruf sie ergreifen, ob und wo sie studieren möchten, wie sie sich kleiden, mit wem sie sich treffen und in welchem Lokal, wen sie heiraten etc. Der Unterschied zu der oft noch von Traditionen geprägten (Macho-)Welt ist enorm: »Seit Jahren hatte ich niemandem auf Knien das Essen gereicht. In ganz Nigeria war diese Tradition mit der Zeit verschwunden. Entweder war das noch nicht bis zu meinem Mann vorgedrungen, oder er wollte vor seinen Freunden nicht als Idiot dastehen.«* Religiöse Vorschriften und Aberglauben schränken das Leben und die Entscheidungsfreiheit vor allem von Frauen stark ein. So werden in vielen Teilen Westafrikas nach wie vor Frauen als Hexen oder für besessen erklärt und für sämtliches Unglück in einer Familie verantwortlich gemacht, gequält, verfolgt und mitunter getötet.
50 Nationalitäten am Strich
Österreich ist durch seine geografische Lage sowohl Transit- als auch Zielland für den Menschenhandel aus Zentral- und Osteuropa. 60 bis 80 Prozent der Sexarbeiterinnen sind Migrantinnen, viele davon nicht registriert. Asylwerberinnen haben selbst wenn sie eine Arbeitsbewilligung bekommen meist schon wegen mangelnder Sprachkenntnisse schlechte Jobchancen. Da erscheint die Prostitution oft als einzige Alternative. Die Globalisierung macht sich auch in diesem Bereich bemerkbar. Wurden 1994 noch zwölf verschiedene Nationalitäten unter den Prostituierten in Holland, Deutschland, Italien und Österreich gezählt, so waren es zehn Jahre später bereits 50. Gar nicht so selten zählen auch Frauen zu den Täterinnen. So führte etwa die Wirtschaftskrise in Nigeria in den 1980er-Jahren dazu, dass Frauen vom Handel mit Gold und Handtaschen auf Mädchenhandel umgestiegen sind.
Endlich im »gelobten Land«, irgendwo im reichen Europa, wo alle eine fremde Sprache sprechen, das Leben oft ganz anders verläuft als in der Heimat, werden die Frauen und Mädchen weiter unter Druck gesetzt - ohne Papiere, mit Tausenden Euros Schlepper-Schulden, dazu kommen noch horrende Kosten für die Unterkunft. Durch Unwissenheit gefährden vor allem illegale Prostituierte oft ihre Gesundheit (und die ihrer Kunden), wenn sie ohne Kondom arbeiten und nicht regelmäßig zum Arzt gehen. Viele haben mehr Angst vor einer Schwangerschaft als vor Geschlechtskrankheiten, und so manche denkt, dass die Pille auch gegen Krankheiten schützt.
Mehr Rechte für Betroffene
Das Beratungszentrum LEFÖ in Wien bietet seit 1991 Beratung, Bildung und Begleitung für Migrantinnen an, basierend auf Partizipation und Empowerment. LEFÖ ist unter anderem Partnerin des europäischen Netzwerks TAMPEP (European Network for HIV/STI Prevention and Health Promotion Among Migrant Sex Workers). Außerdem befindet sich hier die österreichweit einzige Interventionsstelle für Betroffene von Frauenhandel (IBF). TAMPEP bietet bundesweit aufsuchende Gesundheitsprävention direkt am Arbeitsplatz der Sexarbeiterinnen, muttersprachliche Beratung sowie Begleitung zu Behörden. IBF hilft von Menschenhandel betroffenen Frauen in sämtlichen Lebensbereichen (Notwohnungen, Unterstützung bei Behörden und Prozessbegleitung, Deutschkurse, Rückkehrvorbereitung etc.). Renate Blum: »Die meisten Frauen kommen über Vermittlung der Polizei oder NGOs zu uns, rund 50 Prozent stammen derzeit aus den neuen EU-Ländern.«
Verurteilungen wegen Frauenhandel gibt es relativ selten, denn nur wenige Opfer erstatten tatsächlich Anzeige. Sie haben Angst vor Rache, sehen oft keine anderen Job-Chancen und befürchten schließlich die Ausweisung. Bisweilen werden die Frauen offiziell auch als Table-Tänzerinnen o.ä. engagiert und theoretisch können sie selbst entscheiden, wie weit sie mit einem Kunden gehen. Damit sind Menschenhandel und Prostitution vor Gericht nur sehr schwer zu beweisen. Großeinsätze wie im vergangenen April, als mit einem Schlag mehr als zehn »Gürtel-Größen« wegen schwerer Erpressung, schwerer Körperverletzung und Menschenhandel verhaftet wurden, sind selten - und noch sind die Angeklagten nicht verurteilt. Im Rahmen des nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung des Menschenhandels für 2009 bis 2011 sollen unter anderem die bundesweite, aber auch die internationale Zusammenarbeit bzw. die Kooperation zwischen Polizei, Beratungseinrichtungen und Behörden verbessert sowie das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit erhöht werden. In Österreich können die Behörden derzeit Zeugen/-innen und Opfern von Menschenhandel eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis von mindestens sechs Monaten (meist ein Jahr) gewähren. Entsprechende Anträge müssen binnen sechs Wochen bearbeitet werden. Ein positiver Bescheid beinhaltet allerdings noch keine Arbeitsgenehmigung.
