Neoklassischer Irrweg
Der Politik der Europäischen Kommission liegt die neoklassische Wirtschaftstheorie zugrunde. Die wichtigsten Elemente dieser Theorie haben sich in der Krise als falsch herausgestellt: Etwa die These von der Stabilität und Wohlstand schaffenden Wirkung nicht regulierter Finanzmärkte oder das noch 2010 eifrig verbreitete Märchen von den positiven Effekten von Sparpaketen auf Wirtschaft und Beschäftigung oder die Lohnsenkungen, die angeblich einen Rückgang der Arbeitslosigkeit bewirken.
Die Ursache dieses Versagens liegt in den Annahmen: Unregulierte Märkte würden von selbst Stabilität und Wohlstand schaffen oder im Krisenfall käme es automatisch zu einer raschen Rückkehr zum Normalzustand eines „allgemeinen Gleichgewichts“.
Der Säulenheilige der Neoliberalen, Friedrich August von Hayek, teilte die meisten wirtschaftspolitischen Empfehlungen mit der neoklassischen Theorie. Schade, denn er hat einen wichtigen Beitrag zur ökonomischen Theorie geleistet, indem er den Wettbewerb als Entdeckungsprozess beschrieb, bei dem Wissen entsteht. Doch wirtschaftspolitisch verrannte sich Hayek in Extrempositionen: Er interpretierte Wirtschaftskrisen als Reinigungskrisen und empfahl, Staatseingriffe zu vermeiden. Ihm schwebte ein Kapitalismus vor, der nicht von Demokratie, Sozialstaat oder der Idee von sozialer Gerechtigkeit begrenzt wäre. Jeden Eingriff der Sozial- oder der Beschäftigungspolitik in das freie Spiel der Marktkräfte erachtete er als einen Schritt in Richtung Totalitarismus. Ende der 1970er-Jahre sah er „die Freiheit“ besser durch autoritäre Regime – wie jenes von General Augusto Pinochet in Chile – geschützt als durch Demokratien.
Brauchbare Impulse von Keynes
Die brauchbarsten Impulse für eine erfolgreiche Bewältigung der Eurokrise können vom bahnbrechenden Werk des Briten John Maynard Keynes ausgehen. Keynes zeigte in den 1930er-Jahren, warum Marktwirtschaften instabil sind und immer wieder zu hoher Arbeitslosigkeit führen, der mit staatlichem Deficit-Spending und einer Regulierung des Finanzsektors begegnet werden muss. Von Keynes stammen aber auch wichtige Anregungen für eine stabile langfristige wirtschaftliche Entwicklung und sozialen Fortschritt: Er empfahl, zugunsten der unteren, konsumfreudigen Einkommensgruppen umzuverteilen und den technischen Fortschritt für eine Reduktion der Arbeitszeit zu nutzen.
Schlag nach bei Marx
Politisch der Liberalen Partei nahestehend widmete Keynes allerdings der Frage der Macht in der Ökonomie zu wenig Aufmerksamkeit. Hierin besteht der entscheidende Beitrag von Karl Marx. Dieser erkannte, dass Krisen ein inhärentes Merkmal kapitalistischer Wirtschaftssysteme sind und sah ihre Ursachen in den fundamentalen Interessenunterschieden und der ungleichen Verteilung von wirtschaftlicher und politischer Macht zwischen besitzender und arbeitender Klasse.
Eine Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen ist für eine an den Interessen der ArbeitnehmerInnen orientierte Politik wichtig. Nur so können die wirtschaftspolitischen Alternativen kohärent und überzeugend dargestellt werden.
Budgetdefizit: Süchtige Politikerinnen, weise Ökonomen?
Sepp Zuckerstätter, Referent für Lohnpolitik, Einkommensverteilung und Finanzmarktregulierung in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft der AK Wien, reagiert in seinem Beitrag auf die pauschale Vorverurteilung seitens des Wirtschaftsforschers Hans Pitlik (WIFO), dass PolitikerInnen „schuldensüchtig“ seien. Er analysiert die Prognosen zum Schuldenstand des Staates in den vergangenen Jahren.
Dabei stellt er fest, dass die für die Budgetplanung bedeutsamen mittelfristigen Prognosen des WIFO in den vergangenen Jahren deutlich zu negativ waren. Sprich: das Defizit war immer kleiner als prognostiziert. So liegt die Vermutung nahe, dass die WirtschaftsforscherInnen manchmal eher etwas pessimistischer prognostizieren, um zu verhindern, dass die Politik zu viel Geld ausgibt. Wie sich die Sparsamkeit aber auf die BürgerInnen auswirkt, scheinen die ForscherInnen dabei nicht zu berücksichtigen. Zuckerstätter wünscht sich WirtschaftswissenschafterInnen, die mehr den Daten und Fakten folgen als Vorurteilen gegenüber der Politik in Sachen „suchtbedingter Unverantwortlichkeit“.
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Umverteilung durch gerechtere Steuerpolitik
Achim Truger ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er sieht die wesentlichen Ursachen für die noch immer andauernde Krise in den Ungleichgewichten zwischen den einzelnen Volkswirtschaften, der immer ungleicheren Verteilung der Einkommen und in den unregulierten Finanzmärkten.
Die aus einer falschen Analyse resultierende budgetäre Kürzungspolitik löse keine Probleme, so Truger, sondern führe zu katastrophalen Ergebnissen. Die das Konjunkturtief verstärkende Konsolidierungspolitik sei nur das Rezept für einen schweren und anhaltenden Wirtschaftseinbruch im Euroraum. Das besonders Gravierende an dieser Politik sei, dass sie nicht „nur“ ökonomische Kosten verursache: Fast alle Errungenschaften der ArbeitnehmerInnen und ihrer Gewerkschaften stehen unter Druck.
Truger plädiert abschließend dafür, das „neoliberale Wunschkonzert“, welches zu einer Beschneidung der Sozialstaaten führe, zu beenden. Der jahrzehntelange Steuersenkungswettbewerb der Industriestaaten im Namen des „Standorts“ für Großkonzerne und Vermögende müsse gestoppt werden. Dazu sei eben ein steuerpolitischer Kurswechsel nötig – durch kräftige Lohnsteigerungen und Umschichtung der Steuerlast auf die Vermögenden.
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Wir sind nicht alle Kapitalisten
Miriam Rehm, Expertin für Makroökonomie und Verteilung der AK Wien, und Sepp Zuckerstätter zeigen in ihrem Blogbeitrag, dass der Klassenbegriff in der modernen österreichischen Gesellschaft keineswegs bedeutungslos geworden ist. Die Daten zeigen, dass Klassengegensätze für den Großteil der Bevölkerung die Realität sind: Also ArbeitnehmerInnen beziehen hauptsächlich Arbeitseinkommen, Selbstständige hauptsächlich Profite (Gewinneinkommen) und Zinsen (Kapitaleinkommen).
Laut europäischen Untersuchungen sind rund 45 Prozent der Haushalte reine „ArbeitnehmerInnen-Haushalte“, rund fünf Prozent Selbstständigen-Haushalte und ca. sieben Prozent beziehen Einkommen aus sowohl unselbstständiger als auch selbstständiger Arbeit. Wären die Einkommen gleich verteilt, so hätten beispielsweise ArbeitnehmerInnen-Haushalte 45 Prozent der Einkommen aus Gewinnen und Zinseinkommen. Tatsächlich generieren sie aber nur 15 Prozent der Profite, sechs Prozent der Zinseinkommen und dafür aber 70 Prozent der Arbeitseinkommen.
Nur eine sehr kleine Gruppe hingegen scheint eben jene Klassengegensätze überwunden zu haben. Das sind jene Haushalte, in denen sowohl ArbeitnehmerInnen als auch UnternehmerInnen leben. Diese haben in beiden Segmenten (Arbeit und Gewinne/Zinsen) überdurchschnittlich hohe Einkommen. Diese Gruppe macht aber eben nur sieben Prozent der österreichischen Haushalte aus.
Rehm und Zuckerstätter schlussfolgern, dass die Politik öfter die Mehrheit der Bevölkerung, die in erster Linie mit ihrem Arbeitseinkommen ein Auskommen finden muss, berücksichtigen sollte. Für sie ist die Klassengesellschaft monatliche Realität des Einkommens.
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Kündigungsschutz per Gesetz
Die Gewerkschaften sind mit deutlich weniger Rechten ausgestattet als in Österreich. Die gesetzlich vorgesehenen Vertrauenspersonen sind mit Betriebsräten nicht zu vergleichen und werden meistens von den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eingesetzt. ArbeitnehmerInnenvertretung geschieht über betriebliche Gewerkschaftsgruppen, die ihre Rechte in Vereinbarungen mit den jeweiligen Betriebsinhaberinnen und -inhabern aushandeln. Von diesen Vereinbarungen hängt es ab, ob GewerkschafterInnen ihre Aufgaben in der Arbeitszeit erfüllen können, ob sie an Schulungen teilnehmen können usw. Per Gesetz werden die GewerkschafterInnen jedoch vor Kündigungen geschützt.
Das Bild der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit ist noch stark durch die Erfahrungen der Bevölkerung mit Gewerkschaften in der Sowjetunion geprägt. In der Lettischen SSR dienten sie der Regierung bzw. der kommunistischen Partei als Sprachrohr. Sie waren Befehlsempfänger und erledigten zum Teil administrative Aufgaben des Sozialsystems. Seit der Unabhängigkeit 1991 sieht die Bevölkerung die Notwendigkeit der Gewerkschaften nicht mehr. Da sie Teil des Systems waren, denken viele, dass sie in der Marktwirtschaft nicht mehr gebraucht werden.
Die Unabhängigkeit änderte auch Lettlands Arbeitslandschaft. Während zuvor Rohstoffe der Sowjetunion in Fabriken in Lettland verarbeitet wurden, führte ein Abzug russischen Kapitals nach 1991 zu einem starken Rückgang der Industrie. Neben zunehmender Arbeitslosigkeit und dem Abrutschen der ländlichen Bevölkerung in die Schattenwirtschaft bedeutete dies auch für die Gewerkschaften einen Rückgang der Organisationsstärke von über 50 Prozent auf etwa elf Prozent. Seither beziehen sie ihre Stärke vor allem aus dem öffentlichen Dienst. Die Gewerkschaften engagieren sich intensiv im Sozialen Dialog, einer sozialpartnerschaftlichen Einrichtung der Regierung, wo z. B. die Mindestlöhne festgelegt werden. Doch sie fühlen sich dabei immer mehr von ihren Sozialpartnern und der Regierung überfahren. Der Mindestlohn stagniert. Sozialleistungen wurden gekürzt oder hinken immer mehr der Inflation nach.
Drastisches Sparpaket
Die Krise sehen viele hier als überwunden. Lettland griff mit einem drastischen Sparpaket härter durch als die Troika empfahl und konnte so das Staatsdefizit in Grenzen halten. Die Schattenseiten dieser Sparpolitik – Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst, Stellenabbau im Bildungs- und Gesundheitsbereich u. v. m. – nahm die Bevölkerung bislang geduldig hin. Die Hoffnung, dass der EU-Beitritt ihr Leben verbessert, ist verblasst.
Doch die Gewerkschaften sehen nun die Zeit gekommen, um diesen Kurs wieder zu ändern, und fordern Ausbau und Anstieg der Sozialleistungen, Mindestlöhne und Gehälter. Kurz vor meiner Abreise konnte ich einen für Lettland ungewöhnlichen Moment erleben. Angesichts eines internationalen Staatsbesuchs organisierten die Gewerkschaften eine Demonstration mit mehreren Hundert Leuten, um ihren Anliegen öffentlich Gehör zu verschaffen.
INTERVIEW:
Zur Person - Inga Ozola
Wohnort: Riga
Firma: Brauerei Aldaris, gehört zu Carlsberg
Firmenstandort: Riga
Gewerkschaft: LINA (Industrie-Gewerkschaft)
Dachverband: LBAS umfasst 20 Gewerkschaften und hat 109.000 Mitglieder, darunter 100.000 Erwerbstätige
Inga Ozola ist Betriebsrätin in der Brauerei Aldaris in Riga und seit vier Jahren Euro-Betriebsrätin bei Carlsberg. Neben ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit arbeitet Inga weiterhin in der Verwaltung der Brauerei mit.
Was bedeutet Ihnen Gewerkschaft?
Durch Gewerkschaften haben ArbeitnehmerInnen die Möglichkeit, ihre Situation zu verbessern. Unsere MitarbeiterInnen kommen mit allen möglichen Problemen zu mir und ich helfe ihnen dann auch gerne so gut ich kann. Die Gewerkschaft ist aber auch eine Brücke zwischen den ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen. Ich arbeite intensiv mit der Geschäftsleitung zusammen, weil es uns beiden wichtig ist, möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen. Auch bei der Arbeitssicherheit können wir viel gemeinsam erreichen.
Was bedeutet Ihnen die EU?
Ich bin eine EU-Befürworterin, es gibt aber auch einige Kritikpunkte. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den EU-Ländern sind zum Teil sehr groß und die Probleme dadurch sind nur langfristig und schwer überwindbar. Die EU legt sehr viel Wert auf Landwirtschaft und zu wenig auf Soziales. Ich genieße die Reisefreiheit und hoffe, dass es auch bald zu einem Abkommen mit Russland kommen wird, das uns auch dort die Einreise erleichtert.
Welches ist Ihr Lieblingsland in Europa? Warum?
Ich mag Länder wie Belgien oder Österreich, die eine starke Sozialpartnerschaft pflegen und lösungsorientiert im Sinne der ArbeitnehmerInnen handeln. Länder wie Spanien oder Italien sind zwar bei Diskussionen emotionaler und hauen schneller einmal auf den Tisch, doch es kommt dann am Ende des Tages eher wenig raus. Ich mag es auch nicht, wenn wegen allem sofort gestreikt wird.
Wie sehen Sie die Euro-Einführung?
Ich persönlich glaube, dass sich nicht viel ändern wird. Unsere Währung ist ja jetzt auch schon an den Euro gekoppelt. Viele Leute hier fürchten aber, dass es zu einem starken Preisanstieg kommen wird. Die Regierung verspricht, dass dies nicht so sein wird. Doch die lettische Bevölkerung wird zu wenig informiert und dadurch steigt die Angst auch an.
Was bringt der Euro-Betriebsrat?
Ich erhalte schneller und mehr Neuigkeiten vom Topmanagement. Dadurch bin ich besser über wichtige Projekte informiert und Strukturänderungen sind früher ersichtlich.
Wir vergleichen unsere Arbeitsbedingungen und arbeiten mit Best-Practice-Beispielen, um so alles auf ein höheres Level zu heben. Wenn jemand beim lokalen Management mit Vorschlägen abblitzt, können wir durch den Euro-Betriebsrat auch eine Stufe höher gehen.
Wir wollen die Ausbildung der Betriebsrätinnen und Betriebsräte verbessern. Demnächst sollen Sprach- und Verhandlungstrainings und andere nützliche Ausbildungen über den Euro-Betriebsrat angeboten werden.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor georg.steinbock@vida.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>John Maynard Keynes: Nun, ich war nicht der Erste und bin nicht der Letzte, der darauf hingewiesen hat, dass Finanzmärkte inhärent krisenanfällig sind. Denn auf Finanzmärkten werden die Preise von den Erwartungen der Marktteilnehmer getrieben, und alle, die sich an einen Trend ranhängen, können davon profitieren, solange der Trend anhält. Also gibt es Anreize, Warnsignale zu missachten und stattdessen die anderen nachzuahmen, solange sie erfolgreich sind.
Irgendwann – niemand weiß, wann genau – kann die Stimmung am Markt urplötzlich von Hoch- in Tiefstimmung kippen, und alle wollen nur noch verkaufen. So war das auch mit dem Immobilienboom der vergangenen Jahre in Ländern wie den USA, Großbritannien, Irland, Spanien und anderen.
Der ist mit Schulden finanziert worden, die immer weitere Preissteigerungen der Immobilien zur Voraussetzung gehabt hätten, um finanzierbar zu bleiben. Doch irgendwann war es aus.
Sie meinen also, die Krise ist eine Art unvermeidliches Ergebnis der Natur von Finanzmärkten?
Keynes: Nicht unvermeidlich! Es ist eine Frage der Regulierung, die hier entscheidend ist. Warum haben wir in den ersten Jahrzehnten nach 1945 kaum Finanzkrisen gehabt?
Weil die Politik aus der großen Depression der Zwischenkriegszeit, die auf den Börsenkrach von 1929 gefolgt ist, gelernt hat und in der Nachkriegszeit eine strenge Regulierung des Finanzsektors vorgenommen hat – nicht zuletzt auf meinen Ratschlag hin. Das hat Krisen verhindert!
Diese Lektion ist aber in jüngster Zeit in Vergessenheit geraten und man hat immer mehr dereguliert. Die Folge ist, dass Finanzmärkte zu viel Freiheit haben und somit immer mehr Risiken produzieren.
Können Sie dieser Diagnose etwas abgewinnen, Herr Friedman?
Milton Friedman: Es sind nicht irgendwelche Spekulanten – es ist die Politik, die Schuld an dem Schlamassel hat!
Denn woher bekam denn die ganze Blase, die Herr Keynes soeben so schön beschrieben hat, ihren Treibstoff? Durch die lockere Geldpolitik der amerikanischen Notenbank!
Statt die Geldmenge nach meiner Regel schön knapp zu halten, hat sie die Zentralbank unverantwortlich aufgebläht. Geld war einfach zu billig und im Überfluss vorhanden. Kein Wunder, dass daraus eine Kreditschwemme resultiert hat.
Keynes: Alle Schuld auf die Notenbank zu schieben, ist doch nichts als ein hilfloser Versuch, Ihren scheinbar unerschütterlichen Glauben an die Unfehlbarkeit von Märkten aufrechtzuerhalten.
Doch wie kann es sein, dass sich die ach so perfekten Finanzmärkte von der Zinspolitik der Notenbanken in die Irre führen lassen und nur wegen eines kurzfristig niedrigen Zinsniveaus absolut irrwitzige Kreditkonstruktionen aufbauen und windige Geschäfte eingehen, die ihnen selber auf den Kopf fallen? Auch in Staaten mit höherem Zinsniveau als in den USA ist es zu einer Blase gekommen, z. B. in Großbritannien.
Karl Marx: Also bevor sich die zwei Freunde von Markt und Staat hier weiter in die Haare kriegen, möchte ich doch für einen etwas fundamentaleren Blick auf die Sache plädieren.
Wir leben bekanntlich in einem System, das Kapitalismus heißt, und da ist der Staat kein Gegenpol zum Markt, sondern fungiert als ideeller Gesamtkapitalist, der das Funktionieren der Konkurrenz der Einzelkapitale zu sichern hat. Im Krisenfall muss er stabilisierend eingreifen. Und in die Krise gerät das System nicht, weil irgendwer zu gierig war oder einen Fehler begangen hat, sondern weil das System von Natur aus permanent auf eine Krise zusteuert.
Keynes: Aber das sage ich ja – der Staat muss gegensteuern, um die instabilen Märkte zu bändigen!
Rosa Luxemburg: Für Sie ist der Staat das gute Gegengewicht zum instabilen Markt, eine Art wohlwollender Diktator im Dienste des Volkes. Aber was ist denn in den letzten Jahren passiert? Der Staat hat nicht das Kapital gezähmt, sondern gefördert. Er hat alles getan, um neue Akkumulationsfelder für das Kapital zu schaffen.
Darauf ist der Kapitalismus angewiesen: auf die permanente Erschließung von bislang unerschlossenen Feldern für das Profitemachen. Das läuft nicht so nett, sondern bedeutet vielfach brutale Enteignung – und zwar nicht nur zu Beginn des Kapitalismus, wo Marx „primitive Akkumulation“ nennt, dass mit Waffengewalt die Landbevölkerung aus ihrer Selbstversorgerwirtschaft herausgerissen, von ihrem Land enteignet und zu freien Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern gemacht wird. Es passiert permanent!
Die Privatisierung der Gesundheitsvorsorge, die Privatisierung der Pensionsvorsorge, die Verwandlung des Rechts auf Wohnung in das „Recht“ auf einen Hypothekarkredit zur Anschaffung eines Hauses auf einem Markt, wo Häuser vom Wohnraum zum Anlageobjekt werden – all das sind politische Maßnahmen zur Marktschaffung.
Man könnte das „Akkumulation durch Enteignung“ nennen. Und die Widersprüche in diesem System haben es in die Krise getrieben.
Friedman: Auf Märkten werden Widersprüche durch den Preismechanismus und den Untergang von nicht wettbewerbsfähigen Unternehmern gelöst, von einer unausweichlichen Krisentendenz keine Spur.
Wenn es so etwas wie einen Widerspruch gegeben hat in den letzten Jahren, dann höchstens zwischen dem Einkommen der amerikanischen Haushalte und ihrem Konsumniveau. Gestützt von billigen Krediten dank der Notenbank, haben die Menschen einfach über ihre Verhältnisse gelebt!
Luxemburg: Wenn Sie die systematische Verelendung der amerikanischen Arbeiter- und Mittelklasse als „über die Verhältnisse leben“ bezeichnen wollen, bitte. Die Lohndrückerei des Kapitals hat in der Tat zu einer Stagnation der Massenkaufkraft geführt. Und den Wohlfahrtsstaat hat man auch zurückgefahren. Um die Leute trotzdem zum Konsumieren zu kriegen, hat man sie in die Verschuldung getrieben.
Das war auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten, und jetzt kommt die Rechnung: Der Kapitalismus muss den Grundwiderspruch, einerseits so geringe Löhne wie möglich zahlen zu wollen, um möglichst hohen Profit machen zu können, aber andererseits kaufkräftige AbnehmerInnen für sei-ne Produkte zu brauchen, irgendwie lösen. Mit der Expansion des Kredits der letzten Jahre hat er die Lösung dieses Widerspruchs nur temporär aufgeschoben.
Marx: Die Finanzialisierung der Ökonomie, also die Steuerung der Unternehmen über finanzielle Ziele und Eigentumstitel, die jederzeit verkauft werden können, die Globalisierung der Produktionsketten und der Abbau von erkämpften Rechten für Lohnabhängige haben den Flexibilitätsspielraum des Kapitals erhöht.
Auch den Spielraum, Verwertungsproblemen in der Produktion – ich nenne das Überakkumulation – durch Aufbau von fiktivem Kapital über Finanzgeschäfte temporär zu entgehen.
Doch letztlich kann Mehrwert nur durch die Ausbeutung lebendiger Arbeit geschaffen werden, deshalb platzen solche Blasen fiktiven Kapitals früher oder später, und das Kapital ist wieder auf die immer gleiche Frage zurückgeworfen: Wie kann ich neue Akkumulationsfelder erschließen, wie die Ausbeutung in bestehenden Feldern erhöhen?
Keynes: Ich denke, Sie sind da zu pessimistisch. Der Staat kann viel machen, um die Wirtschaft zu stabilisieren: Finanzmärkte regulieren, umverteilen, antizyklische Budgetpolitik betreiben, internationale Koordinierung.
Marx: Ich will Ihren Optimismus und Ihre Bewerbung als Samariter des Kapitalismus nicht trüben, aber das kommt mir doch reichlich naiv vor.
Der Leitimperativ lautet Konkurrenz, und dagegen kommt kein Weltrettungsplan, der auf weise Weltlenker vertraut, an. Nur die Lohnabhängigen als Kollektiv können sich darüber entheben – aber nur, indem sie das ganze Haus übernehmen und umbauen, nicht durch bloßes Verschieben der Inneneinrichtung.
Gesprächsführung: Beat Weber
Beat Weber ist Ökonom in Wien und schreibt regelmäßig für die Zeitung Malmoe.
Überarbeitete Kurzfassung eines Beitrags aus der Zeitung Malmoe
(Heft 46,www.malmoe.org):
www.malmoe.org/artikel/verdienen/1883
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In Europa hingegen führte eine völlig verkehrte Reaktion auf die Krise, zuerst der Europäischen Zentralbank und dann der Regierungen (Stichworte: Zinserhöhungen und Austerität), zu Massenarbeitslosigkeit, Armut und einer sozialen Notsituation. Die Arbeitslosenquote in der Eurozone ist von sieben Prozent der Erwerbspersonen vor der Krise auf zehn Prozent im Jahr 2010 und dann weiter auf zwölf Prozent im Jahr 2013 gestiegen.
Die „allgemeine Meinung“
Woher kommt diese gegensätzliche Reaktion der Politik? Ein zentraler Unterschied ist die „allgemeine Meinung“, die von Wirtschaftswissenschafterinnen und -wissenschaftern vertreten wird. In den USA akzeptieren viele von ihnen seit der Krise wieder, dass Staatsausgaben eine Multiplikatorwirkung in der Wirtschaft entfalten, dass die Inflation niedrig bleibt, auch wenn die Notenbank Geld druckt, und dass Staatsschulden nur mit minimal geringerem Wachstum einhergehen.
In Europa hingegen ist dieses Wissen, wie mit einer tiefen Krise umzugehen ist, verloren gegangen – just auf dem Kontinent, wo der Brite John Maynard Keynes die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er zog. Er hatte durchschaut, dass Märkte sich nicht selbst stabilisieren und dass es daher staatliche Unterstützung braucht.
Salz- und Süßwasser-Universitäten
Nach der Finanzkrise ab 2007 setzte sich diese Erkenntnis in den USA verhältnismäßig schnell wieder durch. Einen großen Anteil daran hatte die Spaltung der amerikanischen Universitäten in eine „Salzwasser-“ und eine „Süßwasser-Gruppe“. Die Süßwasser-Unis, die im Landesinneren der USA liegen, vertreten das neoliberale Credo, das weltweit in den 1980er- und 1990er-Jahren en vogue war.
Die Salzwasser-Universitäten an der Ost- und der Westküste hingegen bewahrten etwas von dem keynesianischen Wissen über die Weltwirtschaftskrise. Auch wenn die Salzwasser-Unis dieses Wissen immer stärker mit neoliberalen Versatzstücken vermischt hatten – ganz verschwand es nicht aus ihrem Forschungsprogramm. Seit der Finanzkrise bauen sie darauf auf, und ihre Speerspitzen prägen die öffentliche Diskussion.
So etwa Paul Krugman, Nobelpreisträger und Professor in Princeton, in New Jersey an der Ostküste. Er erkannte durch seine Forschung zum verlorenen Jahrzehnt Japans schnell die Gefahr der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007, in den USA eine ähnliche Stagnation einzuläuten. Er wurde daher zu einem lautstarken Fürsprecher aktiver Staatseingriffe: Krugman bloggt auf der Homepage der New York Times und tritt regelmäßig in den Medien auf.
Oder Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und Professor an der Columbia-Universität in New York. Er kritisierte schon als Vizepräsident der Weltbank die Sparpolitik, die Niedrigeinkommensländern im Gegenzug für Kredite auferlegt wurde, und verurteilte den wirtschaftlichen und sozialen Kahlschlag, den diese Kürzungen mit sich brachten. Daher war es nur ein kleiner Schritt, diese Einsicht nach der Krise auch auf die USA und Europa anzuwenden.
Christina Romer ist Professorin an der Universität Berkeley bei San Francisco und war Vorsitzende des Rates der Wirtschaftsberater von US-Präsident Obama. Sie belebte ein ganzes Forschungsfeld wieder, das die Wirkungen von Staatsausgaben auf die Wirtschaftstätigkeit untersucht. Als hätte ihr Artikel die Schleusen geöffnet, gehen seither die wissenschaftlichen Zeitschriften über von Studien, die zeigen, dass der Staat die Wirtschaft ankurbeln kann: durch höhere Ausgaben, vor allem in der Krise.
Sogar der Internationale Währungsfonds, der in der Vergangenheit nicht gerade eine fortschrittliche Politik vertrat, machte in dieser Frage eine Kehrtwende. Olivier Blanchard, Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston und Chefökonom des Internationalen Währungsfonds in Washington, belegte, dass Staatsausgaben viel stärkere Wachstumsimpulse geben als bis dahin angenommen.
In den USA und im internationalen Umfeld besannen sich somit viele Ökonominnen und Ökonomen auf die Erkenntnisse aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und bauten darauf relativ rasch mit modernen Methoden auf. Diese Ergebnisse gingen zumindest teilweise in die Politik der USA ein und führten zu einer langsamen Erholung – auch wenn einige WirtschaftswissenschafterInnen die Abwendung der Wirtschaftspolitik vom neoliberalen Dogma als zu zögerlich und zu wenig weitgehend kritisierten und daraus folgerten, dass die Erholung schwach sein würde.
Europa wie in den 1930ern
In Europa ist die Situation dem diametral entgegengesetzt. Im ganzen deutschsprachigen Raum etwa gibt es kaum mehr keynesianische Lehrkräfte an den Universitäten – nicht einmal solche, die durch die Krise bekehrt wurden. Nach einer Schrecksekunde war daher die wirtschaftspolitische Debatte in Europa neoliberal: Schulden und Defizite müssen reduziert, Löhne für die Wettbewerbsfähigkeit gesenkt werden. Damit verschlimmerte die Politik die private Nachfrageschwäche mit einer öffentlichen Nachfrageschwäche: Europa spart sich in eine zweite Weltwirtschaftskrise. Die wirtschaftliche Entwicklung ist in Europa heute genauso schwach wie zum gleichen Zeitpunkt in der Krise der 1930er-Jahre.
Gute Ökonomen kommen nicht zu Wort
Dabei gab es Ausnahmen unter den europäischen Ökonominnen und Ökonomen, die für eine andere Politik plädierten. In Großbritannien bloggt Simon Wren-Lewis, Professor in Oxford, regelmäßig über die Krise in Europa. Paul de Grauwe, Professor an der London School of Economics, schreibt seit der Krise keynesianische wirtschaftspolitische Analysen. Er zeigte, dass die Finanzmärkte in der Eurozone nicht rational sind, sondern sich wie eine panische Herde verhalten. Das bedeutet, dass die Europäische Zentralbank – so wie jede andere Zentralbank in der westlichen Welt – die Staatsschulden garantieren sollte, damit die Finanzmärkte nicht in der Realwirtschaft Schaden anrichten.
Im deutschsprachigen Raum kamen diese Wirtschaftswissenschafter in der öffentlichen Debatte über die Krise kaum vor. Von den 15 am häufigsten zitierten Ökonomen waren nur zwei progressiv (und keine einzige eine Frau): Peter Bofinger und Gustav Horn.
In Deutschland ist Peter Bofinger, Professor in Würzburg und Mitglied des deutschen Sachverständigenrates, ein einsamer Rufer gegen das Spardiktat und die Exporthysterie. Er wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass Deutschland unter einer Nachfrageschwäche leidet: Wegen ihrer niedrigen Löhne leisten die Deutschen keinen Beitrag zum europäischen Wachstum. Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, sieht ebenfalls eine Steigerung der Nachfrage in Deutschland als das Gebot der Stunde. Er warnt vor der verfehlten europäischen Politik, die sich in der Schuldenbremse und Defizitregeln niederschlägt. Das heißt: Die WirtschaftswissenschafterInnen in den USA bewiesen seit der Krise ihre Lernfähigkeit. Sie entdeckten Einsichten aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre wieder und bestätigten diese mit modernen Methoden.
In Europa hingegen hielten die große Mehrheit der Ökonominnen und Ökonomen sowie die Politik an den veralteten, neoliberalen Dogmen fest. Damit ritten sie die Wirtschaft immer tiefer in den Schlamassel. Bei der steigenden Arbeitslosigkeit ist in Europa auch fünf Jahre nach Krisenbeginn noch kein Ende abzusehen.
Homepage von Paul Krugman: www.krugmanonline.com
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin miriam.rehm@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 kam für die Kommission überraschend, da sie weitgehend auf die Fähigkeit zur Selbstregulierung der Finanzmärkte vertraut hatte: Ein laxer Regulierungsrahmen werde ausreichen, um Marktturbulenzen mit realwirtschaftlichen Konsequenzen zu unterbinden. Dieses Vertrauen der Kommission auf die Heilsamkeit der Marktkräfte gründet ebenso auf Annahmen aus der neoklassischen ökonomischen Theorie wie wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen in den Krisenjahren.
Hypothese effizienter Finanzmärkte
Laut der Hypothese effizienter Finanzmärkte agieren die Marktakteure rational; Herdenverhalten und die Möglichkeit von individuell profitablem, gesellschaftlich jedoch schädlichem Spekulationsverhalten spielen keine Rolle. Dieser theoretische Rahmen hatte vor dem Ausbruch der Finanzkrise wesentlichen Einfluss auf den Glauben der Kommission an die Stabilität und wohlfahrtssteigernde Wirkung schwach regulierter Finanzmärkte. Als im Jahr 2009 als Folge der Finanzkrise die reale Wirtschaftsleistung in der Eurozone um 4,4 Prozent einbrach, stellte dies den Glauben an die effiziente Funktionsweise der Finanzmärkte infrage.
Doch auch wenn seitdem kleine Fortschritte in der Finanzmarktregulierung erzielt werden konnten, so sind die bisherigen Bemühungen der Kommission unzureichend. So gab es insbesondere keine durchschlagende Initiative zur Verkleinerung des Finanz- und Bankensystems, was jedoch eine grundlegende Voraussetzung für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung in der EU darstellt: Wenn es große Finanzinstitute schaffen, mithilfe erfolgreichen Lobbyings die Kommission daran zu hindern, durch Gesetzesinitiativen eine schärfere Finanzmarktregulierung auf den Weg zu bringen, dann werden zukünftige Verwerfungen an den Finanzmärkten weitere staatliche Rettungsaktionen für sogenannte systemrelevante Finanzinstitute notwendig machen, was negative Effekte auf die Staatsverschuldung hätte.
Nach dem Ausbruch der Krise spielte die Kommission zunächst das zu erwartende Ausmaß der Rezession herunter. Nachdem die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2009 diese Abwiegelungstaktik ad absurdum geführt hatte, verlegte sie sich auf Vorhersagen, wonach auf den wirtschaftlichen Abschwung eine rasche Erholung der Konjunktur folgen werde. Diese Erwartung beruht auf neoklassischen Modellen, in denen die Wirtschaft nach einem negativen Schock wie dem Ausbruch der Finanzkrise rasch wieder ihr Wachstumspotenzial erreichen kann. Im Jahr 2010 herrschte in der Kommission der Glaube vor, dass ein strenger Sparkurs in der ganzen EU zum einen die zügige Konsolidierung der Staatshaushalte auf den Weg bringen und zum anderen ohne massive Wohlstandsverluste möglich sein würde, da zur Stabilisierung der Konjunktur keine weiteren beschäftigungsfördernden Maßnahmen nötig seien.
Rechtfertigung der Sparpolitik
Zur Rechtfertigung der Sparpolitik diente im Rahmen der Prognosen der Kommission die Hypothese expansiver Effekte von Budgetkonsolidierung: Die BürgerInnen erkennen, dass eine Reduktion der Staatsausgaben eine geringere zukünftige Steuerlast mit sich bringt. Daraufhin hellen sich die wirtschaftlichen Zukunftserwartungen auf; dies führt zu einer Ankurbelung von Konsum und Investitionen, was sich positiv auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung auswirkt. Die vergangenen Jahre machten jedoch auf schmerzhafte Weise klar, dass diese Hypothese völlig verfehlt ist: In Krisenzeiten haben Budgetkonsolidierungen besonders starke negative Wachstums- und Beschäftigungseffekte.
Die negativen Effekte der Sparpolitik
Sparpolitik ging in den letzten Jahren mit einbrechendem Wirtschaftswachstum und ansteigender Arbeitslosigkeit einher: Jene Eurozonenländer, welche die schärfsten Sparmaßnahmen durchsetzten, erlitten auch die größten Wachstumseinbußen.
Die Budgetkonsolidierung beschleunigte außerdem den Beschäftigungsrückgang: In der Eurozone liegt die Arbeitslosenquote bei einem Rekordwert von 12,2 Prozent der Erwerbspersonen; in den GIPSI-Ländern, die sich aus Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Irland zusammensetzen, beträgt sie durchschnittlich 19,3 Prozent. Die Verschuldungssituation verschlechterte sich in den Krisenländern trotz umfangreicher Konsolidierungsmaßnahmen: In den GIPSI-Ländern lag die Staatsschuldenquote 2009 bei durchschnittlich 89,6 Prozent des BIP; nach mehreren Jahren der Durchsetzung von Sparmaßnahmen betrug sie 2012 bereits 122,3 Prozent.
Der Versuch der Kommission, in Krisenzeiten durch möglichst umfangreiche Konsolidierung die Staatsschuldenquoten in den Mitgliedsländern unter Kontrolle zu bringen, ist zum Scheitern verurteilt, weil die negativen Effekte der Sparpolitik auf Wachstum und Beschäftigung vor dem Hintergrund der falschen theoretischen Annahme expansiver Konsolidierungseffekte massiv unterschätzt werden.
Die Kommission forciert nicht nur Konsolidierungsmaßnahmen, sondern auch eine Politik der Lohnsenkungen: Sinkende Lohnkosten sollen die Produktionskosten der Unternehmen drücken und zu positiven Wachstumseffekten führen. Diese wirtschaftspolitische Vorstellung lässt sich auf die neoklassische Produktionstheorie zurückführen, welche die Löhne hauptsächlich als Kostenfaktor für Unternehmen betrachtet: Steigende Löhne erhöhen den Preis von Gütern und senken die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit.
Tatsächlich sind Löhne jedoch auch die Einkommen der ArbeitnehmerInnen: Lohnkürzungen wirken sich über volkswirtschaftliche Kreislaufeffekte negativ auf Nachfrage, Produktion und Beschäftigung aus. Dies wird in den Wirtschaftsprognosen der Kommission vernachlässigt.
„Innere“ Abwertung
Das Beharren auf der Notwendigkeit von Lohnkürzungen hat einen makroökonomischen Hintergrund: Die Kommission erwartet sich eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in den GIPSI-Ländern. Die Anpassungsprogramme sehen Maßnahmen wie die Reduktion von Löhnen im öffentlichen Sektor sowie die Kürzung von Sozialausgaben vor, um Abwärtsdruck auf Löhne und Preise zu erzeugen, somit eine „innere“ Abwertung in den Krisenländern zu erreichen, das Exportwachstum zu fördern und die hohen Leistungsbilanzungleichgewichte aus den Vorkrisenjahren abzubauen. Durchschnittlich veränderten sich die Leistungsbilanzsalden der GIPSI-Länder von minus neun Prozent des BIP im Jahr 2008 so weit, dass sie im Jahr 2012 mit –0,3 Prozent fast ausgeglichen waren. Dies ist jedoch – anders als von der Kommission erwartet – in erster Linie nicht ein Ausdruck höherer Exporte, sondern eine Folge der schweren Rezession: Lohnkürzungen wirken sich negativ auf den Konsum von und die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus; dadurch gingen in den letzten Jahren die Importe in den betroffenen Ländern zurück. Beispielsweise fielen in Portugal die Importe als Folge der anhaltenden Rezession im Jahr 2012 um fünf Prozent. Die Kommission ignoriert diese verheerende nachfrageseitige Dynamik jedoch aufgrund von verfehlten Annahmen über die Effekte von Lohnkürzungen und Sparmaßnahmen in Krisenzeiten: Ökonomische Theorien haben Einfluss auf die wirtschaftspolitische Praxis – und damit auf den Entwicklungspfad von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung.
Viel Interessantes zur EU: www.europa-geht-anders.eu
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor philipp.heimberger@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Von uninah bis Lobbyingorganisation
Zunächst soll uns eine andere Frage beschäftigen: Was ist das eigentlich, eine Denkfabrik? Die genaue Definition von Thinktanks kann mitunter schwierig sein, da die Bandbreite von universitätsnahen akademischen Einrichtungen über auf Öffentlichkeits- und Pressearbeit fo kussierte Institute bis hin zu Lobbyingorganisationen reicht. Klar ist, Thinktanks betreiben politikrelevante Forschung. Sie erforschen beispielsweise nicht den Krebs, richten keine Teleskope auf den Himmel und brauen nicht die nächste Generation Biosprit. Hingegen eruieren sie etwa Einsparungspotenziale im BeamtInnenapparat, machen Vorschläge zur Verbesserung der Bildungspolitik oder erforschen den Arbeitsmarkt. Ihre Ergebnisse richten sie meist nicht an andere ForscherInnen, sondern direkt an die Politik. Folglich publizieren sie selten in akademischen Journals und veranstalten stattdessen eher Diskussionen oder Seminarreihen für PolitikerInnen und Medienleute. Oder sie veröffentlichen auf der eigenen Website sogenannte „Policy Briefs“: kurze, einfach formulierte Handlungsratschläge für PolitikerInnen, die ihrer Meinung nach den Stand akademischer Forschung widerspiegeln. Meist stammt zumindest ein Teil ihrer Finanzierung aus privaten Quellen.
Dies sehen die einen als Garant für politische Unabhängigkeit, während die anderen bemängeln, dass die Denkfabriken dadurch zum verlängerten Arm privatwirtschaftlicher Interessen verkommen. In seinem Buch „Lobbying – the Art of Political Persuasion“ rät der erfahrene britische Lobbyist Lionel Zetter dazu, einen Thinktank zu gründen, um die Politik zu beeinflussen. Hat man genügend Zeit, den Gesetzgebungsprozess von Anfang an zu begleiten, wäre dies – seiner Meinung nach – die günstigste und effektivste Methode. Einerseits liegt dies am Nimbus wissenschaftlicher Forschung, denn während das Vertrauen in Politik und Wirtschaft stetig sinkt, kann sich die Wissenschaft noch einigermaßen positiver Werte erfreuen. Will man also in der Politik etwas durchsetzen, kann eine Studie, die Gesagtes bestätigt, durchaus hilfreich sein. Andererseits liegt es aber auch an den zunehmend komplexer werdenden Problemen, denen sich PolitikerInnen, bei gleichzeitig geringer werdenden personellen und finanziellen Ressourcen, stellen müssen. Ein (privat finanzierter) Thinktank, der Lösungsideen bietet und diese mit einer Studie belegen kann, ist daher oft herzlich willkommen.
Zwischen fünf und 15 Beschäftigte
Oftmals sind Thinktanks, gerade in Europa, relativ kleine Institutionen. In einer bis Juni dieses Jahres von Dieter Plehwe und mir am WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) durchgeführten Studie über ein europäisches Thinktank-Netzwerk lag die Zahl der MitarbeiterInnen in allen untersuchten 24 Institutionen etwa zwischen fünf und 15 (siehe thinktanknetworkresearch.net). Immer wieder haben deshalb WissenschafterInnen auf die tendenzielle Abhängigkeit der Denkfabriken von privatwirtschaftlichen Unternehmen hingewiesen. So hat etwa eine Institution mit fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vielleicht zwei, höchstens drei parallel laufende Projekte. Nicht selten werden mehrere Projekte gleichzeitig von ein und demselben Geldgeber finanziert und häufig verbindet diese GeldgeberInnen zudem eine längere Geschichte von Projekten mit dem Thinktank. Bedenkt man noch den zunehmenden Konkurrenzdruck zwischen Forschungseinrichtungen, kann daher die Versuchung entsprechend groß sein, den Geldgeberinnen und Geldgebern einfach die gewünschten Ergebnisse zu liefern.
Thatcher siegte mit Thinktanks
Nicht nur Erdöl- und Tabakkonzerne haben sich erfolgreich Thinktanks bedient, sondern auch politische Parteien. Margaret Thatcher konnte bei ihrem Wahlsieg 1979 und dem darauffolgenden Umbau des britischen Staates nicht nur auf das von einem Parteikollegen gegründete Centre for Policy Studies, sondern noch auf zwei weitere schlagkräftige Aushängeschilder neoliberaler Ideen, auf das Institute of Economic Affairs und auf das Adam Smith Institute, vertrauen. Man geht heute davon aus, dass ein guter Teil ihrer Popularität auf diese Thinktanks zurückzuführen ist. Die Denkfabriken erdachten in diesem Fall die Geschichten, die Storylines, die Thatchers Politiken ins Licht des Erfolges rückten. Denham und Garnett – zwei Sozialwissenschafter, die sich mit Thinktanks beschäftigen – bezeichnen deren Arbeit als das intellektuelle Rüstzeug, das sie zur Verfügung stellten – Ideen, Begriffe und Zahlen, die Thatchers Reformen die nötige Tiefe verliehen.
Noch einmal zurück zum Versuch der Wahlbeeinflussung durch „Agenda Austria“. Nicht wenige, vor allem neoliberale/neokonservative Geister aus den USA, würden sagen, dass genau dies die Aufgabe von Thinktanks ist. Demnach hat jede gesellschaftliche Gruppe ihre Institute bzw. ihre Lobby und im „freien Spiel der Kräfte“ setzen sich dann die besten Ideen durch. So einleuchtend dies auch klingen mag, so schlecht funktioniert es in der Praxis. Sozialwissenschaftliche Forschung (v. a. Andrew Rich) konnte zeigen, dass nicht alle ideologischen Lager gleich erfolgreich im Durchsetzen der eigenen Ideen sind. Ein Vergleich von liberalen und konservativen Kräften in den USA veranschaulichte, dass während liberale Thinktanks zu akademisch anspruchsvoller Forschung tendieren, ihre konservativen Pendants vor allem auf Medien und Politik zugeschneiderte Produkte erstellen und damit größeren Erfolg bei der Durchsetzung ihrer Ideen verzeichnen. Konservative Thinktanks scheinen bei der Suche nach Financiers auch weit effektiver zu sein. Zusammengefasst zeigt Richs Forschung, dass ein vermeintlich „freies Spiel“ der Kräfte konservative/neoliberale Ideologien – zumindest in den USA – bevorzugt. Hinzu kommt, dass die USA, Großbritannien und einige andere Staaten schon seit geraumer Zeit Transparenzregeln für gemeinnützige Organisationen eingeführt haben. Regeln, die in Österreich bis dato immer noch fehlen: Wer steuerliche Erleichterungen will, muss im Gegenzug jährlich umfangreiche Informationen zu seiner/ihrer Organisation zur Verfügung stellen. Dies reicht von Grundlegendem wie Anschrift und MitarbeiterInnenzahl über detaillierte Angaben zu Geldflüssen bis zu den Gehältern der fünf bestbezahlten Angestellten. Diese Informationen sind dann zentral abrufbar, wodurch man etwa in Großbritannien Zugang zu Datensätzen über beinahe 300.000 Institutionen bekommt. Dies ermöglicht es WissenschafterInnen, Journalistinnen und Journalisten sowie der interessierten Öffentlichkeit, zu etwaigen Interessenkonflikten einzelner Organisationen Untersuchungen anzustellen.
Mehr Transparenz und Regeln
Thinktanks können neue Ideen in eine Gesellschaft einbringen und somit zu Erneuerung und Innovation beitragen. Durch ihre Brückenfunktion zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft können sie aber auch zu preiswerten und effektiven Institutionen des Lobbyismus verkommen. Es wäre höchst an der Zeit, diesen Tendenzen mit besseren Transparenz- und strikteren Lobbyingregeln auf europäischer wie auch nationaler Ebene Vorschub zu leisten.
Think Tank Network Research Initiative: thinktanknetworkresearch.net
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]]>Neoliberale Rechtfertigung
Die Gegensätze in der größten Volkswirtschaft der Welt sind eindrücklich, aber ein Blick auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Menschen rund um den Globus offenbart eine weitaus größere Polarisierung. Von (neo)liberalen Ökonomen wird die Ursache für soziale Ungleichheit zwischen den Ländern in der ungleichmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung ausgemacht. In einem berühmt gewordenen Aufsatz stellte der Ökonom Simon Kuznets in den 1950er-Jahren einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Einkommensungleichheit her. Demnach sei in der Entwicklung von Agrar- zu Industriegesellschaften ein vorübergehender Anstieg der Ungleichheit unvermeidbar. Laut der umstrittenen Theorie schließt sich die Schere zwischen Arm und Reich in industrialisierten Gesellschaften wieder. Dafür gibt es empirisch allerdings keine Belege. Im Gegenteil, gerade in den weltweit führenden Volkswirtschaften wurde in den letzten Jahren ein weiterer Anstieg der Einkommensungleichheit verzeichnet.
Die neoliberale Seite rechtfertigt die steigende Ungleichheit oft mit der Theorie des Harvard-Philosophen John Rawls. Er argumentiert, dass von steigender Ungleichheit auch die Armen in einer Gesellschaft profitieren können. Die Idee dahinter wurde durch die umstrittene Trickle-down-Theorie bekannt: Der Wohlstand soll von den Reichen zu den unteren Einkommensschichten durchsickern. Es wird behauptet, dass Einkommensungleichheit zu härterer Arbeit, höherer Produktivität und größeren Investitionen anspornt, was schließlich in Wachstum und Wohlstand resultiert. Und Wirtschaftswachstum würde schlussendlich hauptsächlich den Armen zugute kommen, da neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der frühere US-Präsident John F. Kennedy pflegte zu sagen: „Die Flut hebt alle Boote.“ Hierzulande spricht man spöttisch von der Pferdeäpfel-Theorie: Wenn man ein Pferd mit genug Hafer füttert, wird auch etwas auf der Straße landen, um die Spatzen zu füttern. Aus diesem Grund wehren sich die Neoliberalen auch vehement gegen jegliche Ansätze zur Umverteilung von Einkommen. Diese würden die Anreize, hart zu arbeiten, senken und die ArbeitnehmerInnen zu mehr Faulheit verführen. Dementsprechend wirke sich Umverteilung auch negativ auf das Wirtschaftswachstum aus und dies treffe wiederum die Schwächsten in der Gesellschaft, behaupten die Neoliberalen.
Wachstumsbremse Ungleichheit
Eine ungleiche Verteilung der Einkommen trifft aber nicht nur einzelne Haushalte, sondern kann auch die gesamte Wirtschaft lähmen. Der britische Ökonom John Maynard Keynes sah die Spreizung der Einkommen als Ursache für schleppendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit. Dies wird durch die mangelnde Konsumnachfrage begründet, da viele Haushalte zwar gerne mehr konsumieren würden, ihnen aber schlicht die finanziellen Mittel dazu fehlen. Durch Umverteilung von oben nach unten werden die Haushaltskassen dieser Familien aufgebessert und ihre Kaufkraft wird erhöht. Schließlich kommt bei Keynes hier der berühmte Multiplikator-Effekt zu tragen: ein höherer Konsum schafft Anreize für Investitionen der Unternehmen, was wiederum zu neuen Arbeitsplätzen und in weiterer Folge zu höheren Einkommen der ArbeitnehmerInnen führt. Damit soll die Wirtschaft nachhaltig belebt und der Lebensstandard in einem Land erhöht werden.