Zugang zur Gewerkschaft gewünscht
Die Öffnung des Arbeitsmarktes für MigrantInnen bzw. AsylwerberInnen ist daher eines der wichtigsten Anliegen von LEFÖ. Außerdem sollten Betroffene Zugang zum Gesundheitssystem und Bildungseinrichtungen bekommen. Und - angesichts der Tatsache, dass SexworkerInnen in Österreich noch nicht in der Gewerkschaft vertreten sind - dass auch Personen zu Gewerkschaften Zugang bekommen, die bisher ausgeschlossen waren.
*Aus: Joana Adesuwa-Reiterer: Die Wassergöttin - Wie ich den Bann des Voodoo brach; Knaur-Verlag
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Verein Exit:
www.adesuwainitiatives.org
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Selbstständig oder angestellt?
Szenenwechsel: Sie finden in Ihrem Postfach Zahlungsaufforderungen von Finanzamt und Sozialversicherung. Da Sie überzeugt sind, dass die Steuern und Beiträge von Ihrem Arbeitgeber abgeführt werden, gehen Sie der Sache nach und müssen herausfinden: Jene Person, für die Sie regelmäßig eine orts- und weisungsgebundene Leistung erbringen, ist gar kein Arbeitgeber, der diese Abgaben entrichten müsste oder könnte.
Rechtlich sind Sie eigentlich selbstständig erwerbstätig, auch wenn praktisch nichts darauf hindeutet. Inwiefern Ihnen nun etwaige anderslautende Verträge weiterhelfen, können Sie dem vorigen Absatz entnehmen - und nun widmen Sie sich bitte den Zahlungsaufforderungen.
Die beiden eingangs geschilderten Szenarien erscheinen vielleicht, als wären sie einem kafkaesken ArbeitnehmerInnen-Albtraum entnommen oder konstruierte Gedankenexperimente zur Verbildlichung einer hypothetischen Welt ohne Arbeitsrecht, und doch sind sie in Österreich für eine Gruppe von Erwerbstätigen aktuelle Realität. »SexarbeiterInnen haben wenig, worauf sie pochen können. Es gibt für sie keine Rechtssicherheit«, sagt. Mag. Eva van Rahden, Leiterin der Wiener Beratungseinrichtung »SOPHIE-BildungsRaum für Prostituierte«. Dies zeigt sich bereits ganz banal und vordergründig in der Terminologie.
Während in Gesetzestexten die negativ konnotierten Begriffe »Prostitution« oder auch »gewerbsmäßige Unzucht« verwendet werden, hat sich im Fachdiskurs die wertneutrale Bezeichnung »SexarbeiterIn« etabliert, die genau genommen jedoch nicht der Situation in Österreich entspricht: Denn ArbeiterInnen (oder auch Angestellte) können Personen, die aus freien Stücken und legal sexuelle Dienstleistungen direkt an Kunden/Kundinnen anbieten, hierzulande nicht sein.
Legal oder egal?
Diese Differenzierung führt zum Kern des Problems. Sexarbeit ist seit 1975 grundsätzlich legal, seit 1984 sind Einkommen aus dieser Tätigkeit steuerpflichtig und seit 1998 besteht Sozialversicherungspflicht. Und dennoch ist freiwillige Prostitution bis heute offiziell »sittenwidrig«. Die zugrunde liegende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1989 ist zwar keine moralische Bewertung der Arbeit an sich, sondern bezieht sich vor allem darauf, dass die Triebhaftigkeit oder Trunkenheit von Kunden/Kundinnen ausgenützt werden könnte.
Allerdings hat die Sittenwidrigkeit tief greifende Auswirkungen, da sie sämtliche Verträge, die sexuelle Dienste gegen Entgelt zum Inhalt haben, für nichtig erklärt. Dies verhindert einerseits, dass nicht entrichtete Honorare für erbrachte Leistungen eingefordert werden können. Andererseits gibt es deshalb nicht die Möglichkeit unselbstständiger Dienstverhältnisse und der damit verbundenen ArbeitnehmerInnenrechte, selbst wenn - wie in der Praxis oft üblich - von BordellbetreiberInnen die Anwesenheitszeiten sowie Preise vorgeschrieben und Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt werden.
Pikant oder prekär?
Sexarbeit ist also selbstständige Erwerbstätigkeit mit allen damit verbundenen Risiken, aber ohne Rechtsmittel gegen säumige Kunden.
Dennoch handelt es sich bei Sexarbeit nicht um prekäre Arbeit. »Dieser Begriff ist dort anzuwenden, wo ArbeitgeberInnen ihre Lasten und Pflichten auf die ArbeitnehmerInnen abwälzen«, weiß Helga Hess-Knapp, Expertin der Abteilung Frauen und Familie der AK Wien: »Sexarbeit hat dagegen das Problem, überhaupt als Arbeit anerkannt zu werden, aus der sich arbeitsrechtliche Ansprüche ergeben.«
Wenn schon das Arbeitsrecht für SexarbeiterInnen nicht ganz optimal gelöst zu sein scheint, sollte das »älteste Gewerbe der Welt« zumindest gewerberechtlich gut aufgestellt sein. Ist es aber nicht. Vielmehr wird die freiwillige Ausübung von Prostitution gar nicht als gewerbliche Tätigkeit im Sinne der bundesweiten Gewerbeordnung angesehen und stattdessen durch neun Landespolizei- und Prostitutionsgesetze reglementiert, die stark voneinander abweichen: Das Mindestalter von SexarbeiterInnen variiert zwischen 18 und 19 Jahren; in zwei Bundesländern besteht keine gesetzliche Registrierungspflicht; die Anbahnung und Erbringung ist entweder nur in genehmigten Bordellen gestattet oder nur an bestimmten Orten untersagt; und in Vorarlberg ist Sexarbeit für Männer implizit verboten, was sich aber durch das faktische allgemeine Sexarbeitsverbot - mangels der nötigen Bordellgenehmigungen im gesamten Bundesland - erübrigt.
Doch in einem Punkt jenseits der legalen Prostitution sind sich die Landesgesetze einig: Bieten Personen unter dem gesetzlichen Mindestalter sexuelle Dienstleistungen an, machen sie sich strafbar - ihre Kunden/Kundinnen jedoch nicht.
Vorurteile oder Stigmata?
Die arbeitsrechtliche Situation von sexuellen DienstleisterInnen mag schwierig erscheinen. Doch zumindest außerhalb der Arbeitszeiten gelten für sie die gleichen Rechte wie für alle anderen. Oder? »Oft haben SexarbeiterInnen die arbeitsbezogenen Ausgrenzungen so sehr verinnerlicht«, so van Rahden, »dass sie die Rechtlosigkeit in anderen Bereichen prolongieren.« Etwa wenn Wohnungen ohne Vertrag gemietet werden, da ja aus dem Beruf bekannt ist, dass Verträge das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen. Oder wenn die betreffenden Personen vor Behördenwegen oder Beratungsangeboten zurückschrecken, im Zuge derer sie ihre Profession offenbaren müssten. Hess-Knapp: »SexarbeiterInnen werden im Beruf latent mit Vorurteilen und Verachtung konfrontiert und trauen sich häufig nicht zu offiziellen Institutionen, da sie befürchten, ihre Anliegen würden nicht akzeptiert.«
Freiwillig oder Opferrolle?