Umverteilung für Wirtschaftswachstum
Ein weiteres Argument lautet, dass ein zu hohes Maß an Einkommensungleichheit zu politischer und ökonomischer Instabilität führen kann. Erst kürzlich beleuchteten der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sowie der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Raghuram Rajan, in ihren Publikationen die Rolle der Einkommensungleichheit in der Entstehung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Laut den beiden Wirtschaftswissenschaftern hat die zunehmende Spreizung der Einkommen die Blasenbildung an den Märkten angefeuert. Diese Feststellung deckt sich mit den Beobachtungen jener Ökonominnen und Ökonomen, die in der Tradition von Keynes stehen. Demzufolge stecken ärmere Gesellschaftsschichten einen höheren Anteil ihres Einkommens in den Konsum als Vermögende. Letztere weisen hingegen eine höhere Sparneigung auf, können also einen größeren Anteil ihres Einkommens beiseitelegen. Große Teile dieser Ersparnisse werden auf internationalen Finanzmärkten angelegt und leisten der Spekulation Vorschub, indem die Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten zu instabilen Blasen führt. Eine Umverteilung von oben nach unten würde demnach nicht nur den Konsum der unteren Einkommensschichten und damit das Wirtschaftswachstum beflügeln. Sie kann auch die Spielräume für hemmungslose Spekulation verringern und damit als Instrument gegen eine krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft dienen.
Abseits dieser wirtschaftlichen Perspektive entscheidet der Grad der Umverteilung aber auch über die Lebensbedingungen der Menschen. So legen neue Studien offen, dass sich eine ungleiche Verteilung von Einkommen negativ auf Gesundheit, Bildung und Sicherheit in einem Land auswirkt. Von diesen sozialen Problemen sind hauptsächlich die einkommensschwachen Haushalte betroffen, vor allem aber die Kinder, die in diesem Umfeld aufwachsen. Der Harvard-Ökonom Amartya Sen fordert in diesem Zusammenhang die Gleichheit von Verwirklichungschancen. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sollen dieselben Startbedingungen erhalten, um keine Ungleichheit aufgrund der unterschiedlichen Familienhintergründe zuzulassen. Deshalb brauchen wir nicht nur ein Steuersystem, das von Reich zu Arm umverteilt, sondern auch einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat. Dieser soll vor allem die Lebensbedingungen für die einkommensschwachen Haushalte vereinfachen und ein gutes Bildungs-, Gesundheits- und Pflegesystem bereitstellen.
Eine Gefahr für die Demokratie
Letztlich kann die ungleiche Verteilung der ökonomischen Ressourcen auch zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Vermögende können ihre gesellschaftliche Position dazu nutzen, in politische Entscheidungsprozesse einzugreifen, beispielsweise über soziale Netzwerke oder Parteispenden. Dies bedeutet ein Ungleichgewicht in der Teilhabe an Politik und Demokratie zulasten der einkommensschwachen Mitglieder der Gesellschaft. Dies erschwert auch oft die Bestrebungen für Umverteilung in der politischen Arena. Wie stark in einer Volkswirtschaft von oben nach unten umverteilt wird, hängt davon ab, welche gesellschaftlichen Gruppen ihre Interessen stärker durchsetzen können. Die VertreterInnen der neoliberalen Seite lehnen Umverteilung aus den genannten Gründen ab und wollen den Wohlfahrtsstaat immer weiter zurückdrängen. Demgegenüber kämpfen die ArbeitnehmerInnen für einen gerechten Finanzierungsbeitrag der Reichen zum Sozialsystem und für bessere Lebensbedingungen durch höhere Einkommen. Es ist ein Kräftemessen zwischen den Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen und der Industriellen sowie Vermögenden um die Verteilungspolitik und um soziale Gerechtigkeit. Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze bieten hierbei keine einheitliche Handlungsanleitung. Die empirischen Befunde zeigen aber, dass eine zunehmende Polarisierung der Einkommen zu unerwünschten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Resultaten führt.
Schreiben Sie Ihre Meinungan den Autor matthias.schnetzer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Neoklassik
Die Neoklassik geht davon aus, dass freie Märkte zu einem effizienten Ergebnis (Markträumung) führen. Der Staat soll daher in der Regel nicht eingreifen. Voraussetzungen für ein effizientes Marktergebnis sind unter anderem folgende – zum Teil völlig realitätsferne – Annahmen: Alle Märkte sind Wettbewerbsmärkte ohne Eintrittsbarrieren, mit einer großen Anzahl an kleinen Anbietern ohne Marktmacht und einer großen Zahl von Nachfragern. Alle MarktteilnehmerInnen verfügen über vollkommene Information.
Der Arbeitsmarkt wird als Markt wie alle anderen gesehen, tendiert also wie die Gütermärkte und der Kapitalmarkt zu einem Gleichgewicht, in diesem Fall: Vollbeschäftigung.
Das Arbeitsangebot wird durch die freie Wahl der Erwerbspersonen zwischen Arbeit und Freizeit bestimmt. Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen ist negativ abhängig vom Reallohn. Durch einen geeigneten Preis (Reallohn) lässt sich somit Vollbeschäftigung herstellen. Im Gleichgewicht entspricht der Reallohn der realen Grenzproduktivität, d. h. dem zusätzlichen Produktionsbeitrag der zusätzlich hinzugefügten Arbeitskraft.
Arbeitslosigkeit entsteht einerseits durch ein zu niedriges Lohnniveau und die daraus resultierende Abneigung der Erwerbspersonen, zum Marktlohn zu arbeiten. Andererseits wird Arbeitslosigkeit als Folge der Aktivität von Gewerkschaften und des Bestehens von Institutionen wie Mindestlohn oder KV gesehen. Wenn diese ein Lohnniveau über dem Gleichgewichtslohn bedingen, führt das zu sinkender Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Verantwortlich für Arbeitslosigkeit sind mithin entweder die Arbeitslosen selbst oder die Gewerkschaften bzw. fehlgeleitete staatliche oder sozialpartnerschaftliche Regulierungen des Arbeitsmarktes.
Ein Eingreifen des Staates ist nur im Fall institutionell bedingter Arbeitslosigkeit gerechtfertigt. Neoklassische bzw. neoliberale Beschäftigungspolitik, wie seit den 1980er-Jahren in immer mehr Ländern praktiziert und von Organisationen wie der OECD angepriesen bzw. verordnet, bedeutet somit Deregulierung des Arbeitsmarktes: Zurückdrängen der Gewerkschaften und Beseitigung jener Arbeitsmarktinstitutionen, die Lohnuntergrenzen festlegen.
Postkeynesianismus
Der Postkeynesianismus beurteilt die Stabilität von Marktwirtschaften weit skeptischer. Weil der Kapitalismus zu wiederkehrenden Krisen tendiert, werden dem Staat wesentliche stabilisierende Aufgaben zugewiesen: antizyklische Wirtschaftspolitik, finanzmarktliche und sozialpolitische Regulierung und so fort. Im Gegensatz zur Neoklassik geht der Postkeynesianismus davon aus, dass Beschäftigung und Arbeitslosigkeit auf den Produktmärkten bestimmt werden und nicht auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt unfreiwillige Arbeitslosigkeit aufgrund unzureichender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Sie ist nicht das Resultat von Arbeitsmarktregulierungen. Lohnflexibilität (nach unten) reicht nicht aus, um Vollbeschäftigung zu erreichen und zu bewahren.
Die Lohnfestsetzung erfolgt durch Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen bzw. Arbeitgeberverbänden. Das Verhandlungsergebnis hängt von den Machtverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt ab. Die Preise werden auf den Gütermärkten bestimmt, beeinflusst zum einen durch die Wettbewerbsverhältnisse und die Marktmacht einzelner Unternehmen, zum anderen durch die Profiterwartungen der Unternehmen, wobei deren Bedarf an Investitionsfinanzierung im Vordergrund steht. Somit wird der reale Lohnsatz nicht allein durch Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt bestimmt, sondern auf Arbeits- und Produktmärkten. Der Arbeitsmarkt selbst führt nicht zu einem Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung.
Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird durch die tatsächliche gesamtwirtschaftliche Nachfrage bestimmt, die sich aus der Konsumnachfrage der privaten Haushalte, den Bruttoinvestitionen der Unternehmen, den Ausgaben des Staates und dem Außenbeitrag (Exporte minus Importe) zusammensetzt. Das Arbeitsangebot der Erwerbspersonen ist – ähnlich wie in der Neoklassik – abhängig vom Lohn.
In der kapitalistischen Marktwirtschaft herrscht unfreiwillige Arbeitslosigkeit vor, weil im Normalfall die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet sind: Die effektive Nachfrage ist unzureichend, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten.
Aus mikroökonomischer Sicht eines Unternehmens erscheint es positiv, wenn die Löhne sinken. Es kann dann eventuell Absatz und Gewinn steigern und zusätzliche Arbeitskräfte einstellen. Doch in einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung, so betont die postkeynesianische Theorie, gilt dieser positive Zusammenhang zwischen Reallohnsenkung und Beschäftigungsanstieg in der Regel nicht.
Lassen wir den großen österreichischen Postkeynesianer Kurt W. Rothschild (1914–2010) zu Wort kommen: „Im Makrozusammenhang sind Löhne und Beschäftigung durch viele Fäden in einem äußerst komplizierten Geflecht miteinander verbunden, sodass simple, generalisierende Aussagen nicht erbracht werden können.“
Lohngetriebene Wirtschaft
Die Wirtschaft der EU wird durch die Entwicklung der Binnennachfrage – vor allem durch privaten Konsum – bestimmt. Der Außenbeitrag spielt nur eine geringe Rolle. In einer derartigen „lohngetriebenen“ Wirtschaft wirkt sich eine Reallohnsenkung negativ auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit auf die Beschäftigung aus. Der durch die Lohnreduktion ausgelöste Rückgang der Konsumnachfrage der privaten Haushalte überwiegt gegenüber den möglichen positiven Impulsen für Investitionen und Exporte.
Der Staat muss eingreifen
Die wichtigste wirtschaftspolitische Schlussfolgerung lautet, dass der Staat eingreifen muss, um die Arbeitslosigkeit zu verringern.
In Zeiten schwacher gesamtwirtschaftlicher Nachfrage, in Rezessionen, soll der Staat das Defizit des öffentlichen Sektors erhöhen, indem er die automatischen Stabilisatoren (z. B. Arbeitslosenversicherung) wirken lässt und gezielt („diskretionär“) beschäftigungswirksame Staatsausgaben mit hohen Multiplikatoreffekten anhebt.
Besondere Bedeutung kommt dieser gegensteuernden („antizyklischen“) Fiskalpolitik dann zu, wenn – wie gegenwärtig – die belebenden Möglichkeiten der Geldpolitik (Zinssenkungen) weitgehend ausgeschöpft sind. Antizyklische Fiskalpolitik ist, wie die Erfahrungen zeigen, wirksam. Sie unterbindet bzw. dämpft die Entstehung von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit. Aktive Arbeitsmarktpolitik soll Betroffenen den Übergang von schrumpfenden Branchen bzw. Berufen in wachsende ermöglichen. Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung (wie z. B. sozialpartnerschaftlich vereinbarte Kurzarbeitsregelungen) zielen auf Verringerung des Arbeitsangebots ab.
Der Postkeynesianismus betont ebenso die Notwendigkeit einer koordinierten europäischen Lohnpolitik, die auch zum Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte innerhalb des Euroraums beiträgt. Die einzelnen Länder brauchen eine Lohnpolitik, die sich bezüglich der Nominallohnerhöhungen jeweils an dem von der Europäischen Zentralbank gesetzten Preisstabilitätsziel (zwei Prozent) sowie dem mittelfristigen Trend der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität orientiert. Der ÖGB bekennt sich seit den 1970er-Jahren („Benya-Formel“) zu einer derartigen Lohnpolitik. Diese berücksichtigt sowohl Kosten- als auch Nachfrageeffekte von Lohnänderungen. Sie gewährleistet, dass die realen Lohnstückkosten (Lohnkosten je Produktionseinheit) unverändert bleiben und trägt somit weder zur Entstehung von Inflation noch von Deflation bei. Der Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt wird stabilisiert. Die Einhaltung der Produktivitätsorientierung über einen längeren Zeitraum würde Unsicherheiten reduzieren. Dies wiederum würde Realkapitalinvestitionen, Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum begünstigen.
Die Benya-Formel: de.wikipedia.org/wiki/Benya-Formel
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]]>Aktienanleihe: festverzinstes Wertpapier für Risikofreudige. Dazu ein Beispiel: Ein Käufer erwirbt von einem Emittenten (in der Regel ist das eine Bank) eine Anleihe auf 25 Aktien des Unternehmens XY in der Höhe von 10.000 Euro mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Die Bank garantiert dafür einen relativ hohen Zinssatz, beispielsweise zehn Prozent. Diese Zinsen werden jährlich ausbezahlt. Ob der Anleger das investierte Kapital wieder vollständig zurückerhält, ist allerdings nicht garantiert.
Denn am Ende der Laufzeit erhält der Anleger entweder die 10.000 Euro zurück oder – wenn der aktuelle Aktienpreis niedriger ist als der Basispreis – 25 Aktien. Das für Laien beruhigende Wort festverzinslich birgt also durchaus ein gewisses Risiko, da es keine Kapitalgarantie gibt. Fallen die betreffenden Aktien in den Keller, steigt man trotz hoher Zinsen mit Verlusten aus und kann nur auf Kursanstiege in der Zukunft hoffen. Bei Indexanleihen erfolgt diese Art Wette auf die Kursentwicklung von Aktienindizes.
Arbeitslosenquote: Nach nationaler Definition: Anteil der beim AMS registrierten erwerbslosen Personen am unselbstständigen Arbeitskräftepotenzial (= arbeitslos Gemeldete plus Erwerbstätige). Nach EU-Definition gelten Personen als arbeitslos, wenn sie – nach dem Labour-Force-Konzept (LFK) – nicht erwerbstätig sind, aktiv Arbeit suchen und für die Arbeitsaufnahme verfügbar sind. Da bei dieser Arbeitskräfteerhebung aber auch Personen, die in der Referenzwoche nur eine Stunde gearbeitet haben, als erwerbstätig und somit nicht als sofort verfügbar gelten, liegt die EU-Quote in der Regel unter der nationalen Arbeitslosenquote (Registerquote).
In keinem Fall jedoch bedeutet etwa eine Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent, dass tatsächlich jede/r vierte Jugendliche (zwischen 14 und 25) einen Job sucht. Denn als erwerbslos gelten ja nur diejenigen, die tatsächlich Arbeit suchen, SchülerInnen, Studierende etc. zählen nicht dazu.
Bad Bank: Abwicklungs- oder Auffangbank, bei der vor allem in Krisenzeiten Derivate und Zertifikate von in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Emittenten aufgenommen und sogenannte notleidende (faule) Kredite sanierungsbedürftiger Banken abgewickelt werden. Anders formuliert, in Bad Banks wird der im Zuge von Finanzkrisen entstandene toxische Müll abgeladen, der unter anderem deshalb entstanden ist, „weil selbst Banker viele Produkte irgendwann nicht mehr verstanden haben“, so „Das kritische Finanzlexikon“. Bad Banks sind als zweckgebundene Inkassounternehmen angelegt, für die der Staat die Bürgschaft übernehmen kann. Sie werden nach der Abwicklung der Kredite aufgelöst. Problematisch daran ist unter anderem, dass die etablierten Banken zwar die Gewinne riskanter Geschäfte und Kredite (z. B. auch in Form von Risikoprämien) kassieren, eventuelle Verluste und Risiken dann aber auf Abwicklungsbanken und damit den Staat abgewälzt werden. Ein Lösungsansatz: sogenannte Besserungsscheine, mit denen die Banken als Schuldnerinnen bestätigen, dass sie, sobald sich ihre wirtschaftliche Lage bessert, mit der Rückzahlung beginnen.
ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus): 2012 eingesetzte EU-Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg, die überschuldete Staaten der Eurozone durch Notkredite und Bürgschaften unterstützt, um deren Zahlungsunfähigkeit zu verhindern. Der ESM wurde von 17 Euro-Staaten unterzeichnet und ratifiziert und ist Teil des Euro-Rettungsschirms. Das Stammkapital des ESM betrug anfangs 700 Mrd. Euro, wobei Deutschland den weitaus größten Beitrag leistet. Aktuell wird europaweit darüber diskutiert, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen auch direkte Kapitalhilfen an Banken durch den ESM möglich sein könnten.
Europäischer Fiskalpakt: auch Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKS-Vertrag).
Im Dezember 2011 einigten sich die Länder der Eurozone auf Obergrenzen für die Staatsverschuldung und Strafen für jene Länder, die diese Grenzen missachten. Auch die meisten Nicht-Euro-Länder erklärten sich einverstanden. Geplant war ursprünglich, den Fiskalpakt durch eine Änderung des EU-Vertrags von Lissabon durchzusetzen, was am Veto von Großbritannien scheiterte. Daher trat der Fiskalpakt in Form eines zwischenstaatlichen Vertrages Anfang 2013 in Kraft. Bisher wurde er von allen Ländern außer Großbritannien und Tschechien unterzeichnet und in 17 Staaten, darunter auch Österreich, ratifiziert. Strafzahlungen bei Nichteinhaltung des Fiskalpaktes sollen in das ESM-Projekt fließen.
Der Europäische Fiskalpakt wird allgemein als weiterer Schritt zur Fiskalunion mit gemeinsamem Budget, gemeinsamer Steuerpolitik etc. gesehen – was keineswegs nur wohlwollende Reaktionen auslöst. Denn die EU-Wirtschaftspolitik und aktuell deren Umgang mit Schuldenkrisen wird immer wieder auch von prominenten Ökonomen heftig kritisiert.
Schattenbanken: Dazu zählen erstens Unternehmen, die – innerhalb des gesetzlichen Rahmens – laufend oder zeitweise für Banken typische Finanzgeschäfte betreiben, hauptsächlich indem sie Mittel aufnehmen und als Darlehen vergeben, zum Teil an von der Insolvenz bedrohte Unternehmen. Zweitens gehören dazu Tochtergesellschaften von Banken, die außerhalb der Bankbilanzen tätig sind, sowie drittens Unternehmen, die unerlaubt Bankgeschäfte betreiben und etwa mit Geldwäsche in Verbindung gebracht werden können.
Da vor allem in Zusammenhang mit der Finanzkrise deutlich wurde, dass auch legal arbeitende Schattenbanken durch ihre Verbindungen zum regulären Bankensystem einen hohen Risikofaktor für das Welt-Finanzsystem darstellen können, war ihre Regulierung unumgänglich. Im August 2013 legte die internationale Organisation zur Überwachung des globalen Finanzsystems FSB (Financial Stability Board) im Vorfeld des G-20-Gipfels in Moskau einen Entwurf vor, der bis 2015 das Schattenbank-System in allen großen Wirtschaftsregionen regulieren soll. Im Übrigen soll laut FSB das Finanzvolumen der Schattenbanken rund 50 Prozent von jenem des regulären Bankensystems ausmachen.
Stresstest: Das Wort des Jahres 2011 wird nicht nur im Bereich Ökonomie verwendet, sondern auch in der Technik – etwa in Zusammenhang mit dem Risikomanagement bei Atomkraftwerken.
In jedem Fall geht es um Belastbarkeit. Konkret wird beim Stresstest für Banken geprüft, wie weit die Aktiva von Geldinstituten – also vor allem Wertpapiere und Kredite – von Veränderungen äußerer Faktoren wie politischer Einflüsse oder Zins- und Konjunkturveränderungen (negativ) betroffen sein können.
Sogenannte Mikro-Stresstests werden von den Banken selbst und Makro-Stresstests von staatlichen und EU-Institutionen durchgeführt. Entscheidend ist in allen Fällen der Realitätsgehalt von Bilanzzahlen, Testszenarien, Parametern und Bewertungskriterien. Denn in der Vergangenheit gab es bereits mehrmals Krisen und Pleiten trotz erfolgreich absolvierter Stresstests, so 2007 kurz vor der Lehman-Pleite. Normalerweise wird bei Stresstests etwa davon ausgegangen, dass kleine Kursausschläge bei Aktien wahrscheinlicher sind als große. Tatsächlich sind dramatische Kurseinbrüche lange nicht so ungewöhnlich wie angenommen. Diese stehen nicht selten in Zusammenhang mit Katastrophen wie dem Terroranschlag 2001 in New York oder der Reaktorkatastrophe in Fukushima – allesamt Ereignisse, die laut Expertinnen und Experten nur im Abstand von Jahrhunderten auftreten hätten dürfen. Banken-Stresstests sollen daher umgestaltet bzw. verbessert werden. Aktuell gibt es zum Beispiel noch keine Einigung darüber, ob Staatsanleihen bei Stresstests weiterhin als sicher bewertet werden können.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin astrid.fadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>1919 aus Budapest nach Wien
Ihre Familie war 1919 nach der fehlgeschlagenen ungarischen Revolution aus Budapest nach Wien gekommen. Aufgrund der Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland wurde Maria Szécsi 1938 zur neuerlichen Emigration in die USA gezwungen. Dort konnte sie endlich ihre Universitätsstudien in Ökonomie, Geschichte und Politikwissenschaft abschließen, woran sie von der Wiener Universität durch die Repressionsmaßnahmen des Ständestaates gehindert worden war. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich war Maria Szécsi zunächst im kommunistisch beherrschten „Weltgewerkschaftsbund“ tätig, ging allerdings zunehmend auf Distanz zur Kommunistischen Partei, aus der sie nach dem Ungarnaufstand 1956 austrat. Seit 1960 arbeitete Marika, wie sie von ihren Kolleginnen und Kollegen genannt wurde, in der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Arbeiterkammer Wien, die damals von Eduard März geleitet wurde, den sie später heiratete.
Lohnanteil am Volkseinkommen
Aus der großen Zahl ihrer Arbeiten ist an erster Stelle die Studie „Der Lohnanteil am österreichischen Volkseinkommen 1913–1967“ (erschienen 1970) zu erwähnen, deren Ergebnisse durch die exemplarische Behandlung des Themas auch heute noch aktuell sind. In der Sichtweise einer keynesianischen Wirtschaftspolitik war eine langfristig konstante bereinigte Lohnquote eine Bedingung für „gleichgewichtiges“ Wirtschaftswachstum: In einer wachsenden Wirtschaft ermöglicht die Beteiligung der ArbeitnehmerInnen am Produktivitätsfortschritt eine entsprechende Zunahme des privaten Konsums, und damit kann die wachsende Menge an Waren und Dienstleistungen abgesetzt werden. Es gibt auch noch zwei weitere wichtige Aspekte: Lohnsteigerungen im Rahmen von Produktivitätswachstum und Zielinflation sind eine Bedingung für die Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, darüber hinausgehende Lohnerhöhungen führen zu Wachstums- und Reallohneinbußen.
Die VertreterInnen der keynesianischen Denkrichtung in der Wirtschaftspolitik, zu denen Maria Szécsi gehörte, brachten diesen zentralen makroökonomischen Denkansatz in die Diskussion ein und waren damit im sogenannten Golden Age der österreichischen Nachkriegsgeschichte (1950–1975) sehr erfolgreich, ebenso in den Jahren nach dem ersten schweren Wachstumseinbruch 1975. Aber auch heute noch zeigt sich im Umkehrschluss die Bedeutung der keynesianischen Denkweise: Die oft monierte Schwäche der Binnennachfrage wird immer mehr zur entscheidenden Ursache der europäischen Wachstumsschwäche – diese Schwäche der Binnennachfrage ist aber eine Konsequenz der fallenden Lohnquote. Denn schon seit fast zwei Jahrzehnten stagnieren die Reallöhne und bleiben hinter dem Produktivitätsfortschritt zurück. Maria Szécsis Studie aus 1970 hat uns in dieser Hinsicht auch über 40 Jahre später noch einiges zu sagen.
Erste Frau in paritätischer Komission
Sie gehörte auch zum engeren Kreis jener Verbändeexperten der ersten Stunde, welche ab 1963 im Rahmen des sozialpartnerschaftlichen Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen und seiner Arbeitsgruppen tätig waren, als dort wichtige Grundlagen für die österreichische Wirtschaftspolitik von den Sozialpartnern gemeinsam festgelegt wurden. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem drei Studien des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen über den Preis- und Kostenauftrieb aus 1964 bis 1972. Wie kaum jemand anderer hat es Maria Szécsi bei der Arbeit an dieser zwischen den Arbeitsgruppenmitgliedern durchaus kontroversiellen Materie verstanden, Sachlichkeit und Grundsatztreue im wohl ausgewogenen Urteil auf einen Nenner zu bringen. Dadurch hat sie sich die besondere Wertschätzung nicht nur ihrer Kolleginnen und Kollegen in Arbeiterkammer und Gewerkschaften, sondern auch auf der anderen Seite und bei politisch anders Denkenden erworben. Als erste Frau gehörte Maria Szécsi dem Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen der damaligen Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen an.
Untersuchte für VKI „Grauen Markt“
Eingehend hat sich Maria Szécsi auch den Problemen der Preis- und Wettbewerbspolitik gewidmet, nachdem sie vor ihrem Eintritt in die Arbeiterkammer einige Jahre in einer Vorläuferorganisation des heutigen Vereins für Konsumenteninformation (VKI) tätig gewesen war. In einer eigenen Studie untersuchte sie das Phänomen des „Grauen Marktes“ – gemeint ist damit das in den 1960er-Jahren grassierende Rabattunwesen, mit dem Wettbewerbsbeschränkungen unterlaufen wurden, was allerdings mit zu einer gravierenden Störung der Preistransparenz führte. Sie arbeitete auch an der Reform des Kartellgesetzes mit und war von der Arbeiterkammer als Mitglied des Paritätischen Ausschusses beim Kartellgericht nominiert.
Ihre wirtschaftspolitischen Funktionen und Tätigkeiten waren im politisch-gesellschaftlichen Gesamtverständnis Maria Szécsis immer eingebettet in ein theoretisch fundiertes Weltbild. In dieser Hinsicht ist ihr intellektuelles Profil exemplarisch für die österreichische Nachkriegszeit. Sie zählte zu jener Gruppe österreichischer Emigrantinnen und Emigranten, die sich als WissenschafterInnen in der politischen Arbeiterbewegung engagiert hatten. In der Emigration hatte sie ihre modernen sozialwissenschaftlichen Kenntnisse erworben, die sie dann beim nachholenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess im Österreich der Nachkriegszeit für eine pragmatische, keynesianische Wirtschaftspolitik einsetzen konnte, welche gegen die konservativen Kräfte der Beharrung erst durchgesetzt werden musste. Was Maria Szécsi bei allem intensiven Engagement in der Fachpolitik mindestens immer gleich hoch stellte, war die Diskussion der Grundsatzfragen einer arbeitnehmerInnenorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf hohem theoretischen Niveau unter gleichzeitiger Betonung einer soliden empirischen Fundierung. Folgerichtig hat sich Maria Szécsi ein Leben lang mit Problemen des Sozialismus beschäftigt, und dies sozusagen ergebnisoffen. Weil es für sie keine ideologisch vorgegebenen Dogmen gab, zog sie als Ökonomin und auch für sich persönlich die Konsequenzen aus dem Scheitern des sogenannten realen Sozialismus der damaligen Oststaaten. Gerade aus dieser Haltung heraus war sie in besonderem Maß in der Lage, sich mit ordnungspolitischen Fragen einer Mixed Economy, also eines Systems der gemischten Wirtschaft, einer Kombination aus Marktwirtschaft und Staatsintervention, theoretisch zu beschäftigen und dazu wichtige Beiträge zu leisten.
Sie blieb dabei immer auf der Höhe der Zeit, etwa mit ihrem Artikel zum Thema Arbeitszeitverkürzung „Jenseits der Vierzigstundenwoche“, der 1970, also kurz nach Fixierung der Verkürzung der Normalarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden, in „Arbeit und Wirtschaft“ (Heft 9/1970) erschienen ist; oder mit dem in der von ihr in den ersten Jahren geleiteten Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Heft 3/1975) erschienenen Artikel „Zur Frage des gedrosselten Wirtschaftswachstums“ – eine Frage, die heute, über 40 Jahre nach dem berühmten Club-of-Rome-Bericht „Grenzen des Wachstums“, mit neu angefachter Intensität diskutiert wird.
Nach wie vor relevantes Vorbild
Mehr als vier Jahre nach der großen Rezession 2008/09 ist der Ausgang der politischen Auseinandersetzung über eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik in Europa immer noch offen. Das Beispiel Maria Szécsis für ein Engagement für eine arbeitnehmerInnenorientierte Wirtschaftspolitik ist nach wie vor relevant.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor guenther.chaloupek@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Günther Chaloupek war Bereichsleiter für Wirtschaft in der AK und von 1972 an als Kollege von Maria Szecsi in der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung tätig. Er ist in Pernsion.
]]>Zurück aus England
Kurt Rothschild und Josef Steindl sind solche großen Ökonomen. Sie kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg von englischen Universitäten nach Österreich zurück und fanden hier Aufnahme im Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Zwei Jahrzehnte später erhielt Rothschild eine Professur an der neu gegründeten Universität in Linz. Rothschild und Steindl prägten gemeinsam mit einigen anderen Professoren als Lehrer und Forscher eine ganze Generation von Ökonominnen und Ökonomen in Österreich.
Beide Wissenschafter trugen entscheidend dazu bei, den Keynesianismus in Österreich einzuführen und ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Der Keynesianismus stellt die Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitisches Ziel in den Vordergrund und hat damit ein besonderes Naheverhältnis zur Sozialdemokratie und zu den Gewerkschaften. Die effektive Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ist in dieser Theorie die treibende Kraft der Beschäftigung – nicht der niedrige Lohn. Die Kaufkraft der Bevölkerung spielt somit eine wichtige Rolle. Die Auswirkungen des Konzentrationsprozesses der Wirtschaft (Monopol- und Oligopolbildung) auf Preise, Löhne und Investitionen interessierte unsere beiden Ökonomen in besonderem Maße, da die alte Theorie der „vollkommenen Konkurrenz“ durch die neueren wirtschaftlichen Entwicklungen infrage gestellt wurde.
Kurt Rothschild (1914–2010) hat sich besonders als Preis- und Verteilungstheoretiker internationalen Ruf erworben. Er hat 1947 mit seinem bahnbrechenden Artikel „Price Theory and Oligopoly“ die Entwicklung der Preistheorie entscheidend beeinflusst. Im Unterschied zur herrschenden Lehre, die Firmen hilflos den Märkten ausgesetzt sah, rückte Rothschild das strategische Potenzial mächtiger Firmen auf den Oligopolmärkten ins Zentrum der Überlegungen. Denn große Firmen haben in der Regel Macht und Spielraum, ihre Marktlage durch Produktgestaltung, Marketing und Preispolitik aktiv zu beeinflussen.
Rothschild zeigte auch die Bedeutung von Machtfaktoren für die Verteilung auf. Die Einkommensverteilung folgt keineswegs einem ehernen ökonomischen Gesetz, wie viele Ökonomen früher glaubten, sondern sie wird durch Machtfaktoren und politische Weichenstellungen (z. B. Globalisierung) stark beeinflusst. Diese Untersuchungen haben nichts an Aktualität verloren. Wir sehen heute, wie die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften durch die Globalisierung und die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland geschwächt wird. Dem Konzentrationsprozess der Unternehmen kann nicht eine Zersplitterung, sondern nur eine Konzentration der Gewerkschaften Paroli bieten.
Arbeitsmarkt- und Lohnfragen waren ein Schwerpunkt von Rothschilds Arbeiten. Als die herrschende orthodoxe ökonomische Theorie die Arbeitslosigkeit nur auf mangelnde Flexibilität der Löhne und des Arbeitsmarktes zurückführen wollte, schrieb er eine Arbeit mit dem Titel „Arbeitslose, gibt’s die?“. Darin zeigte er, dass die Arbeitslosigkeit keineswegs durch zu hohe Löhne und Arbeitslosenunterstützungen gleichsam „freiwillig“ gewählt ist, sondern entscheidend von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage abhängt. Die Arbeitslosigkeit ist angesichts des mäßigen Wirtschaftswachstums als ganz und gar „unfreiwillig“ anzusehen (von Ausnahmen abgesehen). Diese Diskussion über die Ursachen der Arbeitslosigkeit ist heute aktueller denn je. Die Finanzkrise hat wieder gezeigt, wie der Einbruch der Nachfrage die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt.
In den letzten Jahren seines Lebens setzte sich Rothschild notgedrungen mit dem Neoliberalismus auseinander. In einem Interview sagte er: „Der Heiligenschein ist angekratzt, aber der Neoliberalismus ist noch immer sehr stark. Massive wirtschaftliche Interessen ermöglichen offenbar sein Überleben.“
Josef Steindl
Neben Kurt Rothschild zählt Josef Steindl zu den großen und theoriegeschichtlich einflussreichen österreichischen Ökonomen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Steindl (1912–1993) erwarb sich in den Fünfzigerjahren internationalen Ruf durch sein Buch über „Reife und Stagnation des amerikanischen Kapitalismus“. Er erklärte die jahrzehntelange Stagnationstendenz mit dem Konzentrationsprozess der Wirtschaft, der Entstehung von Großkonzernen. Sein Buch wurde vor allem von Marxisten begeistert aufgenommen, da der Konzentrationsprozess des Kapitals eine wichtige Marx’sche Erkenntnis war. Steindl war jedoch kein Marxist. Als er nach dem Krieg nach Österreich zurückkehrte, empfahl er den Sozialdemokraten, sich mit der keynesianischen Wirtschaftstheorie statt mit der Marx’schen Arbeitswertlehre auseinanderzusetzen.
„Ökonomische Revolution“
Steindl erkannte früh die Bedeutung von Bildung und Technologie für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. In den Sechzigerjahren verfasste er eine große Studie über Bildungsplanung in Österreich. Er empfahl u. a. eine Ausweitung der berufsorientierten Bildung in Form berufsbildender höherer Schulen. Früher als die meisten anderen Ökonominnen und Ökonomen setzte er sich auch für eine aktive Technologiepolitik ein. Er sah in technischen Innovationen nicht nur ein Instrument zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in hoch entwickelten Volkswirtschaften, sondern auch einen Anreiz für die Unternehmen, in neue Produktionsanlagen zu investieren und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern.
Die keynesianischen Ideen, welche die Bedeutung der effektiven Nachfrage hervorhoben, sah Steindl als eine „ökonomische Revolution“ an. Deshalb sprach er von einer „Konterrevolution“, als die alte neoklassische Truppe in den 1980er-Jahren wieder „auf den Thron“ zurückkehrte. Er verglich das mit der Rückkehr der Bourbonen nach der französischen Revolution. Heute besonders aktuell sind Steindls Ideen zum Budget. Steindl vertrat die These, dass Budgetdefizite meist nicht aktiv herbeigeführt, sondern „erlitten“ werden. Kurz- bis mittelfristig ist es heute offensichtlich, dass hohe Budgetdefizite durch Rezessionen und vor allem Finanz- und Bankenkrisen erlitten werden.
Langfristig entstehen Budgetdefizite dadurch, dass die Investitionen der Unternehmen im Inland und damit auch das Wirtschaftswachstum nachlassen (Verlagerung in Niedriglohnländer). Wirtschaft und Budget geraten aus dem Gleichgewicht, weil Einkommens- und Vermögenskonzentration das Sparen der Privathaushalte weit über die Investitionskredite der Unternehmen hinausgehen lassen. Die Wirtschafts- und Steuerpolitik ist deshalb gefordert, die überhöhten Ersparnisse begüterter Privathaushalte zurückzuführen.
Austro-Keynesianismus
Während für die EU heute ein ausgeglichenes Budget oberste Priorität hat, war für Bruno Kreisky Vollbeschäftigung das oberste wirtschaftspolitische Ziel. Die Wirtschaftspolitik der Kreisky-Ära wurde oft als „Austro-Keynesianismus“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde vom WIFO-Chef und späteren Staatssekretär Hans Seidel geprägt. Der Austro-Keynesianismus beruhte auf drei Säulen:
A.
Deficit-Spending (Budgetdefizit) in Krisenzeiten, um Vollbeschäftigung zu sichern,
B.
Hartwährungspolitik zur Inflationsbekämpfung und
C.
Sozialpartnerschaft: Einbindung der Sozialpartner in die Wirtschaftspolitik mit dem Ziel einer gerechten Einkommensverteilung.
Kurt Rothschild, Josef Steindl und die Austro-Keynesianer der Kreisky-Zeit setzten sich immer für eine strikte Regulierung der Finanzinstitutionen ein. Eine Deregulierung der Finanzmärkte wäre ihnen nie in den Sinn gekommen. Die neoliberale Laissez-faire-Politik hat mit der Finanz- und Wirtschaftskrise als Zukunftsmodell ausgedient. Die postkeynesianischen Ideen Rothschilds, Steindls und der Austro-Keynesianer stellen eine Alternative dar.
Kurt Rothschild im Interview mit der A&W, A&W 11/2008
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor ewald.walterskirchen@wifo.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Der Autor dankt Mag. Alois Guger für wertvolle Hinweise.
Studierte Volkswirtschaft
Käthe Leichter zählt zu den allerersten Frauen in Österreich, die – wenngleich über eine Ausnahmeregelung, denn das reguläre Studium war Frauen an der juridischen Fakultät in Wien bis 1919 noch untersagt – Volkswirtschaft studiert haben. Ihre Promotion muss sie aus diesem Grund noch in Deutschland ablegen, in Heidelberg bei Max Weber, mit ausgezeichnetem Erfolg. Nach ihrem Studium ist sie u. a. bei Otto Bauer in der Staatskommission für Sozialisierung tätig und Fragen nach wirtschaftlichen Alternativen zum Kapitalismus werden sie bis in die 1930er-Jahre begleiten. Entsprechend ihrer Funktion als Leiterin des Frauenreferats der Arbeiterkammer Wien, welches sie 1925 gegründet hatte, liegt einer ihrer Themenschwerpunkte beim Arbeitsleben der Frau und ihre wirtschaftlichen Analysen konzentrieren sich auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes. Aus einer feministisch-ökonomischen Perspektive sind aus ihrer dortigen Tätigkeit zumindest vier Punkte von besonderem Interesse: die Gründung der Frauenbeilage der Zeitschrift Arbeit und Wirtschaft, die Herausgabe des „Handbuchs der Frauenarbeit in Österreich“, welches lange Zeit als Standardwerk galt, sowie die von ihr 1930 durchgeführte Studie „So leben wir … 1320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben“. Diese Studie ist vor allem aufgrund der engen thematischen Verknüpfung der Lebensbereiche Erwerbsarbeit, Hausarbeit und Freizeit besonders beachtenswert. Viertens befassen sich zwei ihrer in der Arbeit und Wirtschaft erschienenen Artikel explizit mit den Auswirkungen der Krise auf die Situation von Frauen am Arbeitsmarkt. Im Artikel „Frauenarbeit und Wirtschaftskrise“ stellt sie die Krisenauswirkung auf Frauen für die Jahre 1924 bis 1926, dem vorläufigen Höhepunkt der Wirtschaftskrise, dar und ihr Artikel „Frauen im Zeichen der Rationalisierungskrise“ beschreibt die Situation von 1930.
Änderungen des Arbeitsmarkts
Retrospektiv betrachtet stellt die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1931 die wirtschaftlichen Entwicklungen des Nachkriegsjahrzehnts in den Schatten. Folgt man Leichters Analysen, waren jedoch auch diese Jahre durch massive strukturelle Änderungen des Arbeitsmarktes, vor allem getrieben durch den voranschreitenden technischen Fortschritt und die damit einhergehende Rationalisierung – von ihr auch als Rationalisierungskrise beschrieben –, und krisenhafte Erscheinungen geprägt. Auf die Hyperinflation und einen kurzen inflationsgetriebenen wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn der 1920er-Jahre folgt die Stabilisierungskrise. Dem vor dem Bankrott stehenden Österreich wurde von internationaler Seite Kredit (Völkerbundanleihe) nur unter der Auflage massiver Sparmaßnahmen gewährt. Zu diesen gehörte unter anderem der Abbau von Staatsbediensteten, von dem vor allem auch Frauen betroffen waren.
Das Jahr 1926 stellt einen vorläufigen Höhepunkt der Wirtschaftskrise dar und die konjunkturell besser verlaufenden Jahre 1927 und 1928 bringen nur eine kurze Erholung vor dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise. „Überall zeigt es sich, daß gerade die Frauen Konjunkturschwankungen am stärksten und raschesten zu fühlen bekommen.“ Als krisenspezifische Auswirkungen auf Frauen am Arbeitsmarkt finden sich in Leichters Analysen folgende Punkte1: Von der steigenden Arbeitslosigkeit sind Frauen deshalb oft stärker betroffen, weil diese eher entlassen werden als Männer, da Unternehmen „in Zeiten sinkender Konjunktur die besser geschulten Kräfte trotz höherer Löhne zurückbehalten“. Bezüglich der Rationalisierungseffekte hält sie jedoch fest, dass sich diese typischer Weise in zwei Wellen vollziehen. Sie treffen zuerst verstärkt die Männer an ihren Facharbeitsplätzen und dann mit weiter voranschreitender Technologisierung umso mehr auch die Frauen mit ungelernten und einfach angelernten Tätigkeiten. Für die arbeitslos gewordenen Frauen bringen die Rationalisierung und die Wirtschaftskrise „gesundheitsschädlichen Hunger“, für jene Arbeiterinnen, die in Arbeit bleiben, führt die angespannte wirtschaftliche Lage zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung2 und einem steigenden Lohndruck3. Diese drei Gründe zusammen genommen inklusive dem Bestreben von Unternehmen, bei Betriebsausstattung und Löhnen Kosten zu sparen, tragen in weiterer Folge zu einer Zunahme an Unfällen4 – auch tödlichen – und allgemeinen wie berufsspezifischen Krankheiten5 bei. Des Weiteren verstärkten Krisentendenzen6 antifeministische Argumentationen gegen die Frauenarbeit insgesamt, insbesondere über die erstarkende Debatte gegen DoppelverdienerInnen, womit meist erwerbstätige Ehefrauen gemeint waren. Dies auch in den eigenen Reihen.
Ein neuer „Arbeiterinnentypus“
Die zwölf Jahre nach Kriegsende gingen mit einer ständigen Ausdehnung der Frauenerwerbstätigkeit einher und zugleich vollzog sich eine Verschiebung von der Landwirtschaft zur Industrie sowie von selbstständiger zu unselbstständiger Arbeit. Resümierend stellt Käthe Leichter fest, dass es durch wirtschaftlichen Strukturwandel und Krise zur Herausbildung eines neuen „Arbeiterinnentypus“ kam. War es früher für die Frau noch üblich, zwischen dem Status als Berufsarbeiterin, Hausfrau und Mutter zu wechseln, so zwingt die „fortwährende wirtschaftliche Existenzunsicherheit“ die Frauen dazu, diese Funktionen dauerhaft zu vereinbaren. Für die Arbeiterin der frühen 1930er-Jahre ist es typisch, „wohl ständig im Beruf, doch in keinem Beruf zuhause“ zu sein. Charakteristisch für das Arbeitsleben der Frau wurde ein ständiger Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit, unterschiedlichsten industriellen Hilfstätigkeiten, Heimarbeit, Gelegenheitsarbeiten und privatem Haushalten (vgl. ebd.).
Mut zu Utopien
Die Forderungen Käthe Leichters in Hinblick auf die Arbeitssituation von Frauen am Arbeitsmarkt spannen in Summe ein weites Spektrum auf. Sie reichen von sehr pragmatischen Forderungen wie mehr Schutz der weiblichen Arbeitskraft, dem Ausbau der weiblichen Gewerbeinspektion oder einer paritätischen Arbeitsvermittlung über die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und Arbeitszeitverkürzung – gerade in Zeiten der Krise – bis hin zu mehr Mut zu Utopien, um dem krisengebeutelten Kapitalismus konkrete Alternativen entgegenstellen zu können.
Aufgrund von Käthe Leichters enger Verknüpfung ökonomischer, politischer und frauenspezifischer Fragestellungen in ihrer politischen und theoretischen Arbeit kann sie zu Recht als erste feministische (studierte) Ökonomin bezeichnet werden.
1 Leichter 1930, S. 433
2 Leichter 1930, S. 433
3 Leichter 1931a, S. 803
4 Leichter 1926, S. 841
5 Leichter 1930, S. 438
6 Leichter 1931b, S. 510
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin kaethe.knittler@univie.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Krisen sind Teil des Kapitalismus
Marx erklärt die Existenz von Krisen mit dem Vorhandensein innerer Widersprüche im Kapitalismus. Dabei werden sowohl „kleine“ Krisen, wie etwa konjunkturelle Auf- und Abschwünge, als auch „große“ bzw. strukturelle Krisen analysiert. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wird als zentraler Widerspruch im Kapitalismus erachtet. Es gibt verschiedene Krisenursachen, z. B. versuchen UnternehmerInnen in ihrem Profitstreben Löhne gering zu halten. Dies kann zu Realisierungskrisen führen. Das bedeutet, das Kapital kann nicht mehr alle Waren verkaufen, da ArbeitnehmerInnen eine zu geringe Kaufkraft haben. Diese Argumentation ähnelt derjenigen keynesianisch orientierter Ökonominnen und Ökonomen. Darüber hinaus hat Marx noch eine Reihe von weiteren Ursachen für Krisen im Produktionsprozess selbst ausgemacht. Dazu zählen fallende Profitraten aufgrund höherer Kapitalintensität oder der Verknappung natürlicher Ressourcen. Aber auch Krisen im Geld- und Finanzsektor selbst können zu wirtschaftlichen Krisen führen. Nichtsdestotrotz gilt die Herausbildung eines modernen Finanz- und Bankensektors und damit einer modernen Geldwirtschaft als zentraler Bestandteil kapitalistischer Entwicklung. Kapitalismus entwickelt sich in Schüben und über Krisen weiter. Eines Tages wird jedoch auch dieses System von einem anderen abgelöst werden.
Was die Beherrschbarkeit des Kapitalismus im Sinne einer Vermeidung von Krisen angeht, war Marx daher skeptisch. Er betrachtet die kapitalistische Wirtschaftsweise in ihrer Komplexität als ein sich „hinter dem Rücken der Akteure“ ständig veränderndes und nicht gänzlich beherrschbares System. Wirtschaft wird als Teil der Gesellschaft gesehen. Unterschiedliche ökonomische Interessen bedingen unterschiedliche politische Interessen. So stehen sich einander entgegenwirkende Klassen gegenüber. Dies ist sowohl in einer Sklavenökonomie, in der Feudalwirtschaft, aber auch im kapitalistischen Wirtschaftssystem der Fall. Dominante Klassen sind nicht nur ökonomisch privilegiert, sie haben dank ihrer Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Prozesse auch große politische Macht. Moderne politökonomische Zugänge zeigen auf, wie es den Kapitalistinnen und Kapitalisten auch im Rahmen liberaler demokratischer Systeme gelingt, ihre Interessen überproportional durchzusetzen – auch wenn es sich bei ihnen um weniger als ein Prozent der Bevölkerung handelt. Auch im Kapitalismus überwiegt das Interesse an der Aufrechterhaltung eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und damit der Klassenherrschaft in der Regel das Interesse an der Steigerung des Gewinns. Damit lässt sich erklären, warum vonseiten des Kapitals oft Widerstand gegen keynesianische Vollbeschäftigungspolitik und gegen effektive Krisenvermeidungs- und Krisenlösungsstrategien geleistet wird. Diese würden die gesellschaftliche Position der ArbeitnehmerInnen stärken und dadurch Kapitalinteressen schwächen.
Europa und die Krise
In jüngerer politökonomischer Tradition hat vor allem die Regulationstheorie wichtige Beiträge zu Fragen von Wachstum und Krise geleistet. Im Kern steht dabei die Frage, wie es im Kapitalismus trotz der inneren Widersprüche und Krisentendenzen zu längerfristig stabilem Wirtschaftswachstum kommen kann. Dabei stellte sich heraus, dass eine lange stabile Wachstumsphase – wie zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1970er-Jahren in Europa – auf einem für die ArbeitnehmerInnen vorteilhaften Klassenkompromiss beruhte. Entsprechend konnten sie ein effektives System der KV-Löhne, einen Ausbau des Sozialstaates, Arbeitszeitverkürzung etc. durchsetzen. Damit gelang es, das Realisierungsproblem im Kapitalismus zumindest temporär aufzuheben. Dieser Klassenkompromiss wurde seit den 1980er-Jahren jedoch zunehmend vonseiten des Kapitals infrage gestellt und teilweise aufgekündigt. Entsprechend zeigt sich seither instabileres und niedrigeres Wachstum.
Teilweise konnten über Exportüberschüsse einerseits (Deutschland, Österreich) und Verschuldungsprozesse andererseits (Griechenland, Spanien etc.) in der Zeit vor der großen Krise 2008 Realisierungsprobleme noch hinausgeschoben werden. Aber auf rasant steigender (Privat-)Verschuldung basierendes Wachstum konnte nicht dauerhaft anhalten. Die Krise musste deshalb zwangsläufig offen ausbrechen.
Umverteilung nach oben
Bereits vorher war das Wachstum in Europa also relativ gering. Die Unternehmen sahen darin aber weniger ein Problem, da die Gewinne einfach deshalb wuchsen, weil die Reallöhne kaum stiegen und somit Umverteilung nach „oben“ erfolgte. Aktuell steht in Europa anti-keynesianische Sparpolitik im Vordergrund und sie wird auch auf europäischer Ebene institutionalisiert. Aus der Sicht Marx’ und der kritischen politischen Ökonomie kann dies damit erklärt werden, dass dominante Kapitalinteressen darauf hinwirken, die Krise „künstlich“ zu verlängern und zu vertiefen. So gelingt es, ArbeitnehmerInnen und ihre Vertretungsorganisationen durch Arbeitslosigkeit, Druck auf Löhne und Abbau des Wohlfahrtsstaates zu schwächen. Außerdem können große Unternehmen in Krisenzeiten kleinere und weniger profitable Unternehmen leichter „schlucken“. Damit wird ein Prozess der Konzentration des Kapitals vorangetrieben und der Monopolisierungsgrad erhöht. Mittelfristig scheint diese Strategie die Macht der ArbeitnehmerInnen zurückzudrängen und höhere Gewinne zu versprechen. Der Druck auf direkte Arbeitseinkommen und indirekte über den Sozialstaat vermittelte Einkommen (wie etwa Pensionen) führt jedoch in der Folge zu einer Verschärfung des Realisierungsproblems.