Manchmal kann sich diese Stigmatisierung aber auch völlig konträr äußern, weiß van Rahden: »Da die Dienstleistungen mehrheitlich von Frauen angeboten und von Männern nachgefragt werden, entwickelt sich der Umgang mit dem Thema schnell zum Geschlechterrollen- und Opferdiskurs. Auch Frauen fällt es oft schwer, anderen Frauen die freie Entscheidung für diese Form der Erwerbstätigkeit zuzugestehen.«
Im großen nördlichen Nachbarland gibt es das gesetzliche Zugeständnis zur freien Entscheidung für diese Form der Erwerbstätigkeit bereits seit 2002 - und zwar mit der Möglichkeit unselbstständiger Dienstverhältnisse und dem Recht auf gewerkschaftliche Vertretung (durch die ver.di), aber ohne die Restriktion der »Sittenwidrigkeit«, die damals von einem Gericht sinngemäß als nicht mehr zeitgemäß negiert wurde. In Österreich ist sie zwar rein legistisch noch immer zeitgemäß, doch laut Hess-Knapp ist die Gesellschaft bereits »weiter, als es die Gesetzeslage vermuten lässt.
Ganz gleich, mit wem ich darüber rede: Alle wären dafür, Sexarbeit in einen Rechtsstand zu erheben, der geregelte, würdevolle Arbeitsverhältnisse ermöglicht.« Die Legitimierung von Sexarbeit ist außerdem ein Schlüssel zur Bekämpfung von Ausbeutung und Zwangsverhältnissen, so van Rahden: »Nur wenn eindeutig und offiziell reglementiert ist, wie gute Arbeitsbedingungen auszusehen haben, lassen sich schlechte sanktionieren.«
Weblinks
Sexworker, das Forum von und für Profis:
www.sexworker.at
SOPHIE-Bildungsraum für Prostituierte:
de.sophie.or.at
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Vom Genuss zum Missbrauch
Die Übergänge von Vergnügen und Genuss zu Missbrauch und später zu Abhängigkeit sind in der Regel fließend und verlaufen individuell unterschiedlich. Mitunter werden negative Konsequenzen allerdings deutlich, lange bevor sich die Betroffenen eines Problems bewusst sind. Denn Alkohol, Drogen und Medikamente gefährden die Sicherheit am Arbeitsplatz. Man schätzt, dass 15 bis 20 Prozent der Arbeitsunfälle durch Alkohol verursacht werden. Insgesamt gelten rund fünf Prozent aller Beschäftigten als alkoholkrank, weitere zehn Prozent als gefährdet. Aber nicht nur die Volksdroge Alkohol ist relevant: In der sechsten Kaufsuchtgefährdungsstudie der AK-Wien wurde 2009 ein neuerlicher Anstieg der stark Kaufsucht-Gefährdeten auf zehn Prozent der Gesamtbevölkerung festgestellt. Schon in Betrieben mittlerer Größe ist daher die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man mit Abhängigkeit und Missbrauch konfrontiert wird.
In den meisten Fällen vergeht einige Zeit bis eine Suchterkrankung am Arbeitsplatz virulent wird. Selbst bei Alkohol kann es bis zu zehn Jahre dauern, bis die Krankheit offensichtlich wird - obwohl dessen Missbrauch durch Ausfallserscheinungen und Alkoholfahnen bzw. den Versuchen, diese mit Kaugummis etc. zu überdecken, relativ auffällig sein kann. Aber auch die nicht-substanzgebundenen Suchtformen (Spiel-, Kauf-, Sex- oder Esssucht) führen mit der Zeit zu offensichtlichen Problemen und Verhaltensänderungen. Schwierigkeiten innerhalb der Familie, Geldsorgen etc. beeinträchtigen schließlich die Leistungsfähigkeit im Job. Alkoholkranke fehlen 16-mal häufiger im Job und sind 2,5-mal öfter im Krankenstand. Depressionen und Suizidgedanken sind bei Suchtkranken und -Gefährdeten deutlich häufiger als bei der restlichen Bevölkerung.
Welches Suchtmittel auch immer im Spiel ist, die Symptome und daraus entstehende Probleme sind ähnlich:
Arbeiten bis zum Umfallen
Sämtliche dieser Symptome treffen übrigens auch auf Arbeitssucht zu, Workaholics vernachlässigen alles außer ihren Job und finden immer wieder neue (für andere nicht nachvollziehbare) Erklärungen, warum sie so viel arbeiten. Lediglich die bei vielen Suchtkranken irgendwann einsetzenden Geldprobleme fehlen. Die könnten allerdings dann später folgen, denn nicht therapierte Workaholics gehen meist sehr früh in Pension, haben Stress-bedingte Gesundheitsprobleme und sterben nicht selten jung. In Japan beispielsweise gibt es daher bereits mehr als 300 spezielle Workaholics-Behandlungszentren.
Aber selbst wenn Arbeitssucht gesellschaftlich weniger stigmatisiert ist als etwa Alkoholabhängigkeit oder Spielsucht, sind Betroffene typischerweise nicht sofort einsichtig oder bereit zur Therapie. Die Abgrenzung zu normalem Arbeitspensum kann ähnlich schwierig sein wie bei Kaufsucht oder Essstörungen. Im Gegensatz zu Drogen, Spielen oder Alkohol kann man auf Einkaufen, Arbeiten und Essen schließlich nicht gänzlich verzichten.
Wegschauen und das Beste hoffen, ignorieren, kündigen - so sollten KollegInnen, Vorgesetzte und BetriebsrätInnen besser nicht reagieren. Suchterkrankungen sind ein ernstes Problem und sollten nicht heruntergespielt oder verleugnet werden. Leider führt ein direktes Gespräch unter KollegInnen so gut wie sicher zu Frusterlebnissen auf der einen Seite und Misstrauen bei den Betroffenen. Besser ist es, entsprechende Verdachtsmomente direkt mit dem Betriebsarzt oder Betriebsrat zu besprechen. Denn selbst wenn es sich »nur« um Missbrauch handelt, Betroffene sind in der Regel durch ein kollegiales oder freundschaftliches Gespräch nicht zu Verhaltensänderungen zu bewegen.
Stufenplan
In einem Vier-Augen-Gespräch können BetriebsrätInnen/-ärzte, -ärztinnen und Vorgesetzte vermitteln, dass der/die MitarbeiterIn wertvoll für das Unternehmen ist, aber durch verschiedene (möglichst genau protokollierte) Auffälligkeiten derzeit der Job auf dem Spiel steht. Für die nächsten drei Monate sollten konkrete Vereinbarungen getroffen werden (Einhaltung der Arbeitszeit, keine eintägigen Krankmeldungen etc.). Dieses Gespräch sollte in ruhiger Atmosphäre und keinesfalls im Akutfall, womöglich mit einem angeheiterten Mitarbeiter, stattfinden. Dabei sollte man sich nicht in Diskussionen über Trinkmengen oder Trinkgründe u. ä. verwickeln lassen, sondern auf entsprechende Einrichtungen verweisen. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, Leiter des Anton-Proksch-Instituts in Wien-Kalksburg, der größten Suchtklinik Europas: «Wichtig ist ein gutes Vertrauensverhältnis, und dass nicht sofort mit Sanktionen gedroht wird. Laien sollten keine Diagnosen stellen, sondern etwa eine Beratung an unserem Institut anbieten. Hier kann auch der Grad der Abhängigkeit festgestellt werden.« Günstig sind während der »Probezeit« monatliche Feedback-Gespräche. Ändert sich nach dieser Frist das Verhalten nicht, dann empfiehlt sich ein Konfrontationsgespräch mit mehreren TeilnehmerInnen wie Betriebsrat, Vorgesetzten, Betriebsarzt und wenn möglich ExpertInnen aus einer entsprechenden Beratungseinrichtung. Die daraus resultierenden Vereinbarungen sind nicht mehr vertraulich, sondern offiziell und werden schriftlich festgehalten. Danach empfiehlt es sich, die Situation rund ein halbes Jahr lang zu beobachten. Erst wenn nach diesem Zeitraum keine deutliche Verbesserung merkbar ist, sollten weitere Schritte (Personalabteilung, Abmahnung etc.) gesetzt werden. ExpertInnen sprechen hier von konstruktivem Leidensdruck, das bedeutet, Hilfe anzubieten, aber auch Konsequenzen zu vereinbaren und einzuhalten, wenn die Situation sich nicht bessert.