Machtfrage Wirtschaftspolitik
Aus der Perspektive Marx’ und der politischen Ökonomie ist daher weniger eine „neoliberale Verblendung“ oder das Fehlen der richtigen (z. B. keynesianischen) Theorie bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern das Problem. Aus ArbeitnehmerInnensicht wird die „falsche“ Politik umgesetzt, weil sich derzeit dominante Kapitalgruppen in der Auseinandersetzung um Wirtschaftspolitik gegenüber ArbeitnehmerInneninteressen häufig besser durchsetzen. Grund dafür könnte ein zum Teil fehlendes oder zu schwach ausgeprägtes Klassenbewusstsein aufseiten der Beschäftigten sein. Das schwächt traditionelle Vertretungen und macht die Durchsetzungsfähigkeit von ArbeitnehmerInneninteressen im Betrieb schwieriger. Es gilt daher, Klasseninteressen wieder stärker im Bewusstsein der Beschäftigten zu verankern.
Karl Marx und die moderne kritische politische Ökonomie bieten einen Ansatzpunkt zum Verständnis der Krise, der über herkömmliche Herangehensweisen hinausgeht. Die Betrachtung unterschiedlicher Interessen und die gemeinsame Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft erlauben einen erweiterten Blick auf Wirtschaftspolitik und Krisenbekämpfung. So reicht es nicht, die „richtigen“ wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu kennen. Vielmehr ist es notwendig, die gesellschaftspolitischen Machtverhältnisse so zu verändern, dass diese durchgesetzt werden können. In den eng vernetzten europäischen Ökonomien wären die stärkere Durchsetzung von ArbeitnehmerInneninteressen und eine entsprechende progressive Lösung der Krise auf EU-Ebene wünschenswert. In der modernen politischen Ökonomie ist man sich jedoch weitgehend einig, dass in der EU die Krise anstatt zu einer Stärkung bislang eher zu einer systematischen Zurückdrängung der ArbeitnehmerInneninteressen geführt hat. Diese Entwicklungen sind jedoch umkehrbar – wenn ArbeitnehmerInnen gemeinsam für ihre Interessen eintreten.
1 Für einen Überblick zu aktuellen politökonomischen Perspektiven auf wirtschaftspolitische Fragen siehe: Jäger/Springler (2012): Ökonomie der internationalen Entwicklung. Eine kritische Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Wien: Mandelbaum.
Schreiben Sie Ihre Meinungan den Autor johannes.jaeger@fh-vie.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Steuerbare Ökonomie
Die Verstaatlichungen in der jungen Sowjetunion lenken Hayeks Interesse auf sein zweites „Lebensthema“: die Steuerbarkeit eines ökonomischen Systems. Sein wichtigster Förderer Ludwig von Mises argumentiert, dass eine zentrale Planbehörde das Problem, was wie für wen produziert werden soll, nicht einmal näherungsweise lösen könne. Eine Marktwirtschaft bringe hingegen durch die Bildung von Preisen laufend neue Signale über Angebot und Nachfrage in Umlauf.
Mises gründet 1927 das Österreichische Institut für Konjunkturforschung (heute WIFO), Hayek wird sein erster Direktor. Monatlich berichtet er über die Wirtschaftsentwicklung, daneben arbeitet er an seiner Konjunkturtheorie: Übersteigerte Geldschöpfung der Notenbanken und ein (daher) zu niedriges Zinsniveau entfachen einen Investitionsboom und damit einen Konjunkturaufschwung. Ein Wirtschaftseinbruch ist unvermeidliche Folge der Überinvestition. Er darf daher nicht bekämpft werden.
Mit dieser Theorie erregt Hayek 1931 bei einem Gastvortrag an der London School of Economics (LSE) großes Aufsehen. Dort entsteht ein „Gegenpol“ zum Kreis um Keynes an der Cambridge University. Wir sind mitten in der Weltwirtschaftskrise und Keynes befürwortet massive Interventionen des Staates. Mit seiner Gegentheorie wird Hayek zum Shootingstar der LSE, er erhält sogleich einen Lehrstuhl und kämpft im Ökonomen-Krieg gegen eine Politik der Krisenbekämpfung.
Aus dieser Auseinandersetzung geht Keynes nach Publikation seiner „General Theory“ (1936) als überragender Sieger hervor – um Hayek wird es still. Der Krieg isoliert ihn zusätzlich in London. In dieser Zeit schreibt er sein wirkungsvollstes Buch, „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944), eine Abrechnung mit jenen (gut meinenden) Ökonomen und Intellektuellen, welche die Grundübel in Wirtschaft und Gesellschaft auf „konstruktivistische“ Weise zu überwinden trachten, die also das Design einer Gesellschaft entwickeln und umsetzen wollen.
Vordergründig geht es Hayek um einen Fundamentalangriff gegen alle Formen totalitärer Herrschaft. Dadurch kann er sowohl die GegnerInnen der faschistischen Diktaturen ansprechen als auch die – besonderes in den USA – wachsende Zahl der Antikommunisten. Hintergründig greift Hayek auch die Planer des Wohlfahrtsstaats an, gewissermaßen die sanfte Form von Knechtschaft.
Gleichzeitig distanziert sich Hayek – vage – vom alten „Laissez-faire-Denken“, die Märkte sich selbst zu überlassen: „Es gibt schließlich das äußerst wichtige Problem der Bekämpfung der Konjunkturschwankungen und der periodischen Massenarbeitslosigkeit …“ Auf diese Weise lässt Hayek verschiedene Lesarten offen: Für Konservative wird „Der Weg zur Knechtschaft“ zum wichtigsten Pamphlet gegen den Wohlfahrtsstaat, BefürworterInnen des Letzteren sehen im Buch in erster Linie eine Streitschrift gegen jeglichen Totalitarismus.
Neoliberale Langfriststrategie
Einen wirtschaftspolitisch aktiven Staat lehnt Hayek deshalb nicht gänzlich ab, weil er sich sonst zu sehr im „rechten Eck“ positionieren würde. Er will ja mit seinem Buch möglichst viele Menschen erreichen und dies zum Ausgangspunkt für eine langfristige Offensive gegen Sozialismus, Gewerkschaften, Sozialstaat und den Keynesianismus machen.
Diese Offensive plant Hayek – ganz im Gegensatz zu seiner eigenen Theorie – mit größter Gründlichkeit. Es ist ihm klar, dass die Hochblüte von Keynesianismus und Sozialstaatlichkeit noch bevorsteht. Vorbild für die Planung der Gegenoffensive ist ihm der Erfolg der sozialistischen Ideen seit dem 19. Jahrhundert. Eine neoliberale Langfriststrategie braucht daher mehrere Komponenten:
Ideal: „Die Freiheit von ...“
Das wichtigste Ideal wird „die Freiheit“, wobei dieser Begriff immer negativ verstanden wird als Freiheit von Zwang aller Art – im Kalten Krieg besonders attraktiv. (Freiheit kann aber erst dann gelebt werden, wenn ein Mindestlebensstandard gesichert ist, und dazu braucht es den Sozialstaat.)
Das sozialphilosophische Fundament des Neoliberalismus besteht in einem radikalen Individualismus, den Menschen als soziales Wesen gibt es nicht. Margaret Thatcher bringt es auf den Punkt: „There is no such thing as society.“
Das ökonomisch-theoretische Fundament von Hayeks Programm besteht in der These, dass Marktprozesse als „Entdeckungsverfahren“ die bestmögliche Lösung der wirtschaftlichen Grundprobleme ermöglichen. Hayeks Trick: Er geht von einer richtigen Beobachtung aus (Effizienz dezentraler Informations- und Entscheidungsprozesse bei Erstellung privater Güter), stilisiert sie zu einer allgemeinen Wahrheit hoch (tatsächlich ist etwa ein sozialstaatliches Gesundheitswesen effizienter als ein privates) und rechnet dies den Marktprozessen zu (tatsächlich betreffen die Prozesse der Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Gütern nicht primär die Preise).
Als transatlantisches Netzwerk gründet Hayek 1947 die „Mont Pelerin Society“ mit dem Ziel, die absehbare Ausweitung des Sozialstaats, der Sozialpartnerschaft und des Staatseinflusses wieder rückgängig zu machen und den Keynesianismus von den Universitäten zu vertreiben. Alle bedeutenden neoliberalen Ökonomen der vergangenen 50 Jahre waren (und sind) Mitglied dieser Gesellschaft.
Mithilfe der (Super-)Reichen werden in den 1950er- und 1960er-Jahren viele Thinktanks gegründet und ausgebaut (insbesondere in England und den USA), Hunderte Ökonomen arbeiten dort an neoliberalem Argumentationsmaterial und leiten dieses an Intellektuelle in den Medien, in den Schulen etc. weiter (Hayeks „second-hand dealers“).
„Kommandozentrale“ für den Kampf gegen den Keynesianismus wird die Universität Chicago. Dort werden die wichtigsten Modelle entwickelt gegen die Regulierung der Finanzmärkte, gegen Vollbeschäftigungspolitik, gegen den Sozialstaat, gegen die Gewerkschaften.
Diese Konzepte ziehen die neoliberalen „master minds“ aus dem Talon, als Ende der 1960er-Jahre ihre Zeit gekommen ist: Offensive Gewerkschaften, der Aufstieg der Sozialdemokratie und die Linkswende der Intellektuellen hatten die Vermögenden provoziert, gleichzeitig wurden Schwächen der (pseudo)keynesianischen Wirtschaftsordnung offenkundig.
Wie bewundernswert die Leistung von Hayek und Co. war, kann man am Versagen der linken Ökonomen in den nachfolgenden Jahrzehnten ermessen. Sie haben im Abseits keine über Keynes hinausgehenden Alternativen zur neoliberal-finanzkapitalistischen Ordnung entwickelt. Als diese dann in eine schwere Krise führte, konnten die vielen „aufgelegten Elfmeter“ nicht eingeschossen werden. Im Gegenteil: Die vom Neoliberalismus verursachte Krise wird so zum Turbo für die finale Durchsetzung seiner Forderungen.
Gegenoffensive mit Chancen
Hayek hat viel gelernt von der Ausbreitung des Sozialismus in den Köpfen (und Herzen) der Intellektuellen und der (sonstigen) BürgerInnen, soziale Ökonominnen und Ökonomen könnten viel von Hayeks Strategien lernen. Inhaltlich hat eine Gegenoffensive gute Chancen: Die neoliberale Theorie ist „im Ganzen“ falsch und wird die Krise immer mehr vertiefen.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor stephan.schulmeister@wifo.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Die Delegierten konnten sich kein Hotel leisten. Sie wohnten bei Wiener Arbeiterfamilien, die zu Weihnachten das Wenige teilten, das sie selbst besaßen. Aber sie waren sich bewusst, an einem wichtigen Ereignis teilzunehmen. Es herrschte Aufbruchstimmung, wie sich Anton Hueber, damals einer der Schriftführer, später Generalsekretär der zentralen Gewerkschaftskommission, nach einem Jahrzehnt erinnerte: Da ist gestritten worden, wer mehr Recht hat mit seiner Anschauung, ein Durcheinander sondergleichen, aber es war ein begeisterndes Arbeiten trotz alledem, es war eine fieberhafte Betätigung und es war die Suche nach einem Ziel.
Das gemeinsame Ziel, auf das sich die Delegierten schließlich einigten, war der Grundsatz …, die Kräfte zu konzentrieren, die einzelnen losen Gruppen zusammenzufassen, zu einer geschlossenen Phalanx zu vereinigen, um so dem Riesen „Kapital“ einen festen Damm entgegenzusetzen, demselben Vorteile abringen zu können. Dazu sollte mit dem Aufbau einer Industriegruppenorganisation begonnen werden, verbunden mit der Errichtung einer gesamtstaatlichen Zentrale. Bis das Fernziel, der Zusammenschluss in wenigen großen, auf allen Ebenen eng miteinander verbundenen Gewerkschaften, erreicht wurde, mussten allerdings noch über 50 Jahre, zwei Weltkriege, die Vernichtung einer Demokratie, Diktatur und Faschismus durchgestanden werden. Er kam 1945 mit der Gründung des ÖGB und seiner (damals) 16 Gewerkschaften.
Auch das andere Fernziel, der Anschluss aller Organisationen an eine gemeinsame Zentrale, wurde erst durch den ÖGB verwirklicht. Trotzdem: Ohne die Tätigkeit der zentralen Gewerkschaftskommission, die 1894 ihre Arbeit aufnahm, hätte sich die Gewerkschaftsbewegung nie innerhalb eines Jahrzehnts zu einem politischen Faktor entwickeln können. Schon die Delegierten von 1893 hielten es ja für notwendig, dass sich die Gewerkschaft im Interesse der ArbeitnehmerInnen in die Politik einmischt, denn:
Der Zweck der gewerkschaftlichen Organisation ist, eine Kampfes- und Widerstandsorganisation zu sein, deren vornehmste Pflicht darin besteht, die Folgen der kapitalistischen Produktionsweise zu mildern und zu beseitigen, sie hat den Zweck, die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft zu wahren; ferner hat sie die Aufgabe, dahin zu wirken, dass die Arbeiterschaft von gänzlicher physischer wie geistiger Degeneration bewahrt wird. Sie hat deshalb, um den Kampf nach allen Seiten hin erfolgreich durchführen zu können, auch der politischen Mittel zum Zweck nicht zu vergessen …
Zusammengestellt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
„Jetzt heißt es dran bleiben. Die Finanztransaktionssteuer darf nicht länger auf die lange Bank geschoben werden“, sagt ÖGB-Präsident Erich Foglar. AK und ÖGB warnen auch davor, dass dem vorliegenden Entwurf der EU-Kommission die Zähne gezogen werden und es letztlich nur eine verwässerte Version der Steuer geben wird, die weder steuerlich etwas bringt, noch die Spekulationen eindämmt, und die schon gar nicht für Verteilungsgerechtigkeit sorgt. Die BürgerInnen sollen nicht länger die Rechnung zahlen, wenn das Versagen der Finanzinstitutionen zu einer Wirtschafts- und Finanzkrise führt. Eine Finanztransaktionssteuer würde sicherstellen, dass die maßgeblich für das Entstehen der Krise verantwortlichen Spekulantinnen und Spekulanten ihren Beitrag leisten.
Die Finanztransaktionssteuer würde wie eine Mehrwertsteuer auf den Handel mit Finanzprodukten eingehoben werden, der in einem oder mehreren der elf teilnehmenden EU-Länder abgewickelt wird. Dazu zählen etwa Aktien, Anleihen und spekulative Papiere (wie Termingeschäfte, die sogenannten Derivate). Die EU-Kommission schlägt vor, die Geschäfte mit Aktien und Anleihen in Höhe von 0,1 Prozent und die spekulativen Derivate in Höhe von 0,01 Prozent zu besteuern. An einem Tag könnten so bis zu 100 Mio. Euro, in einem Jahr bis zu 35 Milliarden durch diese Steuer zusammenkommen. Alltägliche Finanzgeschäfte von Konsumentinnen und Konsumenten sowie Unternehmen wie Kredite und Versicherungen sind von der Steuer ausgenommen. Ursprünglich sollte die Steuer ab Jänner 2014 eingeführt werden, und zwar in den EU-Ländern Deutschland, Frankreich, Belgien, Estland, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Slowakei, Slowenien und Österreich. AK und ÖGB setzen sich schon lange für eine Regulierung der Finanzmärkte in der EU ein. 2011 etwa sind bei einer europaweiten Kampagne in den ersten zwei Wochen über 500.000 Unterstützungsmails im Posteingang der EU-Abgeordneten gelandet – mit ein Grund, warum die EU-Kommission vor zwei Jahren einen Vorschlag für eine Finanztransaktionssteuer gemacht hat und elf EU-Länder die Steuer umsetzen wollen.
Mehr Info: www.financialtransactiontax.eu
]]>„Mit der Kampagne tragen die heimischen Sozialpartner dazu bei, die Idee eines gemeinsamen Europa wieder zu stärken“, sagt Sabine Oberhauser, ÖGB-Vizepräsidentin. „Wir greifen die Gedanken der Jugendlichen auf, wir reden mit ihnen, nicht über sie.“
Im Mai 2014 sind über sechs Mio. ÖsterreicherInnen aufgerufen, ihre VertreterInnen im Europäischen Parlament für die kommenden fünf Jahre zu wählen. Österreich ist das einzige EU-Land, in dem Jugendliche bereits ab 16 Jahren wählen können. Daher haben hierzulande überdurchschnittlich viele Jung- und ErstwählerInnen die Möglichkeit, bei der Wahl zum EU-Parlament ihre Stimme abzugeben.
Mehr Info: www.wasistjetzt.eu
]]>
„Dass es hier Handlungsbedarf gibt, zeigt der internationale Vergleich“, so Kaske. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Instituts für Kinderrechte und Elternbildung im Auftrag der AK.
Laut AMS-Gehaltskompass verdienen Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen in Österreich schon beim Berufseinstieg rund 200 Euro weniger als VolksschullehrerInnen.
Ein genauer Überblick über die Einkommenssituation ist aber kaum möglich, da es neben den unterschiedlichen Landesregelungen für den öffentlichen Bereich für private Träger zumeist nur einen Mindestlohntarif gibt.
AK und Gewerkschaften fordern:
Mehr Info auf www.gpa-djp.at
]]>Mehr als drei Millionen ArbeitnehmerInnen wählen 2014 bei der AK-Wahl wieder ihre Interessenvertretung. Den Anfang machen ab 27. Jänner die drei westlichsten Bundesländer Vorarlberg, Tirol und Salzburg. Wahlberechtigt sind alle DienstnehmerInnen, die an den jeweiligen Stichtagen in einem kammerzugehörigen Beschäftigungsverhältnis stehen. Seit 1. Jänner 2008 sind auch freie DienstnehmerInnen Mitglieder der Arbeiterkammer und daher auch wahlberechtigt. Lehrlinge (ohne Altersbeschränkung), KarenzurlauberInnen, geringfügig Beschäftigte (auch geringfügig beschäftigte freie DienstnehmerInnen), Arbeitslose, Präsenz- oder Zivildiener müssen sich in die Wählerliste eintragen lassen, um wahlberechtigt zu sein. Diese Personen erhalten rechtzeitig vom Wahlbüro ein Informationsschreiben, wie der Antrag auf Aufnahme in die Wählerliste zu stellen ist.
Mit der Parole „Ihre Stimme gibt der Gerechtigkeit mehr Gewicht“ rufen die Arbeiterkammern auf, zu dieser wichtigen Wahl zu gehen und mitzuentscheiden, wer die Interessen der ArbeitnehmerInnen im jeweiligen Bundesland für die nächsten fünf Jahre vertreten soll.
Die AK-Wahl in Vorarlberg findet vom 27. Jänner bis 6. Februar statt, in Tirol und Salzburg von 27. Jänner bis einschließlich 7. Februar 2014.
In den drei Bundesländern liegen der aktuellen „Arbeit&Wirtschaft“ Sondernummern zur Wahl bei.
Weitere Infos: www.arbeiterkammer.at
]]>Das Buch enthält alle Regelungen (Stand 1. Oktober 2013). Neben der Diskussion einschlägiger Rechtsfragen (auch zu einigen Regelungen der AÜG-Novelle 2012) stehen vor allem Tipps und Hilfen für PraktikerInnen im Vordergrund.
Mehr Infos zum Arbeitskräfteüberlassungs-KV
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Modernisierungen im Arbeitsrecht
Sicher, es werden darin wichtige Modernisierungen im Arbeitsrecht angedacht – wie z. B. mehr Transparenz bei All-in-Verträgen, Änderungen im Urlaubsrecht, ein Bonus-Malus-System für die Beschäftigung älterer ArbeitnehmerInnen. Ja, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird erleichtert, die Pflege wird ausgebaut und die beschlossene Gesundheitsreform wird mit Leben erfüllt. Und auch in den Wohnbau wird investiert, um Wohnen leistbarer zu machen. Aber eine große Steuerreform lässt auf sich warten – zwar wird die motorbezogene Versicherungssteuer erhöht, auch die NoVA, sowie die Steuern auf die Laster Tabak, Alkohol und Schaumwein. Bei Sekt und Champagner zahlt man gar einen Euro pro Liter mehr. Das wird aber die rund 78.000 Euro-Millionärinnen und -Millionäre hierzulande nicht hindern, sich das eine oder andere Fläschchen aufzumachen, denn von Vermögens- und Erbschaftssteuern sind sie wieder einmal verschont geblieben. Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird vorerst nicht mehr Netto vom Brutto bleiben. Weil Geld für Forschung und Konjunkturbelebung dringend gebraucht wird, stehen wohl weitere Privatisierungen bevor. Die ÖIAG soll Standortholding werden.
Ein vielversprechender Punkt findet sich im Kapitel leistbares Leben – unter der Überschrift „Prävention und Schuldeneindämmung“ liest man ganz oben die Maßnahme: „Verbraucherbildung vor allem im Bereich Finanzen – insbesondere bei Jugendlichen – verstärken und ausbauen.“ Wenn man bedenkt, dass eine IMAS-Umfrage 2011 ergeben hat, dass 37 Prozent der Befragten den Begriff „Inflation“ nicht erklären konnten, 57 Prozent nicht wissen, was das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist und 40 Prozent mit der Abkürzung ATX – Leitindex an der Wiener Börse – nichts anfangen können. Ganz zu schweigen von jener Million ÖsterreicherInnen, die nur mangelhaft lesen können und so von vielen Entscheidungen ausgegrenzt sind.
Wünschen darf man sich alles ...
Dass Wirtschaftswissen spannend sein kann und wichtig ist, versuchen wir in diesem Heft zu beweisen: Wir haben uns große WirtschaftswissenschafterInnen und ihre mögliche Position zur Krise angesehen. Am Arbeitsprogramm der Regierung hätte wohl Friedrich von Hayek um einiges mehr Freude gehabt als John Maynard Keynes. Manchen wird es angesichts dieses Regierungsprogrammes wohl wie Kindern gehen, die einen Brief ans Christkind geschrieben haben und jetzt enttäuscht unter dem Christbaum stehen: Die schönen Geschenke hat wer anderer bekommen, das eine oder andere praktische Stück ist aber auch für uns ArbeitnehmerInnen dabei. Und letztendlich hatten wir ja die Wahl …
Wünschen dürfen wir uns schließlich alles, für die wirklich wichtigen Anliegen sollten wir aber selbst etwas tun, zum Beispiel indem wir 2014 zur AK-Wahl und zur Europawahl gehen. Geben wir es nicht auf, mit unserer Stimme der Gerechtigkeit mehr Gewicht zu geben!
Ich wünsche Ihnen und uns ein gerechteres Christkind und ein gutes Jahr 2014.
]]>Geschlossene Rollläden
Im Zentrum von Thessaloniki brodelt das Leben. Der Verkehr braust zu jeder Tages- und Nachtzeit, Menschen sind auch um Mitternacht auf den Straßen. Auf den ersten Blick schaut die Stadt aus wie eine normale südeuropäische Metropole. Die Auslagen sind voll, die Cafés hip. Doch etwa bei jedem vierten Geschäft sind die Rollläden geschlossen. Und es gibt kein Fleckchen Hausmauer, keinen Blumentrog, kein Schild, das nicht mit Parolen besprüht ist.
Dimitra und ihre Nachbarn kaufen Seifen und Waschmittel bei Bio.me. Aus Solidarität. Die Arbeiter im Gewerbegebiet weit vor den Toren der Stadt haben den Betrieb in Eigenregie übernommen, nachdem ihre Firma pleiteging. 38 Arbeiter haben die Produktion auf natürliche Reinigungsmittel umgestellt, die sie selbst vermarkten. Sie bewegen sich im rechtsfreien Raum. Die Rezepte sind aus dem Internet, administrative Computerarbeit mussten sich die Männer aneignen, denn die Angestellten haben den Betrieb verlassen, als sie hörten, dass alle jetzt gleich viel vom Kuchen bekommen sollen. Im Freien, vor den Produktionsräumen, steht ein selbstgezimmerter Tisch aus Pressspanplatten, darum alte Plastiksessel. Dort versammeln sich die Arbeiter und treffen im Kollektiv ihre Entscheidungen. Im Februar läuft die staatliche Krankenversicherung – in die sie jahrzehntelang eingezahlt haben – aus, weil sie schon zu lange keine offizielle Arbeit mehr haben.
Ein Schicksal, das sie mit 30 Prozent der Griechinnen und Griechen teilen, die mangels Versicherung weder ins Krankenhaus noch zu einem Arzt gehen können. Dimitras Tochter Katerina Notopoulou ist Psychologin. Die 26-Jährige ist arbeitslos, wie zwei von drei Jungen in Griechenland. Gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten, Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern sowie anderen Freiwilligen betreibt sie die „Klinik der Solidarität“ in einer schäbigen Seitenstraße im chinesischen Viertel. Der Gewerkschaftsverband GSEE hat dort ein Haus, in einem Stockwerk hat die Klinik ein Zuhause gefunden. Zwei streunende Hunde liegen vor dem Haus mit dem unscheinbaren Eingang, eine kleine Tafel dient als einziger Hinweis. Griechinnen und Griechen, die plötzlich keine Versicherung mehr haben, werden hier versorgt. Ehrenamtlich behandeln AllgemeinmedizinerInnen sowie Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen Kinder- und Zahnheilkunde sowie dem HNO-Bereich 5.000 bis 6.000 Menschen pro Jahr, die keinen anderen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, impfen Kinder und versorgen Schwangere. 300.000 Unversicherte leben allein in Thessaloniki.
Milchpulver und Tabletten
Im kleinen Behandlungszimmer, in dem jeden Tag von 18.00 bis 21.00 Uhr ein anderer Facharzt ordiniert, öffnet Katerina eine Kommode, in der einige Dosen Milchpulver stehen. „Viele Patientinnen und Patienten fragen nach Babynahrung“, erzählt die Aktivistin, die selbst nichts verdient und auf die finanzielle Unterstützung ihrer Oma angewiesen ist. Die Klinik sammelt nicht nur Babynahrung, sondern auch Medikamente, die nicht mehr gebraucht werden. In der internen Apotheke sind Regale bis zur Decke mit Tablettenschachteln gefüllt. Medizin bekommt nur, wer zuvor eine Ärztin/einen Arzt konsultiert hat. Die Klinik lebt von Spenden, auch aus dem Ausland. 26.000 Euro hat der ÖGB-Verein weltumspannend arbeiten bereits gesammelt, um die Betriebskosten zu decken.
Hilfesuchende stehen Schlange
An den Tagen, an denen die Arzttermine vergeben werden, stehen die Hilfesuchenden bis auf die Straße Schlange. „Wir nehmen uns Zeit für unsere Patientinnen und Patienten. Die Bedingungen sind in unserer Ambulanz wahrscheinlich besser als in so manchem öffentlichen Spital, denn dort mangelt es sogar an Reinigungsmitteln“, sagt Katerina. Doch die Klinik kann nur ambulante Versorgung übernehmen. Wer operiert werden muss, braucht ein Krankenhaus. Die Ärztinnen und Ärzte sowie die PflegerInnen in der Universitätsklinik von Thessaloniki tun ihr Möglichstes, den radikalen Personalabbau zu kompensieren, doch es fehlen Medikamente, Verbandsmaterial, alles. Wer eine Versicherung hat, zahlt nichts für die Behandlung. Die 30 Prozent ohne Versicherung werden nur aufgenommen, wenn ihr Leben in Gefahr ist, danach wird für die Leistung kassiert. „Menschen sterben, weil sie keine medizinischen Leistungen bekommen, viele werden krank, weil es keine Prävention gibt“, klagt ein Belegschaftsvertreter das Versagen der Regierung an.
Kein Geld für Miete und Strom
Keine Frage, Griechenland hatte auch vor der Krise große Probleme. Der Filz in der Politik, der überbordende öffentliche Sektor, eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft und fehlende Industrie haben zu unhaltbaren Zuständen geführt. Doch unter dem Spardiktat der Troika hat die Regierung, gebildet aus der Mitte-rechts-Partei Nea Dimokratia und der sozialdemokratischen Pasok, den Sozialstaat zugrunde gerichtet und Griechenland von einem westeuropäischen Wohlfahrtsstaat zu einem Land gemacht, in dem Zustände wie in der Dritten Welt herrschen. Der Mindestlohn wurde auf 500 Euro brutto für Junge und 580 Euro für Erwachsene gekürzt, die Regierung schmälerte Pensionen, entließ Tausende Beamte und sparte das Gesundheitswesen kaputt.
Die Armut ist in Thessaloniki noch unsichtbar. Die Menschen auf den Straßen sind gut gekleidet, die Zahl der BettlerInnen ist nicht höher als in einer österreichischen Stadt. Die Hunderttausenden, denen das soziale Netz entzogen wurde, sind zu Hause, in den Arbeitervierteln außerhalb des Zentrums. Noch wurden sie nicht aus ihren Wohnungen geschmissen, obwohl sie die Miete nicht mehr aufbringen, noch haben die meisten Strom, noch sind es nur 15 Prozent, die die Wasserrechnung nicht zahlen können und die beim staatlichen Versorgungsunternehmen um Stundung ersuchen, damit ihnen die Leitung nicht abgedreht wird. Dass nun das Ende der Fahnenstange erreicht ist, erkennt auch der Pasok-Generalsekretär von Thessaloniki, der von „Entwicklungsmaßnahmen“ spricht, die nun folgen müssten. Doch die Troika verlangt Privatisierungen. So soll auch das staatliche Wasserversorgungsunternehmen an einen Konzern verkauft werden.
Überhaupt glauben nur mehr wenige Menschen an die Pasok, die blutleer wirkt und visionslos. Sie verzeihen der Regierung nicht, dass sie Proteste niederschlagen lässt, dass sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen ERT abdrehte, die 3.000 Beschäftigten feuerte und nun einen neuen Staatsfunk aufbaut. Pagonis Panajotis gehört der Pasok-Mehrheit in der Gewerkschaft an. Die eigene Regierungspartei ruiniert gerade finanziell den Gewerkschaftsdachverband, weil sie Streiks und Widerstand brechen will. Er wirkt beschämt. Viele haben der Pasok den Rücken gekehrt. Sie und viele Menschen aus sozialen Initiativen setzen ihre Hoffnungen nun in die junge Linkspartei Syriza, die den Menschen vermittelt, alles anders machen zu wollen, die populistisch der Troika die Stirn bietet. Allein, den Wahrheitsbeweis in einer Regierung musste sie noch nicht antreten.
Schreiben Sie Ihre Meinungan die Autorin carmen.janko@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Info&News
Klinik der Solidarität
Die Klinik versteht sich als politisches Projekt und organisiert Aktionen gegen Sozialabbau, Rassismus und Rechtsextremismus. Alle MitarbeiterInnen sind Freiwillige, die Spenden fließen direkt in die Versorgung der Patientinnen und Patienten.
Kontoinhaber: weltumspannend arbeiten
Kontonummer: 46610093809
BLZ: 14 000 (BAWAG P.S.K.)
IBAN: AT091400046610093809
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Neoklassische heile Finanzwelt
Die theoretische Basis, auf die Greenspan und viele andere vor der Krise gebaut hatten, ist die neoklassische Wirtschaftslehre. In dieser Denkschule herrscht ein grundsätzliches Vertrauen in die Gleichgewichtstendenz von Märkten. Finanzmärkte gelten hier als Mechanismus, um Kapital in die aussichtsreichsten Projekte zu lenken, und als Versicherungsvehikel. Gegen alles, was in der Marktwirtschaft schiefgehen kann, könne man auf effizienten Märkten einen Finanzkontrakt zur Absicherung kaufen. Die Explosion der Derivatmärkte vor Ausbruch der Krise erschien als Verwirklichung dieser Vorstellung. Da wurden z. B. Hypothekarkredite gebündelt und Ansprüche auf daraus resultierende Kreditrückzahlungen als Wertpapier weiterverkauft. Gleichzeitig wurden Derivate, die gegen allfällige Kreditausfälle versicherten, zum Kauf angeboten. Durch den Verkauf dieser Papiere in alle Welt schienen die Risiken auf viele Schultern verteilt und somit letztlich neutralisiert.
Diese Finanzkonstruktionen bräuchten keine begleitende Expansion der Regulierung und Aufsicht, glaubte man vor der Krise. Stattdessen könne man über weite Strecken dem Eigeninteresse der Finanzhäuser vertrauen: Wer rational agiere, würde niemals sorglos mit anderer Leute Geld umgehen oder Risiken falsch einschätzen. Die Aussicht, dass solch ein Verhalten unweigerlich vom Markt bestraft werden würde, sollte als Abschreckung ausreichen.
Wirtschaftspolitik sollte sich auf die Sicherung von Preisstabilität konzentrieren. In der Neoklassik herrscht die Überzeugung, dass der Preismechanismus zentral ist, um die Wirtschaft im Gleichgewicht zu halten. Bei einer unerwarteten Störung verändern sich auf einem idealen Markt Preise und Löhne so, dass die Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht kommt. Eine unerwartete Veränderung des allgemeinen Preisniveaus, also sämtlicher Preise im Zuge einer Inflation, würde diesen Mechanismus stören. Steigen alle Löhne und Preise inflationsbedingt, könnten die Lohnabhängigen kurzfristig verwirrt sein und mit Blick auf ihren Lohnzettel glauben, sie seien reicher und plötzlich ihre Konsumgewohnheiten ändern (z. B. Kaviar statt Extrawurst). Erst nach einiger Zeit würden sie vielleicht herausfinden, dass ihre Kaufkraft in Wahrheit gar nicht gestiegen ist, weil alle Preise sich gleichfalls erhöht haben, und ihre Entscheidungen bereuen, vielleicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten etc.
Zur Sicherung der Preisstabilität muss der Staat bzw. die Zentralbank laut Neoklassik für die Bereitstellung der richtigen Geldmenge sorgen. Um Missbrauch zu verhindern – etwa indem eine Regierung im Wahlkampf absichtlich Inflation erzeugt, damit sich die Leute reicher fühlen und erst nach geschlagener Wahl erkennen, dass das nicht stimmt – soll laut Neoklassik die Geldmenge strikt begrenzt sein. Dann bleiben Preise stabil und alle Märkte funktionieren.
Keynes und die Krise
Im Zuge der Finanzkrise verloren die meisten dieser neoklassischen Vorstellungen ihre Plausibilität. Stattdessen kam es zu einer Rückbesinnung auf Ideen von Keynes und Marx. Sie betonen statt der Gleichgewichtstendenz die Krisenanfälligkeit von Märkten.
Finanzmärkte tendieren laut Keynes nicht zu Stabilität, sondern sind sehr anfällig für Stimmungsschwankungen. Wenn alle ein Wertpapier kaufen wollen, steigt es im Preis. Wenn alle es verkaufen wollen, wird es wertlos. Folglich müssen alle, die zum günstigsten Zeitpunkt kaufen oder verkaufen wollen, Erwartungen darüber bilden, was die anderen tun werden. Das kann zu fatalem Herdenverhalten führen, bei dem alle tun, was die anderen tun, selbst gegen bessere Überzeugung. Immer wieder kommt es so zu Kursfeuerwerken und -abstürzen.
Das Problem: Wenn der Finanzmarkt lahmt, stockt die Versorgung der Wirtschaft mit Krediten, die für Investitionen zentral sind. Um ihre Stimmungsschwankungen im Zaum zu halten, empfiehlt der Keynesianismus eine strikte Beaufsichtigung und Regulierung der Finanzmärkte. In den neoklassischen Modellen ist Geld nur ein Tauschmittel. Die Wirtschaft mit ihrer Gleichgewichtstendenz funktioniert dort eigentlich wie eine Tauschwirtschaft: Jeder, der etwas verkauft, kauft gleichzeitig etwas. Geld ist nur der neutrale Vermittler, der Tauschen vereinfacht.
Wertaufbewahrungsmittel Geld
Der Keynesianismus sieht Geld komplexer. Erstens können in der Privatwirtschaft mithilfe von Banken und Schattenbanken geldähnliche Zahlungsmittel geschaffen werden. Inflation muss nicht auf eine falsche staatliche Geldpolitik zurückzuführen sein.
Zweitens kann Geld nicht nur als Tausch-, sondern auch als Wertaufbewahrungsmittel verwendet werden. Beispiel Finanzkrise: Im Finanzboom vor 2008 wurde eine Vielzahl von Finanzinstrumenten geschaffen, die vielfach als fast so gut wie Geld galten. Im Herbst 2008 war das Vertrauen in deren Werthaltigkeit mit einem Schlag dahin. Plötzlich wollten alle verkaufen und stattdessen „echtes“ Geld haben, und zwar nicht, um dafür wiederum etwas zu kaufen, sondern um es zu horten, aufgelaufene Schulden zu bezahlen oder sich – wie im Fall von Finanzhäusern – gegen Rückforderung von Guthaben der eigenen Kundschaft zu wappnen. Um diesen Bedarf abzudecken, versorgten die Zentralbanken die Märkte mit neuem Geld. Laut Neoklassik birgt das eine hohe Inflationsgefahr, weil man davon ausgeht, dass neues Geld unweigerlich sofort als Tauschmittel eingesetzt wird.
Aber wenn sich die wirtschaftliche Zukunft verdüstert und alle anderen Anlageformen plötzlich unsicher erscheinen, ist Geld als Wertaufbewahrungsmittel gefragt. Wenn die Zentralbank diese Nachfrage nicht befriedigt, brechen ganze Märkte zusammen und reißen durch ihre Verbindung mit anderen Sektoren womöglich die gesamte Wirtschaft in den Abgrund.
Zinskritik?
Der Kaufmann Silvio Gesell, ein Zeitgenosse von Keynes, sah in der Möglichkeit, Geld zu horten, die zentrale Krisengefahr für die Wirtschaft. Dadurch könne Zins beim Geldverleih erpresst werden. Das löse Umverteilung zu Geldbesitzenden aus. Gesell schlug dafür eine ungewöhnliche Gegenmaßnahme vor: Geldhaltung soll bestraft werden. Das von ihm propagierte „Schwundgeld“ soll in gewissen Zeitabständen automatisch an Wert verlieren bzw. zum Werterhalt die Errichtung einer regelmäßigen Gebühr erfordern. Diese Art Negativzins bzw. permanente Inflation würde die ausschließliche Nutzung von Geld als Tauschmittel erzwingen. Zeitgenössische ZinskritikerInnen erhoffen sich dadurch auch eine Bremswirkung gegen einen vermeintlich vom Zins ausgelösten Wachstumszwang. Zinsen können aber kein Wachstum erzwingen, im Gegenteil gelten eher niedrige Zinsen als wachstumsförderlich, weil sie kreditfinanzierte Investitionen billiger machen.
Wenn Leute durch Schwundgeld quasi gezwungen werden, alle Einkünfte sofort wieder auszugeben, wird konsumbasiertes Wachstum auf Kosten von Sparen und Investieren gefördert. Den Menschen wird damit auch ein Mittel genommen, sich gegen die Unsicherheit der Wirtschaft mittels Nutzung von Geld als Wertaufbewahrungsmittel zu wappnen. Das werden sie sich auf längere Sicht kaum gefallen lassen und folglich auf etwas anderes ausweichen, das diese und andere Geldfunktionen erfüllt.
Der Zins ist auch nicht ungerechtfertigter als andere Preise in der Wirtschaft, sondern der Preis für einen Zeitvorteil: Wer einen Kredit aufnimmt, kann dafür schon heute etwas kaufen, das erst später bezahlt werden muss. Gesells Ideen haben deshalb unter Wirtschaftsfachleuten keinen Widerhall gefunden.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor beat.weber@oenb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>In Cambridge geboren
Keynes wurde 1883 in bürgerlichen Verhältnissen in Cambridge, England, geboren und studierte in seiner Heimatstadt zunächst Mathematik und Philosophie, später auch Ökonomie. Die wirtschaftliche Lehre, die die Universitäten und die Wirtschaftspolitik dominierte, war damals (wie heute) die neoklassische Theorie. Diese Lehre sieht die Höhe der Produktion von Gütern und Dienstleistungen als abhängig von der Verfügbarkeit der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit (Saysches Gesetz), die Inflation wird von der Höhe der Geldmenge bestimmt (Quantitätstheorie) und Arbeitslosigkeit ist eine Folge zu hoher Reallöhne. Keynes erkannte angesichts der Beobachtung der wirtschaftlichen Realität, dass diese Theorie zwar vielleicht als relevant für den Spezialfall einer Vollbeschäftigungswirtschaft gelten kann, aber für die Lösung der drängenden Probleme einer stark unterausgelasteten Wirtschaft nicht brauchbar war.
In seinem 1936 erschienenen Hauptwerk „The General Theory of Employment, Interest and Money“ betonte Keynes die Bedeutung der effektiven Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen für die Höhe von Produktion und Beschäftigung. Für die Gesamtnachfrage spielen die Konsumnachfrage, die durch das verfügbare Einkommen der Haushalte und deren Konsumneigung bestimmt ist, und die Investitionsnachfrage, die von den Absatzerwartungen der Unternehmen und dem Kreditzinssatz abhängt, eine wichtige Rolle. Entscheidend für die Konjunktur sind in einer Welt der Unsicherheit die Erwartungen, und zwar nicht nur jene der Unternehmen sowie der Konsumentinnen und Konsumenten, sondern besonders jene der AnlegerInnen auf den Finanzmärkten. Sie bilden Erwartungen über die Erwartungen anderer Spekulantinnen und Spekulanten und dies führt zu dem für Finanzmärkte charakteristischen Herdentrieb. Keynes warnte schon in den 1930er-Jahren eindringlich vor einem zu großen Finanzsystem, das die Realwirtschaft zu einem Spielball der Spekulation verkümmern lässt. Er legte dar, wie leicht eine Marktwirtschaft in eine Unterbeschäftigungssituation gerät, aus der die Marktkräfte nicht von selbst wieder herausfinden. Hier hilft nur ein entschiedener Impuls der Budget- und Geldpolitik.
John Maynard Keynes war aber nicht nur Theoretiker, sondern trat auch beherzt für seine wirtschaftspolitischen Überzeugungen ein. Als Anhänger der Liberalen Partei hielt er Staatseingriffe zur Sicherung der Stabilität der Marktwirtschaft für notwendig. Er trat deshalb in zahllosen Zeitungsartikeln, Radioansprachen und Briefen an wirtschaftspolitische Entscheidungsträger, wie den Präsidenten der USA Franklin D. Roosevelt, vehement für einen Kurswechsel zugunsten einer aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein. Seine immer problemorientierten Vorschläge umfassten eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen, öffentliche Beschäftigungsprogramme, die Stimulierung der Konsumnachfrage und eine Koordination der internationalen Währungs- und Wirtschaftspolitik.
Überlegungen zur langen Frist
Seine Herzkrankheit hinderte Keynes nicht daran, sich mit den mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entstehenden, völlig neuen ökonomischen Problemen auseinanderzusetzen. So entwarf er die wissenschaftlichen Grundlagen der britischen Position für die Nachkriegsordnung und war führend an den Verhandlungen von Bretton Woods für eine Weltwährungsordnung beteiligt. Keynes wird oft als Theoretiker der kurzen Frist verkannt. Er verfasste jedoch nicht nur Überlegungen zur Stimulierung der Konjunktur in der Rezession, sondern auch bedeutende Analysen über die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. So sah er nach einer Periode der raschen Expansion der europäischen Wirtschaft in den Nachkriegsjahrzehnten das langfristige wirtschaftliche Problem in Stagnation und Arbeitslosigkeit, weil die Ersparnisse der privaten Haushalte in Relation zu den Investitionsmöglichkeiten der Unternehmen zu hoch sein würden. Der Wirtschaftspolitik empfahl er, dieser Herausforderung unter anderem mit Umverteilung zugunsten der unteren, konsumfreudigen Einkommensgruppen zu begegnen. In einem wegweisenden, Anfang der 1930er-Jahre verfassten Artikel „The Economic Possibilities for our Grandchildren“ legte Keynes dar, wie der technische Fortschritt in den nächsten 100 Jahren zu einer enormen Zunahme des Wohlstandes führen würde. Er sah dann die wirtschaftlichen Probleme der Menschheit gelöst, im Wege einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit sollte allen Menschen ein gutes Leben ermöglicht werden.
Seine vielfältigen Interessen machten Keynes nicht nur zum einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, sondern auch zum erfolgreichen Investor, zum Berater der Liberalen Partei und zum Förderer der Künste. So gründete er ein eigenes Theater, war Kurator der National Gallery und Vorsitzender des britischen Arts Council.
Die Keynes’sche Theorie prägte die Wirtschaftspolitik in der langen Phase der Stabilität und des steigenden Wohlstandes in den Nachkriegsjahrzehnten. In den 1970er-Jahren gelang es der Wirtschaftspolitik in vielen Ländern jedoch nicht mehr, das Doppelproblem steigender Arbeitslosigkeit und steigender Inflation zu bewältigen. Vor allem aber aufgrund einer Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der KapitaleignerInnen setzte sich die neoliberale Gegenrevolution durch, die die Bekämpfung der Inflation zulasten von Vollbeschäftigung und sozialer Absicherung betrieb. Hingegen konnten in Österreich wichtige Elemente der Überlegungen Keynes’ im Rahmen des Austrokeynesianismus sogar bis Mitte der 1990er-Jahre bewahrt werden, was nicht zuletzt in relativ niedrigen Raten der Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kam.
Keynesianerin: Joan Robinson
Zeitgleich mit Keynes arbeiteten zahlreiche Ökonominnen und Ökonomen an einer Überwindung der veralteten neoklassischen Theorie. In Polen war das Michal Kalecki, in Schweden Gunnar Myrdal. Gemeinsam mit Keynes waren in Cambridge Richard Kahn, Pierro Sraffa und Joan Robinson tätig. Besonders Joan Robinson, wie Keynes aus der Upperclass stammend, war eine herausragende Ökonomin und beeindruckende Persönlichkeit. Schon in den 1920er-Jahren begann sie, sich mit den wirtschaftlichen Problemen der Länder mit Entwicklungsrückstand und der Theorie des internationalen Handels auseinanderzusetzen. In den 1930er-Jahren beschäftigte sie sich mit den Problemen einer Oligopolwirtschaft und leistete wesentliche Beiträge zur Entstehung und Erweiterung von Keynes „General Theory“. Sie baute in ihrem 1956 erschienenen Buch „The Accumulation of Capital“ eine Brücke zwischen Keynes und Marx und ging der Frage nach, welche Bedingungen vor allem in der Verteilung der Einkommen für langfristiges wirtschaftliches Wachstum notwendig sind.
Keynesianische Wege aus der Krise
Die vielfältigen keynesianischen Strömungen haben in den letzten Jahrzehnten am ehesten in den USA überlebt. In Europa und vor allem in Deutschland dominierte wieder die alte neoklassische Theorie. Auch deshalb erweist sich die Wirtschaftspolitik in der gegenwärtigen Finanzkrise als so hilflos. Zwischen der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und der aktuellen Krise seit 2007 gibt es zahllose Parallelen. John Maynard Keynes und Joan Robinson würden wohl die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit als wichtigste Aufgabe für die Wirtschaftspolitik erkennen. Eine strenge Regulierung der Finanzmärkte und die Stärkung der Konsum- und Investitionsnachfrage etwa durch Umverteilung zugunsten der unteren Einkommensgruppen und der Realwirtschaft wären ihre wesentlichen Elemente.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor markus.marterbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Arbeit&Wirtschaft: Ihre Dissertation „Die Wirtschaftseliten Österreichs“ hat 2012 den Dissertationspreis der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie erhalten. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Philipp Korom: Es gibt verschiedene Wege, um Gesellschaft zu verstehen. Soziologen befassen sich oft mit Themen wie Armut, Wohlfahrtsstaat, Migration, Geschlechterpolitik, Klassen oder Lebensstile, um Einblicke in die Gesellschaft zu bekommen. Selten, im Fall von Österreich so gut wie gar nicht, werden mit demselben Ziel die Spitzen der Gesellschaft analysiert. Bitten Sie irgendjemanden, Ihnen zehn mächtige ManagerInnen zu nennen. Die wenigsten können das – das gilt auch für SozialwissenschafterInnen. Das ist meines Erachtens ein großes Defizit. Wer an den Schalthebeln der Macht sitzt, formt die Gesellschaft. „Elite“ ist daher für mich trotz vieler Konnotationen, die nicht auf Sympathie stoßen, ein zentraler Gesellschaftsbegriff.
Was waren die größten Schwierigkeiten bei der Recherche, haben die Wirtschaftseliten das Gespräch zugelassen?
Ich habe vor allem Aufsichtsratsvorsitzende und Human Ressources Directors interviewt. Zu diesem Personenkreis findet man leicht Zugang. Generell schätze ich Eliten als auskunftsfreudig ein, wenn auch ihre Zeit begrenzt ist. Das Problem, das ich sehe, ist eher ihr begrenzter Blick. Manager sind derartig stark mit dem Alltagsgeschäft beschäftigt, dass sie Wirtschaftsentwicklungen abseits ihrer Branche gar nicht bemerken. Das gilt auch für Elitenwandel. Ich verlasse mich daher vor allem, wie viele andere Elitenforscher auch, auf Datenmaterial, das in den diversen Firmendatenbanken zu finden ist.
Wer ist die Wirtschaftselite Österreichs?
Der pragmatische Zugang zum Thema „Identifikation von Eliten“ ist: Zur Elite zählen jene, die Macht haben. Wer Macht in einem relevanten Ausmaß hat, der kann gesamtgesellschaftliche Entscheidungen treffen. Damit meine ich etwa die Entscheidung, ob die Krisenbank Hypo Alpe Adria Staatshilfe erhalten soll oder nicht. Jene, die entsprechende Beschlüsse gefasst haben, sind der Elite zuzurechnen. Prominente üben hingegen keine direkte Macht aus. Wenn sie Einfluss im großen Ausmaß ausüben, man denke an SpitzensportlerInnen, die Bezugsnormen der Fairness popularisieren, dann haben wir es eher mit Vorbildern zu tun. Elite und Macht sind hingegen siamesische Zwillinge. Zur Wirtschaftselite Österreichs zählen für mich die Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden, und darunter vor allem jene mit vielen Aufsichtsräten.
Zentraler Knotenpunkt der Wirtschaftseliten sind die Aufsichtsräte …
Die Institution Aufsichtsrat (AR) ist stark im Umbruch. Die Haftungspflichten nehmen zu und Unternehmen setzen vermehrt auf ein sachkundiges Expertengremium. Es gibt einen Ruf nach Professionalität. In der Vergangenheit stand für den Vorstand eher die Frage im Vordergrund: Welches Netzwerk hat der AR? Man hat sich von Bankern im AR geschäftlich etwas versprochen. Es ging darum, das Lieferanten-, Kunden- oder Finanzierungsnetzwerk zu stabilisieren oder zu erweitern. Dieses Netzwerkpotenzial ist sekundär geworden. Persönliche Bekanntschaften spielen bei der Besetzung dennoch eine Rolle, das haben auch jüngste Erhebungen der WU Wien ergeben. Nicht selten sind Vorstand und Aufsichtsrat per Du.
Seit 1974 sind auch Betriebsräte im Aufsichtsrat – welche Rolle spielten sie, die Gewerkschaften und Arbeiterkammern bei den Wirtschaftseliten Österreichs?
Das Buch gibt auf diese Frage keine empirisch basierte Antwort. Es gibt jedoch gute Gründe, den tatsächlichen Einfluss der Betriebsräte im AR als zumindest abnehmend einzuschätzen. Das hat in erster Linie mit der Privatisierungsgeschichte Österreichs zu tun, die einen Machtverlust der Gewerkschaften auch innerhalb von Großunternehmen bewirkte. Zuletzt kam diese Entwicklung im Falle des insolventen Baukonzerns Alpine zum Ausdruck: Der Zentralbetriebsrat, Hermann Haneder, gab die Auskunft, dass er die Entwicklung kommen sah, aber dagegen nicht ansteuern konnte. Er war also trotz seiner formalen Stellung machtlos.
Sozialpartnerschaft und Eliten?
Im internationalen Vergleich haben österreichische Spitzenverbände eine ungewöhnlich einflussreiche Rolle. Für die Wirtschaftselite Österreichs, also die Topmanager, ist jedoch der Einflusskanal „Sozialpartnerschaft“ zunehmend irrelevant. Neue Formen der Interessenvertretung und -durchsetzung dominieren das strategische Repertoire. Individualisiertes Lobbying und issue-spezifische Netzwerke sind an die Stelle traditioneller Interessenvermittlungsstrukturen getreten.
Der Proporz ist im Wandel, was hat sich geändert bei den Managerkarrieren?
Der Proporz ist nicht ausgestorben. Das hat damit zu tun, dass trotz weitgehender Privatisierungen die Republik, ÖIAG oder einzelne Bundesländer an Unternehmen beteiligt sind. Wenn man sich das Big Business anschaut, so sind das: Telekom Austria, Verbund und die Landesenergiegesellschaften, die ÖBB und ihre Tochtergesellschaften, die ASFINAG, die Post und der Flughafen Wien. Besetzungen erfolgen hier oftmals nach derselben Logik wie in eigentümergeführten Unternehmen der Privatwirtschaft: Führungsaufgaben teilt man Personen zu, denen Vertrauen geschenkt wird. Die politische Farbe kann Vertrauensaufbau fördern. Quantitativ hat der Proporz enorm abgenommen, da darf man sich von der medialen Berichterstattung über den Filz nicht täuschen lassen. Man denke etwa nur an die Voest, das ehemalige Flaggschiff der Verstaatlichten. Unter Heribert Apfalter hat das Parteibuch bei Besetzung eine Rolle gespielt. Wolfgang Eder führt ein privatisiertes Unternehnen an, das in 60 Ländern tätig ist. Wen interessiert da noch Parteipolitik? Und: Welche Parteileute wären überhaupt in der Lage, Spitzenunternehmen zu führen?
Neben der quantitativen gibt es eine qualitative Dimension: Oftmals handelt es sich nicht mehr um die Patron-Klient-Beziehungen, wie wir es aus der Zeit der Verstaatlichten kennen. So kann etwa der ehemalige Generaldirektor Erich Hampel (BA), der derzeit dem Aufsichtsrat der staatlichen Post angehört, nicht mehr treffend als abhängiger Klient bezeichnet werden. Hampel ist zwar wie zahlreiche andere Manager, deren Karriere in die Zeit der Verstaatlichten zurückreicht, weiterhin in Parteiennetze eingebunden. Er könnte jedoch diese aufkündigen, ohne großen Schaden zu nehmen. An die Stelle der ursprünglichen Machtasymmetrie ist ein reziproker Nutzen getreten: Parteien können erfahrenen Führungskräften in den Kontrollgremien staatlicher Betriebe vertrauen, Manager erhoffen sich von diesen AR-Mandaten Marktvorteile für das Unternehmen oder eine interessante Beschäftigung (am Ende ihrer Karriere). Ein ähnliches Beispiel ist der derzeitige Präsident der ÖNB, Claus J. Raidl, der sich ja selbst als „Produkt des Proporzes“ bezeichnet.
Sie schreiben von einer Verschiebung der Machtbalance – Parteien spielen eine geringere Rolle?
Es liegt auf der Hand, dass die Parteinähe der ManagerInnen zurückgegangen ist, da die Großparteien in der allgemeinen Bevölkerung massiv an Mitgliedern verloren haben. SPÖ und ÖVP sind im engen Sinn keine Massenparteien mehr. Viele Talente zieht es dorthin, „wo die Musik spielt“ – das sind eben nicht mehr Parteien, sondern Unternehmen oder Großkonzerne. Parteien haben daher auch massive Probleme, loyale Führungspersönlichkeiten für die Wirtschaftspolitik zu rekrutieren. Dazu kommt natürlich der Ansehensverlust der politischen Klasse insgesamt.
Wenn man die „neue“ Vernetzung von Wirtschaft und Politik betrachtet – Extrembeispiel Frank Stronach – wie sieht das mit Blick auf die Wirtschaftseliten aus?
Die Verbalattacken von Stronach gegen „die Funktionäre“ bringen dasselbe zum Ausdruck wie der Ausspruch von Andreas Treichl im Zusammenhang mit staatlich reglementierten Krediten, Politiker seien „blöd und feig“, nämlich eine Verschiebung der Machtbalance. SpitzenmanagerInnen sind der Willkür von Parteien nicht mehr ausgesetzt, ihr Stellenwert ist aufgewertet – nur aus dieser Position ist eine derartige öffentliche Schelte möglich.
Wer regiert die Österreich AG?
Die Eliten sind genauso wie die Österreich AG im steten Wandel. Die letzte Untersuchung habe ich für das Jahr 2008 durchgeführt. Da gab es drei Gruppen: Eine Gruppe politisierter Manager, darunter etwa Ewald Nowotny; eine kleine, aber mächtige Managergruppe rund um Raiffeisen (Christian Konrad, Erwin Hameseder, Ludwig Scharinger) und eine wachsende internationale Fraktion (Karl Weißkopf, Mark Garrett). Kollegen haben mit denselben Untersuchungsmethoden eine viel stärkere Internationalisierung des Schweizer Spitzenmanagements ausmachen können. Auch die Raiffeisenmanager, Führungskräfte mit einer distinkten Milieufärbung, stellen eine Besonderheit dar. Netzwerkanalytisch zeigt sich, dass mit Untergang der Verstaatlichten die Raiffeisenbanken-Gruppe zum am besten vernetzten Akteur aufgestiegen ist. Das trifft wahrscheinlich auch noch nach der Pensionierung bzw. dem Rücktritt von Christian Konrad und Herbert Stepic zu.
Es war nicht Gegenstand Ihrer Untersuchungen, aber welche Rolle spielen Frauen in diesen Wirtschaftseliten?
Wenn man sich rein empirisch der Wirtschaftselite nähert, muss man erst daran erinnert werden, dass Gender ein interessantes Thema wäre. Man stößt einfach auf sehr, sehr wenige an der Spitze. Ulrike Baumgartner-Gabitzer, Elisabeth Bleyleben-Koren oder Regina Prehofer wären da zu nennen. Deren Karrieren unterscheiden sich nicht stark von denen eines Leopold Windtner, Herbert Stepic oder Erich Hampel. Der interessante Befund ist die Abwesenheit von Frauen, die sprichwörtliche gläserne Decke in den Unternehmen. Die existiert ohne Zweifel nach wie vor.
Der Staat als Unternehmer – nach der Verstaatlichung der Creditanstalt 1929 ein österreichisches Phänomen? Mitte der 1980er-Jahre verfügte Österreich über den größten öffentlichen Wirtschaftssektor Westeuropas …?
In gewisser Weise war Österreich eine Ausnahmeerscheinung. Noch Mitte der Achtzigerjahre verfügte Österreich über den proportional größten öffentlichen Wirtschaftssektor Westeuropas. Die Verstaatlichung geht auf eine rechtliche und staatspolitische Zwangslage zurück: Das Potsdamer Abkommen (1945) sah vor, dass deutsches Eigentum als Wiedergutmachung den Alliierten zufallen sollte. In der Verstaatlichung sah man daher die einzige Möglichkeit, wichtige Produktionsstätten in Österreich zu halten. Die Privatisierung in Österreich setzte relativ zeitgleich mit einer allgemein in Europa zu beobachtenden Entstaatlichungspolitik ein.
Kann man die Krise 1929 und die 2007 vergleichen?
Krisen zu vergleichen ist immer – auch wenn es Erkenntnisgewinn bringt – ein wenig heikel. Gewisse Ähnlichkeiten wird man ausmachen können: Am Beginn der derzeitigen Krise standen die Banken, die durch verbriefte Hypothekenanleihen in Schieflage geraten sind. Sieht man von Lehman Brothers ab, so wurden die Verluste vergemeinschaftet. Das ist eine Parallele zur Finanzkrise der Creditanstalt 1929, die ja auch gerettet wurde.
Welche Eliten kamen dadurch an die Macht? Andere als in anderen Staaten?
Parteizugehörigkeit war und ist zumindest teilweise noch ein herausragendes Merkmal der österreichischen Wirtschaftselite. Zu Zeiten des Austrokeynesianismus fanden sich zahlreiche parteiloyale „statesmen of industry“ in der Wirtschaftselite, deren Wirken nicht ausschließlich am Profit, sondern auch am sozialen Ausgleich orientiert und durch Kompromissfähigkeit gekennzeichnet war. Diesen Typ von Spitzenmanager gibt es nicht mehr. In vielen Fällen weist das Führungspersonal auch kein nationales Profil mehr auf.
Trifft den Austrokeynesianismus dann auch Mitschuld am Niedergang?
Ohne mit moralischen Kategorien argumentieren zu wollen: 1985 hat das Führungspersonal ein ökonomisches Erdbeben ausgelöst. Intertrading – ein weiteres Tochterunternehmen des Voestalpine-Konzerns – hat bei Baisse-Spekulationen am Ölmarkt Verluste in Höhe von sechs Mrd. Schilling, also rund 414 Mio. Euro erlitten hatte. Da gab es ein eindeutiges Fehlverhalten des Spitzenmanagements.
Sie sind jetzt am Max-Planck-Institut in Köln – was sind ihre nächsten Forschungsziele?
Ich habe begonnen, mich mit Vermögensfragen zu beschäftigen. Die Vermögensungleichheit hat in vielen OECD-Ländern in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Ich versuche, ein umfassendes Erklärungsmodell zu entwickeln, indem ich die relative Bedeutung solch unterschiedlicher Ursachen wie einer veränderten Steuer- und Sozialpolitik, des Aufstiegs der Finanzmärkte, des demografischen Wandels und der Erbschaften untersuche.
Wir danken für das Gespräch.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at
]]>Quelle: AK Wien und IFES, Expertenstichprobe: 289 BetriebsrätInnen; AK/ÖGB-Darstellung
]]>Dass man zum Führen nicht geboren ist, dürfte sich mittlerweile nicht nur in Königshäusern, sondern auch in Familienunternehmen herumgesprochen haben. Wer führen will, sollte nicht nur von der Materie, mit der sein berufliches Umfeld befasst ist, etwas verstehen, sondern vor allem mit Menschen umgehen können. Ersteres wird oft durch einen kontinuierlichen Aufstieg in der Branche bzw. der Firma gewährleistet, zweiteres ist schon etwas schwieriger zu garantieren.
Männlich, älter, gebildet, Österreicher
Elf Prozent der ArbeitnehmerInnen in Österreich sehen sich als Führungskraft – von knapp einer halben Million ist die Zahl in den vergangenen drei Jahren auf 413.000 gesunken. Im Großen und Ganzen entspricht der Chef nach wie vor allen althergebrachten Klischees: männlich, älter, gebildet und ohne Migrationshintergrund. Gerade Frauen waren vom krisenbedingten Rückgang der Führungspositionen besonders betroffen. Nach wie vor müssen sie sich oft zwischen Kind und Karriere entscheiden, wer Betreuungsaufgaben wahrnehmen muss, hat wenig Chancen auf der Karriereleiter weiter nach oben zu steigen. Und das, obwohl man sich mittlerweile immer öfter bewusst ist, wie viele Managementeigenschaften für die Organisation von Beruf, Partnerschaft, Kindern und Haushalt notwendig sind. Wohl auch ein wenig deswegen, weil immer öfter Männer in der Väterkarenz diese Erfahrung machen.
Man schätzt zwar an Frauen, dass sie empathisch, sozial kompetent, teamfähig und sachorientiert sind, auch, dass sie eine angenehme Atmosphäre ins Team bringen, hat das deutsche Fraunhofer Institut in einer Studie erhoben. Über den beruflichen Erfolg entscheiden aber nach wie vor „männliche Stärken“ wie etwa Durchsetzungsfähigkeit, Selbstmarketing, Selbstbewusstsein, Schnelligkeit.
Interessanterweise ergibt die Auswertung des Führungskräftemonitors, dass das Management vor allem im Umgang mit der Belegschaft gefordert ist: 70 Prozent bei der Motivation der MitarbeiterInnen, 59 Prozent damit, harte Entscheidungen treffen zu müssen, und 45 Prozent dadurch, möglicherweise in persönliche Konflikte zu geraten. Insgesamt Aufgaben, die mit sozialer Kompetenz und Sachorientiertheit zu lösen sind, und doch sind zwei Drittel der Managementjobs mit Männern besetzt.Je weiter oben in der Hierarchie, desto mehr Männer besetzen die Chefsessel.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Noch immer gibt es die alten Männerseilschaften. Frauen arbeiten häufiger Teilzeit, Teilzeitbeschäftigte steigen seltener in Führungspositionen auf, Menschen mit Führungsaufgaben arbeiten länger: 23 Prozent mehr als 45 Stunden pro Woche, 22 Prozent mehr als 40 Stunden.
Alte Rezepte statt neuer Wege
Auch in den Chefetagen wächst der Druck, die Angst geht um und wie so oft neigt man in vielen Firmen dazu, auf konservative Rezepte zurückzugreifen, anstatt neue Wege zu suchen – auf mehr Diversity in der Führung werden wir alle wohl noch ein wenig warten müssen. Zumal diejenigen, die Führungspositionen innehaben, mit Job und Einkommen noch immer zufriedener sind als die anderen ArbeitnehmerInnen.
]]>„Der KV wird oft auf die Gehaltspolitik reduziert, in Wahrheit stellt er aber auch 65 Jahre niedergeschriebene Sozialpolitik dar“, betonte der zuständige stv. Geschäftsbereichsleiter der GPA-djp, Manfred Wolf.
Die Arbeitszeitverkürzung bezeichnet Günther Löschnigg, Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Karl-Franzens-Universität Graz, als Meilenstein in der Entwicklung des Handels-KV.
Auch die Leiterin der Sektion Arbeitsrecht und des Zentral-Arbeitsinspektorats im BMASK Anna Ritzberger-Moser und Betriebsrätin Maria Stoissier lobten nicht nur den Kommentar, sondern auch den KV.
In diesem Rahmen erinnerten viele der Anwesenden an die Leistungen des langjährigen Verhandlers Erich Reichelt.
Mehr Info: tinyurl.com/o2rxpmx
]]>Doch was kann eine/einer allein da schon bewegen? Wenig – kollektives Handeln jedoch eine ganze Menge.
Es herrschen Zustände, gegen die Gewerkschaften von jeher kämpfen und gegen die zunehmend auch andere soziale Bewegungen, Institutionen und selbstorganisierte Gruppen aktiv werden. Hier wie dort ist politische Bildung ein zentrales Moment der Organisation – ohne Bildung keine Organisation, ohne Organisation keine Bewegungen.
Doch wie muss politische Bildung organisiert sein, um Phänomenen wie Individualisierung und Entsolidarisierung in der modernen Arbeitswelt entgegenzuwirken und zu deren Demokratisierung beizutragen? Wie können unterschiedlichste Zielgruppen erreicht und für politische Bildung begeistert werden? Wie muss Lernen stattfinden, um Menschen zu kollektivem, solidarischem Handeln zu motivieren und zu stärken? Welche Rolle kann der Betrieb dabei als Ort des (informellen) Lernens spielen und wo findet dieses Lernen in Arbeitsrealitäten statt, wenn es keinen Betrieb gibt? Diese und darüber hinausgehende Fragen werden im Rahmen der Tagung erörtert und in interaktiven Sessions aus unterschiedlichsten Blickwinkeln diskutiert.
Denkanstöße bieten Filmsequenzen aus Erwin Wagenhofers neuem Film „Alphabet“. Nach der Tagung besteht die Möglichkeit, den Film gemeinsam mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Votivkino in ganzer Länge zu sehen.
Wann: Am Mittwoch, 4. Dezember 2013, im Bildungszentrum der AK Wien, Theresianumgasse 16–18, 1040 Wien.
Anmeldung bis 25. November 2013 per E-Mail: refak@akwien.at
]]>Das bedeutet ein Ende des Kafala-Systems, das Recht für Gastarbeiter, sich zur Gewährleistung sicherer und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen gewerkschaftlich zu organisieren sowie eine verantwortungsvolle Vermittlung dieser Arbeitskräfte. Die FIFA hat zugesagt, sich in jedem ihrer Gastgeberländer für die Achtung grundlegender Rechte einzusetzen.
Am Mittwoch, dem 4. Dezember, tagt das 27-köpfige FIFA-Exekutivkomitee in Brasilien.
GewerkschafterInnen und Fußballfans können ihrem FIFA-Vertreter unter www.rerunthevote.org eine Nachricht übermitteln.
]]>
Das Lobbying der Finanzindustrie gegen eine Finanztransaktionssteuer nimmt ständig zu, vor allem, seit sich elf EU-Staaten dazu entschieden haben, die Steuer einzuführen. AK und ÖGB warnen auch davor, dass dem vorliegenden Entwurf der EU-Kommission die Zähne gezogen werden und es letztlich nur eine verwässerte Version der Steuer geben wird, die weder steuerlich etwas bringt, noch den gewünschten Effekt zeigt, Spekulationen einzudämmen, und die schon gar nicht für Verteilungsgerechtigkeit sorgt.
Seit Jahren setzen sich AK und ÖGB im Rahmen der Koalition „Europeans For Financial Reform“ – einem Zusammenschluss aus Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen – für eine nachhaltige Regulierung der Finanzmärkte in der EU ein. Bereits 2011 sind im Rahmen einer europaweiten Petitionskampagne schon in den ersten zwei Wochen über 500.000 Unterstützungsmails im Posteingang der EU-Abgeordneten gelandet. Das ist mit ein Grund dafür, dass die Kommission vor zwei Jahren einen Vorschlag für eine Finanztransaktionssteuer ausgearbeitet hat und sich elf EU-Länder dazu entschlossen haben, die Steuer im Rahmen einer sogenannten Verstärkten Zusammenarbeit umzusetzen.
Unter www.financialtransactiontax.eu können alle FinanzministerInnen sowie Staats- und Regierungschefs/-chefinnen jener elf EU-Staaten direkt kontaktiert werden, die zuletzt die Einführung der Finanztransaktionssteuer versprochen haben. Die Kampagne ist in mehreren Sprachen verfügbar und informiert Interessierte über die aktuellen Verhandlungen.
]]>Diese Wahl ist anders …
Die AK-Wahl ist in vielerlei Hinsicht besonders, insbesondere im Hinblick auf das Wahlrecht. So spielt etwa die StaatsbürgerInnenschaft bei der AK-Wahl keine Rolle. Seit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs 2003 steht fest, dass auch für AK-Mitglieder mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft sowohl das aktive Wahlrecht als auch das passive Wahlrecht gilt.
Auch dass Lehrlinge und andere junge ArbeitnehmerInnen wählen dürfen, wenn sie sich in die Wählerliste eintragen lassen, ist österreichweit eine Besonderheit, denn bei den AK-Wahlen gilt für das aktive Wahlrecht keine Altersgrenze. Nur im Hinblick auf das Kinder- und Jugendlichen-Beschäftigungsgesetz ergibt sich grundsätzlich ein Wahlalter von 15 Jahren.
… und wichtig
„Ihre Stimme gibt der Gerechtigkeit mehr Gewicht“ lautet der Aufruf der Arbeiterkammer, mit dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die Wahlurne gebracht werden sollen. Hingehen und mitbestimmen lautet die Devise, denn die AK-Wahl ist eine interessenpolitische Wahl.
Wer zur Wahl geht, entscheidet mit, wer die Rechte und Interessen der ArbeitnehmerInnen in den nächsten fünf Jahren vertreten soll. Da geht es um die Haltung zu Überstunden, gerechte Arbeitszeitregelungen, Konsumentenschutz, leistbares Wohnen, kompetente Beratung und Unterstützung in sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen, gute Ausbildungsplätze für die Jungen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und vieles mehr. 2.000.000-mal bekommen AK-Mitglieder jedes Jahr kostenlos arbeitsrechtliche, steuerrechtliche und sozialrechtliche Beratung. 200 Millionen Euro hat die AK im vorigen Jahr für ihre Mitglieder vor Gericht mit Erfolg durchgesetzt.
Darum: Gehen Sie zur AK-Wahl und stärken Sie mit Ihrer Stimme die Arbeiterkammer auch weiterhin als Ihre Interessenvertretung.
Gut informiert mit wenigen Klicks
Wann, wo und wie wird gewählt? Diese und alle weiteren Informationen und Unterlagen zur AK-Wahl erhalten alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom AK-Wahlbüro per Post zugeschickt.
Wer sich schon jetzt informieren will, kann ab 20. November alle Infos rund um die AK-Wahl auch online abrufen unter:
www.arbeiterkammer.at/wahl
Auch in Österreich bediente sich die Arbeitgeberseite damals solcher „schwarzer Listen“. Dabei handelte es sich um Geheimcodes in den – gesetzlich vorgeschriebenen – Arbeitsbüchern. „Eingeweihte“ wussten sofort, ob Arbeit suchende „Aufwiegler“ für eine Gewerkschaft warben oder sich schon einmal an einem Streik beteiligt hatten. Und damit begann das perfekte Zusammenspiel mit einer Kombination aus Heimatzugehörigkeitsgesetzen, vor allem dem „Reichsschubgesetz“ von 1871 und dem „Vagabundengesetz“ von 1885: Arbeitslose konnten leicht als „Arbeitsscheue“ oder „Arbeitsverweigerer“ punziert und Arbeitslose, die aus einem anderen Ort stammten, dorthin abgeschoben werden. Die Unternehmen waren so die lästigen GewerkschafterInnen los, ohne formal die Entkriminalisierung von Gewerkschaftsgründung und Streiks durch das Koalitionsgesetz von 1870 zu missachten.
Später gingen die Arbeitgeberorganisationen dazu über, „schwarze Listen“ ganz offen an ihre Mitglieder zu verschicken, bis der Oberste Gerichtshof dieser Praxis 1905 ein Ende machte. Er stellte fest, dass dem gewerblichen Hilfsarbeiter die Verwertung seiner Arbeitskraft in demjenigen Fache, für das er vorgebildet ist, nicht unmöglich gemacht oder erheblich erschwert werden darf. Allerdings bestand die Pflicht zur Führung von Arbeitsbüchern und die Möglichkeit, dort Geheimcodes einzufügen, weiter. Erst die demokratische Republik schaffte sie nach 1918 ab.
Außerdem galt für die Mitglieder der „Hauptstelle der Arbeitgeberorganisationen der österreichischen Industrie“ ab 1907 ein „Reglement“ mit geheimen Weisungen. Unter anderem hieß es darin: Übel beleumdete Arbeiter, Hetzer und Wühler sind stets in Evidenz zu halten. Besonders hart wurde gegen TeilnehmerInnen an einem Streik vorgegangen: Ist im Betriebe einer Mitgliedsfirma ein Streik ausgebrochen, so sind … alle übrigen Mitglieder mit dem eindringlichen Bemerken zu verständigen, dass kein Arbeiter, dessen Arbeitsbuch ausweist, dass er bei dem vom Streik betroffenen Mitglied aus dem Anlasse des Streiks oder während dessen Dauer ausgetreten ist oder entlassen wurde, (…) beschäftigt werden darf.
Die Antwort der Freien Gewerkschaften war die Einrichtung eines zentralen Solidaritätsfonds.
Zusammengestellt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
1920er-Jahre: Rationalisierungswelle
Rationalisierungsmaßnahmen, bedingt durch den technologischen Fortschritt und verbunden mit einer Straffung von Arbeitsabläufen, begleiten die wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn der Industrialisierung. Doch es waren bis zu den 1920er-Jahren oft nur einzelne Unternehmen oder Branchen, die zu unterschiedlichen Zeiten von Umstrukturierungen betroffen waren. In den 1920er-Jahren setzte jedoch – in Österreich bedingt durch ein hohes Zinsniveau – eine breite „Rationalisierungswelle“ ein, die sich über alle Branchen bis hin zum Dienstleistungssektor zog. Die umfassenden Kostensenkungsprogramme durch die Anwendung aller produktivitätsfördernder Maßnahmen hatten in vielen Betrieben fatale Folgen für die ArbeitnehmerInnen: Entlassungen, erhöhter Arbeitsdruck, verbunden mit der Zunahme von Arbeitsunfällen und Verlängerung von Arbeitszeiten, bei keinen oder nur geringen Lohnzuwächsen. Die volkswirtschaftlichen Kosten waren überdies durch die im konjunkturellen Aufschwung nach 1924 sehr hohe Arbeitslosigkeit enorm.
1926: Arbeitswissenschaftsreferat
Nachdem sich die Unternehmen zunehmend über das Rationalisierungsmanagement austauschten, Komitees bildeten und wissenschaftliche Einrichtungen gründeten, die produktivitätssteigernde Maßnahmen auszuloten versuchten, stellte sich für die Gewerkschaften die Frage, wie dieser „Rationalisierungswelle“ zu begegnen sei. Der Obmann des Bundes der Industrieangestellten (einer Vorläuferorganisation der GPA-djp) Richard Seidel stellte dazu fest: „Es wäre falsch, wenn sich die Gewerkschaften den notwendigen Rationalisierungsbestrebungen widersetzen würden. Die Gewerkschaften können nicht zulassen, dass die Rationalisierung vor allem auf Kosten der ArbeitnehmerInnen und nur zugunsten der Unternehmer durchgeführt wird. Sie müssen namentlich gegen die in vielen Fällen eintretenden Schädigungen der Gesundheit auftreten.“
Um die arbeitswissenschaftliche Forschung nicht allein den Unternehmern zu überlassen, wurde in der Wiener Arbeiterkammer 1926 ein arbeitswissenschaftliches Referat unter der Leitung von Hans Mars gegründet, welches bereits 1927 die Publikation „Rationalisierung, Arbeitswissenschaft und Arbeiterschutz“ herausgab. Das Werk gab den Gewerkschaften eine erste Orientierung über die Methoden und Probleme des „Rationalisierungsmanagements“ und führte zur Gründung des „Fachausschusses für gewerkschaftliche Rationalisierungspolitik“ (AFAB) im Bund der Industrieangestellten: „Die Rationalisierungspolitik der Gewerkschaften muss darin bestehen, unmittelbar und mittelbar auf die Wirtschaftsführung so einzuwirken, dass die durch die kapitalistische Rationalisierung hervorgerufenen oder durch die Unterlassung der sozialen Rationalisierung verursachten Schädigungen der physischen, psychischen und sittlichen Persönlichkeit und der wirtschaftlichen und sozialen Lage der einzelnen Arbeitnehmer und ihrer ganzen Klasse abgewehrt und an ihrer Stelle die größtmögliche Verbesserung der wirtschaftlichen, gesundheitlichen und kulturellen Klassenlage gesetzt wird.“
1929: Rationalisierungspolitik
Die nun von AK und AFAB 1927 und 1928 durchgeführten Untersuchungen wurden 1929 in einer vom Bund der Industrieangestellten herausgegebenen Publikation „Grundlagen und Richtlinien gewerkschaftlicher Rationalisierungspolitik“ veröffentlicht. An konkreten Beispielen von Unternehmen aus Österreich und Deutschland konnte festgestellt werden, dass „Rationalisierung“ in den meisten Fällen mit Arbeitsentlassungen, einer Senkung des Lohn- und Gehaltsaufwands und einer Zunahme von Arbeitsunfällen einherging, während die nun geringeren Produktionskosten von Gütern nicht an die Konsumenten weitergegeben wurden: „Für die Unternehmer ist die Intensivierung das beliebteste Mittel zur Erhöhung der Ausbringungsquote, weil diese keine Kapitalaufwendung für Investitionszwecke erfordert und trotzdem höheren Gewinn abwirft.“
Kuratorium für Wirtschaftspolitik
Gemeinsam mit den Gewerkschaften erarbeitete AK-Referent Hans Mars einen umfangreichen Maßnahmen- und Forderungskatalog. Darin enthalten: eine Demokratisierung der Betriebsverfassung, innerbetriebliche Arbeitsbeschaffungs- und Einkommenspolitik, Arbeitszeitfragen, Vorschläge zur Beschäftigung von jüngeren und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zur Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Belegschaft und Unternehmer bis hin zu einer „Arbeitsfreudepolitik“, innerbetrieblicher Weiterbildung und „Freizeitkulturpolitik“.
Das Engagement von AK und Gewerkschaften führte darüber hinaus 1928 zu einer ersten auf freier Vereinbarung gegründeten sozialpartnerschaftlichen Institution, dem „Österreichischen Kuratorium für Wirtschaftlichkeit“ (ÖKW). Das ÖKW, in dem die ArbeitnehmerInnenseite neben Wirtschafts- und Ingenieurskammern und landwirtschaftlichen Hauptkörperschaften drittel-paritätisch vertreten war, sollte nach den Wünschen von AK und Gewerkschaften die Rationalisierungsbestrebungen von Unternehmen und Verwaltung in eine sozialverträgliche Richtung lenken, Einfluss auf die Volkswirtschaft nehmen, technisch-organisatorische, arbeitswissenschaftliche und statistische Arbeiten in Hinblick auf Verwertbarkeit in der Praxis initiieren sowie entsprechende Aufklärungsarbeit leisten: „Die ArbeitnehmerInnen erachten es als eine der wichtigsten Aufgaben des ÖKW, nach Möglichkeit auf die Investitionspolitik innerhalb der Volkswirtschaft Einfluss zu nehmen.“ Allerdings konnte das ÖKW diese ursprünglich von AK und Gewerkschaften gestellten Anforderungen durch seine Konzentration auf betriebswirtschaftliche Maßnahmen nie ganz erfüllen.
Zwar versuchte das ÖKW in den 1930er-Jahren noch über Arbeiten zur Energiewirtschaft und zum Verkehrswesen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu nehmen, verlor jedoch nach seiner Wiederbegründung in der Zweiten Republik durch seine Konzentration auf rein betriebswirtschaftliche Agenden an Bedeutung. Hinsichtlich seiner Gründung stellt es jedoch einen Meilenstein in der Geschichte früher sozialpartnerschaftlicher Institutionen dar.
Ausschaltung der Selbstverwaltung
Mit der Ausschaltung der Selbstverwaltung der Arbeiterkammern und dem Verbot der Freien Gewerkschaften 1934, mit der dadurch bedingten Emigration des AK-Referenten Hans Mars nach England sowie nicht zuletzt durch die verheerenden Folgen der 1930 einsetzenden Weltwirtschaftskrise fanden die ersten Ansätze einer „gewerkschaftlichen Rationalisierungspolitik“ ihr vorläufiges Ende. Die damals erarbeiteten Erkenntnisse und betriebsdemokratischen Forderungen blieben jedoch aktuell. Sie wurden zu einem nicht geringen Teil Grundlage für die gewerkschaftliche Politik nach 1945.
„Sicherheit, Gesundheit und Arbeit“
Viele der in der Zweiten Republik von ÖGB und Arbeiterkammer auf gesetzlicher Ebene und von den Gewerkschaften auf kollektivvertraglicher Basis durchgesetzten Errungenschaften finden sich bereits in deren Forderungen zur Gestaltung menschenwürdiger Arbeitsverhältnisse in der Zwischenkriegszeit. Nicht zuletzt gehen auch die heutigen Abteilungen der AK Wien „Sicherheit, Gesundheit und Arbeit“ und „Betriebswirtschaft“ auf das 1926 gegründete „Referat für Rationalisierung, Arbeitswissenschaft und Arbeiterschutz“ zurück.
AK-Referat Sicherheit, Gesundheit und Arbeit: tinyurl.com/ns9752q
AK-Referat Betriebswirtschaft: tinyurl.com/q7tsgj7
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor klaus.mulley@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Barrieren überwinden
Je komplizierter und komplexer eine Führungsposition, je turbulenter und unsicherer das Umfeld, je widersprüchlicher die Anforderungen von MitarbeiterInnen, Kundinnen und Kunden, Kooperationspartnern, Konkurrenten und der eigenen Ansprüche, desto notwendiger und für gute Führungsarbeit unentbehrlicher wird die Kompetenz der Reflexion – und gleichzeitig desto schwieriger: Zeitliche, inhaltliche, psychische Barrieren müssen überwunden werden. Reflexive Kompetenz ist in vielen Zusammenhängen gefragt: in der unmittelbaren Planung der eigenen Arbeit (Zeiten, Energie, Prioritäten), in der Kommunikation mit Beschäftigten, Vorgesetzten, Geschäftspartnern, Kundinnen und Kunden, Klientinnen und Klienten, Behörden oder Geldgebern, in der Balance zwischen Arbeit, Familienzeit, gesellschaftlichem Engagement und persönlicher Eigenzeit. Hoch qualifizierte Arbeit und solche mit hoher Verantwortung, großem Risiko und starker Belastung, sich rasch ändernde Anforderungen und wachsende Komplexität der Arbeit und der organisatorischen Arbeitsbeziehungen sowie Organisationszusammenhänge fordern immer mehr reflexive Arbeitsanteile. Dennoch stehen Tun und Reflektieren in Spannung. Den reflexiven Anteilen und Seiten beruflicher Arbeit ihren wichtigen Platz einzuräumen und sie bewusst zu gestalten, gehört also zu den elementaren Kompetenzen, welche Fach- und Führungskräfte brauchen.
Reflexive Beziehungen und Zeitinseln in der beruflichen Organisation zu schaffen und die Arbeit mit KollegInnen und/oder Vorgesetzten zu reflektieren, erscheint verlockend. Wenn die berufliche Tätigkeit ohnehin bereits hohe reflexive Anteile hat, zum Beispiel Beratungseinheiten im Team über die Diagnose der zu behandelnden Probleme in Forschung, Technik oder sozialer Arbeit, liegt dieser Weg, spezielle reflexive Zeitinseln zu schaffen, auf der Hand. Tatsächlich kann gemeinsame reflexive Arbeit im Berufsalltag sehr gute Dienste leisten, für die einzelnen Arbeitenden, für die Qualität der Arbeit, für die berufliche Organisation. Aber auch hier lauern Fallstricke: Arbeit bleibt trotz Teams und gutem Arbeitsklima auch ein Ort der Konkurrenz. Vorgesetzte bleiben, auch wenn sie ihre MitarbeiterInnen in deren beruflicher Reflexion unterstützen, weiterhin Vorgesetzte mit allen Rechten und Pflichten.
Leitungssupervision Coaching
Folgt eine Fach- oder Führungskraft dieser inneren Haltung nach ausgewogener Reflexion der eigenen Rollen, Funktionen, Tätigkeiten, Wünschen und Perspektiven, werden die Vorteile professioneller Selbstreflexion mit Hilfe ausgebildeter SupervisorInnen und Coachs ersichtlich: Sie helfen den Gesichtskreis zu erweitern, wo blinde Flecken, persönliche Beziehungen oder berufliche Abhängigkeits- und Konkurrenzverhältnisse die Reflexion erschweren oder blockieren. Außerdem erlaubt Supervision den angemessenen Umgang mit der psychischen Dynamik vieler Reflexionsprozesse, die auch erst gelernt sein will. Die reale Situation des Alleinseins und Alleinentscheidens spiegelnd, wird die entsprechende Supervisionsform meist die der Einzelsupervision bzw. des Einzelcoachings sein. In der Supervisionskultur wurde Coaching zunächst als spezifische Form der Leitungssupervision verstanden. In den vergangenen Jahren hat es sich zunehmend – in Abgrenzung zu sonstigen beratenden Dienstleistungen mit dem Etikett Coaching – zu einem eigenständigen Feld entwickelt, mit spezifischer Fokussierung, Methodik und Arbeitsstrategie. Coaching hat einen hohen Beratungsanteil, eine betont zielorientierte innere Haltung und zahlreiche Trainingselemente. Es konzentriert sich auf Themen wie Gestaltung der Führungsrolle, Karriereplanung, Management von Veränderungsprozessen oder von Krisensituationen. Zielgruppen sind Führungskräfte, Personen in beruflich verantwortungsvollen Positionen sowie Personen in berufsbezogenen Veränderungs-, Krisen- und Neuorientierungssituationen.
„Vorgesetzte als Coach“
Führungskräften, die ihre eigene Managementtätigkeit angemessen reflektieren, gelingt es besser, auch die Reflexionsnotwendigkeiten und -wünsche ihrer MitarbeiterInnen aufzugreifen und zu organisieren. Der oder die „Vorgesetzte als Coach“ ist bis zu einem gewissen Grad auch möglich und manchmal Teil einer guten Firmenkultur. Wer als Führungskraft selbst Coaching für MitarbeiterInnen anbieten will, sollte sich einer spezifischen Ausbildung unterziehen, welche u. a. Elemente der eigenen Persönlichkeitsentwicklung, Eigenkontrolle, Gruppendynamik aber auch Methoden des Coaching umfasst.
Aber das stets „offene Ohr“ der oder des Vorgesetzten ist auch eine zweischneidige Angelegenheit. Keinesfalls sollte es die autonom organisierte, von einem unabhängigen Coach oder einer Supervisorin geleitete, aber von der Firma bezahlte Reflexion ersetzen. Denn dass die Kommunikation mit dem Chef/der Chefin ein wichtiger Punkt ist, aber diese Debatte nicht gerade von der Führungskraft selbst geleitet werden sollte, liegt auf der Hand. Führungskompetenz heißt in diesem Zusammenhang vor allem, auch die eigenen Grenzen zu erkennen und im Unternehmen oder in der Organisation für Rahmenbedingungen und ein Klima des Vertrauens und der selbstbestimmten und selbstbewussten Organisierung professionell begleiteter Reflexion zu sorgen.
In der Vielfalt des Angebots an professioneller Reflexion durch Supervision und Coaching bietet die 1994 gegründete Österreichische Vereinigung für Supervision (ÖVS) Orientierung bezüglich der unterschiedlichen Methoden und Garantien hinsichtlich der Qualität. Sie versteht sich als Garant für professionelle Supervision, qualitätsvolles Coaching bzw. neuerdings auch Organisationsentwicklung/Organisationsberatung und leistet im Sinne dieser Aufgabe vielschichtige fachliche und berufspolitische Entwicklungsarbeit. Durch die ÖVS erfolgt die Anerkennung der qualifizierten Ausbildung ihrer mehr als 1.200 Coachs, SupervisorInnen und BeraterInnen. Über die Mitgliedschaft in der ANSE, der Vereinigung nationaler Verbände in Europa, ist die ÖVS den europäischen Standards verpflichtet. Gerade Führungskräfte bewegen sich innerhalb ihrer Konzerne, aber auch der globalen Märkte in unterschiedlichen Kulturen und damit auch Reflexionsumgebungen. Umso bedeutungsvoller wird damit das von der EU geförderte Projekt ECVision, das von ANSE initiiert und vom Rat der Europäischen Fach- und Führungskräfte EUROCADRES unterstützt wird. Es hat das Ziel, die Vergleichbarkeit und Bewertung der Kompetenzen in Supervision und Coaching europaweit zu fördern, einen Austausch zwischen Expertinnen und Experten, Auftraggeberinnen und Auftraggebern, Kundinnen und Kunden mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Hintergründen zu organisieren und den Weg zur Einführung europaweit gültiger Qualitätsausweise zu ebnen. Reflexion und Selbstreflexion kann man also sowohl als innere Haltung, als Führungskompetenz, als Managementinstrument, als Managementtechnik begreifen. Es ist aber viel komplexer: Reflexion und Selbstreflexion sollen noch viele andere Bereiche, Instrumente, Techniken und Methoden des Managens durchdringen und beeinflussen. So gesehen sind diese Kompetenzen ein Kernstück gesunden, sozialen, nachhaltigen und verantwortungsvollen Managements.
Österreichische Vereinigung für Supervision: www.oevs.or.at
Leonardo-Projekt A European System of Comparability and Validation of Supervisory Competences (ECVision): www.anse.eu/ecvision.html
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor gerald.musger@gpa-djp.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Kann ein Konzern, der für mehrere Ölkatastrophen verantwortlich ist, der in Bürgerkriege und Waffenhandel verwickelt war und mit Militärregimen kooperiert1, einen CSR-Preis bekommen? BP, viertgrößter Konzern der Welt, wurde 2007 zum nachhaltigsten Unternehmen weltweit gekürt. Kein Einzelfall, gleich mehrere der im neuen Schwarzbuch Markenfirmen angeführten Namen finden sich auch auf Listen mit CSR-Preisen. Für Insider nicht wirklich verwunderlich, denn allgemein gehaltene, substanzlose Formulierungen und Leitfäden, die oft kaum über das hinausgehen, was vom Gesetzgeber ohnehin vorgeschrieben ist, sind typisch für die CSR-Branche.
CSR ist ein „Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren“ – so die Definition der EU-Kommission 2001. Stakeholder, also die verschiedenen Interessengruppen (Kundinnen und Kunden, Aktionärinnen und Aktionäre, Lieferantinnen und Lieferanten, MitarbeiterInnen etc.), spielen im CSR-Konzept eine große Rolle. Doch welche dieser Gruppen wird tatsächlich wann und wie einbezogen? Diese Gewichtung kann jedes Unternehmen für sich selbst vornehmen.
Greenwashing
Sozial, nachhaltig und umweltfreundlich, das klingt gut, braucht aber anspruchsvolle Kriterien und Benchmarks, damit wirklich etwas passiert. Abgesehen von einzelnen engagierten KMUs ist CSR meist der Versuch der großen Konzerne, dem neoliberalen Kapitalismus eine grüne bzw. nachhaltige Fassade zu geben – als Antwort auf konzernfeindliche Kampagnen, die die gesellschaftliche Akzeptanz eines Unternehmens bedroht haben. Außerdem: Die meisten Unternehmen tun irgendetwas Nützliches für die Gesellschaft, das über gesetzliche Anforderungen hinausgeht. In der Regel geht es dabei aber sehr wohl direkt oder indirekt wieder um Profit: Energiesparmaßnahmen etwa schonen nicht nur die Umwelt, sondern auch das Budget. Wieder andere Maßnahmen – entsprechend kolportiert – helfen, das Image zu verbessern und beleben so das Geschäft.
Ein glänzendes Image hat viele Vorteile: „Verantwortungsvolle“ Unternehmen, die sich an (selbst definierte!) Branchencodes und Zertifikate halten, müssen weniger reguliert werden. „Immer stärker zeigt sich die Wirtschaft samt ihren Verbänden von der Schokoladenseite und ergreift die Initiative in allen Feldern der Nachhaltigkeit. Damit gelingt es ihr, die Themen vorzugeben und entsprechend ihren Wünschen zu gestalten. Gleichzeitig werden aber notwendige gesetzliche Regelungen – manchmal mit enormem Lobby-Aufwand – mit allen Mitteln verschleppt, verwässert oder ganz verhindert“, beschreibt die NeSoVe-Broschüre „CSR – Schein oder Nichtschein – Das ist hier die Frage“ die vorherrschende Praxis.
Bluewashing
Die Aussagekraft diverser Gütesiegel tendiert daher gegen Null: Das EU-Umweltmanagement-System EMAS (Eco Management and Audit System) etwa lässt den Betrieben weitgehend Gestaltungsfreiheit. Es werden zwar Prozesse festgelegt, das zu erreichende Niveau kann aber frei gewählt werden. Dementsprechend zählen auch Produzenten von Luxusautos mit hohem Benzinverbrauch und AKW-Betreiber zu den EMAS-Zertifizierten. Der UN Global Compact wurde 1999 unter Kofi Annan entwickelt. Seine Anforderungen entsprechen zum Teil den ILO-Kernarbeitsnormen bzw. geben im Wesentlichen die Einhaltung elementarster Menschenrechte sowie bestehender Gesetze vor. Die Niedrigschwelligkeit der Prinzipien des Global Compact wurde von vielen NGOs heftig kritisiert. Mit dem sogenannten Bluewashing (durch ein UN-Zertifikat oder Gütesiegel) können sich Unternehmen relativ einfach ein nachhaltiges Image zulegen. Beim ISO 26000 Guidance on Social Responsibility gibt es zwar einige positive Aspekte, aber zum Teil stellen sie für entwickelte Länder wie Österreich sogar einen Rückschritt gegenüber bestehenden gesetzlichen Regelungen dar. CSR-Zertifizierungen, Schulungen etc. sind seit Jahren ein boomender Geschäftszweig, viele Menschen verdienen damit viel Geld. CSR-Auszeichnungen und Gütesiegel machen sich für die Unternehmen bezahlt. „Diese Firmen verschaffen sich so Zutrittsrechte zu sogenannten nachhaltigen Investment- und auch Pensionsfonds, ein Milliarden-Geschäft“, so Marieta Kaufmann, Geschäftsführerin des Netzwerks Soziale Verantwortung (NeSoVe). CSR basiert auf Freiwilligkeit, ein Faktum, das NGOs immer schon kritisiert haben. 2011 hat die EU in einer neuen Definition, nach der CSR kurz und bündig als „Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“ bezeichnet wird, bloß scheinbar die Freiwilligkeit entfernt, denn in der Mitteilung wurde festgehalten, dass bei der Entwicklung von CSR die Unternehmen selbst federführend sein sollen. Behörden sollen allenfalls unterstützen.
CSR als Minderheitenprogramm
Bis dato jedenfalls ist soziale Verantwortung auch hierzulande eher für Großunternehmen und internationale Konzerne ein Thema – und selbst das in eher bescheidenen Ausmaßen. Lediglich 20 Prozent der österreichischen Top-Unternehmen und nur sieben der 17 umsatzstärksten öffentlichen Unternehmen erstellten 2011 Nachhaltigkeitsberichte. Wobei sich hier wieder die Frage stellt: Nach welchen Kriterien erfolgen derartige Berichte? Denn auch beim Berichtswesen kontrolliert die Industrie sich weitgehend selbst. Unter den Stakeholdern der 1997 gegründeten Global Reporting Initiative (GRI) finden sich hauptsächlich Großkonzerne und Beratungsfirmen. 2011 beschloss der Ministerrat im Rahmen der Österreichischen Strategie Nachhaltige Entwicklung (ÖSTRAT) auch die Erstellung eines nationalen CSR-Aktionsplanes. Eine ministerielle Steuerungsgruppe sollte gemeinsam mit bestehenden Organisationen wie NeSoVe und RespACT, der Unternehmensplattform für CSR und nachhaltige Entwicklung, entsprechende Dokumente erarbeiten. NeSoVe kritisiert sowohl die bisherige Arbeitsweise als auch die Ergebnisse. „Insbesondere haben wir einen ernsten Diskurs über konkrete Inhalte gesellschaftlich verantwortlicher Handlungsweisen vermisst. Und die bisherigen Ergebnisse lassen befürchten, dass der CSR-NAP die staatliche Legitimation der üblichen CSR-Politik nach neoliberalem Konzept wird“, erklärt Marieta Kaufmann.
Schandfleck des Jahres
NeSoVe hat in diesem Zusammenhang Ende 2011 die Veranstaltungsreihe „Der ANDERE Dialog“ gestartet, wo entsprechende Forderungen an die Politik und die Wirtschaft erarbeitet werden sollen. Denn CSR-Politik muss zuerst an den Problemen und Bedürfnissen der Menschen ansetzen. Ein österreichischer CSR-Aktionsplan sollte konkrete Ziele in allen relevanten Handlungsfeldern, also anspruchsvolle Indikatoren sowie Benchmarks auf hohem Niveau, definieren und die Maßnahmen zu deren Erreichung festlegen. Soziale, ökologische und ökonomische Verantwortung in sämtlichen Bereichen sollte für alle Unternehmen verpflichtend sein. Denn schließlich kann es durchaus vorkommen, dass etwa ein Bioladen seine Angestellten ausbeutet. Es geht nicht um einzelne Leuchtturmprojekte, sondern um gesellschaftliche Verantwortung und Nachhaltigkeit im Kerngeschäft. Übrigens sind viele Unternehmen durchaus für verbindliche Regelungen. NeSoVe hat 2008 gemeinsam mit der Uni Graz und dem IFES-Institut 600 Unternehmen zu CSR befragt: Über 90 Prozent der Betriebe wünschten sich verpflichtende und transparente Überprüfungen sozialer und ökologischer Leistungen. Rund drei Viertel sprachen sich für die Schaffung international verbindlicher Mindeststandards sowie für eine einklagbare Rechenschaft von Unternehmen für ihre gesamte Wertschöpfungskette aus. Allerdings ist zu befürchten, dass die meisten Unternehmen dabei die Fortsetzung des Status quo im Hinterkopf hatten. Wirkliche Unternehmensverantwortung setzt aber einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Bis es so weit ist, haben NeSoVe und andere NGOs noch einiges vor sich, wie etwa die Vorbereitung für den Schandfleck des Jahres, den 2012 der Handelsriese KiK (Jurypreis) und Mayr-Melnhof Karton (Publikumspreis) erhalten haben.