Offizielle Suchterkrankung
Erst durch ein fachärztliches Gutachten wird eine Suchterkrankung quasi offiziell. Nur so hat man im Krankenstand Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Vorübergehende Abwesenheit etwa durch Alkoholmissbrauch hingegen gilt als grob fahrlässig. Ein Entlassungsgrund liegt dann vor, wenn ein/e ArbeitnehmerIn dem Unternehmen nachweislich schadet. Einmaliger Alkoholmissbrauch ist dafür in der Regel allerdings nicht ausreichend - außer bei MitarbeiterInnen, die das Unternehmen nach außen repräsentieren.
Weblink
Anton-Proksch-Insitut:
www.api.or.at
Online-Infos zu verschiedenen (auch nicht-stofflichen) Suchtformen; Online-Test zu Alkohol und Nikotin
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Grenzen achten
Was ist eigentlich sexuelle Gewalt oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz? Silvia Ledwinka, ÖGB-Frauensekretärin, bringt es auf den Punkt: »Das Besondere ist das individuelle Empfinden. Es mag sein, dass es in einem Betrieb 15 Frauen gibt, die sich durch Schmähs nicht belästigt fühlen. Aber wenn es eine nicht erträgt und es abgestellt haben will, dann zählt das und ist zu respektieren. Diese Grenze ist einfach zu achten, und die liegt bei jedem Menschen woanders.« Auch die Gleichbehandlungsanwältin, Mag. Cornelia Amon-Konrath meint: »Es kommt auf die Betroffene an und nicht auf die Absicht, die dahinter steckt.« Wem das zu heftig klingt, dem rät die Anwältin zur Lektüre eines OGH-Urteils samt Begründung, in dem es heißt: »Sexualität wird vom Belästiger vielfach eingesetzt, um Macht zu demonstrieren und auszuüben. So vermittelt es offenbar Männern das Gefühl von Dominanz, wenn sie verbale Urteile über körperliche Merkmale von Frauen abgeben.«
Klare Kommunikation
Nachdem sowohl einschlägige Untersuchungen als auch nicht wissenschaftliche Umfragen im Bekanntenkreis übereinstimmend ergeben, dass fast jede Frau schon zumindest einmal sexuell belästigt wurde, stellt sich die Frage, wie man sich im Arbeitsleben vor diesen erniedrigenden Erlebnissen schützen kann. Erste Regel ist klare Kommunikation: Stopp sagen, ist nicht nur für Betroffene selbst wichtig, es ist unabdingbar notwendig, um später zu seinem Recht zu kommen. Es ist sinnvoll, sich an den Betriebsrat oder an Vorgesetzte zu wenden. Nur so kann der Arbeitgeber im Falle eines Gerichtsverfahrens auch zur Verantwortung gezogen werden. Mag. Cornelia Amon-Konrath: »Betroffene sollten möglichst bald nach einem Vorfall ein genaues Gedächtnisprotokoll anfertigen und ausdrucken. Ein Teil der Vorfälle wird mit der Zeit verdrängt und es kann sein, dass nach Meldung eines solchen Vorfalles, Mailaccount und Zugang zum Computer gesperrt werden. Dann ist es gut, einen Ausdruck zu haben. Das gilt auch für schriftliche Belästigungen, die via Mail ins Postfach eintrudeln.« Diese sollte man auch an einen anderen eigenen Account weitersenden.