1 Lobo K. W., Weiss H. : Das neue Schwarzbuch Markenfirmen, Ullstein 2010.
CSR-Broschüre, Kriterienkatalog etc. unter: www.netzwerksozialeverantwortung.at
Schreiben Sie Ihre Meinungan die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Im Visier der Rendite-Jagdgesellschaft
Der klassische Eigentümerkapitalist ist passé. Einem zeitgemäß geführten Kapitalmarktunternehmen genügt es nicht, unaufgeregt zu wirtschaften. Es reicht nicht, mit Produkten und Dienstleistungen wettbewerbsfähig zu sein. Profitmaximierung um jeden Preis ist angesagt. Die Treiber dieser einseitigen Unternehmensentwicklung sind mächtige Finanzinvestoren, um die nach allen Regeln der Kunst gebuhlt wird. Eine neue Wettbewerbsdimension ist eröffnet: Das Rennen um den smarten Fondsmanager, so gesichtslos und anonym, dass er nicht einmal karikaturfähig ist. Mit einem eigens geschaffenen Investor Relations Management und spektakulären Roadshows sollen vielversprechende Ertragsfantasien geweckt werden. Die hohen Erwartungen gehen allerdings nicht immer in Erfüllung. Das hat nicht nur die Finanzkrise 2008, sondern schon das Platzen der Dotcom-Blase im März 2000 gezeigt: Dem Herdentrieb folgend, wurde in die boomende New Economy investiert. Der Mythos eines neuen ökonomischen Paradigmas, das von den digitalen Technologien verkörpert wurde, wirkte stärker als fundamentale betriebswirtschaftliche Daten.
Kapitalmarkt und Realwirtschaft
Neben der Realwirtschaft hat sich so immer mehr ein Paralleluniversum herausgebildet. Der Unternehmensberater Rudi Wimmer spricht in diesem Zusammenhang von einer kollektiven Sehschwäche, die nur auf Grundlage sich selbst verstärkender Regelkreise zu verstehen ist: Vorstände, Analysten, Investmentbanker und Investoren immunisieren sich solange es nur geht wechselseitig gegen die Erschütterung ihrer Bilder. Die unterschiedlichen Logiken von Kapitalmarkt und Realwirtschaft haben massive Auswirkungen auf die Führungsstruktur von Unternehmungen.
Quersubventionierungen zwischen ertragsstarken und ertragsschwächeren Geschäftsbereichen werden zu Gunsten der Konzentration auf das Kerngeschäft aufgegeben. Dafür soll dort die Marktposition gefestigt und ausgebaut werden. Randleistungen werden outgesourct, um das Portfolio den Erwartungen der Analysten entsprechend zu gestalten. Dem gleichen Ziel dienen die – periodisch angekündigten – Personalabbauprogramme, die den ernsten Willen zur Wertsteigerung dokumentieren sollen.
Ökonomische Radikalität
Die eindimensionale Ausrichtung am Shareholder Value führt zu einer Spirale der wechselseitigen Überbietung von Gewinn- und Rentabilitätszielen. Die an deren Erfüllung knüpfenden Boni motivieren das Management zu immer gewagteren Strategien und kurzfristigem Denken. Der Vorstand als Getriebener des Aktienmarkts versucht alles, um den Wunsch nach steigenden Kursen zu befriedigen. Die Führungsebenen unter dem Top-Management (Geschäftsbereiche, Tochtergesellschaften) sind angehalten, die versprochenen Ziele kaskadenartig auf die letzte Business Unit herunterzubrechen. Das schafft, so Rudi Wimmer, eine Führungskonfiguration an der Spitze von börsennotierten Unternehmen, die die Glaubwürdigkeit des Führungsgeschehens zwischen den obersten Ebenen untergräbt, zu wechselseitigen Schuldzuweisungen einlädt, die letztlich gelingende Kommunikation über divergierende Realitätseinschätzungen als äußerst unwahrscheinlich erscheinen lässt. Der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer neuen ökonomischen Radikalität des Managements. Diese Führungsphilosophie schadet den Unternehmen nicht nur in der Langfristperspektive, sondern vernachlässigt die Interessen der Stakeholder, also all jener Anspruchsgruppen, die von Unternehmensaktivitäten betroffen sind (Kundinnen und Kunden, Beschäftigte, Volkswirtschaft).
EigentümerInnen profitieren
Die Gewinner des Shareholder-Value-Managements sind neben hochdotierten Top-Vorständen insbesondere Aktionärinnen und Aktionäre sowie EigentümerInnen, sie profitieren überdurchschnittlich von den erwirtschafteten Konzerngewinnen. Die Eigenkapitalrentabilitäten der großen österreichischen Kapitalgesellschaften reichen in Hochkonjunkturphasen bis zu 15 Prozent.
Sogar in Krisenzeiten konnten hervorragende Rentabilitäten von im Schnitt zehn Prozent erzielt werden. Das vielzitierte Risiko des Unternehmertums wird damit mehr als großzügig abgegolten. Während EigentümerInnen und Vorstände profitieren, nehmen die Arbeitsbelastungen für die Beschäftigten zu. Diese Entwicklungen bestätigt der „Strukturwandelbarometer“, eine AK-Betriebsrätinnen- und -Betriebsrätebefragung vom Sommer 2013.
Der Arbeitsalltag wird immer mehr von einer Trias aus steigendem Zeitdruck, zunehmenden Flexibilisierungsanforderungen (passend dazu die Diskussion um den „Zwölfstundentag“) und der Verschlechterung des Betriebsklimas bestimmt. Betriebsrätinnen und -räte als InsiderInnen im Unternehmen beobachten außerdem, dass Outsourcing – die Auslagerung von Tätigkeiten an Fremdfirmen – in den meisten Fällen nicht einmal ökonomisch sinnvoll ist. In einem Drittel der Unternehmen hat sich das Betriebsklima verschlechtert, was im überwiegenden Ausmaß (83 Prozent) mit negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens verbunden ist. Der Druck auf die Beschäftigten wächst also massiv: Scharfe Einsparungsmaßnahmen und prekäre Arbeitsverhältnisse führen zu Polarisierung und schleichender Entsolidarisierung der Belegschaft.
Messbares Stakeholder-Management
Strukturwandel nach dem Shareholder-Value-Prinzip hat also seinen Preis: Die Work-Life-Balance gerät aus dem Gleichgewicht und das Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken macht auch vor den Beschäftigten nicht mehr Halt. Permanente Umstrukturierungen sorgen zusätzlich für Unsicherheit in der Belegschaft. Diese Entwicklungen zeigen einmal mehr eindringlich, dass es rasch eine Abkehr vom Shareholder-Value-Kapitalismus braucht: Berücksichtigt werden müssen die Interessen aller Stakeholder und zwar mit messbarem Erfolg. Das Shareholder-Value-Prinzip funktioniert ja deshalb so perfekt, weil nach einem ausgeklügelten Kennzahlensystem gemessen, gesteuert und honoriert wird. Darin liegt auch der Hauptgrund für das bisherige Scheitern des Stakeholder-Ansatzes in der Managementpraxis: What’s not measured, isn’t done!
„Alles für den Investor“
Ein wichtiger Schritt muss deshalb sein, nicht finanzielle Leistungsindikatoren in die Unternehmensphilosophie und in die Anreizstrukturen der Vorstandsvergütung zu implementieren.
Derzeit setzt die Arbeitgeberseite alles daran, dass die Kriterien für das Nachhaltigkeits-Reporting weiterhin nicht standardisiert und unverbindlich bleiben. So wird erfolgreich verhindert, die Auswirkungen der Unternehmensführung auf die Beschäftigten und die Volkswirtschaft zu messen – und so steuert der elitäre Zirkel von Vorständen sowie Aufsichtsrätinnen und -räten unbekümmert nach dem Motto „Alles für den Investor“ weiter …
Schreiben Sie Ihre Meinung an die AutorInnen christina.wieser@akwien.at und ulrich.schoenbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Der AK-Strukturwandelbarometer ist ein Projekt der Abteilungen Betriebswirtschaft, EU und Internationales, Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik und ist unter tinyurl.com/olmtxzz abrufbar.
]]>Die Perspektiven, aus denen diese Veränderungen wahrgenommen werden, unterscheiden sich zum Teil jedoch erheblich voneinander. Einige große Unternehmen sehen sich in einer Vorreiterrolle und zeichnen eine neue Arbeitswelt, die uns von vielen Problemen – wie Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie – befreien soll. Feste Arbeitsplätze, vorgegebene Abläufe, traditionelle hierarchische Führung und geregelte Arbeitszeiten erscheinen in dieser neuen Arbeitswelt wie Relikte aus alten Zeiten. Doch was bringt die „neue Arbeitswelt“, und können die neuen Möglichkeiten für ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen positiv gestaltet werden?
Informatikunternehmen als Vorreiter
Vorreiter bei Visionen zur neuen Arbeitswelt sind seit vielen Jahren große Unternehmen – vornehmlich aus dem Informatikbereich. Vor bereits fast 20 Jahren sorgte Desksharing als Idee dieses Sektors für großes Aufsehen. Was hat sich seitdem getan?
In Österreich machte zuletzt Microsoft mit seinem Konzept des „neuen Arbeitens“ von sich reden. Im neuen Microsoft-Büro in Wien wird auf aktuellste technologische Ausstattung, freie Arbeitsplatzwahl, Vertrauensarbeitszeit, zahlreiche durchdesignte Meetingräume und eine Rutsche gesetzt. Mit Erfolg, denn Microsoft wurde bereits als „Great Place to Work“ und „Frauenfreundlichster Betrieb“ ausgezeichnet. Auch Google ist schon mehrfach zum beliebtesten Arbeitgeber gewählt worden: freie Snacks und Getränke, farbenfrohe Büros, Tischfußball, Lounge, Spielekonsolen und Heimarbeit nach Belieben. Vor einer vorschnellen Stilisierung zum Vorbild für die zukünftige Arbeitswelt sollte man jedoch einige Implikationen dieser Arbeitskonzepte kritisch hinterfragen.
My office is where I am!
Durch neue Kommunikationsmittel wie Smartphones verliert die physische Anwesenheit zunehmend an Bedeutung, denn Arbeit kann immer und überall erledigt werden. So beginnt die Arbeit vielfach schon vor dem regulären Arbeitsbeginn mit der Beantwortung von E-Mails auf der Zugfahrt ins Büro oder mit dem Conference Call am Weg zum Kindergarten. Der Arbeitstag endet dann mit dem letzten Abruf der dienstlichen E-Mails im Bett. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt dadurch zusehends. Dass diese Entwicklung der permanenten Erreichbarkeit und zeitlichen Flexibilität zu psychischen Belastungen führen und schlussendlich auch krank machen kann, wird klar, wenn man bedenkt, dass die Regeneration der eigenen Ressourcen dabei vielfach zu kurz kommt. Im Gegensatz zu den technischen Gadgets lässt sich das Gehirn nicht abschalten, sondern macht als Arbeitsmittel Wissen und Inhalte durchgehend abrufbar. Die neuen Technologien verstärken diesen Zusammenhang, weil sie das Arbeitsmittel Gehirn einer permanenten Abrufbarkeit auch praktisch zugänglich machen.
Freie Platzwahl bitte
Ein weiterer Bereich, in dem sich Trends in Richtung „neues Arbeiten“ erkennen lassen, ist die Arbeitsstättengestaltung. Unternehmen versuchen durch architektonische und funktionelle Maßnahmen den Erlebnis-, Wohlfühl- und Kommunikationsfaktor am Arbeitsplatz zu erhöhen. Dazu gehört auch eine offene Arbeitsplatzgestaltung bzw. in weiterer Folge die Abschaffung fester Arbeitsplätze. Dem Mitarbeiter sollen je nach Art der Arbeit und nach Stimmung verschiedene Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, wie Meetingräume, Großraumbüros oder die Cafeteria. Diese Maßnahme soll die Kommunikation vor allem zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen erhöhen – im besten Fall sitzt man jeden Tag neben anderen Kollegen und Kolleginnen. Schon der bisherige Arbeitsalltag vieler ArbeitnehmerInnen ist vor allem durch Projekt- und Teamarbeit und durch Arbeit in unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Kontexten geprägt. Dies erfordert eine große emotionale und soziale Flexibilität – nicht nur weil unterschiedliche Arbeitsziele, sondern auch ganz verschiedene Persönlichkeiten aufeinandertreffen. Insbesondere das Konzept des freien Arbeitsplatzes stellt eine Verschärfung dieser Situation dar, denn es gibt für die Beschäftigten keinen Rückzug mehr aus der Kommunikation und die mitunter notwendige Ruhe und Zurückgezogenheit beim Arbeiten fehlt.
Mehr Autonomie – mehr Druck?
Eng mit der Freiheit der Arbeitsplatzwahl und dem Verschwimmen der zeitlichen Grenzen hängt die Entwicklung neuer Managementformen zusammen, die von einer direkten Befehlsstruktur abgehen und sich stattdessen stark an Ergebnissen orientieren. Wie man eine Aufgabe erledigt und wie lange man benötigt, tritt dabei in den Hintergrund. MitarbeiterInnen und Vorgesetzte vereinbaren vielmehr spezifische Ergebnisse und Ziele, die in einem bestimmten Zeithorizont zu erreichen sind. Dabei wird dem/der ArbeitnehmerIn eine größere Selbstständigkeit inklusive erweiterten Handlungs- und Entscheidungsspielräumen zugestanden. Der direkte Zwang im Alltag fällt zwar weg, aber es entsteht für viele Betroffene eine paradoxe Situation, nämlich „mehr Druck durch mehr Freiheit“1. Es obliegt nicht mehr der Führungskraft den Rahmen abzustecken, sondern Selbstverantwortung steht im Vordergrund. Der/die ArbeitnehmerIn muss selbst entscheiden, wann er oder sie die Kommunikationsmittel ausschaltet, wann er oder sie arbeitet und wann die Erreichbarkeit für Kollegen, Kolleginnen und Vorgesetzte notwendig ist. Der positive Zuwachs an Freiheit und Selbstbestimmung kann daher auch in Überforderung und Selbstausbeutung münden.
Im Interesse der ArbeitnehmerInnen?
Die Aufgabe der Arbeitnehmerinteressenvertretungen in den nächsten Jahren wird sein, auf die neuen Herausforderungen zu reagieren und die Weichen für ein gesundes Arbeitsleben zu stellen. Es muss einen Ausgleich von ArbeitnehmerInnen- und ArbeitgeberInnenflexibilität geben und ebenso Maßnahmen zur Erhaltung der psychischen und physischen Gesundheit.
Diese Aufgabe wird angesichts der beschriebenen Herausforderungen keine leichte sein. Viele der vorgeschlagenen neuen Arbeitsformen vereinen nämlich sowohl positive als auch negative Aspekte, wenn es um die Bestimmung von „guter Arbeit“ geht. Die Abwägung lässt sich oft nur für den Einzelfall vornehmen, denn dazu sind viele Parameter wichtig, wie Branche, tatsächliche Tätigkeit, private Lebensumstände. Anzumerken ist auch, dass die bisher gelebten Konzepte zwar medial großes Aufsehen erregt haben, aber fraglich ist, ob sie sich tatsächlich für eine breite Umsetzung in der gesamten Arbeitswelt eignen. Denn erstens handelt es sich bei den Vorreitern um Unternehmen, die Experimente auch aufgrund großer finanzieller Ressourcen wagen können. Zweitens bieten sich auch die Tätigkeitsfelder dieser Unternehmen für das „neue Arbeiten“ an. Eine sehr hohe Technikaffinität und überwiegend projektbezogenes Arbeiten in verschieden zusammengesetzten Gruppen lässt sich aber nicht auf die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse übertragen.
Die Conclusio für die Arbeitnehmerinteressenvertretungen bleibt daher ambivalent: Monitoring der neuen Entwicklungen und Aufklärung über die Gefahren. Auf der anderen Seite: Die Herausforderung neuer Konzepte annehmen und aus den zum Teil auch positiven Erfahrungen der schon jetzt betroffenen ArbeitnehmerInnen lernen.
1 S. dazu schon Glißmann/Peters: Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen (2001)
Mehr Infos: Strukturwandelbarometer AK: tinyurl.com/orw3osq
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin charlotte.reiff@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Für Manuela Vollmann und Daniela Schallert besteht kein Zweifel daran, dass es sich lohnt, eine Führungsposition zu zweit auszuüben. Top-Job-Sharing nennt sich das: Arbeitsteilung an der Spitze, im Falle der beiden Geschäftsführerinnen des abz*austria sogar in Teilzeit.
Die NGO setzt sich für die Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft ein, unterstützt Firmen unter anderem beim „Karenzmanagement“ oder bietet Weiterbildungen für Frauen an. Sitz der NGO ist in Simmering, das Büro der beiden Chefinnen liegt im dritten Stock. Die Tür steht offen und wenn man den Raum betritt, hat man die beiden, die vor den Fenstern an der Rückseite des Raums hinter ihren Schreibtischen sitzen, sofort im Blick. Während die eine sich mit Mitarbeiterinnen bespricht, sitzt die andere vor dem Computer und erledigt dort noch ein paar Dinge. Der Besprechungstisch steht an der Längsseite des Büros vor dem Schreibtisch von Manuela Vollmann, gleich hinter der Tür. Das Büro ist hell und freundlich eingerichtet. Manuela Vollmann ist für die Kommunikation nach außen und den Vertrieb zuständig, während Daniela Schallert sich um interne Themen wie Finanzen oder Personal kümmert. Frau Vollmann arbeitet Vollzeit, Frau Schallert zwischen 27 und 35 Stunden, je nach Bedarf. Dabei managen sie eine NGO, für die immerhin fast 100 Angestellte und 30 selbstständige MitarbeiterInnen arbeiten. Die beiden wirken wie ein sehr eingespieltes Team, sie ergänzen sich immer wieder, erzählen Anekdoten und legen dar, warum ihr Modell auch für andere Firmen ein Vorbild sein könnte.
Arbeitsteilung an der Spitze
Der Anfang von Top-Job-Sharing bei abz*austria ist eng damit verbunden, dass der Verein vor 17 Jahren auf einmal deutlich gewachsen ist. Manuela Vollmann war damals bereits Geschäftsführerin und suchte angesichts der vielen neuen Herausforderungen den Austausch – „um entscheidungsfähig zu bleiben“, wie sie rückblickend sagt. „Ich habe mir damals mit einer Kollegin ein Büro geteilt und bin draufgekommen, dass ich mit ihr Entscheidungen vorbespreche.“ Die Kollegin war Schallerts Vorgängerin Helene Schrolmberger, die immer mehr in Entscheidungen involviert war, obwohl das weder in Funktion noch in Bezahlung einen Niederschlag gefunden hatte. „Da habe ich sie gefragt, ob wir das nicht offiziell machen sollen“, berichtet Vollmann. So avancierte Schrolmberger zur zweiten Geschäftsführerin des abz*austria und übte diese Funktion zehn Jahre lang gemeinsam mit Manuela Vollmann aus, bis ihr Daniela Schallert im Jahr 2007 nachfolgte.
Sinn machte diese Arbeitsteilung an der Spitze erst recht, als Vollmann mit 42 Jahren überraschend noch einmal schwanger wurde. Durch die geteilten Führungsaufgaben konnte sie den Wiedereinstieg in ihre Führungsposition schrittweise gestalten, ohne sie ganz aufgeben zu müssen. „Wenn die Stelle nachbesetzt worden wäre, hätte ich nicht nach vier Monaten wieder zurückkommen können“, sagt sie. Manuela Vollmann ist davon überzeugt, dass auch größere Unternehmen gut beraten wären, sich solche Modelle zu überlegen, wenn sie schnell gut qualifizierte Frauen haben wollen, nicht zuletzt in Führungspositionen.
Teilzeitarbeit, aber anders
Nach den Vorteilen des Modells gefragt, zählt Vollman Punkte auf, die sonst oft als Argumente gegen Teilzeitarbeit angeführt werden, wie „Schnelligkeit der Entscheidungen“ oder „Druck rausnehmen“. Es sei nämlich nicht so, wie man landläufig glaube, dass die Koordinierung aufwändiger sei, betont Vollmann. Vielmehr müssten sie sich nur über die großen Linien und Strategien verständigen, an denen sich die Einzelentscheidungen immer orientieren.
Sehr bewusst haben sie auch ihr Büro entsprechend eingerichtet, um die Kommunikation zu erleichtern. Die Tische sind wie die Spitze eines Pfeils angeordnet und das hat auch einen Sinn, wie Daniela Schallert erklärt: „Allein schon über das Mithören eines Telefonats bekomme ich viel mit, oder auch wenn Kolleginnen dastehen und sich mit Manuela Vollmann besprechen.“ Entscheidungen wiederum können deshalb schneller getroffen werden, weil nicht immer beide Chefinnen im Büro sein müssen.
Vertrauen ist dabei ein Schlüsselwort. „Das muss sich natürlich gut einspielen, weil eine Konkurrenzsituation kann man da nicht haben“, hält Vollmann fest. Sie ergänzt: „Deshalb kommen wir immer wieder auf das Thema Macht zu sprechen: Wir wollen wohl Macht, aber wir teilen sie auch.“ Nicht zuletzt sei Top-Job-Sharing auch eine Möglichkeit, „Potenziale zu heben“, wie es Manuela Vollmann nennt. Gemeint ist, dass Personen in Führungsebenen befördert werden, ohne dass sie deshalb gleich allein ins kalte Wasser springen müssen.
Ein Beispiel dafür ist nicht zuletzt Daniela Schallert, da sie so die Chance bekam, in die Führung aufzusteigen: „Ich hatte damals eine zweijährige Tochter und eine Geschäftsführung alleine hätte ich nicht übernommen.“
Doppelter Boden
Es ist ein Vorbehalt, den beide in- und auswendig kennen: Wann sind Sie denn dann gemeinsam im Büro? Wann haben Sie Überschneidungen? Dem halten sie entgegen, dass es mit der Präsenz der Top-Manager oft nicht weit her ist: „Das ist ein altes Faktum, dass die Oberbosse sehr wenig physisch anwesend sind, etwa weil sie noch fünf Aufsichtsratsjobs nebenbei haben und vielleicht noch ein politisches Mandat“, so Schallert. In größeren Unternehmen gebe es außerdem StellvertreterInnen und Stabstellen, die den Chefs zuarbeiten, sodass sie eben nicht immer da sein müssen. Ein Argument gegen eine Doppel-Spitze sehen Schallert und Vollmann daher nicht. Im Zusammenspiel mit der zweiten Führungsebene lasse sich der Laden auch zu zweit schupfen. Auch das Argument der Doppelgleisigkeit lassen sie nicht gelten, vielmehr drehen sie es um: „Das ist ein doppelter Boden“, betont Schallert. „Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied“, ergänzt Vollmann. Denn wenn einer der beiden etwas zustieße, bliebe die Führung des Unternehmens trotzdem weiter gewährleistet.
VorreiterInnen
Es gibt inzwischen mehrere Betriebe, die sich mit Top-Job-Sharing beschäftigen und es auch schon praktizieren. Wenig überraschend sind es vor allem IT-Unternehmen, in denen Fachkräfte rar werden und die sich vor diesem Hintergrund intensiver um weibliche Arbeitskräfte bemühen, wie etwa IBM oder Microsoft. Auch bei der Rechtsanwaltskanzlei Northcote.Recht in Wien wird dieses Modell praktiziert.
Als anderes Beispiel nennt Manuela Vollmann den Konzern Unilever, bei dem sich zwei Mitarbeiterinnen die Leitung der Abteilung „Kapitalanlagen und Finanzen“ geteilt haben – und das schon vor bald zehn Jahren. Auch schon im Jahr 2005 findet man im Harvard Business Review einen Bericht von zwei Bank-Managerinnen, die sich ebenfalls eine Führungsaufgabe geteilt haben.
Die Motive der ManagerInnen für Job-Sharing sind bei Weitem nicht nur die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, wie auch die beiden abz-Geschäftsführerinnen Vollmann und Schallert betonen. Immerhin sei dies auch bei ihr nicht der Grund gewesen, so Vollmann, sondern vielmehr als zusätzlicher Vorteil hinzugekommen. Bei den beiden Unilever-Managerinnen etwa war die Motivation Altersteilzeit, die, ebenso wie die Übergabe der Aufgaben durch das Job-Sharing, sanft umgesetzt werden konnte.
Die Palette der Pro-Argumente ist breit: Demographische Entwicklung, Burn-out-Prävention, Pflege von Familienangehörigen, Auszeiten zum Zwecke der Weiterbildung, Förderung von Frauen in Führungspositionen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Generation Y, die immer stärker andere Vorstellungen von Arbeit und Freizeit hat. „Da sind innovative Ansätze zu Arbeits- und Führungsmodellen gefragt, um als Unternehmen attraktiv zu bleiben, gerade in jenen Branchen, wo Fachkräfte rar werden“, betont Daniela Schallert noch einmal, warum es auch für andere Unternehmen viel Sinn macht, sich aktiv mit diesem Thema zu beschäftigen.
abz Austria: www.abzaustria.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Führen war bis in die 1970er- und 1980er-Jahre in einen hierarchischen Rahmen von (mehr oder weniger) klaren Organisationsstrukturen, Führungsebenen, Entscheidungsstrukturen und Aufgabenverteilung eingebettet, in welchem die MitarbeiterInnen Mittel zur Erreichung der Vorgesetztenziele waren. Heute haben sich diese Rahmenbedingungen und damit Führen drastisch verändert.
Veränderte Rahmenbedingungen
Mit der Einführung von Lean Management in den 1980er-Jahren haben sich die Hierarchien abgeflacht und Führungsebenen sind weggefallen. Planungs- und Entscheidungsbefugnisse haben sich nach unten verlagert und Prozesse verschlankt, so ist mehr Arbeit pro Zeiteinheit und parallele Bearbeitung verschiedener Aufgaben möglich. Darüber hinaus findet die Konzentration der Wertschöpfung in dezentralen Bereichen/Costcenters statt.
Dementsprechend hat sich Führung gewandelt. Sie erfolgt u. a. durch Zielvereinbarungen und Leistungsindikatoren, wobei die Aufgabendefinition oft durch (software-)technische oder verfahrensoptimierte Prozessgestaltung bestimmt ist. „Kontinuierliche Verbesserungsprozesse“ (KVP) wurden eingesetzt und verändern auch laufend Zuständigkeiten und Verantwortungsbreite für Führungskräfte. Die Weiterentwicklung der fachlichen und sozialen Kompetenzen der MitarbeiterInnen führt dazu, dass ihre Ansprüche an die Vorgesetzten steigen. Deren Rollen ändern sich hin zu Coach, TeamleiterIn, KoordinatorIn und MediatorIn.
ArbeitnehmerInnen sind daher immer öfter einer Imbalance zwischen Anforderungen und Ressourcen ausgesetzt. Die arbeitswissenschaftliche und -psychologische Forschung hat die negativen Folgen dieses Ungleichgewichts für die Betroffenen ausführlich dokumentiert. Für eine ausgewogene Arbeitssituation bedarf es der Unterstützung durch MitarbeiterInnen und Führungskräfte. Wie die aussehen sollte, beschreiben Stieler-Lorenz et al. (2011): „Die ständige Wiederherstellung der Balance zwischen Belastung und Beanspruchung erfordert eine grundsätzliche neue Qualität des Managements der personalen, sozialen, organisationalen und ggf. auch gesellschaftlichen Ressourcen. Dabei ist es unabdingbar notwendig, dass sich die Führungsarbeit von der gegenwärtigen Kontroll- und Kennzahlenorientierung hin zu einer Führung des Vertrauens und der Beteiligung der Mitarbeiter wandelt, wenn negative Folgen von Disbalancen in Form von psychischer Überbeanspruchung bei den Mitarbeitern und auch Führungskräften verhindert werden sollen.“ Führen als Dienstleistung wird von Henry Walter (2005) im „Handbuch Führung“ als „konsequente Fortführung des Modells der internen Kundenorientierung, und zwar auf allen Führungseben“ beschrieben. Walter geht davon aus, dass MitarbeiterInnen Kundenorientierung dann am besten lernen, wenn sie diese selbst erfahren. Durch die Etablierung von Führung als Dienstleistung im Unternehmen lernen MitarbeiterInnen einen Umgang miteinander, der sich in der Folge dementsprechend im Verhalten nach außen (z. B. Umgang mit Kundinnen und Kunden) auswirkt.
Die Umsetzung dieses Führungsansatzes setzt voraus, dass
Konkret unterstützt die Führungskraft die MitarbeiterInnen
Gesundes Führen heißt weg von einem direktiven und kontrollierenden, hin zu einem partizipativen Dienstleistungsverständnis. Das dient der Gesundheit, der Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung der MitarbeiterInnen wie auch der Führungskräfte. Führung als Dienstleistung bedeutet eine Neuausrichtung einer bestehenden Machtstruktur hin zu einer Sinnorientierung. Das bedeutet nicht nur für die MitarbeiterInnen einen Motivationsschub (was u. a. dazu führt, dass sie länger im Erwerbsleben verbleiben), sondern stärkt auch Corporate Social Responsibility, Konkurrenzfähigkeit und Innovationskraft von Unternehmen.
Die Situation der Führungskräfte
Im Vorfeld ist es notwendig, sich auch die Rahmenbedingungen der Führungskräfte – vor allem des unteren und mittleren Managements – näher anzusehen. Mintzberg (1993) beschreibt die Tätigkeit von Führungskräften so: Management ist eine fragmentierte Tätigkeit. Führungskräfte der unteren Ebene führen pro Tag ca. 200 unterschiedliche Handlungen durch. Bei den Führungskräften der mittleren Ebene sind es nur mehr 50 und bei denen der obersten Ebene nur mehr sieben bis zwölf Tätigkeiten pro Tag. Die Zielanpassung erfolgt oft ungeplant und wird von außen angestoßen. Ideen zur Problemlösung und Innovation werden im Gespräch entwickelt und nicht durch gezielte Reflexion und Methodik, Entscheidungen aufgrund spontaner Ereignisse getroffen. Informelle Kommunikation ist wichtiger als offizielle Informationen. Nach Wildenmann (2000) sind Führungskräfte darüber hinaus mit unrealistischen Zahlen und einem überzogenen Anspruchsniveau seitens des Top-Managements konfrontiert. Das mittlere Management hat keine Möglichkeit, die erlebte Kultur und Mentalität der MitarbeiterInnen im Unternehmen als strategisch relevante Größe in den Strategieformulierungsprozess einzubringen. Die große soziale Distanz vieler GeschäftsführerInnen zur mittleren Führungsebene macht Mitentscheiden und Mitarbeiten unmöglich. Für Kräfte der mittleren und unteren Ebene bedeutet das oft reduzierte Karrierechancen, stärkere Konkurrenz aufgrund abgeflachter Hierarchien und die Bedrohung (Arbeitsplatz- und Statusverlust) durch Umstrukturierungen. Die gesundheitlichen Folgen sind entsprechend. Ergebnisse der DGFP-Studie von 2011 zeigen u. a., dass in den Dienstleistungsbetrieben Führungskräfte der unteren Ebene (57 Prozent) und mittleren Führungsebene (51 Prozent) am stärksten psychisch beansprucht sind. Ursachen sind starker Erfolgsdruck (87 Prozent), Zeitdruck (68 Prozent), ständige Erreichbarkeit (63 Prozent), fehlender Ausgleich in der Freizeit (62 Prozent) und Arbeitsverdichtung (59 Prozent).
Rahmenbedingungen ändern
Für „Gesundes Führen“ muss sich Führung zu einem Dienstleistungsverständnis hin entwickeln. Das kann nur gelingen, wenn sich die arbeitsbezogenen Rahmenbedingungen auch für die Führungskräfte verändern. Das wird nicht leicht, denn „wir arbeiten in Strukturen von gestern, mit Methoden von heute, an Strategien von morgen – vorwiegend mit Menschen, die in den Kulturen von vorgestern die Strukturen von gestern gebaut haben und das Übermorgen innerhalb des Unternehmens nicht mehr erleben werden“. (Bleicher 1991, Fehlzeiten-Report 2011)
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor peter.hoffmann@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Innere Werte entstehen
Ähnlich wie die Unternehmenskultur privater Organisationen lassen sich innere Werte nicht verordnen, sondern entstehen implizit und informell über einen längeren Zeitraum. Im Fall der öffentlichen Verwaltung kommt hinzu, dass diese Entwicklung durch eine besonders große Gruppe Stakeholder kritisch überwacht und durch regelmäßige Änderungen der politischen Zielvorgaben beeinflusst wird. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass das Thema Verwaltungsreform seit Jahrzehnten in aller Munde ist. Aber wo steht die Verwaltung jetzt? Die Haushaltsrechtsreform 2009/13 des Bundes wurde abgeschlossen, die Verwaltung ist um Umsetzung bemüht. Das bedeutet im Konkreten: MitarbeiterInnen, die täglich neuen Anforderungen gegenüberstehen, neue Prozesse implementieren oder umfangreiche Datenmeldungen erstellen müssen. Ja, auch das heißt, eine Reform umzusetzen, die nur gelingen kann, wenn die Akzeptanz der MitarbeiterInnen gewonnen werden kann.
Der öffentliche Dienst hat erkannt, dass die zielgerichtete Wissensentwicklung seiner MitarbeiterInnen, vor allem zu den Themen Public Management und Governance, zu fördern ist und unterstützt seine Bediensteten aktiv im Prozess des lebenslangen Lernens. Im Gegenzug erhält er die Erkenntnisse wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit zentralen Themen zur Verbesserung der Aufgabenerfüllung des Staates aus der internen Sicht der Fachkräfte.
Beispiel für die Themen, mit denen sich öffentlich Bedienstete beschäftigen, ist etwa die im Rahmen des Studienganges Unternehmensführung – Entrepreneurship der FH Wien von Bianca Geyer unter der Betreuung von Dr. Thomas Wala, MBA, verfasste Bachelorarbeit mit dem Titel „Wirkungsorientierte Haushaltsführung unter besonderer Berücksichtigung von Gender Budgeting im Bund“.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Umsetzung des Leitgedankens der Wirkungsorientierung: Für geforderte Leistungen/Wirkungen sind bestimmte kalkulierte Mittel zur Verfügung zu stellen. Es wird aufgezeigt, dass jedes Ressort – ausgehend von seinem individuellen Leitbild – eine zukünftige Strategie ableitet und darauf aufbauend Wirkungsziele formuliert, die mittel- bis langfristig erreicht werden sollen. Einen besonders wesentlichen Punkt nimmt dabei die Tatsache ein, dass ab 2013 erstmals der Erfolg der Maßnahmen gemessen wird.
Gender Budgeting
Das Aufgabenspektrum zur Führung öffentlicher Haushalte umfasst auch sämtliche Bemühungen zur Gewährleistung der sozialen Balance zwischen Frauen und Männern. An diesem Punkt knüpft das Konzept des Gender Budgeting an, das nunmehr durch Budgetmaßnahmen erzielte geschlechterspezifische Effekte berücksichtigt.
Zur Festlegung konstruktiver Budgetentscheidungen werden zunächst die Geschlechterverhältnisse in den einzelnen Bereichen analysiert, um Ungleichgewichte zwischen Frauen und Männern aufzudecken. Dieses Steuerungsinstrument ist nicht mit der unmittelbaren Mittelzuführung an die beiden Geschlechter zu verwechseln, sondern beabsichtigt – mit Hilfe gezielten Budgeteinsatzes – vorhandene Lücken zwischen Frauen und Männern zu schließen.
Diese Neuerungen im Verwaltungshandeln sind derzeit noch in der Anfangsphase der praktischen Umsetzung und verlangen den Betroffenen einen nicht zu unterschätzenden zusätzlichen Arbeitsaufwand ab. Für eine korrekte und vor allem erfolgreiche Anwendung der durch die Haushaltsrechtsreform eingeführten Instrumente bedarf es nun noch eines neuen Prozesses des „organisatorischen Lernens“. Die TrägerInnen der Verwaltung müssen lernen, mit ihren neuen „Schuhen“ zu gehen.
Studiengang Public Management
Da Public Management zu einem zentralen Thema der steten Weiterentwicklung geworden ist, wurde an der Fachhochschule Campus Wien ein eigener Studiengang zu diesem Thema ins Leben gerufen. Studierende durchlaufen hier eine tiefgreifende Ausbildung zu den neuen Konzepten der Planung und Steuerung der öffentlichen Aufgabenerfüllung und der erste Jahrgang der Masterabsolventinnen und -absolventen unter der Leitung von Dr.in Renate Deininger, konnte die Abschlussdekrete 2013 in Empfang nehmen. Meine Masterarbeit unter der Betreuung des KDZ-Geschäftsführers Peter Biwald ist der Verbesserung der Gemeindebudgetsteuerung anhand von IT-Planungstools am Beispiel der Gemeinde Laxenburg gewidmet. Ziel der Arbeit war es, festzustellen, inwieweit mit einem mittelfristigen Planungstool das Budget einer kleinen oder mittleren Gemeinde gesteuert werden kann, um einen positiven Beitrag zu einer koordinierten Budgetsteuerung zu leisten. Diesem Erfordernis kommt vor allem durch den Österreichischen Stabilitätspakt 2012 (ÖStP 2012) eine hohe Bedeutung zu, da dieser eine Verpflichtung der Gebietskörperschaften zu einer koordinierten Haushaltsführung vorsieht.
Die Verbesserungspotenziale der Gemeindebudgetsteuerung wurden in der Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert. Zunächst wurde der Experte für die Umsetzung der Bundeshaushaltsrechtsreform Sektionschef Gerhard Steger (BMF) befragt, ob die mit der Reform verpflichtend eingeführte mittelfristige Budgetsteuerung sowie die Umstellung auf ein doppisches Rechnungswesen als Best-Practice-Beispiele für eine Verbesserung der Gemeindebudgetierung denkbar sind. Auch Expertinnen- und Expertenmeinungen zu Theorie und Praxis von IT-Planungstools wie dem KDZ-Quicktest oder dem Business Development Tool (BDT®) wurden herangezogen. In Verbindung mit Anwendungstests konnte schließlich eine Stärken-Schwächen-Chancen-Risiken-Analyse erarbeitet werden, die klar erkennen lässt, dass der KDZ-Quicktest ein einfach zu bedienendes Instrument ist, das dem/der NutzerIn keine besonderen Vorkenntnisse abverlangt und rasch einen Überblick über die finanzielle Situation einer Gemeinde bzw. einen allfälligen Konsolidierungsbedarf gibt. Eine flächendeckende Anwendung des Tests durch österreichische Gemeinden könnte einen erheblichen Mehrwert zur Einhaltung des ÖStP 2012 bringen und so auch eine zwischen Bund und Gemeinden abgestimmte Verwaltungskultur fördern.
Die neue Verwaltungskultur
Arbeiten wie diese lassen also klar erkennen, dass das Engagement der Verwaltung zur Bewältigung aktueller Herausforderungen groß ist und die MitarbeiterInnen hoch motiviert sind, einen bürgernahen aktiven Staat mitzugestalten. Reformen sind ein steter Prozess, sich auf permanente Änderungen der Umwelten einzustellen. Vor allem in den letzten Jahren gab es gravierende Modernisierungsmaßnahmen im Verwaltungshandeln, die einen kundenorientierten, offenen und bürgernahen Staat vorsehen. Nun gilt es, gemeinsam mit gut geschulten Managerinnen und Managern des Bundes und der Gemeinden – welche die spezifischen Ziele des öffentlichen Wirtschaftens in ihrem Fokus haben – eine neue Verwaltungskultur aufzubauen und die Ideen eines aktiven Staates zu einer gelebten Selbstverständlichkeit werden zu lassen.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin brigitte.egelhofer@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Jung, männlich und Führungskraft
Wie Michael Tölle von der AK Wien ausführt, weist die innere Verteilung dieser betrieblichen Weiterbildung eine extreme Schieflage auf: Nur 13 Prozent der ungelernten ArbeiterInnen, aber 42 Prozent der leitenden Angestellten nehmen an ihr teil. Bemerkenswert erscheint zudem, dass sich laut Statistik Austria Frauen (35,1 Prozent) in höherem Ausmaß als Männer (25,1 Prozent) ausschließlich außerhalb der Arbeitszeit weiterbilden müssen. Markant sind ebenso die Differenzen zwischen unterschiedlichen Altersgruppen und Betriebsgrößen. ArbeitnehmerInnen in Großbetrieben sowie jüngere Beschäftigte nehmen stärker an Weiterbildungsangeboten teil als andere Beschäftigte. Besonders deutlich – und in der Folge aufschlussreich – sind zudem die Unterschiede zwischen den Branchen.
Ein Euro für Bildung bringt 13 Euro
64 Prozent Weiterbildungsbeteiligung im Kredit- und Versicherungswesen stehen nämlich nur 14 Prozent der Beschäftigten im Gastgewerbe und 12 Prozent am Bau gegenüber, die sich an entsprechenden Maßnahmen beteiligen. Während die Banken 1,3 Prozent ihrer Personalkostensumme in betriebliche Weiterbildung investieren, sind es im Gastgewerbe gerade einmal 0,3 Prozent. Viele Bildungsexpertinnen und -experten sowie vor allem BildungsanbieterInnen versuchen dieses Systemversagen mit der (eigenen) Marktlogik zu schlagen: Immerhin bringt schließlich jeder in Weiterbildung investierte Euro dem Unternehmen 13 Euro – also eine extrem hohe Bildungsrendite. Warum aber werden dann diese Argumente offensichtlich nicht gehört?
Im Bankbereich haben mehr als 50 Prozent der Beschäftigten eine Reifeprüfung oder ein Studium abgeschlossen. Branchen wie diese – also jene, in welchen MitarbeiterInnen in der Regel bereits über eine hohe Formalqualifikation verfügen – gelten gleichzeitig nicht nur als besonders weiterbildungsfreudig. Aktuelle Studien zeigen: Bildung wird hier zudem stark als Belohnung für gute Leistung gedacht bzw. unter dem Vorzeichen der Persönlichkeitsentwicklung forciert. Umgekehrt stehen die unmittelbaren betrieblichen Erfordernisse und die Verpflichtung der Beschäftigten zur Weiterbildung nicht unbedingt im Vordergrund. Eine positive „Kultur“ der Weiterbildung ist somit vorhanden. In Branchen wie dem Bau- oder Gastgewerbe hat demgegenüber mehr als die Hälfte der Beschäftigten maximal einen Lehrabschluss. Gleichzeitig existiert hier die geringste Weiterbildungsquote. Der Nutzen von Weiterbildung wird in der Belegschaft viel weniger anerkannt als in den vorher genannten Bereichen. Konservative Ansätze erklären solche Einstellungen ganz einfach mit der starken Präsenz von „weniger begabten“ oder „bildungsfernen“ Schichten, die sich eben in gewissen Branchen konzentrieren würden. Aktuelle Studien geben demgegenüber deutliche Hinweise darauf, dass gerade auch die Führungsebenen in „manuellen“ Berufsfeldern dem Nutzen betrieblicher Weiterbildung besonders skeptisch gegenüber stehen. Ein Blick in die einschlägigen Kollektivverträge, Abschnitt Bildung (so überhaupt vorhanden), bestätigt dieses Bild oft drastisch. Das ist fatal, weil umgekehrt gerade die ArbeitnehmerInnen in diesen Bereichen auch besonders stark der Meinung sind, dass Weiterbildung eigentlich Sache des Betriebes ist.
Abschlüsse nicht anerkannt
Einen Sonderfall stellen zudem bereits qualifizierte Personen mit Migrationshintergrund dar. 16,1 Prozent der Migrantinnen und Migranten mit Matura sind beispielsweise als ArbeiterInnen in Hilfs- bzw. mittleren Tätigkeiten tätig (Vergleichswert Nichtmigrantinnen und -migranten: 1,1 Prozent). Oft handelt es sich um Personen mit „mitgebrachten“ Abschlüssen, die aber in Österreich nicht anerkannt werden. Auch hier gilt: Dort, wo Unterstützung über die betriebliche Ebene aufgrund der geringeren Dichte formaler Qualifikation besonders gefragt wäre, wird diese Verantwortung von der Führungsebene kaum wahrgenommen.
Grundsatz: Soziale Inklusion
Das Thema Bildung kann auch in den Betrieben somit nicht den Managerinnen und Managern überlassen werden. Der 18. ÖGB-Bundeskongress hat in seinem Leitantrag in dieser Hinsicht einige zentrale Ansätze verankert. Er betont im Abschnitt „Weiterbildung“ die soziale Inklusion als gewerkschaftlichen Grundsatz und fordert die ausreichende Finanzierung der Erwachsenenbildung. Er kritisiert, dass die Hauptzielgruppen von betrieblicher Weiterbildung männliche und leitende Beschäftigte sind, fordert verbesserte Zugangs- und Anerkennungssysteme, von denen u. a. Migrantinnen und Migranten besonders profitieren würden. Thematisiert werden zudem zwei weitere Aspekte, welche die Debatte in den kommenden Jahren entscheidend mitprägen werden.
Erstens spricht der ÖGB mehrfach das Thema der betrieblichen Bildung im Sinne der finanziellen Verteilung bzw. Kontrolle über die entsprechenden Mittel an. Gefordert wird ein allgemeiner Rechtsanspruch auf eine Woche bezahlte betriebliche Weiterbildung sowie ein allgemeiner Bildungsfonds in den – wie es heißt – auch die ArbeitgeberInnen einzahlen sollen. Die Wirtschaftskammer hat diese Forderungen umgehend abgelehnt! Alternative Umsetzungsmodelle, um die Unternehmerseite strukturell und finanziell in die Pflicht zu nehmen, sind also gefragt.
Zweitens drehen sich aktuelle Bildungsdebatten zu Recht um den Kompetenzbegriff, also die persönliche Fähigkeit, die ständig neuen und vielfältigen Herausforderungen in unserer Gesellschaft zu meistern. Bereits aus der engen Perspektive der reinen „Beschäftigungsfähigkeit“ wäre somit die Konzentration von Weiterbildung auf den unmittelbaren betrieblichen Nutzen verfehlt.
Gerade dort, wo Bildung heute systematisch fern von ganzen Personengruppen gehalten wird, muss es vielmehr darum gehen, durch neue Maßnahmen und Methoden potentielle Ausgrenzung zu verhindern. Es geht damit nicht zuletzt um die Möglichkeit zur Teilhabe bzw. Teilnahme.
Der ÖGB definiert daher völlig zu Recht den Bereich der demokratischen Beteiligung und Politisierung als ganz zentrales Arbeitsfeld für Weiterbildungsmaßnahmen. Gerade an diesem Punkt ist aber mit besonderen Herausforderungen wie auch Widerständen zu rechnen. Das betrifft natürlich die Angebotsstruktur und die Gestaltung der Inhalte sowie die Erreichung bestimmter Zielgruppen. Betriebsrätinnen und -räte fungieren hier bereits vielfach als „BildungsbotschafterInnen“ und unterstützen ihre Kolleginnen und Kollegen durch ihr Know-how.
Es braucht allerdings noch aus einem ganz anderen Grund starke Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnenvertretungen vor Ort. Nur sie können dafür sorgen, dass die genannten Zielsetzungen nicht nur im Sinne eines Rechtsanspruchs erstritten, sondern in der Praxis auch – gerade von bisher bildungsbenachteiligten Kolleginnen und Kollegen – in Anspruch genommen werden können.
Aktuelles zum Weiterlesen – Betriebliche Weiterbildung 2010, Statistik Austria (2013): tinyurl.com/pzqo8al
Homepage der Erwachsenenbildung – Magazin 17/2012 (Aspekte betrieblicher Weiterbildung): tinyurl.com/ncpvjd9
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor johnevers@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Helfen als uralte Tradition
Das Bedürfnis zu helfen ist ein uraltes Merkmal von Kultur und Zivilisation. Ob aus der Sicht der klassischen Antike oder der des Christentums, der individuelle Beitrag zum Allgemeinwohl gehörte immer schon unverzichtbar zu einem sinnerfüllten Leben. Hilfe im Alltag darf jedoch nicht mit freiwilligem Engagement verwechselt werden. Im Unterschied zur am weitest verbreiteten und wohl alltäglichsten Form des prosozialen Handelns, der Nachbarschaftshilfe, findet freiwilliges Engagement nicht im privaten Umfeld statt. Es wird definiert als ein freiwilliges, nicht auf Entlohnung ausgerichtetes Tun für eine bestimmte Dauer, außerhalb des eigenen Haushalts und des Familien- bzw. Bekanntenkreises. Freiwillige Mitarbeit findet im Rahmen von Institutionen, Organisationen oder Vereinen statt. Im Zentrum der Tätigkeit steht weder der Wunsch nach Bezahlung noch sind es gesellschaftliche Normen der Bindung oder Verpflichtung, die dazu führen, dass sich jemand freiwillig engagiert. Die wesentlich ältere Bezeichnung Ehrenamt rührt hingegen aus anderer Richtung: Sie entstammt dem frühen 19. Jahrhundert, als BürgerInnen des preußischen Staates aufgrund von Zahlungsunfähigkeiten, entstanden durch Napoleonische Kriege, dazu verpflichtet wurden, Staatsaufgaben unentgeltlich zu erledigen. Die Wurzeln des Ehrenamts liegen historisch daher eher in administrativen bzw. politisch oder karitativ besetzen Bereichen. Tatsächlich ließ sich einst durch Dienste am Gemeinwesen Ehre erlangen. Nicht ganz zu Unrecht wurde dieser althergebrachte Begriff heutzutage weitgehend ersetzt. Man möchte sich „freiwillig engagieren“.
Nach jeweiliger Tradition wird freiwilliges Engagement primär mit Nächstenliebe, Altruismus oder Solidarität in Zusammenhang gebracht und ist jedenfalls nichts, was von vornherein zu erwarten ist. Nicht nur Freiwilligkeit steht begrifflich im Mittelpunkt, auch der positiv besetzte Begriff des Engagements lässt auf hehre, ethisch höherwertige Ziele schließen. Unter dem Aspekt, dass freiwilliges Engagement demzufolge als Pendant zur unfreiwillig geleisteten Erwerbsarbeit interpretiert werden kann, scheint diese Bezeichnung nicht ganz unproblematisch zu sein. Dennoch kann man wohl berechtigterweise sagen, dass der Grad an Freiwilligkeit bei der gängigen Erwerbsarbeit ein geringerer sein dürfte als beim freiwilligen Engagement. Anders als bei entlohnter Arbeit lässt sich die Frage nach der Motivation im Einzelfall nicht ganz so einfach beantworten. Die Motivationen, die dazu führen, dass sich jemand freiwillig engagiert, sind vielfältig. Freiwillige möchten helfen, Menschen treffen, Freunde gewinnen, persönliche Fähigkeiten und Talente einbringen, Neues lernen und einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Monetärer Gegenwert scheidet als Anreiz aus – was die Annahme zulässt, dass man es sich auch leisten können muss, in irgendeiner Form freiwillig tätig zu sein.
Wer profitiert?
Nach Zahlen des BMASK engagieren sich insgesamt rund 3,3 Mio. ÖsterreicherInnen ab 15 Jahren freiwillig. Seit dem Internationalen Jahr der Freiwilligen 2001 wurde Freiwilligenpolitik zu einem wichtigen politischen Feld. Nachdem das Europäische Parlament 2008 Freiwilligentätigkeit als „Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ anerkannt hat, wurde das Jahr 2011 zum „Jahr der Freiwilligentätigkeit“ erklärt. In Österreich hat sich der seit 2012 beim BMASK eingerichtete Freiwilligenrat zum Ziel gesetzt, Freiwilligentätigkeit als tragende Säule des Gemeinwesens aufrecht zu erhalten, anzuerkennen und aufzuwerten.
Arbeitsleistung, nicht Hobby
In Abgrenzung zu konsumtiven Freizeitaktivitäten, also Hobbys, wird freiwilliges Engagement nämlich eindeutig als Arbeitsleistung bewertet. Was das zeitliche Ausmaß anbelangt, werden in der Regel vier Wochenstunden pro Person geleistet. Empfohlen wird, zwei Halbtage pro Woche nicht zu überschreiten. Natürlich schließt der produktive Charakter Eigennutzen für Freiwillige aber nicht aus: Der Zugewinn von Kompetenzen, die auch dem beruflichen Fortkommen dienen und Einstiegschancen im Arbeitsmarkt verbessern, ist ein durchwegs gängiges Ziel. Es gilt anzunehmen, dass sich freiwilliges Engagement aber auch für Organisationen lohnt. Einer deutschen Studie zufolge liegt das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei 1 : 7. Als übliche Kosten werden nicht nur Versicherung, Spesenersatz und Zeichen der Anerkennung beurteilt. Da Freiwilligentätigkeit als Beitrag zur wirtschaftlichen Wertschöpfung verstanden werden muss – zumal Dienstleistungen, Produkte und Ergebnisse mit ökonomischem Wert erzeugt werden – sind bestimmte, mit Kosten verbundene Qualitätskriterien zunehmend unabdingbar. Das „Bundesgesetz zur Förderung von freiwilligem Engagement“ (Freiwilligengesetz) ist mit Juni 2012 in Kraft getreten und schafft die gesetzliche Grundlage für Strukturen zur Förderung von Freiwilligentätigkeit. Auch die Notwendigkeit für standardisierte Bildungsmaßnahmen, die laufende professionelle Betreuung der Freiwilligen durch eigens geschulte FreiwilligenkoordinatorInnen zum Ziel haben, wurde erkannt. So wurden spezielle Lehrgänge entwickelt, um hauptamtliche MitarbeiterInnen zu FreiwilligenkoordinatorInnen auszubilden. Immerhin müssen Freiwillige gewonnen, geschult, intensiv betreut und geführt werden. Zu den Aufgaben zählen die persönliche Begleitung vom Eintritt bis zur Beendigung sowie der Aufbau der nötigen Rahmenbedingungen in den Institutionen. Arbeitseinsätze von Freiwilligen bedürfen gezielter Planung, Koordination und Anleitung, wodurch der Ressourcenbedarf an hauptamtlichem Leitungspersonal steigt. Sollen Freiwillige professionelle Arbeit leisten, bedarf es ferner einem entsprechenden Arbeitsumfeld. Gelebte Anerkennungskultur und ausgewählte Fortbildungsmaßnahmen für Freiwillige runden eine gute Einbindung ab.
Besonderheiten im Führungsstil
Klassische Führungsstrategien greifen, nicht zuletzt aufgrund der nicht monetären Motivation, nur bedingt – denn Freiwillige sind zu nichts verpflichtet. Zur Förderung und Anerkennung bedarf es folglich Instrumente der etwas anderen Art: Freiwillige möchten nicht nur das Ziel ihrer Tätigkeit selbst bestimmen, sondern auch Arbeitsweise und Zeitausmaß selbst festlegen, auch wenn diese Wünsche mitunter im Widerspruch zu den Anforderungen der Einrichtung stehen. Probleme können sich auch in der Zusammenarbeit mit Festangestellten ergeben, da Freiwillige Freiheiten genießen, die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verwehrt sind. Auch haben Freiwillige häufig ein stärkeres Kontaktbedürfnis und erwarten Unterstützung durch Festangestellte, die vielfach ohnehin zeitlich unter Druck stehen. Gegenseitige Erwartungshaltungen bergen häufig Konfliktpotential, welches es durch professionelle Leitung zu beseitigen gilt. Sollen Freiwillige in eine Organisation eingebunden werden, reicht die bewusste Entscheidung dafür nicht aus. Es gilt, eine Vielzahl besonderer Herausforderungen zu meistern. Klare Rahmenbedingungen, Zeitressourcen und Strukturen sind zweifellos erforderliche Voraussetzungen, um dieses so wertvolle Sozialkapital so zu gestalten, dass es für alle Seiten als Bereicherung wahrgenommen werden kann.
Freiwilligenmesse:
www.freiwilligenmesse.at
Alle Infos zur Freiwilligenarbeit:
www.freiwilligenweb.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin nina.ehrensberger@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>„Wie kommen Sie hier rein?“
„Durch die Tür …“ Der Besucher lüftete einen imaginären Hut.
„Das geht so nicht an. – Joe?! Wo ist die Security, wenn man sie mal braucht?!“
„Aber Sie sind für mich zuständig.“
„Ich glaube nicht, dass ich persönlich für irgendwen zuständig bin.“
„Ihr Verein verwaltet uns.“
Er blickte in das verwitterte Gesicht. „Und nur weil die Social Care GmbH sich mit Leuten wie Ihnen beschäftigen muss, belästigen Sie mich hier?“
„Ein Notfall, ich brauche einen Platz für die Nacht.“
„Ich könnte andere Saiten aufziehen, aber ich bitte Sie, einfach zu gehen. – Joe!“
„Ich könnte ebenfalls andere Saiten aufziehen.“
„Werden Sie nicht anmaßend!“
„Guten Abend.“
„Ah – guten Abend, gleichfalls – was machen Sie denn hier?“
„Sie haben mich doch …“
„Verlassen Sie das Büro. Sofort! – Joe!“
„Der wurde weggeschickt.“
„Stimmt. Gut, dann kommen wir zur Sache. Schauen wir, wie wir die Sache noch hinbringen.“
Social Care GmbH
Büro Dr. Immervoll, Geschäftsführung
„Morgen, Chef. Ich muss Ihnen was Wichtiges …“ Assistentin Irena Brandt betrat wie jeden Morgen das Büro ihres Vorgesetzten mit zwei Tassen Kaffee in der Hand. Einmal schwarz, einmal mit Milch. Eine für ihn, die zweite für sich selbst.
„Morgen, Irena. Wo sind die Zahlen vom Stumpf?“ Immervoll nahm ihr eine Tasse aus der Hand.
„Chef, das ist das, was …“
„Er sollte sie vorgestern abliefern. Wir hatten eine klare Vereinbarung. Er hatsie wieder gebrochen. Also, wo ist Stumpf?“
„Chef, der Stumpf ist …“
„… ein Volltrottel. Das Projekt steht auf des Messers Seite – ähm – Breite.“
„Spitze, Chef.“
„Was?“
„Auf des Messers Spitze. Blödsinn, Messers Schneide natürlich.“
„Das ist doch egal! Bringen Sie mir die Zahlen, aber flott.“
„Geht nicht, Chef. Der Stumpf ist tot.“
„Wie, tot?“ Die Moccatasse in Immervolls fein manikürter schlanker Hand wackelte gefährlich.
„Chef, der Stumpf wird garantiert nie mehr Zahlen abliefern müssen, äh, können. Erst einmal müssen wir die Polizei rufen.“
Chefinspektor Kojakowski traf, an einem Petersilienstengel kauend, als erster am Tatort ein. Eine Frau in blauem Kostüm stellte sich als Irena Brandt vor. „Hier, ich habe alles für Sie bewacht!“ Sie öffnete die Tür zu einem geräumigen Büro. Und da war sie, die Leiche. Im grauen Anzug saß sie da, als würde sie arbeiten, die Arme lagen über der PC-Tastatur. Nur dass das mit einem Plastiksack über dem Kopf schwer ging. Es roch nicht gut, aber das tut es nie in solchen Situationen.
Irena Brandt sah ihn neugierig an. „Sie auch?“
„Wie bitte?“ Irritiert blickte Kojakowski zu ihr.
„Versuchen Sie auch, sich das Rauchen abzugewöhnen?“
„Ach so. Ja. Hilft aber nix, das Grünzeug. Sie haben also den Toten gefunden?“
„Den Magister Stumpf, ja“, sagte sie gedehnt.
„Wann?“
„Heute Morgen. Ich sollte aktuelle Auswertungen von ihm abholen. Wir haben klare Zielvorgaben, wissen Sie.“
„Ich dachte, das hier ist eine Sozialeinrichtung?“
Ein eleganter Mittfünfziger segelte auf Kojakowski zu. „Die Verwaltung sozialer Einrichtungen muss heute nach objektiven wirtschaftlichen Kriterien erfolgen. Nach messbaren Kriterien. Wir sind ein wirtschaftlicher Betrieb wie andere auch. Ich reporte regelmäßig an die maßgeblichen Stellen.“
„Und Sie sind …?“ Kojakowski schluckte den Rest des Petersilienstängels.
„Doktor Immervoll“, kam es hoheitsvoll. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Chefinspektor Kojakowski.“
Ein Handy läutete. Irena Brandt nahm ab, machte ein überraschtes Gesicht.
Nach einem kurzen Gespräch erklärte sie: „Herr Stumpf soll gestern unerwarteten Besuch gehabt haben. Leider war der eingeteilte Security-Mann kurz verhindert.“
Immervoll machte große Augen. „Dabei müssen wir auf der – ähm – Haube sein.“
„Auf der Hut.“ Irena Brandt zwinkerte Kojakowski zu.
Immervoll wischte den Einwurf weg. „Wir sind ein großes Sozialdienstleistungsunternehmen, wir haben 45 Randstellen.“
„Außenstellen“, flocht die Sekretärin ein.
„Außenstellen. Unsere Klientel ist nicht die Vornehmste. Obdachlose, Drogensüchtige und so weiter. Deshalb haben wir Security. Um welchen Mitarbeiter geht es?“
„Joe Horvath. Ein langjähriger Profi, Chef.“
„Wenn das nur nicht dem Betriebsrat zu Ohren kommt.“
„Kann doch denen egal sein.“
„Wann haben Sie Herrn Stumpf zuletzt gesehen?“, übernahm Kojakowski die Führung des Gesprächs.
„Eben vorhin.“ Immervoll schluckte heftig, als würde ihm im Nachhinein übel. „Wenn man sich vorstellt, dass man selbst …“
„Ich meinte, wann haben Sie ihn lebend zuletzt gesehen?“
„Ich weiß nicht …“ Hilfesuchend blickte er seine Assistentin an.
„Ich habe Herrn Stumpf zuletzt gestern Nachmittag gesehen. Er hat im Buffet einen Kaffee getrunken. Wir haben uns nur gegrüßt, er wich uns aus. Herr Stumpf war für die Auswertung des Betreuungsschlüssels zuständig. Also wie viele Beratungen ein Betreuer in welcher Zeit erledigt hat.“
„Verstehe“, sagte Kojakowski. „Sie brauchen das … wofür?“
„In der Theorie“, sagte Irena Brandt leise und drehte ihrem Chef den Rücken zu, „in der Theorie machen wir so Einsparungspotenziale aus. In der Praxis braucht nicht jeder Klient gleich lang. Einer will nur ein Formular, ein anderer hat ein echtes Problem. Das Ziel ist, dass jeder Betreuer immer mehr Klienten in noch kürzerer Zeit erledigt.“
„Erledigt, so.“ Kojakowski zog die Augenbrauen hoch.
„So morbid habe ich das nicht gemeint, Herr Inspektor.“
„Es gibt noch immer keinen Inspektor, Gnädigste.“
„Aber Sie haben doch g‘sagt, Chefinspektor.“
„Ja“, sagte Kojakowski ungeduldig, „es gibt nur keinen einfachen Inspektor.“
„Ach so! Jetzt geht mir ein Licht auf.“
„Ich wünschte, bei mir wäre es ebenso. Was meinen Sie, verschweigt Ihr falsche Phrasen dreschender Vorgesetzter was?“
„Ich glaube nicht – dem gehen nur Zahlenkolonnen im Kopf herum.“
„Okay, danke.“ Er entließ Frau Brandt und schnupperte. Sinnierend betrachtete er den Plastiksack über dem Kopf der Leiche. Auf einmal wusste er, was das für ein Geruch war. Es stank nach ungewaschenen Menschen – und der Plastiksack sah abgewetzt aus, wie einer, den Obdachlose mit sich herumtragen.
Er ließ den Security-Mann namens Joe kommen. Bevor Kojakowski etwas sagen konnte, fing Immervoll zu schimpfen an: „Da schauen Sie, was wegen Ihres Fehlens passiert ist!“
„Ich kann nichts dafür. Herr Stumpf hat mich weggeschickt“, druckste Joe Horvath herum. „Beim Zurückkommen habe ich einen Besucher gesehen.“
„Einen Obdachlosen?“
„Ja, den auch. Stumpf hat mich aufgefordert, ihn raus zu begleiten.“
„Und ist er freiwillig mitgegangen?“
„Nach ein bisserl gut zureden schon.“
„Wer war der andere Besucher?“
„Der Herr Schlemmer, einer unserer Außenstellenleiter.“
„Dann hat er Stumpf zuletzt lebend gesehen.“
Kojakowski entließ Horvath. Es dauerte einiges Hin-und-her-Telefonieren, bis Schlemmer aufgetrieben war. Der dickliche Mann im schwarzen Anzug sah keinem in die Augen.
„Wir haben Hinweise, dass Sie Herrn Stumpf gestern besucht haben. Spätabends.“ Schlemmer nickte, er schwitzte. „Er hat mich einbestellt. Wegen dieser albernen Zahlen. Er wollte sie manipulieren. Er war besessen davon, sein Einsparungsziel zu erreichen.“
Kojakowski sah ihn nur an.
„Er hat verlangt, dass ich meine Papiere wegwerfe. In einem abgewetzten Plastiksack. Sonst würde er für meine Entlassung sorgen. Ich habe gesagt, das ist gegen meine Ehre. Da hat er gelacht. – Was ist denn los?“
„Er wurde ermordet.“
„Ermordet? Das war sicher dieser stinkende Sandler.“
„Den können wir ausschließen.“
„Ach, das können Sie bereits?“
Kojakowski nickte. „Was ist weiter passiert?“
„Ja, dann wissen Sie ja alles … Ich habe mit dem vollen Plastiksack auf ihn eingeschlagen. Er hat noch mehr gelacht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich musste dieses Lachen zum Verstummen bringen. Ich kann es nicht ertragen, wenn man mich auslacht. Ich kann nicht.“
„Sie gestehen, Bernhard Stumpf getötet zu haben?“
„Ja“, sagte Schlemmer leise, den Blick auf den Teppichboden gerichtet.
„Sie sind festgenommen, Herr Schlemmer.“ Kojakowski machte Anstalten, den Mann abzuführen.
Plötzlich erschallte hinter ihnen Doktor Immervolls Stimme: „Da sind ja meine Unterlagen!“ Er begann Papiere an sich zu nehmen. „Und die Zahlen schauen gut aus!“
Anni Bürkl ist Journalistin, (Krimi-)Autorin und Lektorin.
Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Göttinnensturz“ und ist der vierte Teil einer Krimireihe rund um Teelady Berenike Roither, alle erschienen im Gmeiner Verlag.
www.annibuerkl.at
Vielzahl an methodischen Schwächen
Methodische Schwächen und Ungereimtheiten finden sich in diesen Rankings zuhauf und wurden wiederholt von kritischen ÖkonomInnen aufgezeigt, etwa schon 1997 von Christian Bellak und Richard Winklhofer, und zuletzt von Miriam Rehm auf blog.arbeit-wirtschaft.at. Neben dem grundsätzlichen Vorbehalt, dass die Umlegung des Leitmotivs Wettbewerbsfähigkeit von der einzelbetrieblichen auf die volkswirtschaftliche Ebene neoliberalen Ursprungs ist, also eine ideologische Wurzel hat, betonen sie auch die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der wirklich relevanten Indikatoren für diese Wettbewerbsfähigkeit und ihrer empirischen Abbildung, die auch durch theoretisch unterfütterte Berechnungsmethoden, wie sie in den Berichten zweifellos angewendet werden, nicht gelöst werden können.
Selbst wenn man diese und andere Bedenken beiseite wischt und den Standortvergleichen eine gewisse Aussagekraft über die Perspektiven der von ihnen unter die Lupe genommenen Volkswirtschaften zubilligen will, stößt man sehr bald auf weitere Fragwürdigkeiten. Zuallererst springt kritischen BetrachterInnen die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, Aussagen über langfristige Entwicklungspotentiale zu treffen und der Wirklichkeit der medialen Präsentation, die auf Momentaufnahmen beschränkt bleibt, ins Auge. Dass dabei die öffentliche Wahrnehmung der Berichte nicht über Irrelevantes wie „Österreich gegenüber dem Vorjahr um zwei Plätze zurückgefallen“ hinausgeht und daraus bereits ein „Absandeln“ des Wirtschaftsstandortes konstruiert wird, liegt sicherlich auch an den Gesetzmäßigkeiten des modernen Medien- und Politikbetriebes. Diese Reduktion auf leicht verdauliche und verkaufbare Häppchen ist aber bereits in Struktur und Aufmachung der Berichte, die zwar jährlich einen Wust von Querschnittsdaten anbieten, im zeitlichen Längsschnitt aber bestenfalls zwei bis drei Jahre zurückblicken, angelegt. Allein durch einen längerfristigen Rückblick werden die meisten der vermeintlichen Triumphe und Tragödien, die diese Rankings dem Wirtschaftsstandort Österreich in den letzten Jahren beschert zu haben scheinen, auf den Rang eines Strohfeuers zurechtgerückt. Im GCI etwa hatte Österreich im Jahr 2005 ein dramatisches Abrutschen um vier Plätze hinzunehmen und kletterte dafür in den folgenden drei Jahren um insgesamt sieben Ränge hinauf. Der aktuelle Rang (16) liegt knapp am Zehnjahresdurchschnitt von 17. Gleiches gilt für die Platzierungen in einer EU-internen Wertung (aktuell 7.). Auch die hier von Österreich erreichte Benotung hat schon ihre Höhen und Tiefen erlebt und ist im Moment wieder historisches Mittelmaß. Der Eindruck, dass oft viel Lärm um nichts gemacht wird, wird auch vom jüngsten DB-Bericht, in dem Österreichs Platzierungen sowohl global (30. Platz) wie auch innerhalb der EU (11.) im langjährigen Durchschnitt liegen, bestätigt.
Verloren trotz Verbesserungen?
Mehr zum Nachdenken gibt auf den ersten Blick die Botschaft des WCS. Hier hat Österreich seit 2007 kontinuierlich an Boden verloren und ist von Rang 11 auf 23 zurückgefallen. Zurückzuführen ist dies zum größten Teil auf einen von vier „Competitiveness Factors“ der zweiten Ebene, der „Government Efficiency“, wo der heimische Wirtschaftsstandort um ganze 27 Plätze auf den 37. abgerutscht ist. Wer dieses Ergebnis nicht als Abbild eines allerorten beklagten politischen Stillstandes für plausibel hinnimmt, stößt allerdings auf einige Eigentümlichkeiten. Nicht nur haben sich in diesem Bereich gegenüber 2007 die „harten“ Indikatoren für Österreich im Durchschnitt verbessert und sich gleichzeitig die über Umfragen unter Managerinnen und Managern ermittelten „weichen“ Werte verschlechtert, was allein schon Stoff zum Nachdenken gibt. Die Regeln der Arithmetik ließen es auch erwarten, dass – wenn, wie in diesem Fall, beide Gruppen etwa gleich gewichtet sind – der Durchschnitt aus einer Verbesserung der einen Indikatoren um etwa 20 Prozent und einer Verschlechterung der anderen um ebenfalls etwa 20 Prozent einen Wert um Null ergeben sollte. Das IMD bewertet jedoch das Aggregat „Government Efficiency“ für Österreich um 40 Prozent schlechter. Dies deshalb, weil seiner Berechnungsmethode die relative Position gegenüber dem Gesamtdurchschnitt zugrunde liegt. Auf diese Art verliert ein Land selbst dann, wenn es sich absolut gesehen deutlich verbessert, aber gegenüber dem Gesamtdurchschnitt ein wenig verschlechtert, nicht nur Plätze; es wird auch schlechter benotet. Da im Mittefeld, in dem sich auch Österreich befindet, das Gedränge meistens am größten ist, wird man so sehr schnell nach hinten durchgereicht, ohne tatsächlich entscheidend an Boden verloren zu haben.
Wer wird befragt und wie viele?
Damit nicht genug. Wie schon angedeutet, beruhen die Rankings zu einem guten Teil auf Umfragedaten. Das Verhältnis von „weichen“ zu „harten“ (die oft keine sind, weil aus anderen Rankings übernommen) Daten beträgt beim WCS 1 : 2, beim GCI gar 2 : 1. Ausgewählt werden die Befragten mit Hilfe nationaler Partnerinstitutionen – in Österreich für GCI das WIFO, für WCS die Industriellenvereinigung. Die Gesamtzahl der hierzulande Befragten wird vom GCI mit 99 angeben. Das WCS enthält uns diese Zahl vor, jedoch kann aus der Tatsache, dass sie von der Größe des BIP des jeweiligen Landes abhängt, und dem Gesamtwert von 4.200 für 60 Länder geschlossen werden, dass sie nicht größer als 25 ist, eine nicht sehr imposante Stichprobe.
Man muss außerdem kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um es für möglich zu halten, dass die Stellungnahmen einer derart kleinen Zahl an von der IV ausgewählter Befragten eher abgesprochen und taktisch motiviert als um ein objektives Bild der Lage bemüht sein könnten. Jedenfalls fällt bei den unter „Government Efficiency“ abgefragten Indikatoren zum Beispiel auf, dass Österreich seit 2007 bei „Chancengleichheit“ in der EU-internen Wertung eine Talfahrt vom stolzen ersten auf den dürftigen 21. Platz hinter sich hat oder allein von 2012 auf 2013 die Benotung beim Indikator „Sozialer Zusammenhalt“ um ein Drittel schlechter geworden ist, während es bei beiden Indikatoren zwischen 2001 und 2007 wahre Höhenflüge erlebt hat. Man fragt sich auch, warum heuer der Einfluss der Politik der EZB auf die nationale Wirtschaftsentwicklung in Deutschland um 5 Prozent besser, in Österreich dagegen um 17 Prozent schlechter als 2007 eingeschätzt wird.
Der von den Proponenten der Standortrankings durch Tausende von mit komplexen Berechnungsmethoden aggregierten Daten und entsprechender medialer Vermarktung erzeugte Schein einer objektiven, wissenschaftlich fundierten und exakten Messung von Wettbewerbsfähigkeit erleidet also schon beim ersten genauerem Hinsehen tiefe Kratzer. Was bliebe davon erst bei einer breiter angelegten Analyse übrig?
Sieger sehen anders aus
PS: Manche vordergründig schlechte Platzierungen in diesen Rankings können sogar als Auszeichnung gewertet werden. Wenn zum Beispiel das erst vor Kurzem wegen der Sklaverei ähnlichen Behandlung seiner ausländischen Arbeitskräfte am Pranger gestandene Katar im Bereich „Arbeitsmarkteffizienz“ des GCI den 6. Platz einnimmt, dann befindet sich Österreich auf seinem bescheidenen 42. wahrscheinlich in besserer Gesellschaft als ganz oben.
World Economic Forum (WEF):
www.weforum.org
World Competitiveness Scoreboard (WCS) des IMD:
www.imd.org
Miriam Rehm zum Thema im Blog der A&W:
tinyurl.com/q7j4v67
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor robert.stoeger@drei.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Marktkonform statt Rechtskonform
Lukas Oberndorfer, Referent für Europarecht, Binnenmarktpolitik und Europaforschung Abteilung EU & Internationales der AK Wien, warnt vor dem Beschluss von Wettbewerbspakten und der damit notwendigen Abänderung des Protokolls 14 der Europäischen Verträge. Im Kern zielen diese Pakte auf eine Europäisierung von Einschnitten ins Sozialsystem, wie in südeuropäischen Ländern erprobt. Die Erfahrungen zeigen, dass damit nicht jene „Strukturen“ einer „Reform“ unterzogen werden, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich sind. So kam es in keinem der betroffenen Länder zu einer merklich stärkeren Besteuerung von Vermögen, hohen Einkommen und Unternehmensgewinnen. Genauso wenig wurde die Monopolisierung wirtschaftlicher Entscheidungen durch eine Demokratisierung aufgebrochen. Im Gegenteil, die Ungleichheit in der Verteilung und die Entdemokratisierung der Wirtschaft(spolitik) spitzte sich weiter zu.
Es scheint sich daher einmal mehr das autoritär-neoliberale Muster der bisherigen Bausteine der Krisenpolitik zu wiederholen: Um das „Reformbündnis“ gegen den zunehmenden Widerstand der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften zu isolieren, werden die zur Vertiefung der EU vorgesehenen Verfahren (ordentliches Vertragsänderungsverfahren), die die Einbindung und Zustimmung der Parlamente und eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihrer Verfassungen vorsehen, umgangen.
Lesen Sie nach: tinyurl.com/nmjvrll
Unter dem Deckmantel der Flexibilisierung
Bettina Csoka, Referentin für „Verteilungspolitik“ der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik in der AK Oberösterreich, spricht das Thema Flexibilität bei Über- bzw. Mehrarbeitsstunden an. Mehr als 700.000 ArbeitnehmerInnen arbeiten regelmäßig länger bzw. mehr. Ein Viertel dieser Arbeitsleistung bleibt unbezahlt. Das von der Wirtschaft unter dem Deckmantel der Flexibilität geforderte „Zeitkonto“ in der Metallindustrie würde die Beschäftigten noch mehr unter Druck setzen und ihnen mehr als 600 Euro im Jahr kosten. Entgegen der von Arbeitgeberseite gern monierten angeblichen Starrheit bei der Arbeitszeit, arbeiten Österreichs Vollzeitbeschäftigte am viertlängsten im Euroraum. Auch bei den Sonderformen der Arbeitszeit wie etwa Wochenend-, Schicht-, Abend- und Nachtarbeit liegt Österreich im Mittelfeld der EU.
Überstunden sind abzubauen und korrekt zu bezahlen. Als Kompensation für die negativen Effekte von zu vielen Überstunden sowie als Anreiz für den Überstundenabbau soll eine vom Unternehmen zu zahlende Abgabe in Höhe eines Euros je geleisteter Über- bzw. Mehrarbeitsstunde dienen. Statt der vorgestrigen Arbeitszeitirrwege braucht es eine faire Verteilung von Arbeit und Arbeitszeit mit einer echten Verkürzung bei der Vollzeit, ein Recht auf Wechsel zwischen Voll- und Teilzeit und mehr Mitbestimmungsrechte bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Zeit ist Leben und Arbeitszeit ist Teil des Lebens. Es braucht wieder mehr Souveränität über die eigene Zeit!
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Spaniens Zukunft: Mehr Europa oder Euro-Austritt?
Bruno Estrada, Studienprogrammleiter des spanischen Gewerkschaftsinstituts Fundación 1º de Mayo, kritisiert, dass es im Gegensatz zu den USA weder die Zentralbank noch andere Institutionen geschafft haben, die Lage in krisengeschüttelten Volkswirtschaften wie Spanien zu verbessern. Da eine Reform der EU-Institutionen zwar wünschenswert ist, aber lediglich sehr langfristig realisierbar scheint, braucht es eine alternative Strategie. Diese kann nicht ein Euro-Austritt sein, sondern muss sich auf die Ausweitung nationaler Spielräume, Beschäftigung und den Abbau der Auslandsverschuldung stützen. Das erfordert eine Stärkung der Nachfrage und eine neue Industriepolitik.
Dabei geht es um Größe und Struktur der heimischen Nachfrage, eine Verzahnung der unterschiedlichen Sektoren, Größe und Marktbedingungen für Produzenten sowie Konsumenten und Konsumentinnen, Verbreitung neuer Technologien, industriepolitische und sektorale Maßnahmen in erster Linie in Sektoren, in denen bereits Wettbewerbsvorteile bestehen, und Erhalt nationaler Spielräume (öffentlich oder privat) in strategischen Bereichen.
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Strukturwandel mit System?
Hat der Strukturwandel in der Arbeitswelt „System“? Welche Prinzipien liegen dieser Dynamik zu Grunde? Noch vor ca. 20 Jahren war eine Antwort darauf einfach zu finden. Klarheit brachte ein Blick auf die Programme renommierter Seminaranbieter und Unternehmensberater sowie auf die Bestsellerliste der Managementliteratur. Managementm(eth)oden waren „in“ und gute ManagerInnen wurden an der Anwendung neuester Methoden gemessen. Dieser Boom begann 1992 mit „der zweiten Revolution in der Automobilindustrie“, ein Bestseller von Wissenschaftern des MIT in Boston. Die Autoren beschreiben darin den Vorsprung der japanischen Automobilindustrie im Vergleich zur amerikanischen, ihrer Meinung nach auf die „schlanke“ Produktion („Lean Production“) zurückzuführen. Die Folge: Ein Schlankheitsboom setzte in den Konzernen ein. Unternehmensfunktionen wie Führung (Abbau von Hierarchien), Entwicklung, Kontrolle, Logistik (just in time) wurden radikal und oft undifferenziert verschlankt, mit meist nur kurzfristigen positiven wirtschaftlichen Effekten, aber einem hohen Preis für viele Beschäftigte.
Das Ende der Megatrends
Kurz darauf wurde Kaizen („der permanente Verbesserungsprozess“) das Nonplusultra jedes erfolgreichen Managers. 2003 ging es mit „Business Reengineering“ weiter, den historisch gewachsenen Prozessen sollte der Garaus gemacht werden. Das Unternehmen wird auf der grünen Wiese fiktiv neu entworfen, alle Prozesse optimiert. Immer noch „modern“ ist die „Balanced Scorecard“ – ein Verbindungsglied zwischen Strategiefindung und -umsetzung. Traditionelle finanzielle Kennzahlen werden durch eine Kunden-, eine Prozess- und eine Entwicklungsperspektive ergänzt. Viele Unternehmen arbeiten heute noch mit einer „BSC“, wenden diese aber in abgeschwächter und nicht wie ursprünglich vorgesehen mit viel Mathematik (Ziel- und Messgrößen) an.
Megatrends bei Managementmethoden werden heute vergeblich gesucht. Der Fokus hat sich tendenziell auf die Themen „Führen“ und „Strategiefindung“ verlagert – und die gelebte Praxis ist oft noch viel banaler: ManagerInnen führen ihre Unternehmen heute nach dem Prinzip „schneller, besser, effizienter“. Methoden sind nicht großartig gefragt, die Renditen müssen stimmen. Managen mit sozialer Verantwortung ist zum „Muss“ geworden, gemeint sind aber eher wirkungsvolle Marketing-Aktivitäten unter dem Motto „tue Gutes und rede darüber“. Bei den Beschäftigten kommt die soziale Verantwortung oft nicht an, wie das eingangs zitierte AK-Strukturwandelbarometer zeigt.
Renditestreben ist zu wenig
Es ist nicht so, dass neue Managementm(eth)oden fehlen würden, vermisst wird aber eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Management“, insbesondere mit den Zielen des Managens – Renditestreben alleine ist zu wenig. Erfolgreiche Managementmethoden müssen daran gemessen werden, dass auch die Beschäftigten und die übrigen Stakeholder ihren fairen Anteil an der Wertschöpfung eines Unternehmens erhalten.
]]>Politische Situation
Die Gewerkschaften haben seit der Ära von Margaret Thatcher mit Strukturänderungen und Mitgliederschwund hart zu kämpfen. Die Gesetzesverschlechterungen, die Thatcher in ihrer Zeit durchgeführt hat, sind großteils heute noch vorhanden. Obwohl die Labour Party aus den Gewerkschaften entstanden ist und auch lange den Premierminister stellte, konnten keine wesentlichen Verbesserungen erreicht werden. Die Labour Party wird heute noch mit einigen Millionen Pfund im Jahr von den Gewerkschaften finanziert. Insgesamt ist der Einfluss in der Partei aber seit der Ära Tony Blair gesunken. In den vergangenen Jahren versuchten sie aber wieder mehr Einfluss in der Partei zu bekommen. Es sind alleine in der Unite sechs hauptamtlich Vollzeitbeschäftigte in London und dazu noch in jeder Region eine Halbtagskraft für die politische Arbeit abgestellt.
Mitglieder
Der Mitgliedsbeitrag beträgt, egal wie viel ein Arbeitnehmer verdient, 12,05 Pfund pro Monat (14,35 €). Dazu kommen noch, außer es widerspricht jemand ausdrücklich, 6,06 Pfund pro Monat (7,21 €) Mitgliedsbeitrag bei der Labour Party.
Der Mitgliederschwund seit der Thatcher-Ära konnte nie wieder aufgeholt werden. Seit 2005 wird ein neues Modell der Mitgliederwerbung versucht. Es wurden seit dem genannten Jahr Tausende Betriebsrätinnen und -räte sowie GewerkschafterInnen in der eigens eingerichteten Organizing-Akademie in Oxford ausgebildet. Seit 2011 sind die ersten Erfolge sichtbar. Der Mitgliederstand ist zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht zurückgegangen, sondern gestiegen.
Die zwei Formen, die sie beim Organizing durchführen, sehen so aus:
1. Sektorales Organizing
Hier wird versucht, mittels branchenspezifischen Organizings neue Mitglieder zu gewinnen. Es werden eine oder mehrere Branchen herausgefiltert und dann wird vor Firmen und mittels Briefen und maßgeschneiderter Kampagnen auf die Gewerkschaft aufmerksam gemacht. Es wird einerseits darauf abgezielt, neue Betriebsrätinnen und Betriebsräte in Firmen zu installieren und andererseits in schon organisierten Betrieben neue Mitglieder zu gewinnen.
2. Leverage Organizing
Hier wird vor Betrieben, bei denen man weiß, dass es arbeitsrechtliche Probleme (z. B. Blacklisting = Firmen stellen keine ArbeitnehmerInnen aufgrund ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft ein oder Firmen kündigen ArbeitnehmerInnen, die Gewerkschaftsmitglieder sind) gibt, mit kleinen konzentrierten Demos darauf aufmerksam gemacht. Bei diesen Demos werden Kundinnen und Kunden, Lieferanten und MitarbeiterInnen des betroffenen Betriebes darauf aufmerksam gemacht. Dies geschieht mit lauter, störender Musik, Transparenten und Plakaten, einer großen aufblasbaren Ratte und Megafonen. Die Demonstration ist erst vorbei, wenn sich die Geschäftsführung gesprächsbereit zeigt oder die Polizei die Demo auflöst.
Fazit
Für mich war die Zeit im United Kingdom sehr wertvoll und interessant. Die Gastfreundschaft und Zuvorkommenheit suchten ihresgleichen. Ich bin überall mit offenen Armen empfangen worden. Ich wünsche meinen Freunden im UK viel Erfolg und Glück bei ihrem harten Kampf für Verbesserungen für alle ArbeitnehmerInnen.
INTERVIEW:
Zur Person
David Bowyer
Alter: 56, Wohnort: Wales, UK
Erlernter Beruf: Staatsdiplom für Gesundheit und Sicherheit, Gewerkschaftsstudien, Humanressourcen
Firmenstandort: Wales
Gewerkschaft und Arbeitsplatz: Unite the Union
Seit wann befasst du dich mit dem Europäischen Betriebsrat?
Seit sechs Jahren.
Einkommen und Ausgaben:
Einkommen: 2.500,00 GBP = 2.972,65 EUR (Kurs: 1 GBP = 1,19 EUR), Fixkosten: 1,600 GBP = 1.902,50 EUR
Wie ist dein Familienstand?
Ich bin mit Bethan, Dozentin für Kinderpsychologie, verheiratet. Sie ist bereits in Pension. Wir haben zwei Töchter. Laura hat einen Hochschulabschluss in Textiles Design. Anna, sie hat ihren Hochschulabschluss in Medizinischer Psychologie und arbeitet derzeit noch an ihrem Doktorat.
Was bedeutet dir Arbeit?
Arbeit ist ein Mittel zum Zweck, wir arbeiten, um zu leben.
Was ist deine Meinung über die Konjunktur deines Landes?
Die britische Wirtschaft befindet sich noch immer im freien Fall, ohne Investitionen in Produktion, Bildung und nationales Gesundheitssystem und mit sehr wenigen Richtungsvorgaben durch die aktuelle Regierung.
Hier in Wales entscheidet ein eigenes Parlament, National Assembly for Wales (NAW; walisisch Cynulliad Cenedlaethol Cymru), ohne volle Gesetzgebungskompetenz.
Wir unterstützen und investieren in Produktion, Schulen und Gesundheitssystem. Ein Beispiel war der Flughafen Cardiff, der von der ehemaligen konservativen Regierung privatisiert worden ist.
Was bedeutet dir Gewerkschaft?
Schutz, Unterstützung, Arbeitskampf, die Möglichkeit, Einfluss auf die Regierung zu nehmen.
Was bedeutet dir die EU?
Die EU hat in Großbritannien für Gesetze gesorgt, die die ArbeiterInnen unterstützen; sie erleichtert auch den Export. Wenn ein Volksbegehren hier für einen Rückzug aus der EU ausgehen würde, wäre das eine Katastrophe für die britische Wirtschaft.
Was ist dein Lieblingsland in Europa?
Da gibt es zwei: Deutschland und Frankreich. Beide unterstützen die Industrie und die Infrastruktur mit Autobahnen und Bahnlinien. Beide Länder haben die Möglichkeit, Europa aus der Rezession zu führen.
Was kann der Europäische Betriebsrat (EBR)?
Der EBR von TATA Steel wurde zu einer Art Informationsveranstaltung, bei der die Gesellschaft den Gewerkschaften ihre Absichten mitteilt und Fragen der Delegierten beantwortet werden. Dabei sind die britischen Delegierten agressiver als ihre europäischen Kollegen.
Wie viel Urlaub hast du und wie nützt du ihn?
Ich habe 42 Urlaubstage, Feiertage miteingeschlossen. Ich fahre gerne nach Frankreich und mache dreimal im Jahr Urlaub.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Einen Regierungswechsel in Großbritannien, engere Verbindungen zur EU, mehr Industrie und eine Kontrolle und Beschränkung der massiven Managergehälter.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor thomas.giner@proge.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>„Leistung muss sich lohnen“
Der Begriff „Leistungslohn“ scheint eine besondere Magie zu entfalten. Gerade in Zeiten der Unsicherheit, die Krisen mit sich bringen, wirkt der Slogan „Leistung muss sich wieder lohnen“ logisch. Zielvereinbarung ist dann oft das Zauberwort, das zum Erfolg führen soll. MitarbeiterInnen sollen unternehmerisch denken und selbständiger arbeiten. Zielvereinbarungen wurden in der Vergangenheit vorwiegend bei Führungskräften angewandt. Heute werden immer öfter auch Beschäftigte ohne Führungsfunktionen auf bestimmte Leistungsziele verpflichtet. Die Zielvereinbarung dient zur Leistungssteuerung, -intensivierung und -kontrolle. Mit einzelnen Beschäftigten oder Gruppen werden verbindliche Absprachen über Leistungen getroffen, die innerhalb eines Zeitraums erreicht werden sollen. Vom Grad der Zielerreichung hängt die Beurteilung bzw. Bewertung ab, die meist Informationen für weitere personelle Entscheidungen (Karrieremöglichkeiten, Versetzung, Kündigung ...) liefert. In jüngerer Zeit werden Zielvereinbarungen häufig mit leistungsbezogenen Entgelten verknüpft.
Entgeltsysteme
Entgeltsysteme haben zwei Seiten: Entgeltbedingungen und Arbeits- bzw. Leistungsbedingungen. Dazu zählen organisatorische Rahmenbedingungen und technische Voraussetzungen für die Leistungserbringung, z. B. Personal, klare Definition der quantitativen und qualitativen Ziele, relevante Bestimmungen der KV und der Arbeitsgesetze, insbesondere Arbeitszeitregelungen. Gerade bei hohem Verhandlungsdruck (Zeitdruck, Drohung, das Unternehmen ins Ausland zu verlegen oder umzustrukturieren etc.) kann die Arbeitszeit bei der Festlegung von Leistungszielen leicht aus dem Visier geraten. Passiert das, kann so ein Leistungslohnsystem zu Druck führen, der die Gesundheit beeinflusst oder gar schädigt. Das wird auf Führungsebene eventuell nicht wahr- oder sogar bewusst in Kauf genommen.
Das Arbeitszeitrecht wurde in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend flexibilisiert. Gleitzeit-, Durchrechnungs-, Bandbreiten- und Schichtmodelle bieten Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Auch All-in-Klauseln wurden von der Rechtsprechung akzeptiert. Dabei sollen mit einer bestimmten Entgelthöhe sämtliche Leistungen – Normalarbeitszeit und allfällige Überstunden – in Bausch und Bogen abgegolten sein. Sofern die Überzahlung die geleisteten Überstunden auch abgilt, ist gegen ein solches System grundsätzlich nichts einzuwenden. Kombiniert mit einer Zielvereinbarung, an die eine Leistungsentlohnung geknüpft ist, kann es sein, dass eine unzureichende Arbeitsmengenplanung der Führungsebene auf eine Ungewissheit über die geleistete Arbeitszeit auf ArbeitnehmerInnenseite trifft. Die Folge ist im Extremfall Selbstausbeutung der ArbeitnehmerInnen.
Der Strukturwandelbarometer 20131 zeigt auf, dass in knapp zwei Dritteln der untersuchten Unternehmen – insbesondere in Konzernen – im letzten Halbjahr der Zeitdruck gestiegen ist. ArbeitnehmerInnen der Branchen Handel, Telekom/IT sowie Kredit- und Versicherungswesen leiden überdurchschnittlich oft darunter. Bei gut einem Drittel der Betriebe in diesen Branchen hat sich das Betriebsklima verschlechtert. In zumindest einem Fünftel der Unternehmen ist die Spanne zwischen niedrigem und hohem Einkommen gewachsen. Ursachen dafür könnten variable Entgeltsysteme, Leistungsprämien, MitarbeiterInnenbeteiligungen u. Ä. sein, von denen Besserverdienende meist stärker profitieren. Zeitdruck, schlechtes Betriebsklima und Einkommenspreizung sind jene Parameter, die negative Auswirkungen auf ArbeitnehmerInnen und Betrieb haben.
Dennoch hält mehr als die Hälfte der Befragten den Strukturwandel für notwendig oder sogar unverzichtbar. Soll dieser allerdings gelingen, müssen ArbeitnehmerInnen Arbeitsbedingungen vorfinden, die ihre Gesundheit nicht schädigen. Dies unterstreicht das Ad-hoc-Modul 2012 der Mikrozensus-Arbeitskräfte-Erhebung der Statistik Austria². Für 846.500 Personen – knapp die Hälfte der 50- bis 69-Jährigen –, die erwerbstätig sind oder waren, ist ein längerer Verbleib im Erwerbsleben nur unter bestimmten Bedingungen vorstellbar. Am wichtigsten ist der Gesundheitszustand. Ebenfalls wichtig sind höheres Einkommen bzw. Pension, das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes im Alter und ein besseres Arbeitsklima. Der österreichische Arbeitsgesundheitsmonitor vom April 2012 der AK OÖ3 zeigt, dass sich ArbeitnehmerInnen der Bedeutung von Arbeitsbedingungen für ihre Gesundheit wenig bewusst sind. Nur etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen führt ihre Rückenschmerzen und -verspannungen auf die Arbeit zurück. Ebenso wenig rechnen ArbeitnehmerInnen Verdauungsbeschwerden, Bluthochdruck und Rückenschmerzen, die bei Stress steigen, dieser zu.
Psychische Belastungen
Psychische Belastungen haben mehr Einfluss als körperliche. Häufig genannt werden: Probleme mit Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen, Zeitdruck etc. Diese Belastungen hängen wie die körperlichen Symptome stark mit den Arbeitsbedingungen zusammen. Trotz Krankheit ging knapp die Hälfte der ArbeitnehmerInnen an durchschnittlich neun Tagen im letzten Halbjahr zur Arbeit – aus Pflichtgefühl gegenüber den Kolleginnen und Kollegen oder Angst vor Konsequenzen (ca. 200.000 Personen). Bei der Betriebsrätebefragung 2010 des Instituts für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften4 nannten die 598 Befragten Personalabbau und Beschäftigungssicherung als wichtigste Themen der Betriebsratsarbeit. Bei der Frage nach dem größten Problem der Betriebsratstätigkeit der letzten zwölf Monate zeigen sich Verschiebungen. Wurde 2009 das Thema Personalabbau mit Abstand am häufigsten als größtes Problem genannt, liegt dieses 2010 gleichauf mit der Erhöhung des Leistungsdrucks. Auch die Themen Arbeitszeit und betriebliche Umstrukturierungen haben an Dringlichkeit gewonnen. Steigender Leistungsdruck ist keineswegs erst seit der Wirtschaftskrise ein Thema, doch scheint sich dieser durch Personalabbau bzw. Aufnahmestopps noch einmal verstärkt zu haben. Die gleiche oder eine noch höhere Arbeitsleistung muss mit einer kleineren „Mannschaft“ erbracht werden. Betriebliche Umstrukturierungen bedeuten zusätzlichen Stress für die Beschäftigten.
Für ein gesünderes System
Knapp zwei Drittel der Betriebsrätinnen und -räte erkennen deutlicher als die ArbeitnehmerInnen selbst Zusammenhänge zwischen Leistungsdruck und negativen Folgen für die Gesundheit der Betroffenen. Sie versuchen dem entgegenzuwirken: durch Beratung und Einwirkung auf unmittelbare Vorgesetzte, mittels Zeit- und Entgeltregimen und durch Abschluss spezifischer Betriebsvereinbarungen.
Zusammenfassend lassen diese Fakten einen Schluss zu: ArbeitnehmerInnen, die mit modernen variablen Entgeltsystemen konfrontiert sind, geht es besser, wenn ein Betriebsrat im Betrieb ist.
1 Georg Michenthaler et al.: Strukturwandelbarometer 2013. August 2013, Kooperation der Abteilungen Betriebswirtschaft, EU und Internationales, Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik mit IFES
2 Statistik Austria, Pressemitteilung 10.641-217/13 vom 23. 10. 2013
3 Der Österreichische Arbeitsgesundheitsmonitor. In: Schriftenreihe Österreichischer Arbeitsklima Index 2, Stand: April 2012
4 P. Gerhartinger, M. Specht, J. Braun: Ergebnisse der ISW-Betriebsrätebefragung 2010, Auszug aus WISO 4/2010
Arbeitsklima Index:
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Der Österreichische Arbeitsgesundheitsmonitor:
tinyurl.com/qh6wpz8
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin doris.lutz@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Wehklagen der Wirtschaft
Dem Wehklagen der Wirtschaft zum Trotz – unterstützt oft noch von „profunden“ Ökonomen z. B. des IHS bzw. von EcoAustria – stemmen sich Gewerkschaften mit aller Kraft und aus gutem Grund gegen weitere Flexibilisierungen.
Wenn nämlich der grundsätzlich positiv geprägte Begriff der Flexibilität in der Arbeitswelt zum ausschließlichen Synonym für einseitige Veränderungen und Verlängerungen der Arbeitszeiten, für Einkommensverluste durch überstundenzuschlagsvermeidende neue Arbeitszeitformen wird oder in Forderungen mündet, die eine Verschiebung kollektivvertraglicher Regelungsbefugnisse auf die Betriebsebene vorsehen, dann wird diese „Flexibilität“ jedenfalls zur Einbahnstraße zulasten der ArbeitnehmerInnen.
Dieses medial gekonnt inszenierte Wehklagen der Unternehmen über vermeintlich unflexible ArbeitnehmerInnen bringt punktuell sogar so manche/n in Versuchung, einerseits den Sinn verschiedenster gesetzlicher Schutzbestimmungen zu hinterfragen (u. a. gesetzlich festgelegte Arbeitszeithöchstgrenzen, Urlaubsrecht, ArbeitnehmerInnenschutz etc.), und andererseits sogar überbordende Solidarität für die Unternehmen zu entwickeln. Ist Mitleid aber wirklich angebracht?
Flexible ArbeitnehmerInnen!
Betrachtet man sowohl die – durch entsprechende Erhebungen und Studien belegte – nationale als auch internationale Faktenlage zur Flexibilität der ArbeitnehmerInnen in Österreich, so kommt man rasch zu einem völlig anderen Ergebnis: Eurofound bestätigt beispielsweise in regelmäßigen Erhebungen (z. B. im European Working Conditions Survey 2010), dass die ArbeitnehmerInnen in Österreich „top“ sind – entweder überdurchschnittlich flexibel oder zu den Top-Drei-Ländern hinsichtlich der Arbeitsbereitschaft gehören. Flexibilität ist damit kein Wunschdenken, sondern bereits gelebte Realität!
Neben der hohen individuellen bzw. innerfamiliären Flexibilität der ArbeitnehmerInnen hinsichtlich der Arbeitszeiten – und das bei oft fehlender sozialer Infrastruktur in zentralen Bereichen (Kinderbetreuung, Pflege, Ganztagsschulformen etc.) – sticht ins Auge, dass die vollzeitbeschäftigten ÖsterreicherInnen mit durchschnittlich 41,8 Wochenstunden nach Großbritannien die zweitlängsten Arbeitszeiten in ganz Europa haben.