Silvia Ledwinka ergänzt: »Schon beim Einstieg ins Berufsleben sollten junge Menschen wissen, dass ihnen so etwas passieren kann, an wen sie sich wenden können, und was ihre Rechte sind.«
Konsequenzen für die Täter
Ebenfalls hilfreich ist eine Betriebsvereinbarung, in der klar kommuniziert wird: Sexuelle Belästigung hat in unserem Unternehmen nichts verloren und hat für den Täter Konsequenzen. Das ist leider immer noch nicht selbstverständlich, denn ein Großteil der Frauen, die versuchen sich gegen ihren Peiniger zur Wehr zu setzen, verlassen am Ende das Unternehmen und das meist nicht freiwillig. In Unternehmen, die ernsthaft gegen sexuelle Belästigung vorgehen, geht der Belästiger (wenn gelindere Mittel nicht greifen). Ilse Fetik, Betriebsrätin der Erste Bank: »Für die Betroffenen ist es immer sehr schwer, so etwas öffentlich zu machen, und ich glaube, es ist für viele leichter zu einer Frau zu gehen, um sich auszusprechen. Man muss diskret damit umgehen und darf auf gar keinen Fall werten, denn was für mich gerade noch erträglich ist, kann für eine andere schon eine echte Belästigung sein.« Ilse Fetik hütet sich vor »allgemeingültigen Rezepten«: »Man muss zur jeweiligen Person angepasst reagieren.« Es sei wichtig, zuzuhören, sich in die betroffene Person versetzen können, nächste Schritte verbindlich zu vereinbaren und gegebenenfalls Hilfe dazu zu holen. Denn auch die beste Vertrauensperson oder der engagierteste Betriebsrat ist kein Therapeut und kein ausgebildeter Psychologe.
Den meisten betroffenen Frauen geht es übrigens nicht um Rache, nicht um Strafe, sondern darum, einfach in Ruhe weiterarbeiten zu können. Sowohl Silvia Ledwinka als auch Cornelia Amon-Konrath bestätigen aus ihrer langjährigen Erfahrung: »Die Frauen sind auf den Job angewiesen.« Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz schadet, wenn sie nicht schnellstmöglich abgeschaltet wird, nicht nur den Opfern, sondern auch dem Betrieb. Und daher ist es für jedes Unternehmen - denn anders als Mobbing kommt sexuelle Belästigung nahezu in jedem Unternehmen einmal vor - wichtig, präventiv etwas gegen dieses Phänomen zu unternehmen.
Nicht verharmlosen
Wichtig für Unternehmen ist, das Thema nicht zu verharmlosen, meint auch Ilse Fetik: »Wenn das Thema aus dem Tabu rausgeholt wird und man Rahmenbedingungen schafft, in denen man darüber reden kann, ändert sich das Klima.« Betriebsvereinbarungen, wie z.B. der ÖGB oder auch die Erste Bank eine haben, können zu einem Betriebsklima beitragen, in dem klar ist: Die Vorgesetzten dulden so ein Verhalten auf gar keinen Fall. Schulungen sind ein weiterer Baustein an einer Mauer gegen sexuelle Belästigung.
Obwohl Österreich, nicht zuletzt auch wegen der Initiative der EU ein relativ gutes Gesetzeswerk hat, das sowohl im Gleichbehandlungsgesetz als auch im Strafrecht brauchbare Regelungen gegen sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz bereithält, gibt es doch auch Kritik: »Die Strafsätze sind viel zu niedrig. Da wird nicht kommuniziert, dass das einen pönalen Charakter hat«, erklärt die Arbeitsrechtsexpertin Dr. Sieglinde Gahleitner: »Wir haben leider keine Rechtstradition für immateriellen Schaden - eine effektive Rechtsdurchsetzung wird aber von der EU in dieser Angelegenheit verlangt. Und an den niedrigen Schadenersatzhöhen kann man halt sehen, wie wichtig das der Rechtsordnung ist.« Die engagierte Anwältin wünscht sich gravierende Schadenersatzzahlungen: »Wenn dem Geschäftsführer einmal Grapschen 30.000 Euro kostet, wird der Unwert dieser Handlung wirklich klar.« Silvia Ledwinka stößt ins gleiche Horn: »Sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz muss gesellschaftlich geächtet werden.«
Weblink
Mehr Infos unter:
www.tatortarbeitsplatz.at
Dort finden sich Studientexte, aber auch eine Musterbetriebsvereinbarung
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