Durch eine knappe Personaldecke wird den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusätzlich eine hohe Mehr- und Überstundenleistung (jährlich rund 300 Mio. Stunden) abverlangt. Als „Flexibilität“ wird den Beschäftigten sogar zugemutet, ein Viertel davon „gratis“ zu arbeiten. Der Intention des Arbeitszeitgesetzes folgend, dass die Normalarbeitszeit der Regelfall, Überstundenarbeit allerdings der Abdeckung eines außergewöhnlichen Arbeitsbedarfes dienen soll, wird dieses Ausmaß jedenfalls nicht mehr gerecht.
Unflexible ArbeitgeberInnen
Angesichts der Tatsache, dass die österreichischen ArbeitnehmerInnen bereits sehr flexibel arbeiten, kommt die naheliegende Frage auf, wie es denn um die Flexibilität der Unternehmen steht?
Dass die räumlichen und zeitlichen Grenzen in der Arbeitswelt zunehmend in Auflösung begriffen sind, ist ein Faktum. Die entscheidende Frage dabei ist, ob dies das Ergebnis eines Interessenausgleichs ist oder ob einseitig Nachteile zulasten der ArbeitnehmerInnen unter dem Deckmantel der Flexibilisierung verordnet werden. Derzeit entsteht der Eindruck, dass z. B. innerbetriebliche Flexibilität eher nur im Kontext von Auftragsschwankungen gesehen wird, statt lebenszyklusorientiert auf die Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen. Diese einseitige Interpretation zeigt sich auch in der konkreten Ausgestaltung der Arbeitsverträge. Einer AK/ÖGB-Befragung (2012/3) von rund 2.600 Beschäftigten zufolge, versehen Firmen die vorgelegten Arbeitsverträge bewusst und immer häufiger mit Klauseln, die, grob gesagt, zwei wesentliche Stoßrichtungen verfolgen: Einerseits fordern Firmen – im aufrechten Arbeitsverhältnis – völlige Flexibilität und Verfügbarkeit von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein, andererseits bauen sie massive Hürden auf, wenn es darum geht, den Arbeitgeber zu wechseln, etwa weil eine neue, besser bezahlte und/oder interessantere Arbeitsstelle zur Verfügung steht.
Viele der dabei in Frage kommenden Vereinbarungen sind grundsätzlich zulässig, sie überspannen aber die Grenzen dessen, was gemeinhin als fair erachtet wird. Oft finden sich auch Klauseln, bei denen für Juristinnen und Juristen von vornherein klar ist, dass sie rechtlich nicht gedeckt sind. Den Betroffenen ist dies aber oftmals nicht klar, was dazu führt, dass auch diese an sich unwirksamen Klauseln für die Betroffenen unangenehme Folgen nach sich ziehen.
Einseitige Flexibilität
Die Erfahrungen aus der Praxis zeichnen hier ein Besorgnis erregendes Bild: Arbeitsplätze werden oftmals nur unter der Bedingung angeboten, dass die vom Arbeitgeber vorformulierten Bedingungen zu 100 Prozent akzeptiert werden. Viele beugen sich diesem Diktat, weil sie Angst haben, sich sonst die Chance auf den Arbeitsplatz zu verbauen. Wer heute Arbeit sucht, muss allzu oft nachgeben! Überaus problematisch ist es auch, wenn individuelle Freiheitsgrade und Gestaltungsautonomie durch nachteilige Klauseln in Arbeitsverträgen beschnitten werden und Menschen zum Spielball der Wirtschaft werden. Etwa wenn mit Hilfe von All-in-Entgelten die korrekte Verrechnung von Überstundenentgelt ausgehebelt und Mehrleistungsverpflichtungen – oft sogar jenseits der gesetzlich zulässigen Grenzen – abverlangt werden, oder Konkurrenzklauseln, die in der von Flexibilität geprägten Welt genau selbige verhindern. Flexibilität zugunsten der Beschäftigten sieht anders aus.
Krankmachende Flexibilität
Regelmäßige überlange Arbeitszeiten bzw. der Umstand, dass rund 40 Prozent krank in die Arbeit gehen, sind Ausdruck der ungleichen Machtverteilung zwischen Arbeit und Kapital. Besonders in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit schaffen kaum verhandelbare und aufoktroyierte Arbeitsverträge sowie die ständige Angst um den Job(-verlust) jene Rahmenbedingungen, unter denen gesundheitsgefährdende Überbeanspruchungen, Präsentismus und Selbstausbeutung zum leitenden Prinzip für die ArbeitnehmerInnen werden. Wie passt das zu Forderungen andernorts, wo länger arbeiten im Sinne der Lebensarbeitszeit eingefordert wird?
Die mangelnde Bereitschaft der Unternehmen, eine ausreichend hohe Personaldecke zu haben bzw. für einen gesundheits- und qualifikationserhaltenden Ausgleich zu sorgen (z. B. Aus- und Weiterbildung, alternsgerechte Arbeitsbedingungen, Gesundheitsförderung, Prävention etc.), verursacht letztendlich hohe gesellschaftliche Kosten und individuelles Leid, das vermeidbar wäre.
Unternehmen sind gefordert
Mehr Flexibilität der Unternehmen ist insbesondere im Umgang mit Wiedereinsteigerinnen und -einsteigern, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Geringqualifizierten, Migrantinnen und Migranten sowie anderen benachteiligten Gruppen notwendig. Mittel- und langfristig sind die damit verbundenen Investitionen in die Belegschaften und deren Wertschätzung jedenfalls betriebswirtschaftlich lohnend. Ein vertrauensvolles Miteinander, das Innovation und Produktivität entlang der gesamten Erwerbskarriere fördert, ist sicher nachhaltiger und erfolgversprechender als eine weitere „Entfesselung“ durch Deregulierung der Arbeits- und Sozialstandards.
Unfaire Klauseln in Arbeitsverträgen:
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Fakten zur Verteilung der Einkommen und zur Arbeitszeit:
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Für die Menschen bedeutet das, dass sie ohne neue Investitionen gekündigt werden, dass ältere Beschäftigte den Job verlieren, dass unsere Kinder weniger Chancen haben, einen Job zu bekommen. Angst ist mittlerweile wieder ein ständiger Begleiter am Arbeitsplatz.
Das sagt auch das Strukturwandelbarometer der Arbeiterkammer.
Ja, aber bevor wir in Pessimismus verfallen: Die österreichische Gewerkschaftsbewegung ist ja bislang nicht völlig einflusslos. Es gibt uns noch immer als gestaltende Kraft. Wir haben in Österreich in den letzten Jahren seit der Krise den Niedriglohnbereich im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern dynamischer entwickelt. Wir haben nach wie vor 97,5 Prozent Abdeckungsgrad durch Kollektivverträge. Gerade wieder haben wir neue KVs abgeschlossen. In Wirklichkeit schaffen wir – Betriebsrätinnen und Betriebsräte sowie Gewerkschaften – es gemeinsam, eine KV-Politik gegen die europäische Entwicklung umzusetzen.
In den vergangenen Jahren ist es z. B. gelungen, die Zahl der freien Dienstverhältnisse zurückzudrängen. Die Teilzeitarbeit ist gut abgesichert, der Teilzeitzuschlag ein sozialpolitischer Meilenstein. Überlassene Arbeitskräfte sind in Österreich wie in keinem zweiten europäischen Land abgesichert. Die Kontinuität in der Lohn- und Gehaltspolitik ist beachtlich. Wir haben regelmäßig zwölf Monate kollektivvertragliche Laufzeiten – viele Beschäftigte glauben daher, es gebe ein „Ministerium für die Erhöhung von Löhnen und Gehältern“. All das vor dem Hintergrund der europäischen Entwicklung. Ich glaube, das sind gute Ergebnisse, weil die Gewerkschaftsbewegung in Österreich klare Positionen hat. Das ist das Ergebnis der Zusammenarbeit mit den Betriebsräten, der Zusammenarbeit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung im ÖGB und auch mit den Arbeiterkammern.
Mit unserer modernen Kommunikationstechnik und der ständigen Erreichbarkeit hat sich viel verändert. Die Menschen neigen da zur Selbstausbeutung.
Wenn man Notebook und Handy auch außerhalb der Arbeitszeit nutzen kann, verbirgt sich oft dahinter, dass man allzeit verfügbar ist. Und die meisten arbeiten auch immer wieder in ihrer Freizeit mithilfe dieser Geräte. Der scheinbare Vorteil liefert die Basis für neue Arbeitskulturen. Das ist auch Strategie. Wir haben in einigen heurigen KV-Verhandlungen von manchem Arbeitgeber den Tipp bekommen, Notebook oder Handy einfach abzudrehen. Die wissen natürlich genau, dass es niemand macht. Der Tipp ist aber gut.
Ich bin der Ansicht, wenn gearbeitet und dadurch die Freizeit unterbrochen wird, sollen Mehrarbeitszeit und Überstunden bezahlt werden.
Viele ArbeitnehmerInnen vergessen, dass es da oft nur um die Bezahlung von Überstunden geht.
Es gibt manchmal eine zu großzügige Verzichtslogik bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Damit spekulieren die Arbeitgeber. Wegen der paar abgerufenen Mails oder beantworteten Mails schreibt doch niemand Mehrarbeit oder Überstunden …
Wird man daran etwas ändern können?
Wir haben als GPA-djp eine Infokampagne dazu gemacht. Ich bin sicher, dass die Arbeitgeberüberlegung, dass sich die ArbeitnehmerInnen alles gefallen lassen, letztendlich nicht aufgeht. Ich glaube auch nicht, dass solche Überlegungen für produktive Unternehmen ein brauchbares Unternehmenskonzept liefern können. Auf Dauer lohnt sich das nicht. Die Raiffeisen Informatik GmbH z. B. schmeißt jetzt offenbar ihre meist älteren IT-Angestellten hinaus. Die haben vor 25 Jahren das IT-System dort aufgebaut – 60-jährige IT-Angestellte. Das kommt in der Öffentlichkeit nicht mehr gut an. Ich glaube immer noch daran, dass eine engagierte Gesellschaft irgendwann auf so etwas reagiert. Da bin ich zuversichtlich. Die Zeit der Betriebsräte und Gewerkschaften kommt erst.
Die GPA-djp vertritt auch Führungskräfte im unteren und mittleren Management. Was haben die für Probleme?
Viele: Mehr Stress als je zuvor, Delegierung von Verantwortung nach unten ohne entsprechendes Gehalt. Sie sind eingebettet in unterschiedlichste Managementsysteme und -methoden, die nicht nur Spaß machen. Gerade die mittleren Führungsebenen sind derzeit stark konfrontiert mit dem, was als Krise gesehen wird. Wir wissen aus vielen Gesprächen, dass große Ängste existieren und die Spielräume eingeschränkter als je zuvor sind.
Die Anforderungen werden größer, die Möglichkeiten geringer und sie müssen vieles tun, was sie vielleicht nie tun wollten. Es wird tatsächlich durchdelegiert zu jenen, die die operative Umsetzung bewerkstelligen sollen.
Wie weit tendieren Menschen, welche die Karriereleiter nach oben steigen, Gewerkschaftsmitglied zu bleiben?
Wenn man die aktuellen Organisationsveränderungen in vielen Unternehmen ansieht, sieht man, dass diese ArbeitnehmerInnengruppen unter Druck sind. Da wandelt sich oft die Einstellung gegenüber Gewerkschaften. Es ist kein Zufall, dass wir in der GPA-djp im Jahr 2012 eines unserer erfolgreichsten Jahre hatten, was die Neubeitritte betraf. Da sind viele aus der mittleren Führungsebene dabei und wir hören auch viele Sorgen. Wir hören aber auch von viel Unterstützung aus dem mittleren Management für die Betriebsräte und die Gewerkschaften.
Wir erleben bei vielen Sozialplanverhandlungen, bei Organisationsveränderungen oder bei Ausgliederungen auch aufgeschlossene Führungsstrukturen. Die absoluten GewerkschaftsgegnerInnen sind heute in den mittleren Führungsschichten weit seltener zu finden als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Das macht optimistisch: Eine Renaissance der nationalen und internationalen Gewerkschaftsbewegung scheint wieder möglich.
Viele MeinungsbildnerInnen sagen, wir haben viel in verschiedenen Organisationen versucht, aber am leichtesten gelingt betriebliche Gegenmacht über die Gewerkschaftsstruktur. Das finde ich bemerkenswert. Wir müssen vielleicht noch besser koordinieren, die europäischen Gewerkschaftsstrukturen müssen transnationaler werden. Immerhin ist die größte internationale NGO, die ich kenne, die internationale Gewerkschaftsbewegung, die gibt es schon lange und sie bietet ein gutes Netzwerk. All das ist aber durchaus noch mit viel Arbeit verbunden.
Was für Eigenschaften sind notwendig für gutes Führen? Du bist ja selbst auch Führungskraft.
Da wären natürlich Weltoffenheit, Kommunikationsfreude, Interaktion mit Menschen und natürlich eine eigene Zukunftsvision, also ein Bild, wie es sein könnte. Und gut qualifizierte Beschäftigte. Weltoffene, die gerne mitreden, nicht empfindlich sind, eine gute Streitkultur entwickeln.
Aber auch an einem Selbstbild, das täglich auf dem Prüfstand steht, führt kein Weg vorbei. Ich bin sehr stolz, dass heute mehrere Beschäftigte bei mir waren, die mir erklärt haben, warum meine Vorschläge nicht so gut sind und wie man etwas anders machen könnte. Ich mache auch täglich Fehler und neue Erfahrungen. Gut zuhören muss man aber können, Ideen anerkennen und die Umsetzung fördern. Als ich jünger war, habe ich gedacht, irgendwann muss ich dann nicht mehr täglich Führungsarbeit leisten. Aber das war eine Illusion.
Wir danken für das Gespräch.
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Keine Streiks im Gesundheitswesen
Ich durfte während meiner Zeit in Südtirol die Krankenhäuser Bozen, Bruneck, Innichen, Schlanders und Brixen besuchen und dort bei den Sprechtagen dabei sein. Bei meinen vielen Gesprächen wollte ich immer wieder auch wissen, welche Erfahrungen man in Südtirol mit Streiks hat. Mir wurde berichtet, dass man in Südtirol zumindest im Gesundheitsdienst von Streiks absieht. Es werden Betriebsversammlungen abgehalten, da an diesen mehr Kolleginnen und Kollegen teilnehmen als bei Streiks.
In Südtirol gehört es zu den Aufgaben der Gewerkschaft, die Steuererklärungen für Mitglieder zu machen. Weiters gibt es noch die Patronanz, die eine reine Dienstleistung für die Mitglieder ist, und die Ansuchen, welche man an den Staat stellen kann, erledigt, wenn die Mitglieder dazu den Auftrag geben.
Der ASGB ist ein autonomer Gewerkschaftsbund und somit unabhängig von Italien. Natürlich wirken sich die italienischen Gesetze auf die Gewerkschaftsarbeit in Südtirol aus. Schulungsmaßnahmen für Betriebsrätinnen und Betriebsräte gibt es hier ganz wenige, und die einzelnen PersonalvertreterInnen müssen sich durch Selbststudium weiterbilden. Die verschiedenen Gewerkschaften, die es in Südtirol gibt, sind gleichzeitig in allen Bereichen vertreten. Zu einem gemeinsamen Vorgehen kommt es sehr selten, da kein Dachverband existiert.
Bei meinen Rundgängen durch die Krankenhäuser konnte ich mir auch einige Stationen und die verschiedensten Bereiche in den Spitälern ansehen. In Bozen erhielt ich eine spezielle Führung durch das Krankenhaus. Ich durfte dort die Wäscherei, die Küche und auch die Werkstätten besichtigen. Die Beschäftigten der Werkstätten sind für die Instandhaltung zuständig. Aber auch in den Werkstätten wird beim Personal kräftig eingespart und es wurde in den vergangenen Jahren von einem Stammpersonal von 45 Personen auf derzeit 38 FacharbeiterInnen reduziert. Zusammenfassend kann ich berichten, dass diese vier Wochen sehr aufschlussreich, lehrreich und mit vielen Informationen gespickt waren und ich wieder eine andere Sichtweise auf die Probleme, die es in Österreich gibt, bekommen habe.
Einblicke in die Gewerkschaftsarbeit
In meiner Freizeit hatte ich die Gelegenheit, mir Südtirol etwas genauer anzusehen. Bei meinen Ausfahrten mit dem Motorrad erhielt ich tiefe Einblicke in die herrliche Landschaft von Südtirol. Die unzähligen Pässe, die es hier gibt, lassen jedes Biker-Herz höher schlagen. Neben Obst- und Weinanbau wird hier auch noch normale Landwirtschaft betrieben. Aber wenn man die raue, hügelige und zeitweise sehr steile Landschaft sieht, kann man erahnen, wie schwer hier auch die landwirtschaftliche Arbeit ist.
Zum Abschluss meines Berichtes darf ich mich noch bedanken. Mein herzlicher Dank gilt vor allem Evelyn Januth und Andreas Dorigoni, die sich für mich sehr viel Zeit genommen haben, die mir die Zeit in Südtirol sehr erleichtert, einen tollen Einblick in die gewerkschaftliche Arbeit ermöglicht und mich sehr herzlich aufgenommen haben.
INTERVIEW:
Zur Person
Evelyn Januth
Alter: 38, Wohnort: Bozen – Südtirol/Italien
Erlernter Beruf: Sekretärin
Firmenstandort: Bozen
Gewerkschaft: ASGB – Autonomer Südtiroler Gewerkschaftsbund
Seit wann im Euro-BR? Seit 2007 beim ASGB tätig
Wie ist Ihr Familienstand?
Ich bin mit Andreas Dorigoni verheiratet, er ist Verwaltungssachbearbeiter im öffentlichen Dienst, wir haben zwei Söhne, Samuel ist zehn Jahre alt, Lukas acht Jahre, beide besuchen die Volksschule.
Was bedeutet Ihnen Arbeit?
Meine Arbeit gibt mir Sicherheit, Unabhängigkeit und Lebenserfüllung.
Wie sehen Sie die italienische Wirtschaft?
Zurzeit läuft die Wirtschaft auch bei uns schlecht aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise, vor allem sind die Arbeitsplätze sehr stark gefährdet.
Was bedeutet Ihnen Gewerkschaft?
Meine Gewerkschaft ist für mich Ansprechpartner in jeglichen Bereichen der Bürokratie.
Wie und wie oft machen Sie Urlaub?
Wir fahren einmal im Jahr zum Familienurlaub ans Meer und ansonsten gehen wir in die Berge wandern und Schifahren.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Gesicherte Arbeitsplätze für unsere Kinder und Jugendlichen, angepasste Löhne und angepasste Renten, damit man nach über 40 Jahren Arbeit bis ans Monatsende auskommt.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor walter.wipplinger@klinikum-wegr.at
oder die Redaktion aw@oegb.at
Tausende Wohnungen fehlen
Die Neubauleistung hinkt in Österreich dem tatsächlichen Wohnraumbedarf um Tausende Wohnungen jährlich nach. Dies ist umso alarmierender, als gleichzeitig auch die Arbeitslosigkeit im Baubereich ansteigt: Ende September 2013 waren im Baubereich um 20,2 Prozent mehr Menschen arbeitslos als im Vorjahr!
Diese hohen Arbeitslosenzahlen auf die Pleite der Baufirma Alpine zu schieben hieße, vor der Realität die Augen zu verschließen.
Es ist uns in der Gewerkschaft Bau-Holz gelungen, in guter Zusammenarbeit mit dem Masseverwalter und den österreichischen Bauunternehmen beinahe alle Alpine-Betroffenen wieder in Beschäftigung zu bringen. Mit September waren nur mehr 133 der 4.905 Ex-Alpine-Beschäftigten laut Arbeitsmarktservice zu vermitteln. Die Arbeitslosigkeit am Bau resultiert vielmehr aus der finanziellen Zurückhaltung öffentlicher und privater Investitionen auf Grund der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Auch Expertinnen und Experten bestätigen, dass bei Investitionen in Infrastruktur, Sanierung und in leistbares Wohnen ein großer Aufholbedarf besteht. Zu wenige Aufträge verursachen einen noch schärferen und damit unsozialen und unfairen Wettbewerb. Zusätzlich verdrängen ausländische Firmen mit ihren Beschäftigten durch Dumpingpreise seriös arbeitende regionale Firmen vom Markt.
Um diesen bedenklichen Entwicklungen entgegenzutreten, hat die von den Bausozialpartnern ins Leben gerufene Initiative UMWELT + BAUEN gemeinsam mit Wohnbau-, Finanz- und Sanierungsexpertinnen und Experten intensiv an Lösungsansätzen gearbeitet. Oberste Priorität war, dass der Budgetpfad nicht verlassen werden muss und die Lösungen nicht am Föderalismus in Österreich scheitern.
Die wichtigsten Eckpunkte sind neben einer Wiedereinführung der Zweckbindung der Wohnbauförderung spätestens mit dem nächsten Finanzausgleich neue Wege, um budgetneutral Mittel für den Wohnbau zu erhalten, eine Forcierung des sozialen Wohnbaus und der urbanen Nachverdichtung und, wo immer rechtlich möglich, Auftragsvergaben an österreichische Firmen. Hier muss die öffentliche Hand Vorbildwirkung haben. Die steirische Winterbauoffensive zeigt mit ihrer Vergabepraxis, wie es geht.
Es geht um Arbeitsplätze
Die erarbeiteten umsetzungsreifen Konzepte wurden der Bundesregierung präsentiert und fanden Aufnahme in die Programme beider Regierungsparteien. Ein erster wichtiger konkreter Schritt wurde mit dem Bau-Konjunkturprogramm und einem Wohnbaupaket gesetzt, das die Bundesregierung im Juni vorstellte. 745,5 Mio. Euro sind allein für 2014 vorgesehen.
Nun wird es daran liegen, dass die neue Bundesregierung möglichst rasch nach ihrer Angelobung weitere Schritte setzt. Es wäre fahrlässig, einen so wichtigen Bereich wie den Wohnbau hintanzustellen: Hier geht es um Tausende Arbeitsplätze und darum, dass Menschen in Österreich keine Angst um ihr Dach über dem Kopf haben müssen. Nicht zuletzt bringen Investitionen in den Wohnbau und in Arbeitsplätze der öffentlichen Hand auch deutliche Mehreinnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Jeder investierte Euro kommt mehrfach zurück.
]]>Der Kommentar von Markus Marterbauer „Neue Bundesregierung: Wollen wir etwas?“ aus der A&W 7/2013 ist unter den Top 5 der meistgelesenen Beiträge.
Mit John Maynard Keynes aus der Krise
Markus Marterbauer befasst sich in dem Blogbeitrag mit dem Ökonomen John Maynard Keynes, dessen Werk aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen Europas in der gegenwärtigen Finanzkrise wieder verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet wird. Gerechtfertigt meint Marterbauer: Keynes war engagiert im Kampf um seine wirtschaftspolitischen Überzeugungen und es lassen sich auch zahlreiche Parallelen zwischen der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 erkennen. Heute wie damals gibt es verheerende Folgen nicht ausreichend regulierter Finanzmärkte, Massenarbeitslosigkeit und ein Versagen der auf der neoklassischen Wirtschaftstheorie basierenden Wirtschaftspolitik.
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Mythos Wettbewerbsfähigkeit und seine Widersprüchlichkeiten
Florian Schall studiert Volkswirtschaft und Sozioökonomie an der WU. Er nimmt die oft zitierte „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ unter die Lupe. Der Tenor des aktuellen Diskurses reduziert sich auf die Kernaussage: je schlechter die Lohnentwicklung und je niedriger die Steuerleistung, desto höher die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Doch diese Auffassung stützt sich auf quantitative Wettbewerbsindikatoren, die ausschließlich auf Kosten bzw. Preise abstellen. Dabei wird ein negativer Zusammenhang zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Lohnstückkosten vermittelt. Empirisch ist aber nachgewiesen, dass eine Reduktion der Lohnstückkosten in keinem Zusammenhang mit einer höheren Wirtschaftsleistung steht. Hohe Lohnstückkosten sind ein Zeichen hoher Wertschöpfung, diese wiederum ist eine unmittelbare Folge von hoher Produktivität und damit hoher Wettbewerbsfähigkeit. Schall kommt daher zu dem Schluss, dass die Ausführungen der Diskursprotagonisten über internationale Wettbewerbsfähigkeit voller inhaltlicher Widersprüche und konzeptueller Schwächen sind.
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Die Atypisierung der Arbeitswelt und ihre Folgen
Norman Wagner präsentiert aktuelle Zahlen der Statistik Austria, die bestätigen: Die Zahl der atypisch Beschäftigten nimmt weiter zu, der Anteil zeitlich unbegrenzter Vollzeitbeschäftigter geht zurück. Unselbstständig atypische Beschäftigung stieg seit 2004 um fast ein Drittel an. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der unselbstständig Beschäftigten beträgt mittlerweile 31,2 Prozent. Fast der gesamte Beschäftigungsanstieg von 2000 bis 2012 lässt sich auf den Anstieg von Teilzeitbeschäftigung zurückführen. Die Zahl geringfügig und teilzeitbeschäftigter Frauen könnte bald höher sein als jene der vollzeitbeschäftigten. Ein relevanter Anstieg von Vollzeitarbeitsplätzen scheint unwahrscheinlich. Für Betroffene bringt atypische Beschäftigung mitunter Vorteile, Teilzeitbeschäftigung kann z. B. Kinderbetreuung erleichtern. Die Nachteile – geringe Arbeitsplatzsicherheit von befristet Beschäftigten oder Leiharbeitskräften, kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld freier DienstnehmerInnen, oftmals keine soziale Absicherung von geringfügig Beschäftigten und in der Folge keine oder nur eine niedrige Pension im Alter – sollten allerdings nicht übersehen werden. Wagner weist darauf hin, wie wichtig es ist, Arbeitsplätze zu schaffen, die eine finanzielle und soziale Absicherung der Erwerbstätigen gewährleisten.
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Kritik am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)
Mit der Frage nach der Berechtigung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beschäftigte sich Georg Feigl, Referent für öffentliche Haushalte der AK Wien. Der ESM ist seit Längerem Zielscheibe der Kritik am Krisenmanagement der EU – in der öffentlichen Diskussion beruhen die Informationen allerdings oftmals auf unrichtigen Darstellungen oder Unklarheiten über seine Funktionen und die Verlustrisiken. Feigl stellt die Funktionsweise des ESM dar und klärt über „Haftungen“, Verlustrisiken und Alternativen auf. Insbesondere weist er darauf hin, dass ein Scheitern der Eurozone weitaus höhere politische und realwirtschaftliche Kosten verursachen würde, als die behaupteten finanziellen Risiken des ESM.
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]]>Bildung beginnt im Kindergarten
Der beste Weg, damit sich Jugendliche eine Wohnung leisten können, sind aber ordentliche Einkommen – und damit gute Jobs und eine gute Ausbildung. Mit letzterer, waren sich alle TeilnehmerInnen in Bad Ischl einig, kann man gar nicht früh genug anfangen. Kaske: „Bildung beginnt im Kindergarten, im Bildungsgarten, wie ich gerne sage.“ Oberhauser: „Es geht nicht mehr nur um warm, satt und sauber. Es geht um Kinderbildung, nicht nur um Kinderbetreuung. Die Sozialpartner verlangen daher ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr.“ Zustimmung kommt aus der Politik – von Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner: „Was in diesem Alter an Bildung versäumt wird, kann später kaum noch nachgeholt werden“ – und der Wissenschaft: „Die Wahrscheinlichkeit, später auf ein Gymnasium zu gehen, steigt durch Krippenbesuch um 38 Prozent“, sagte Jörg Dräger von der deutschen Bertelsmann-Stiftung. Gehen Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund in die Krippe, steige die Gymnasialwahrscheinlichkeit um 55 Prozent, bei Kindern von Eltern mit maximal Hauptschulabschluss seien es sogar plus 83 Prozent.
In Österreich jedoch gehen viel zu wenig unter Dreijährige in die Krippe – gerade einmal 20 Prozent. In Deutschland sind es, so Dräger, auch nur 28 Prozent, in Dänemark aber zum Beispiel 72 Prozent. „Wir haben großen Aufholbedarf“, räumt Minister Mitterlehner ein. Sabine Oberhauser, die auch ÖGB-Frauenvorsitzende ist, sieht ein weiteres Argument für mehr Kindergartenjahre: „Wir müssen in ganz Österreich ausreichend Kinderbildungseinrichtungen anbieten, damit Frauen vermehrt Vollzeit arbeiten können.“ Einig ist man sich, dass das viele Geld, das ins Schulsystem investiert wird, künftig bevorzugt dorthin fließen soll, wo es besonders benötigt wird: an Schulen mit besonders vielen gesellschaftlich benachteiligten Kindern. Dass das funktioniert, zeigen Erfolge in den Niederlanden, Belgien und der Schweiz, betonte AK-Präsident Kaske.
Auch bei der gemeinsamen Schule der 10- bis 15-Jährigen herrscht im Wesentlichen Einigkeit – „... ohne beschränkende Festlegung durch eine frühe Bildungsentscheidung ...“, heißt das im Konsenspapier der Sozialpartner. Auch dafür gibt es Unterstützung von Jörg Dräger: „Wir werden das gegliederte Schulsystem nicht länger aufrechterhalten können. Das ist keine politische Aussage, sondern Fakt.“
In der Schule lernen
Argumentatives Unterfutter gibt Dräger den Sozialpartnern auch für ihre Forderung nach mehr ganztägigen Schulen: „Ganztägige Schulen führen zu besserem Sozialverhalten, höherer Schulfreude, zu mehr Lernmotivation und zu weniger Klassenwiederholungen. Österreich und Deutschland sind die letzten beiden Länder, die so entwickelt sind, dass sie kein Ganztagsschulsystem haben.“ Ganztägige Schulformen würden mehr kosten als halbtägige, „aber die Kosten werden abgedeckt von Steuereinnahmen durch höhere Erwerbsbeteiligung der Mütter“. Ein weiteres finanzielles Argument lieferte Rudi Kaske: „Lernen soll in der Schule stattfinden, damit Nachhilfe der Vergangenheit angehören kann.“ Mehr als 100 Mio. Euro geben Österreichs Eltern jedes Jahr für Nachhilfe aus. Derzeit sei das ganztägige Angebot an Österreichs Schulen mit etwa 20 Prozent aber viel zu gering, sagte Soziologe Johann Bacher von der Universität Linz. Nachmittagsbetreuung würde an fast allen AHS angeboten, kaum aber an den Hauptschulen. Und: „Was fehlt, sind die verschränkten Formen. Der Betreuungsaspekt ist halbwegs gelöst, aber der pädagogische Aspekt fehlt nahezu komplett.“
Das Bildungssystem darf keine Einbahnstraße sein – Durchlässigkeit lautet das Zauberwort. Im Detail unterscheiden sich die Sozialpartner dann aber doch, Beispiel Lehre mit Matura. Der Standpunkt ist klar, der Ausbau muss weiter vorangetrieben werden. „Das Modell ist ein Erfolgskonzept“, sagte Sascha Ernszt, Vorsitzender der Gewerkschaftsjugend (ÖGJ), jedoch: „Die Lehre mit Matura muss allen Lehrlingen offenstehen, und nicht nur denjenigen, bei denen die Vorbereitung zufällig in den Dienstplan passt. Deshalb muss es einen Rechtsanspruch auf Lehre mit Matura in der Arbeitszeit geben.“ Ansonsten schlagen die Sozialpartner in ihrem Ischl-Papier für den Bereich Lehre Schwerpunktberufsschulen für Berufe mit nur wenigen Lehrlingen vor. Das sogenannte Jugendcoaching für schulabbruchgefährdete Jugendliche soll schon in der 8. Schulstufe beginnen, ein Jahr früher als bisher, und bis zum 25. Lebensjahr in Anspruch genommen werden können. „Wir müssen bei den Menschen das Bewusstsein schaffen: Es ist zu wenig, nur einen Pflichtschulabschluss zu haben“, sagte Sozialminister Rudolf Hundstorfer.
Herausforderung NEETs
Eine große Herausforderung stellen die NEETs dar, Jugendliche, die weder in der Schule noch in einer Ausbildung noch in Beschäftigung sind. „Die größte Gruppe der jungen Menschen ohne Ausbildung sind übrigens junge Mütter, die sehr früh ein Kind bekommen haben und nachher den Wiedereinstieg nicht schaffen“, so Hundstorfer. Soziologe Bacher beziffert die NEETs mit acht Prozent der Jugendlichen in Österreich: „Vier Prozent der 16- bis 24-Jährigen sind aktiv arbeitssuchend, nur die sind auch von der offiziellen Arbeitslosenstatistik erfasst. Dazu kommen zwei Prozent mit Arbeitswunsch und weitere zwei, die weder auf der Suche nach Arbeit sind noch den Wunsch dazu haben.“
Bertelsmann-Stiftungs-Chef Dräger zeigt ein Problem auf, das junge Menschen zu NEETs macht: Soziale Ungerechtigkeit bringt „Kellerkinder“ hervor, die weder lesen noch schreiben noch rechnen können. „Diese Jugendlichen haben keine Chance, am Gesellschaftsleben, am politischen Leben oder am Arbeitsmarkt teilzunehmen.“ Was nicht sein müsste, wie andere Länder mit anderen Bildungssystemen zeigen. So haben Kinder mit Migrationshintergrund in Österreich im Gegensatz zu Kanada großen Rückstand im Lesen und im Rechnen. Noch deutlich negativer als Migrationshintergrund wirkt sich soziale Benachteiligung aus: mehr als drei Jahre Lernrückstand.
Jugendliche ohne Chancen – das ist für Dräger nicht nur ein individuelles Problem der Betroffenen, sondern auch für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft: „Innerhalb von 80 Jahren kostet schlechte Bildung Deutschland 2.800 Mrd. Euro.“ Er sieht ein weiteres Problem: Der Strukturwandel führt dazu, dass Routinejobs (z. B. Buchhaltung) weniger werden, die Nachfrage nach „kognitiven Nicht-Routine-Jobs“ (z. B. Kreativjobs) aber steigt. Darauf müsse das Bildungssystem reagieren, sonst drohe auf der einen Seite Fachkräftemangel, auf der anderen Arbeitslosigkeit trotz Ausbildung. Für die ÖGJ ist aber klar, dass die Wirtschaft die Verantwortung für die Ausbildung nicht allein auf das Bildungssystem abschieben darf – vor Fachkräftemangel zu warnen, ist zu wenig, die Unternehmen müssen auch etwas tun. „Derzeit warten 17.000 Jugendliche auf einen Lehrplatz in einem Betrieb. Es müssen wieder mehr Unternehmen Lehrlinge von Anfang an selbst ausbilden. Sonst wird den Jugendlichen ihre Zukunft geraubt“, sagte Vorsitzender Ernszt.
WKÖ-Präsident Christoph Leitl lobte das duale Ausbildungssystem als Weltklasse. „Es liegt im ureigensten Interesse der Betriebe, Lehrlinge auszubilden.“ Was die Umsetzung der Sozialpartnervorschläge aus Bad Ischl betrifft, drängte er zur Eile: „Als Sozialpartner sollten wir uns nicht mehr damit zufriedengeben, dass im nächsten Regierungsprogramm Überschriften zu finden sind, die umgesetzt werden. Diese Zeit haben wir nicht mehr.“
Downloads: Sozialpartner-Positionen „Perspektiven für die Jugend“, Keynote von Jörg Dräger: www.sozialpartner.at
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]]>Aufgrund der längerfristigen, bis zu fünfjährigen Beobachtungsmöglichkeit des Wiedereinstiegsverhaltens und des Vergleichs der Erwerbssituation nach dem Wiedereinstieg mit der Zeit vor der Karenz ermöglicht es nun allerdings differenziertere Aussagen.
Zurück in den Job
Die Hälfte jener Väter, die vor dem Kinderbetreuungsgeldbezug gut erwerbsintegriert2 waren, war spätestens drei Monate nach Beginn des Kinderbetreuungsgeldbezuges wieder erwerbstätig3. Weitere drei Monate später erhöht sich dieser Anteil auf insgesamt fast drei Viertel (71 Prozent). Die Mehrheit der Frauen hingegen, die vor der Geburt des Kindes gut erwerbsintegriert waren, ist auch mit Ende der gesetzlich möglichen kündigungsgeschützten Karenzdauer – dem zweiten Geburtstag des Kindes – noch nicht wieder erwerbstätig. Nur 38 Prozent finden sich zu diesem Stichtag erneut in einer Beschäftigung.4 Erst zum Stichtag dritter Geburtstag des Kindes ist die überwiegende Mehrheit der Frauen wieder in einer Beschäftigung (63 Prozent).5 Viele Frauen schöpfen offensichtlich die maximale Bezugsdauer der längsten Variante des Kinderbetreuungsgeldes weitgehend aus und steigen erst dann wieder ein. Bei Frauen, die vor der Geburt des Kindes nicht oder nicht überwiegend erwerbstätig waren, ist die Wiedereinstiegswahrscheinlichkeit noch geringer: Hier sind mit Stichtag vierter Geburtstag immer noch deutlich weniger als die Hälfte, nämlich nur 41 Prozent, in einer Beschäftigung. Durch den Vergleich der Ergebnisse der Jahreskohorten, in denen bereits Kurzmodelle in Anspruch genommen werden konnten6, mit denen, in denen es nur eine, die längste Kinderbetreuungsgeldbezugsmöglichkeit gab, können zwei positive Trends beobachtet werden. So hat sich der Männeranteil deutlich erhöht7 und Kurzmodelle scheinen einen frühen Wiedereinstieg bei Frauen zu unterstützen. Diese Trends sind allerdings nur bei Personen, die vor der Karenz gut erwerbsintegriert waren feststellbar und nicht bei jenen, die davor nicht bzw. schlecht erwerbsintegriert waren.
Kontinuität oder Bruch?
30 Prozent der Frauen arbeiten nach dem Wiedereinstieg nicht mehr im selben Betrieb. Bei den Männern wechselt nur jeder Fünfte den/die ArbeitgeberIn. Die Ergebnisse zeigen, dass auch die Dauer der Unterbrechung beim ArbeitgeberInnenwechsel eine Rolle spielt: Je früher der Wiedereinstieg erfolgt, desto eher ist eine Kontinuität im Arbeitsverhältnis gegeben. Diese Befunde sind zunächst weder positiv noch negativ zu werten. So wissen wir, dass die Karenzzeit von Frauen auch genutzt wird, um die berufliche Situation zu überdenken und gegebenenfalls eine berufliche Neuorientierung anzugehen oder eine unbefriedigende Beschäftigungssituation zu beenden, also durchaus positive Veränderungsprozesse abbilden kann.
Diskriminiert beim Wiedereinstieg
Aber viele Frauen können auch nicht mehr auf ihren Arbeitsplatz zurück, entweder weil die Arbeitszeiten mit den Kinderbetreuungszeiten nicht vereinbar sind, oder weil ein Wechsel aufgrund betrieblicher Schikanen als einzige Option bleibt. Allein in den Monaten April bis Juni 2013 zählten die ArbeitsrechtsberaterInnen der AK Wien rund 180 in der Beratung zu behandelnde Diskriminierungen im Zusammenhang mit dem Wiedereinstieg.
Die häufigsten Benachteiligungen sind, dass Frauen nach der Karenz geringwertigere Tätigkeiten ausüben müssen (z. B. Verlust der Filialleitung), an einen schlecht erreichbaren Arbeitsort versetzt werden oder Arbeitszeiten angeordnet bekommen, die mit der Kinderbetreuung nicht vereinbar sind. Beim Vergleich des Einkommens vor und nach der Karenz zeigt sich, dass Frauen nach der Karenz mit deutlich niedrigeren Monatslöhnen zurechtkommen müssen als zuvor – und zwar auch noch mehrere Jahre nach der Geburt des Kindes. So verdienten im Jahr vor der Geburt des Kindes 45 Prozent der überwiegend erwerbstätigen Frauen, die 2006 ein Kind geboren haben, 2.000 Euro brutto im Monat oder mehr. Im vierten Jahr nach der Geburt dagegen kommen nur noch 17 Prozent auf ein Monatsentgelt ab 2.000 Euro. Bei Männern unterscheidet sich das Einkommen dagegen kaum. Der Anteil der Männer mit einem Erwerbseinkommen von 2.000 Euro und mehr sank im selben Vergleichszeitraum kaum: So waren in diesem Einkommenssegment im Jahr vor Beginn des Kinderbetreuungsgeldbezugs 52 Prozent der Männer einzuordnen, im vierten Jahr danach beträgt dieser Anteil 50 Prozent, d. h. die Einkommenssituation hat sich bei den Männern – ganz im Unterschied zu den Frauen – kaum verändert.
Einkommensentwicklung
Die großen Unterschiede in der Einkommensentwicklung zwischen Männern und Frauen liegen in den ersten zwei bis drei Jahren nach Beginn der Kinderauszeit vor allem am hohen Anteil an Frauen, deren Berufsunterbrechung noch andauert. Im vierten Jahr kann das allerdings nicht mehr der wesentlichste Grund sein. Einkommenseinbußen aufgrund des hohen Anteils von Müttern, die in Teilzeit wieder einsteigen, werden hier wahrscheinlich den größten Einfluss haben. Da die Arbeitszeit allerdings vom Hauptverband nicht erhoben wird, kann über das genaue Ausmaß des Einkommensnachteils durch Teilzeit im Wiedereinstiegsmonitoring keine Aussage gemacht werden. Ein weiterer Grund sind die oben dargestellten Benachteiligungen, die Frauen im Zusammenhang mit dem Wiedereinstieg erfahren.
Handlungsbedarf
Neben einem forcierten Ausbau qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung brauchen wir einen besseren Schutz vor Benachteiligungen beim Wiedereinstieg, die Bekämpfung der Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigung bei den beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, und mit Kinderbetreuungspflichten zu vereinbarende Arbeitszeitarrangements für beide Geschlechter. Es braucht auch einen Ausbau der Möglichkeiten der Stundenaufstockung bei Teilzeit bzw. zur Rückkehr in Vollzeit. Teilzeit mit geringem Stundenausmaß von Frauen als alleinige längerfristige Vereinbarkeitsstrategie, wie sie in Österreich dominierend ist, schränkt die beruflichen Chancen von Frauen viel zu sehr ein.
Um die deutlich schlechteren (Wieder-)Einstiegschancen von Frauen, die vor der Geburt des Kindes nicht oder schlecht erwerbsintegriert waren, zu verbessern, ist es notwendig, ganzheitliche arbeitsmarktpolitische Unterstützungsangebote auszubauen. Diese müssen sich von der Beratung über die Berufsorientierung bis zur Qualifizierung und Unterstützung bei der Arbeitssuche erstrecken und damit individuell angepasste Unterstützung ermöglichen.
Bessere Vater-Kind-Beziehung
Die Erweiterung der Erwerbsbeteiligungsmöglichkeiten von Müttern wird auch ganz wesentlich davon abhängen, ob sich zukünftig Väter stärker an der Kinderbetreuung beteiligen werden. Wie die Ergebnisse des Wiedereinstiegsmonitorings zur Einkommensentwicklung von Männern, die Kinderbetreuungsgeld bezogen haben, zeigen, spricht hinsichtlich der Einkommenschancen – die sich nach einer Väterkarenz in der Regel nicht verschlechtern – nichts dagegen. Und hinsichtlich der Vater-Kind-Beziehung ist Väterkarenz – wie in einer ebenfalls erst kürzlich erschienenen OECD-Studie8 nachgewiesen wird – eindeutig positiv. Denn Väter, die Karenz in Anspruch nehmen, beteiligen sich deutlich regelmäßiger an der Betreuung der Kinder als Väter, die keine Karenz in Anspruch nehmen.
1 Kurzbericht zum Wiedereinstiegsmonitoring unter www.arbeiterkammer.at.
2 = mehr als 50 Prozent Beschäftigungstage im Jahr vor der Geburt des Kindes (Frauen) bzw. vor dem Beginn des Kinderbetreuungsgeldbezuges (Männer).
3 = vollversicherte Standardbeschäftigung, d. h. ohne geringfügig Beschäftigte.
4 Von den weiteren 62 Prozent dieser Frauen befindet sich ein kleiner Teil aufgrund eines weiteren Kindes erneut in Karenz.
5 Diese Ergebnisse beziehen sich auf die Jahreskohorte 2006.
6 Ab 2008 gab es neben dem 30+6-Modell die neu eingeführten Kurzmodelle 20+4 und 15+3.
7 Er hat sich von 2006 auf 2010 fast verdoppelt von 9 Prozent (2006) auf 17 Prozent (2010).
8 „Fathers Leave, Fathers’ Involvement and Child Development. Are they related? Evidence from four OECD Countries“, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 140, 2013, OECD Publishing.
Mehr Info unter: tinyurl.com/ouwqwmu
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gerlinde.hauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>(In)Transparenz im Pflegebereich
Während die Daten zum Pflegegeld (u. a. BezieherInnen nach Stufen/Altersgruppen/Bundesländern) und der entsprechende finanzielle Aufwand schon immer genau erfasst wurden, gestaltet sich das Vorhaben, aussagekräftige und detaillierte Daten im Bundesländervergleich zu den Sachleistungen (Pflege- und Betreuungsdienste) zu erhalten, als durchaus schwierig.
Der Aufwand für das Pflegegeld betrug 20111 für den Bund 2,071 Mrd. Euro und für die Länder 379 Mio. Euro, in Summe somit rund 2,45 Mrd. Euro (0,8 Prozent des BIP). Für Pflege- und Betreuungsdienste wurden 2011 laut Statistik Austria 2,9 Mrd. Euro (Vollkosten/Bruttokosten) aufgewendet, der sogenannte Nettoaufwand – in einem verkürzten Sinn – betrug 1,6 Mrd. Euro2. Im Ergebnis wurden im Jahr 2011 damit rund vier Mrd. Euro für Pflege (Geld- und Sachleistungen) ausgegeben, das entspricht rund 1,35 Prozent des BIP.
Aktuell (8/2013) beziehen in Österreich knapp über fünf Prozent der Bevölkerung (439.000 Personen) Pflegegeld, international eine sehr hohe Zahl. Anzumerken ist aber, dass sich ein Großteil in den unteren Stufen befindet: 52 Prozent der PflegegeldbezieherInnen in den Stufen 1 und 2, nimmt man die Stufe 3 dazu, sind es fast 70 Prozent aller BezieherInnen.
Im Vergleich zum nach wie vor geldleistungsdominanten Pflegesystem in Österreich ist der Anteil der Gesamtausgaben für Pflege an der Wirtschaftsleistung in den skandinavischen Ländern mehr als doppelt so hoch. Dort ist auch die Professionalisierung deutlich höher als in Österreich.
Status quo
Laut BMASK bzw. Statistik Austria werden 16 Prozent der PflegegeldbezieherInnen stationär betreut, 30 Prozent nehmen mobile Dienste in Anspruch, drei Prozent erhalten eine Förderung der 24-Stunden-Betreuung. Jedenfalls über 50 Prozent werden zu Hause ohne professionelle Hilfe gepflegt und betreut. Die hohe Nichtinanspruchnahme professioneller Dienste durch die PflegegeldbezieherInnen kann wohl auf mehrere Faktoren zurückgeführt werden, u. a. ein verfestigtes – konservatives – Rollenbild für Frauen, fehlende Dienstleistungsangebote und Kostenvorbehalte.
Die Pflege und Betreuung durch Angehörige – zum Großteil durch Frauen (Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter) – spielt „traditionell“ in Österreich eine große Rolle und bildet auch bestehende Versorgungsdefizite im Bereich der Sozialen Dienste (u. a. hinsichtlich flächendeckender Verfügbarkeit und Qualität) ab. Auch das Kostenargument spielt eine Rolle, da mit dem Pflegegeld die pflegebedingten Mehraufwendungen nur pauschaliert abgegolten werden und ein nicht unwesentlicher Beitrag aus dem Einkommen (meistens der Eigenpension bzw. der Familie) geleistet werden muss.
Harmonisierte Pflegestandards?
Derzeit sind weder die Standards in der Pflege einheitlich definiert, noch sind verlässliche Datengrundlagen über die Versorgungssituation in den einzelnen Bundesländern bzw. Regionen verfügbar. Damit fehlen wesentliche Entscheidungsgrundlagen für einen zielgerichteten Ausbau der Sachleistungen in Österreich.
Neben dem Aufbau eines standardisierten Monitorings der Versorgungssituation in den Bundesländern soll mit den Mitteln aus dem beim BMASK eingerichteten Pflegefonds der Mehraufwand der Bundesländer beim Auf- und Ausbau der Betreuungs- und Pflegedienstleistungen teilweise abgedeckt werden. In Summe stehen 2011 bis 2016 kumuliert 1,3 Mrd. Euro zur Verfügung und erste Versorgungszielwerte wurden definiert.
Zukünftiger Bedarf
Im Jahr 2012 hatte Österreich 8,4 Mio. EinwohnerInnen; der Anteil der Personen, die 65 Jahre und älter waren, betrug 17,9 Prozent3. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil bei knapp neun Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern fast ein Viertel betragen. Insbesondere der Anteil der „älteren Alten“ wird stark steigen: Knapp über eine Mio. Menschen (rund elf Prozent) wird älter als 75 Jahre sein.
Die Zahl pflege- und betreuungsbedürftiger Personen wird allein aus diesem Grund jedenfalls steigen. Inwieweit die dazugewonnenen Jahre „gesunde“ Jahre oder solche mit Pflegebedarf sind, kann nur geschätzt werden. Aber auch die geänderten Wohnverhältnisse (mehr Singlehaushalte, Entfernung des Wohnorts der Kinder von jenem der Eltern) sowie die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen und deren späterer Pensionsantritt werden die Nachfrage nach professionellen Angeboten bei den Sozialen Diensten steigern. Dies muss als Chance für den Arbeitsmarkt gesehen werden.
Seriös absehbar ist aus heutiger Sicht nur, dass für Pflege und Betreuung größere Budgets als heute erforderlich sein werden. Verblüffend ist aber so manche langfristige Kostenprojektion mit dem Befund, dass das Pflegesystem vor einem Finanzierungskollaps stehen soll. Ein Befund, der – wie oben beschrieben – weder auf verlässliche Datengrundlagen noch auf konkrete Ausbauszenarien zurückgreifen kann und darüber hinaus methodisch zweifelhaft ist.
Aus AK-/ÖGB-Sicht wäre deshalb mehr Kostenwahrheit – nicht nur bei (Langfrist-)Projektionen – das Gebot der Stunde, um eine unnötige Verunsicherung der Menschen zu vermeiden. Projektionen des künftigen Budgetbedarfs im Bereich der Pflege in Österreich bzw. in Europa (vgl. Europäische Kommission, The Ageing Report 2012) beziehen sich einseitig vorwiegend auf die anfallenden „Kosten“ (Investitionen, Personalbedarf, Betriebskosten etc.), ohne aber die beachtlichen positiven Effekte auf die öffentlichen Haushalte zu berücksichtigen (u. a. Impulse durch Investitionen, direkte Lohnabgaben durch zusätzliche Beschäftigung, Einsparungen im Gesundheitsbereich durch bedarfsgerechtere Versorgung u. v. m.).
Diese einseitige und ökonomisch kurzsichtige Betrachtung führt damit stets zu Verzerrungen und massiv überhöhten Kostendarstellungen.
Doppelte Entlastung
Die „wahren“ Netto-Kosten des notwendigen Ausbaus der Pflege-Dienstleistungen fallen umso niedriger aus, je höher die (direkten und indirekten) Beschäftigungseffekte und die positiven Wirtschaftsimpulse ausfallen. Eine Professionalisierung des Pflegesektors insgesamt bringt aus Sicht von AK und ÖGB nicht nur eine massive (physische und psychische) Entlastung der bisher pflegenden Angehörigen mit sich, sondern auch eine Entlastung der öffentlichen Budgets, da Fehlversorgungen vermieden werden und gleichzeitig beachtliche Beschäftigungspotenziale realisiert werden können.
Eine aktuelle Studie des NPO-Kompetenzzentrums der WU Wien (2012)4 kommt sogar zum Schluss, dass ein Euro, der 2010 in Wien in mobile Pflege- und Betreuungsdienste investiert wurde, einen ökomischen und gesellschaftlichen Nutzen von 3,70 Euro ausgelöst hat. Die Frage lautet daher: Können wir es uns eigentlich leisten, nicht zu investieren?
Gerade durch die verbesserten Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie sollte auch das „innerfamiliäre“ Leistbarkeitsargument professioneller Pflegeangebote wesentlich entschärft werden – zugespitzt könnte gelten: steigende Haushaltseinkommen ermöglichen statt „Gratis-Pflege“ forcieren.
1 BMASK (2012), Pflegevorsorgebericht; ab 2012 nur noch Bundespflegegeld.
2 Minus Kostenbeiträge, Regresse und sonstige Einnahmen.
3 Statistik Austria (2013), Demografische Indikatoren.
4 tinyurl.com/o4x3lem
BMASK – Informationen zur Pflege:
tinyurl.com/p9zvzxv
Schreiben Sie Ihre Meinung an die AutorInnen adi.buxbaum@akwien.at monika.weissensteiner@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Die Stadtsoziologie diskutiert und betrachtet öffentlichen Raum oftmals als sozialen Raum. Hier gibt es unterschiedliche NutzerInnengruppen, die verschiedene Bedürfnisse haben. Besonders in dicht verbauten Stadtgebieten ist der Platz knapp und manchmal treffen divergierende Interessen aufeinander.
Unterschiedliche NutzerInnengruppen
Im öffentlichen Raum treffen Menschen, planerische Maßnahmen und bauliche Gegebenheiten tagtäglich aufeinander. Die BewohnerInnen der Stadt prägen mit ihrem Verhalten, ihren Nutzungen, mit Kommunikations- und Interaktionsformen den öffentlichen Raum. In diesem Zusammenhang fällt oft das Schlagwort Diversität. Allgemein wird damit die Tatsache beschrieben, dass der öffentliche Raum von vielen Gruppen genutzt wird. Sie bringen verschiedene soziale und kulturelle Hintergründe und Bedürfnisse mit und haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was im öffentlichen Raum getan werden soll.
Verschiedene Bedürfnisse
Manchmal können schon vermeintliche Kleinigkeiten zu Konflikten führen: Da gibt es die einen, die Hunde haben und diese auch gerne spazieren führen, und andere, die am liebsten ein Hundeverbot in der Stadt hätten. Nicht selten kommt es auch zu Kontroversen zwischen Gruppen, die den öffentlichen Raum hauptsächlich als Verkehrsfläche wahrnehmen. Während die einen mit dem Auto dahinbrausen und damit viel Platz für sich beanspruchen, wollen andere mehr Raum für FahrradfahrerInnen oder FußgängerInnen. Wieder andere möchten den Raum überhaupt zum Verweilen nutzen, wünschen sich mehr Flächen zum Fußballspielen oder um Gemeinschaftsgärten anzulegen.
Es zeigt sich, dass der öffentliche Raum von vielen Menschen genutzt wird, die sehr unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse haben. Deutlich wird das, wenn man Dimensionen des Alters betrachtet. Diese sind häufig mit unterschiedlichen Nutzungsansprüchen verbunden. Kinder haben spezielle Bedürfnisse im öffentlichen Raum, diese betreffen einerseits Sicherheitsanforderungen, andererseits aber auch ausreichend kindergerecht gestaltete Frei-, Grün- und Parkflächen. Auch Jugendliche bilden eine Gruppe, die den öffentlichen Raum intensiv nutzt. Park- und Grünflächen sind für sie besonders wichtig, da sie hier die Möglichkeit haben Orte einzunehmen, wo keine Erwachsenen sind. Gleichzeitig handelt es sich auch um konsumfreie Zonen: Da Jugendliche meist nur geringe finanzielle Möglichkeiten haben, sind diese für sie besonders wertvoll. Sie können sich dort aufhalten und ihre Freizeit miteinander gestalten, ohne etwas kaufen zu müssen. Ältere Menschen haben wiederum andere spezielle Ansprüche an den öffentlichen Raum. Die gute infrastrukturelle Ausstattung in der Nähe der Wohnung ist für sie ebenso wichtig wie die Erreichbarkeit entlang möglichst kurzer Wege. Auch sollte er Möglichkeiten zum Verweilen, Beisammensitzen und Schauen sowie zum Ausruhen bieten. Bequeme und ausreichende Sitzgelegenheiten stehen hier an vorderster Stelle.
Beschränkter Platz
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie schnell es im öffentlichen Raum zu Konflikten kommen kann. Kinder, Jugendliche, aber auch ältere Menschen nutzen oft den Nahraum in ihrer Wohnumgebung – wenn der Platz beschränkt ist, kann das zu Spannungen führen. Kinder beanspruchen dann vielleicht denselben Park wie Jugendliche, wodurch Konflikte entstehen können. Ältere Menschen weisen manchmal ein höheres Ruhebedürfnis auf, sie fühlen sich möglicherweise von spielenden Kindern oder Musik hörenden Jugendlichen gestört.
Besonders deutlich, häufig aber auch schwieriger zu bewältigen, zeigen sich Auseinandersetzungen um Raum, wenn es um Menschen geht, die manchmal als Randgruppen bezeichnet werden. So sind zum Beispiel obdachlose Personen existenziell auf den öffentlichen Raum angewiesen. Bei Verlust der Wohnung bleibt meist kein anderer Ausweg, als sein Leben auf der Straße zu bestreiten. Damit wird oft eine Armutsspirale in Gang gesetzt, der kaum zu entkommen ist. Weder ein geregeltes Erwerbsleben noch die Pflege von Sozialkontakten kann im öffentlichen Raum problemlos aufrechterhalten werden. Das Leben auf der Straße ist ein hartes Los, jeder Tag bedeutet auch ein Stück weit Kampf um die eigene Existenz. Besonders die kalte Jahreszeit stellt eine Bedrohung für wohnungslose Menschen dar. Von anderen Stadtbewohnerinnen und -bewohnern werden Obdachlose jedoch häufig als Ärgernis betrachtet. Sie werden als Störfaktor im makellosen Stadtbild gesehen oder als Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln empfunden.
Ort des sozialen Zusammenhalts?
Es zeigt sich, dass der öffentliche Raum ein komplexer Ort ist, der von vielen Faktoren beeinflusst wird. Dazu gehören Verhaltensweisen, planerische Maßnahmen, die Ausstattung, aber auch Besitzverhältnisse und die Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen.
Das große Potenzial und die Chancen, die der öffentliche Raum bietet, liegen für viele in der Beschaffenheit als Ort der Begegnung, der Kommunikation und des Zusammenlebens. Besonders in Städten teilen sich unterschiedlichste Gruppen den öffentlichen Raum, damit entstehen auch Möglichkeiten des Austauschs, des Kennenlernens von Fremdem, des Erlernens und Übens von Toleranz und Vielfalt. Hier kann Integration, aber auch die kultivierte Austragung von Konflikten geübt werden. Man könnte auch sagen, im öffentlichen Raum finden sich Orte, wo sozialer Zusammenhalt produziert werden kann.
Mit Leben erfüllen
Das Konzept der Nachbarschaft und Begegnung ist jedoch noch kein Garant dafür, dass Gemeinschaft und sozialer Zusammenhalt funktionieren. Um Integration und Kontakt zu fördern oder zu ermöglichen, braucht es mehr als ein räumlich nahes Nebeneinander. Wenn die sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft zu groß sind, können diese auch im öffentlichen Raum nicht ausgeglichen werden. Im Gegenteil manifestieren sich auch in realen öffentlichen Räumen die gesellschaftlichen Ungleichheiten. Deutlich wird das am Beispiel Obdachlosigkeit. Menschen, die gezwungen sind auf der Straße zu leben, gehören zu den Schwächsten der Gesellschaft. Eine offene integrative Stadt kann tolerante Wege des Umgangs suchen. Das kann vieles bedeuten, von der Bereitstellung öffentlicher Toilett- und Sanitäranlagen über die ehrenamtliche Organisation von Essen und Schlafmöglichkeiten bis hin zu sozialen Programmen der Stadt, die sich zum Ziel setzen, Obdachlose zu unterstützen und im Winter niemanden auf der Straße erfrieren zu lassen. Umgekehrt kann die Situation aber auch ins Gegenteil kippen, und es kann zur Stigmatisierung und Verdrängung von wohnungslosen Menschen aus dem öffentlichen Raum kommen. Im extremsten Fall können menschenverachtende Gesetze wie in Ungarn beschlossen werden, die Wohnungslosen per Strafe den Aufenthalt im öffentlichen Raum verbieten. Obdachlose selbst haben kaum die Möglichkeit, für ihre Rechte einzutreten. Hier zeigt sich, dass der öffentliche Raum nicht nur bauliche Struktur ist, sondern mit sozialem Leben und Normen erst angefüllt wird. Wie und was also möglich und denkbar ist und was auch gelebt wird, ist ein Aushandlungsprozess, in dem unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden müssen. Hier gilt es, sozial Schwächere besonders zu unterstützen und ihre Interessen zu wahren.
Tipps zum Weiterlesen:
Wem gehört die Stadt? AK Stadt, ArbeitnehmerInneninteressen im urbanen Raum: tinyurl.com/p3rlbu3
Gisela Ruland, Qualität im Arbeitsumfeld: tinyurl.com/p2q5dju
Zeitschrift Wirtschaft und Umwelt:
www.ak-umwelt.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin katharina.hammer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Sich in diesem dicht gepackten Raum zu finden und gemeinsam statt einsam zu leben, ist oft schwieriger als in ländlichen Gebieten. Trotzdem zieht es vermehrt Menschen in die Städte, denn sie bieten Chancen und Raum für die Verwirklichung von Lebensträumen, Arbeitsplätze, Bildungs- und Kulturangebote, Gesundheitsversorgung sowie eine gut ausgebaute Infrastruktur. Dieser Bedarf führt in vielen Ballungszentren zu einem wilden und spekulativen Spiel der freien wirtschaftlichen Kräfte, was explodierende Mietpreise, Gettoisierungen und Wohnraummangel zur Folge hat.
Wien wächst stetig
In Wien wird durch die lange Tradition des geförderten Wohnbaus erfolgreich gegengesteuert und reguliert. Rund 60 Prozent der WienerInnen leben in geförderten Wohnungen. Diese Förderungen reduzieren den Druck des Marktes und stabilisieren die Mietpreise, doch damit allein sind attraktives Wohnen und eine funktionierende Smart City noch nicht gesichert. Aktuellen Prognosen zufolge wird Wien – einschließlich Umland („Stadtregion+“) – bis 2075 um rund eine halbe Mio. Menschen wachsen (Statistik Austria). Wien begegnet dieser Herausforderung mit einer Doppelstrategie, mit der in den nächsten Jahrzehnten notwendiger Wohnraum zu sozial verträglichen Konditionen geschaffen wird: Expansion und Verdichtung. Expansion findet zum Beispiel in der Seestadt Aspern statt. Das neue Sonnwendviertel hingegen verdichtet Wien, indem es bislang anderweitig genutzte innerstädtische Flächen nutzt.
So.vie.so
Das Sonnwendviertel ist der neue Teil von Favoriten, der neben dem neuen Hauptbahnhof aufgebaut wird und der sich in unmittelbarer Nähe zur Fußgängerzone und der U1-Station Keplerplatz befindet.
Das neue Favoritner Viertel wird letztendlich aus rund 5.500 Wohnungen für etwa 13.000 BewohnerInnen, einem Bildungscampus, Gastronomie, Einkaufs- und Freizeitangeboten, Büros und Geschäften bestehen. Im Frühjahr 2012 wurde mit dem Bau der ersten Wohnungen im Sonnwendviertel begonnen. „Bei Gesamtbaukosten von rund 171 Mio. Euro unterstützt die Stadt Wien die Errichtung der ersten 1.142 geförderten Wohnungen mit Fördermitteln im Ausmaß von 62 Mio. Euro“, so der Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig.
124 dieser geförderten Mietwohnungen erfüllen die vierte des Vier-Säulen-Modells für den Wohnungsbau – jene der sozialen Nachhaltigkeit – ganz besonders beziehungsweise haben sie es sich zum Ziel gemacht. Sie sind unter dem Titel „so.vie.so – Sonnwendviertel solidarisch“ Teil eines einzigartigen Projekts partizipativen und solidarischen Wohnens.
Während die Selbstverwaltung von Siedlungen bereits recht erfolgreich betrieben wird, wie zum Beispiel bei der „autofreien Siedlung“ in Wien-Floridsdorf, wurden beim Projekt so.vie.so die zukünftigen BewohnerInnen bereits vor dem Bau involviert. Sie durften sich das Innenleben ihres Hauses und ihre Wohnungen nach ihren Vorstellungen gestalten.
Bereits seit 2010 konnten sie aus einem vielfältigen Pool an Musterwohnungen auswählen, diese jedoch sowohl in Größe als auch Anordnung der Räume adaptieren und ihren Wunsch für die Lage der Wohnung bekannt geben. „Solidarisch wohnen ist für uns mehr als nur ein Schlagwort – das haben wir mit unserem Mitbestimmungsprojekt so.vie.so unter Beweis gestellt.
Bereits ein Jahr vor Baubeginn haben wir mit den WohnungsinteressentInnen gemeinsam geplant und gestaltet. So konnte die baubehördliche Einreichplanung auf die konkreten Wohnwünsche unserer MieterInnen ausgelegt werden! Damit stellen wir nicht nur eine nachhaltig hohe MieterInnenzufriedenheit sicher – die BewohnerInnen haben auch eine viel stärkere emotionale Bindung zu ihrem ‚Haus‘. Hier im Sonnwendviertel beginnt Nachbarschaft nicht erst mit dem Bezug der Wohnhausanlage“, so Wilhelm Haberzettl, Vorstandsvorsitzender der BWSG, Bauträger von so.vie.so.
Die Organisation der Gemeinschaft
Um die großzügig angelegten Gemeinschaftsräume zu bespielen, wurde ein von der Firma wohnbund:consult moderierter Selbstorganisationsprozess eingeleitet. Manuel Hanke von wohnbund:consult kümmerte sich um die Bildung von Interessengemeinschaften. Mit seiner Hilfe einigten sich die BewohnerInnen auf unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten der ca. 1.000 m² großen Gemeinschaftsfläche. So entstanden unterschiedliche Funktionsräume wie eine Fahrradgarage, eine Holzwerkstatt, eine Bibliothek, ein Kinderzimmer, ein Gemeinschaftsraum mit Küche oder ein Veranstaltungsraum.
Für jeden dieser Räume wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, denn „die BewohnerInnen hatten nicht nur die Möglichkeit, darüber zu bestimmen zu welchem Zweck die Gemeinschaftsräume genutzt und wie sie eingerichtet werden, sondern diese Räume sollen auch von ihnen selber bespielt, genutzt und verwaltet werden. Das funktioniert auch nur, wenn alle, die hier mitmachen, mitspielen. Was auch bisher der Fall war“, so Hanke. Wie die Entscheidungen getroffen werden, welche Statuten gelten, ist ein Teil des Prozesses, jedoch wurde auch schon ein BewohnerInnen-Beirat gewählt. Eine der fünf Beirätinnen und Beiräte ist Irmgard Winkler (56). Sie arbeitet beim Verein Neustart seit 1994 als Sozialarbeiterin und Mediatorin. Außerdem ist sie Betriebsrätin und bringt in ihren Worten „ein bisschen einschlägige Vorerfahrung und Engagement für solidarisches Handeln mit“. Das Projekt so.vie.so ist ihr zufällig „in die Hände gefallen“, als sie vor vier Jahren eine neue Wohnung suchte.
Die „zahlreichen Pluspunkte – viele Gemeinschaftsräume, dadurch die Erwartung auf Gleichgesinnte und auf ein angenehmes wechselseitiges Unterstützen, ein Passivhaus, die Möglichkeit, in einem bestimmten Rahmen die Wohnung mitzuplanen, erschwingliche Wohnkosten, zentrale Lage, Parknähe und noch vieles mehr“ – all das hat sie gleich begeistert.
Das Solidarische überwiegt
Sie steckt gerade mitten in der Hochphase, denn im November ist Schlüsselübergabe. „Derzeit sind die Arbeitsgruppen, die sich für die verschiedenen Gemeinschaftsräume engagieren, sehr gefordert, denn es gibt viel zu verhandeln, zu überlegen, zu planen. Das ist für alle Beteiligten neu. Die Möglichkeiten und Grenzen müssen ausgelotet werden. Gar nicht so einfach. „Als BewohnerInnen-Beirätin – wunderbares Wort, das eh schon vieles sagt – sehe ich meine Aufgabe darin, zu koordinieren, zu informieren, zu vernetzen, zu überprüfen. Im Interesse der BewohnerInnen.“ Klingt nach Konfliktpotenzial – oder doch eher Kooperation? „Beides! Klar, wir leben ja nicht auf einer Insel. Aber wir stehen erst am Anfang. Für mich ist das auch nicht aufwendig, sondern bereichernd. Ich wende zwar Zeit auf, aber ich bekomme ja etwas zurück, weil ich damit meine nächste Umwelt mitgestalte. Und diese Gelegenheit gibt’s ja nicht oft.“
Auch wenn das so.vie.so darauf ausgelegt ist, dass die BewohnerInnen aktiv und solidarisch miteinander leben und sich organisieren – sie müssen nicht. Man darf natürlich auch anonym bleiben – oder wie BewohnerInnen-Beirätin Irmgard Winkler meint: „Wir können unsere Wohnungstür hinter uns zumachen, wenn uns etwas zu viel wird.“ Aber sie ist zuversichtlich, dass die Solidarität untereinander bleibt und eine gute Nachbarschaft erwächst. „Es lässt sich gut an: Ich habe bei den letzten Besprechungen viel konstruktives Miteinander erlebt und bin sehr optimistisch, dass auch in Zukunft das Miteinander, das Solidarische überwiegt.“ Und wenn es nicht funktioniert? „Dann gibt es natürlich ein Worst-Case-Szenario“, so Manuel Hanke. „Dann wohnt man einfach nur nebeneinander, wie in den meisten Teilen der Stadt.“ Das werden die BewohnerInnen aber zu verhindern wissen, denn sie haben sich dafür entschieden und arbeiten hart an einem besseren, einem partizipativen und einem solidarischen Wohnen im Sonnwendviertel.
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]]>Steigerung der Sanierungsrate
Deshalb ist die energetische Sanierung bestehender Wohngebäude wichtig, wenn der Energieverbrauch und die Treibhausgasemissionen gesenkt werden sollen. Dabei werden Fenster erneuert, die Wände mit Dämmstoffen isoliert oder das Heizsystem generalüberholt. Als politisches Ziel findet sich die „Steigerung der Sanierungsrate“ daher seit Langem in den politischen Strategien (Klimastrategie 2002, Klimastrategie 2007), aber an der faktischen Situation hat sich nicht viel geändert – jedes Jahr werden etwa ein Prozent der Wohngebäude energetisch saniert. Das ist zu wenig, um die ambitionierten Ziele der Klima- und Energiepolitik bis zum Jahr 2020 zu erreichen.
70 Mio. Euro Förderung zusätzlich
Für die thermische Sanierung gibt es im Rahmen der Wohnbauförderung (WBF) Förderungen der Länder. Um die Sanierungsrate zu erhöhen, hat der Bund in den Jahren 2009 und dann 2011 und 2012 jeweils 70 Mio. Euro zusätzlich an Fördermitteln zur Verfügung gestellt. In den meisten Bundesländern kann für das gleiche Sanierungsprojekt zusätzlich noch eine Förderung aus WBF-Mitteln beantragt werden. Doch es gibt keine systematische Erhebung, wie viel die Länder zu den Sanierungen dazu zahlen, die aus den Mitteln des Sanierungsschecks gefördert werden.
Die Bundesmittel fließen aufgrund der Formulierung der derzeitigen Richtlinien primär in den Ein- und Zweifamilienhaus-Bereich, nur zu einem geringen Anteil in den mehrgeschoßigen Wohnbau. Wenn sie doch für mehrgeschoßige Wohnbauten verwendet werden, gehen sie zum überwiegenden Teil in Häuser mit Wohnungseigentum. Über 40 Prozent der Wohnungen in Österreich sind aber Mietwohnungen, doch ihr Anteil an den Förderfällen aus dem Sanierungsscheck war 2012 nicht einmal vier Prozent. Aus verteilungspolitischen Gründen ist der Bereich der Mietwohnungen aber der wichtigste, da dort der höchste Anteil an einkommenschwachen Personen lebt. Würden die Förderungsmittel vermehrt diesem Bereich zufließen, wäre der Effekt für die österreichische Volkswirtschaft höher. Gleichzeitig wäre es ein Impuls für leistbares Wohnen und zur Bekämpfung der Energiearmut.
Die AK hat sich daher seit Langem für eine wirksame Förderung der thermischen Sanierung von mehrgeschoßigen Wohnbauten, vor allem von Mietshäusern, eingesetzt. Doch diese Forderung verhallt, da die beiden zuständigen Minister, der Wirtschaftsminister und der Landwirtschaftsminister (von manchen auch Umweltminister oder gar Lebensminister genannt), darauf bestehen, dass die Mieter die Fördernehmer sein müssen. Es ist nur ein scheinbares Paradoxon, dass eine Förderung der Vermieter für die Mieter der sinnvollere Weg wäre. Denn nur in letzterem Fall könnte die Bundesförderung im Rahmen eines Mietzinserhöhungsverfahrens nach § 18 Mietrechtsgesetz (MRG) oder nach § 14(2) WGG (WohnungsgemeinnützigkeitsG) berücksichtigt werden.
Transferleistung Sanierungsscheck
Von den für 2012 vorgesehenen 70 Mio. Euro an Bundesförderung für thermische Sanierungsvorhaben wurden nur 53 Mio. Euro vergeben. Ein Viertel der Gelder wurde also nicht abgerufen. Dies ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass viele besonders kostengünstige Sanierungen im Ein- und Zweifamilienhaus-Bereich mittlerweile durchgeführt wurden und 2012 nicht mehr genug „billige“ Projekte übrig waren. Schon im November 2010 hat der Marktforscher Andreas Kreutzer im „Standard“ die Vermutung geäußert, dass die Mitnahmeeffekte bei dieser Förderung sehr hoch sind. Es kommt einem Selbstbetrug gleich, wenn der Fördergeber behauptet, mit dem Sanierungsscheck tatsächlich Investitionen auszulösen. Vielmehr hat der derzeitige Sanierungsscheck den Charakter einer Transferleistung zu Gunsten oberer Einkommenschichten.
Mehr Förderung für Mietwohnungen
Daher hat sich die AK aus verteilungspolitischen Überlegungen schon Ende 2011 dafür eingesetzt, dass die Förderrichtlinien geändert werden, sodass die Förderung vermehrt dem mehrgeschoßigen Wohnbau, vor allem dem Bereich der Mietwohnungen, zukommt. Dabei muss freilich berücksichtigt werden, dass die Kosteneffizienz in diesem Fall geringer sein wird als bei Förderung im Bereich von Ein- und Zweifamilienhäusern, da die thermischen Qualität der mehrgeschoßigen Gebäude wegen des geringeren Oberflächen-/Volumenverhältnisses schon von Haus aus bedeutend besser ist und weitere Verbesserungen daher kostspieliger sind als bei Ein- und Zweifamilienhäusern.
Seitens der zwei Ministerien besteht dabei jedoch die Befürchtung, dass vor allem Gemeinden als Förderungsnehmer für Gemeindebauten die vorhandenen Mittel zu schnell abrufen, sodass für Private nicht viel übrig bleibt. Dies mag zutreffen, scheint aber aus verteilungspolitischer Perspektive unproblematisch. Denn für die Mieter und Mieterinnen ist es ja belanglos, ob sie im Haus eines privaten Vermieters oder in einem Gemeindebau von einer Verringerung der Heizkosten profitieren.
Anfang des Jahres 2013 wurden die Richtlinien wieder verändert. Doch statt auf die verteilungspolitischen Argumente der AK einzugehen, wurden die Förderungen noch ineffizienter gestaltet. So wurde ein „Konjunkturbonus“ eingeführt, eine einfache Aufstockung der Förderung um weitere 2.000 Euro. Zugegeben: Die Nachfrage nach der Förderung stieg an. Bis Anfang Oktober wurden Förderungen im Umfang von 92 Mio. Euro zugesagt. Der Anteil der Sanierungen im mehrgeschoßigen Wohnbau ging jedoch zurück. Die Ministerien hatten versprochen, die Wirkung der neuen Richtlinien bis Mitte des Jahres einer Bewertung zu unterziehen, doch diese steht bislang aus. Statt dessen wurde der „Konjunkturbonus“ verlängert, der ursprünglich nur bis Juni gelten sollte. Ein Schelm, wer hier vermutet, dass es den Ministern nur um wohlwollende Berichterstattung ging …
Die AK sprach sich 2005 gegen die damals lancierte Umwidmung von Mitteln der Wohnbauförderung (WBF-Mittel) vom Neubau zur Sanierung aus, und erhob vehement die Forderung, dass neben den WBF-Mitteln der Länder der Bund zusätzliche Mittel für die thermische Sanierung zur Verfügung stellen sollte. Sie tat dies aus der Befürchtung heraus, dass sonst die Neubautätigkeit zurückgehen könnte und in der Folge die Wohnkosten ansteigen würden. Durch die Aufhebung der Zweckbindung der WBF-Mittel ist dieser Bereich jedoch sehr intransparent geworden. Es kann nicht mehr klar nachvollzogen werden, ob die Bundesmittel die Ländermittel ergänzen oder ob sie sie nicht eher ersetzen.
Zweckbindung wiedereinführen
Eine der wesentlichen Forderungen in diesem Bereich ist daher die Wiedereinführung der Zweckbindung der WBF-Mittel, damit das erfolgreiche österreichische Modell der Wohnbauförderung fortgesetzt werden kann, das die Kosten des Wohnens für alle Menschen in einem sozial verträglichen Maß hält.
Es ist zu überlegen, ob nicht die derzeit vom Bund vergebenen Mittel besser den Ländern gegeben werden, mit dem Auftrag, zusätzliche energetische Sanierungen auszulösen. Denn die Länder erzielen bei ihren Programmen bessere verteilungspolitische Effekte als der Bund mit dem Sanierungsscheck. Freilich kann diese Aufstockung der WBF-Mittel für die Länder nur erfolgen, wenn die gesamten WBF-Mittel wieder für Wohnbau zweckgewidmet werden. Anderenfalls käme es nur zu einem „Crowding-out“, einem Verdrängen der Mittel „ohne Mascherl“ durch die „mit Mascherl“.
Mehr Info unter:
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]]>Weitsichtig planen
Niemand kann und will sich so recht vorstellen, alt zu sein, nicht mehr rüstig oder gut erhalten, sondern langsam und gebrechlich. Maßgebliche Beeinträchtigungen treten heute durch die gestiegene Lebenserwartung zwar meist später auf, doch fast ein Drittel der 75- bis 84-Jährigen hat Probleme beim Einkaufen, Wäschewaschen u. Ä. (Seniorenbericht des Gesundheitsministeriums 2012).
Wer seine Wohnung rechtzeitig adaptiert, kann so nicht nur Verletzungen vorbeugen, sondern sich auch später den Alltag wesentlich erleichtern. Für die Finanzierung derartiger Verbesserungen wurden Senioren-Schecks nach dem Vorbild des Sanierungsschecks von Minister Mitterlehner angekündigt. Die öffentliche Hand würde dadurch Geld sparen. Denn, so zeigte etwa 2011 eine Studie im Auftrag der Bundesinnung Bau, der barrierefreie Umbau kostet einmalig pro Kopf rund 20.000 Euro. Demgegenüber beträgt der öffentlich-soziale Kostenanteil im Pflegeheim pro BezieherIn einer kleinen Pension ca. 23.000 Euro jährlich. Derzeit sind nur vier Prozent der Häuser und Wohnungen völlig und 24 Prozent teilweise barrierefrei. Schon 2020 sollen Tausende seniorengerechte Wohnungen fehlen!
Wichtig ist aber auch, die Bevölkerung mehr zu sensibilisieren. Laut Bundesseniorenplan 20131 haben vier Fünftel der über 50-Jährigen ihre Wohnung weder altersgerecht angepasst, noch planen sie eine Adaptierung. Das Beseitigen von Stolperfallen, breitere, schwellenlose Türen, ausreichende Beleuchtung etc. sind nur die ersten, eher allgemeinen Stufen zum seniorengerechten Wohnen. Im Bedarfsfall kommen dann etwa unterfahrbare Waschtische und Arbeitsflächen hinzu. Zusätzlich können moderne Technologien auch der Generation 70 plus das Leben merklich erleichtern. Der Roboter-Butler ist zwar noch Zukunftsmusik, aber mit AAL – Ambient Assisted Living (frei übersetzt: technikunterstütztes Alltagsleben) können betagte Menschen länger selbstständig bleiben. Entsprechende Entwicklungen auch für Seniorinnen und Senioren werden von der EU unterstützt (AAL Joint Programme).
Mit dem Programm „benefit“ fördert das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie seit 2008 nicht nur die Entwicklung von Technologien zur Unterstützung älterer Menschen, gleichzeitig soll auch die gesellschaftliche Akzeptanz von AAL erhöht werden. Bisher wurden rund 24 Mio. Euro investiert und mehr als 100 Projekte umgesetzt. AAL-Produkte erkennen, wenn der/die BewohnerIn zu einem bestimmten Zeitpunkt abends noch nicht zu Hause ist. Herd, Badewanne, Haustüren etc. können mit speziellen Alarmsystemen versehen und Angehörige per SMS verständigt werden.
„Der Herbst des Lebens wird länger, neue Technologien machen ihn schöner“, so Ministerin Doris Bures bei der Präsentation eines Pilotprojekts im Burgenland. Dort wurden vor Kurzem in Zusammenarbeit mit dem Austrian Institute of Technology (AIT) und dem Arbeiter-Samariter-Bund 50 Smart Homes für Seniorinnen und Senioren fertiggestellt. Im Rahmen von betreubarem Wohnen ist dank Hightech der klassische Heimnotruf ebenso integriert wie Bewegungssensoren, Bestellung von Essen oder die Erinnerungsmeldung für die Medikamenteneinnahme. Außerdem können Blutzucker oder Blutdruck überwacht und die Hauskrankenpflege informiert werden, sobald Grenzwerte überschritten werden.
Betreubares Wohnen
Ein ähnliches Projekt (REAAL) in Pichling bei Linz wurde vom Forschungsinstitut für Altersökonomie der WU Wien evaluiert. Insgesamt berichteten alle BewohnerInnen von merklichen Verbesserungen im Alltag, mehr sozialen Kontakten bei gleichzeitiger Wahrung der Privatsphäre. Von Anfang an positiv beurteilt wurden außerdem vor allem jene Technologien, die die persönliche Sicherheit erhöhen (z. B. Unterbrechung des Stromkreises beim Verlassen der Wohnung).
Betreubares Wohnen (Servicewohnen), bei dem die Seniorinnen und Senioren in entsprechend ausgestatteten eigenständigen Miet- oder Eigentumswohnungen wohnen, wird bisher eher vereinzelt angeboten. Es gibt Gemeinschaftsräume, entsprechende Infrastruktur in Gehweite, eventuelle Serviceleistungen können bei Bedarf zugekauft werden bzw. kann in betreutes Wohnen aufgewertet werden. Unter dem Begriff Mehr-Generationen-Wohnen werden unterschiedliche Wohnformen angeboten, allen gemeinsam ist, dass Jung und Alt zusammenleben. Das Miteinander und die gegenseitige Unterstützung von Personen verschiedener Altersgruppen sollen neu belebt werden. Neben Barrierefreiheit werden etwa auch nachträgliche altengerechte Adaptierungen durch entsprechende Unterkonstruktionen u. Ä. erleichtert.
Aktiv (und) intergenerativ
Beim sogenannten Generationen-Wohnen geht es (noch) mehr um das Miteinander. Hier, etwa im intergenerativen Wohnprojekt der Österreichischen Jungarbeiterbewegung in Wien-Meidling, lebt man nicht nur unter einem Dach in getrennten Wohneinheiten. Spontane oder geplante soziale Begegnungen zwischen Jung und Alt sind gelebte Realität durch das gemeinsame Wohnzimmer mit angrenzender Wohnküche. Rückzugsmöglichkeiten bietet das eigene Zimmer.
Viel Engagement und Toleranz erfordern spezielle Senioren-WGs, die meistens selbstorganisiert, mitunter auch intergenerativ angelegt sind. Nicht alle Menschen sind dafür geeignet. „Ein häufiges Grundproblem bei vielen Projekten liegt darin, dass sich ältere Menschen oft primär für das Wohnen, jedoch weniger für die Gemeinschaft interessieren“, fassen die Autorinnen und Autoren des Seniorenplans zusammen.
Eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte ist die Seniorengenossenschaft im schwäbischen Riedlingen, wo sich engagierte Menschen sowie rüstige Pensionistinnen und Pensionisten um gebrechliche MitbürgerInnen kümmern. Für die geleistete Arbeit erhalten sie entweder Geld nach einem fix vereinbarten Tarif oder Gutstunden, um irgendwann selbst diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. In den mehr als 20 Jahren seit ihrer Gründung ist die Genossenschaft auf mehr als 110 aktive HelferInnen und rund 650 Mitglieder angewachsen. Egal in welcher Form und wo man die dritte Lebensphase verbringt, besonders wichtig ist immer auch die Umgebung, da im Alter mehr als die Hälfte der Wege zu Fuß erledigt werden. Im Rahmen einer Studie2 mit 600 Frankfurterinnen und Frankfurtern zwischen 70 und 89 Jahren zeigte sich unter anderem, dass Stadtteilverbundheit in dieser Gruppe sehr wichtig ist. Abseits von „früher war alles besser“ nehmen viele regen Anteil an den Veränderungen und Entwicklungen im Grätzel.
Hier kommt der Politik eine wichtige Rolle zu: eine funktionierende Nahversorgung auch abseits der Ballungszentren erleichtert vor allem älteren Menschen den Alltag wesentlich. Einzelne Vorzeigeprojekte mögen zwar attraktiv sein, doch wer kann es sich leisten, mit 70 ein Smart Home zu erwerben? Entsprechende Fördermöglichkeiten, aber auch mehr Informationen wären nötig, um Vernetzung zu ermöglichen und die Lebensqualität im Alter zu erhöhen. Beispielsweise könnte ein bundesweites, unabhängiges Seniorenportal mit Infos über Förderungen sowie Wohn- und Bauprojekte in ganz Österreich die rechtzeitige Vorsorge für die dritte und vierte Lebensphase deutlich erleichtern – und letztendlich das Budget entlasten.
1 Altern und Zukunft, Bundesplan für Seniorinnen und Senioren, 3. Auflage, BMASK 2013.
2 Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung – Interdisziplinäre Alternswissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt.
AAL-Technologien im betreubaren Wohnen:
tinyurl.com/o7lys34
Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen:
gemeinsam-bauen-wohnen.org
Österreichische Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen:
www.oepia.at
Österreichische Jungarbeiterbewegung:
www.oejab.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
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„Die letzte Ressource“
In WGs wie jener in Mauer wohnen 80 bis 85 Kinder im Alter von drei bis 18 Jahren. „Im Alter von drei Jahren sind Kinder für Pflegeeltern oft schon zu alt“, erklärt Sozialpädagoge Daniel Svacina das niedrige Alter der WG-Nesthäkchen. Er ist Leiter der Wohngemeinschaften bei der Volkshilfe Wien. Es ist 16 Uhr, die Maurer WG ist noch leer, nur eine Jugendliche ist in ihrem Zimmer, alle anderen sind ausgeflogen. „Was macht ihr da?“, fragt sie, um nach erhaltener Antwort sofort wieder schüchtern von dannen zu ziehen. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, wie Sozialpädagoge Svacina erklärt: „In ungefähr einer Stunde geht’s rund hier.“ Die Kinder und Jugendlichen kommen allesamt aus schwierigen Verhältnissen und hinter ihnen liegt bereits ein langer Prozess. Nur wenn sich im Zuge dieses Prozesses herausstellt, dass vorübergehend kein Weg daran vorbeiführt, als das Kind von den Eltern zu trennen, kommt die WG ins Spiel. Sie ist „die letzte Ressource“, betont Svacina. Wenn dem so ist, zieht das Kind bzw. der oder die Jugendliche in die WG ein.
Entscheidende Bezugspersonen
Wie schaffen sich Kinder und Jugendliche in einer WG mit fremden Kindern, die ebenfalls Probleme haben, eigentlich Geborgenheit? Ist es das Lieblingsspielzeug, Poster der Lieblingsbands, die Lieblingsmusik oder eine besondere Bettdecke? Das sei sehr individuell, meint Svacina dazu. Eines aber sei immer gleich: Zentral sind menschliche Beziehungen. Eine Feststellung, die Entwicklungspsychologin Barbara Supper von der Universität Wien „wirklich nur unterstreichen“ kann: „Geborgenheit wird über Beziehungen hergestellt.“ Das kuschelige Kinderzimmer oder tolle Spiele seien schön. „Entscheidend ist aber, dass Kinder eine Person haben, die auf sie eingeht, bei der sie das Gefühl haben, dass sie weiß, was in ihnen vorgeht, auf sie zugeht und von der sie Schutz bekommen.“
Kinder könnten grundsätzlich mit jedem Erwachsenen eine „Bindungsbeziehung“ aufbauen, auch wenn die Eltern natürlich eine wesentliche Rolle spielen, so Entwicklungspsychologin Supper.
In völlig neuer Umgebung bestehe „der Knackpunkt“ darin, dass sie sich von den Eltern zumindest kurzfristig lösen und neue Beziehungen aufbauen. „Die Kinder können aber differenzieren: Zu Hause bleibt trotzdem zu Hause.“ Für Kinder, die aus schwierigen Verhältnissen kommen, sei es oftmals gut, wenn sie lernen, dass es eine Person gibt, auf die sie sich verlassen können und die auch offen in dem Sinn ist, dass sie sich mit allen Anliegen an sie wenden können. „Es ist nämlich für die weitere Entwicklung des Kindes wichtig, dass sie wenigstens in einem anderen Setting oder mit anderen Personen lernen, dass eine andere Person für sie da ist – und zwar gerade dann, wenn es unaufgearbeitete Probleme gibt“, erklärt Supper.
„Fallführende“ BetreuerInnen
Wichtig sei zudem, dass es eine zentrale Bezugsperson gibt. Bei der Volkshilfe gibt es immer eine Person, die „fallführend“ ist und den Fall „in- und auswendig“ kennt, wie Volkshilfe-Mitarbeiter Svacina sagt.
Schutzraum WG
Um einen möglichst sanften Übergang in die WG zu ermöglichen, müsse man einen Rahmen schaffen, in dem sich die Kinder und Jugendlichen wohl fühlen. Ein Teil dieses Rahmens sei, dass man Kinder in Entscheidungen mit einbeziehe, die sie betreffen. „Partizipation ist das Schlagwort“, sagt Svacina: „Es ist wichtig, dass sie das Recht haben, über Dinge aus ihrem Alltag mit zu entscheiden und um ihre Meinung gefragt werden.“ Mit einem Vorbehalt: Mitsprache nur da, wo es für das Kind Sinn mache, nicht aber, „wo es gut ist, wenn es nicht mitsprechen muss“. Als Beispiel nennt Svacina einen Zehnjährigen, der immer auf seine zweijährige Schwester aufpassen musste, weil die Eltern im Wirtshaus waren. „Da versuchen wir natürlich, ihnen solche überfordernde Aufgaben abzunehmen.“
Einen anderen Rahmen für die Kinder bildet die Strukturierung des Alltags. „Schließlich wohnen da acht Leute miteinander, die sehr oft aus strukturlosen Verhältnissen kommen. Da ist es wichtig, dass sie lernen, den Rahmen zu respektieren und zu erkennen, dass ihnen ein solcher Rahmen auch Sicherheit bietet“, so Svacina. Dazu gehörten regelmäßige Essenszeiten, aber natürlich auch die Organisation von Morgen- oder Abendhygiene. Gekocht wird gemeinsam und am Wochenende werden Freizeitaktivitäten für jene Kinder und Jugendlichen organisiert, die ihre Wochenenden nicht bei den Eltern verbringen können.
Bei allen gemeinsamen Aktivitäten sei es auch wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen einen Rückzugsraum haben: „Deshalb wohnen in einem Zimmer immer maximal zwei Kinder“, erklärt Svacina. Zugleich werde sehr genau geschaut, wie die Kinder zusammenpassen. Dennoch sind Konflikte natürlich unvermeidlich, wo mehrere Menschen zusammenleben. In diesem Fall sei es wichtig ein Setting zu schaffen, in dem die Ursachen erforscht werden können. „Wir versuchen herauszufinden, woher die Aggression kommt. Kinder bringen oft einen großen Rucksack an Wut und Trauer mit. Die WG ist aber ein Schutzraum, und wenn es nicht gelingt, den Konflikt zu lösen, müssen wir die Kinder im schlimmsten Fall trennen“, so Svacina. Allerdings geschehe das nur im schlimmsten Fall, denn grundsätzlich würden die SozialpädagogInnen versuchen dafür Vorsorge zu treffen, dass es nicht wieder passiert.
Oberstes Prinzip: Zurück nach Hause
„Die Rückführung in die Familie“: So lautet das „oberste Prinzip“ der sozialpädagogischen Arbeit in den WGs. Durch die anderweitige Unterkunft der Kinder werde den Eltern die Möglichkeit gegeben, ihre Probleme anzugehen und im Idealfall zumindest so weit zu lösen, dass die Kinder wieder nach Hause zurückkehren können, erklärt Svacina. Zugleich sieht er genau da ein großes Manko, denn aus seiner Sicht könnten die Eltern noch deutlich besser betreut werden.
Bleiben Jugendliche dennoch bis zur Volljährigkeit in der WG, sorgt die Volkshilfe für einen sanften Übergang von der WG in die Selbstständigkeit. Zu diesem Zweck gibt es eine sogenannte Trainingswohnung, gleich neben der WG. „Das heißt, der Jugendliche muss nur eine Tür öffnen und findet Ansprechpersonen“, so Svacina. Wenn das gut funktioniert, wird der oder die Betroffene Schritt für Schritt weiter entfernt untergebracht und weiterhin betreut, bis diese Betreuung nicht mehr nötig ist. Auf Zahlen will sich der Volkshilfe-Mitarbeiter nicht festlegen: „Es ist sowohl Fakt, dass einige wieder rückgeführt werden konnten, als auch dass es Kinder gibt, die bis zur Volljährigkeit bei uns bleiben.“ Ziel sei das aber eben keinesfalls. Daher sei man auch sehr sorgsam damit, wie über die Eltern gesprochen wird. „Es ist nicht unser Auftrag, und wir sagen es auch nie: zu Hause ist schlecht“, so Svacina. Vielmehr würden die MitarbeiterInnen sagen, dass einzelne Aspekte schlecht waren. Denn: „Eltern per se sind niemals schlecht, wurscht, was sie gemacht haben. Denn es kann daheim noch so schlecht sein: Zu Hause ist es immer besser.“
Mehr Info unter:
www.volkshilfe-wien.at/wohngemeinschaften
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Frauen holen auf
Der Anteil der 27-Jährigen, die noch im „Hotel Mama“ residieren, hat sich von 1971 bis 2011 auf rund 38 Prozent fast verdoppelt, bei den 36-Jährigen fast verdreifacht.1 Bei den Frauen verläuft der Trend ähnlich – allerdings deutlich schwächer als bei den Männern. Sie holen Studien zufolge vorrangig in der Altersklasse 18 bis 25 auf. Wohnte 1971 knapp jede dritte 21-Jährige bei den Eltern, tun das 2011 schon zwei von drei. Derzeit wohnt jede zwölfte 33-Jährige in Österreich noch unter dem elterlichen Dach, 1971 war dieser Anteil nicht einmal halb so groß. Die neusten Daten zeigen, dass Frauen auch hier aufholen: Nach einer im vergangenen August vorgestellten repräsentativen Studie der GfK Sozial- und Organisationsforschung, für die 4.000 ÖsterreicherInnen ab 15 befragt wurden, wohnen 42 Prozent der Männer und 41 Prozent der Frauen zwischen 20 und 29 Jahren bei den Eltern.
A-Schicht Phänomen
Im internationalen Vergleich liegt Österreich eher im Mittelfeld. Und der lange Verbleib im Elternhaus scheint hier vor allem ein Phänomen der A-Schicht (= mehr als 6.000 Euro monatliches Netto-Haushaltseinkommen) zu sein. Immerhin wohnen 62 Prozent der Männer und Frauen mit Eltern aus der A-Schicht zwischen 20 und 29 Jahren noch zuhause. Nicht nur weil die Berufsausbildung länger dauert, sondern einfach weil ausreichend Platz vorhanden ist. Das zeigt auch die Tatsache, dass der Auszug etwa dann besonders unwahrscheinlich ist, wenn junge Männer mehr als 35 m2 zu ihrer Verfügung haben.2
2010 wohnten in Spanien 60 Prozent der unter 35-Jährigen noch oder wieder bei den Eltern. Der durchschnittliche Italiener gründet erst mit 31 Jahren einen eigenen Hausstand. Dass SüdländerInnen länger zu Hause wohnen als etwa SkandinavierInnen hat schon länger Tradition. In den vergangenen Jahren sind die Quoten allerdings überall gestiegen, das Verhältnis ist annähernd gleich geblieben. Die Unterschiede hängen wahrscheinlich nicht nur mit der für südliche Länder typischen katholischen Lebensplanung zusammen, bei der man(n) direkt vom mütterlichen Herd zum Kochtopf der Gattin wechselt. Überall dort, wo Hausbesitzer bei der Mietengestaltung ziemlich freie Hand haben, sind die Mietpreise besonders hoch und der Trend zum Eigenheim größer. Aber auch in ländlichen Gebieten ist die Tendenz zum Eigenheim verständlicherweise größer und das ist natürlich – zumindest kurzfristig – teurer als eine Mietwohnung. Last but not least wird in manchen nördlichen Staaten die „Nestflucht“ in Form von Mietzuschüssen, Ausbildungsförderungen, Darlehen u. Ä. staatlich gefördert.
Lange Studiendauer und schlechte Bezahlung am Berufsanfang selbst für gut Ausgebildete sind zumindest in Österreich noch keine ausreichenden Erklärungen, warum junge Erwachsene immer später das Elternhaus verlassen. Flügge werden viele immerhin oft schon vor dem 20. Lebensjahr – beim Studieren im Ausland oder einem Praktikum in Übersee. Längere Auslandsaufenthalte, die mitunter innerhalb von wenigen Wochen geregelt werden müssen, sind praktisch nur mit der Heimatbasis Elternhaus möglich. Nebenbei eine eigene Wohnung zu erhalten, ist unter dem Aspekt größtmöglicher Flexibilität nur schwer möglich.
Nestflucht nicht nötig
Die Kluft zwischen den Generationen ist deutlich kleiner geworden. Die meisten jungen Leute haben nicht mehr das Bedürfnis, ihr Elternhaus so rasch wie nur möglich zu verlassen, vielleicht unter anderem auch deshalb, weil viele infolge hoher Scheidungsraten nicht mehr mit beiden Elternteilen gleichzeitig „zurechtkommen“ müssen beziehungsweise mitunter zwischen zwei „Elternhäusern“ wählen können. Wie auch immer, laut der Shell-Jugendstudie 2010 haben 90 Prozent der Jugendlichen ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Drei Viertel würden ihre eigenen Kinder im selben Stil erziehen. Ausreichend Platz und kaum Generationenkonflikt – unter diesen Umständen kann man sich auch länger damit Zeit lassen, um die optimale Wohnung in einer angenehmen Gegend zu finden bzw. dafür zu sparen.
Nur wer aus irgendwelchen Gründen das Elternhaus möglichst rasch verlassen will, ist gewillt, Einbußen an Wohnkomfort in Kauf zu nehmen. So wie etwa Migrantinnen und Migranten, die häufig in eher beengten Verhältnissen leben, früher heiraten und bei denen (offene oder verdeckte) Konflikte zwischen den Generationen eher an der Tagesordnung sind: „Als Kind in der Familie – unabhängig vom Alter bzw. Erwerbsstatus – leben weit mehr Personen, die im Inland geboren sind, als jene mit ausländischem Geburtsland (31,5 % zu 13,9 %)“, so eine Studie der Statistik Austria3.
Stufenweiser Prozess
Im Übrigen ist der Auszug aus dem Elternhaus nicht automatisch mit emotionaler und sozialer Unabhängigkeit gleichzusetzen. Wer etwa nach wie vor seine Wäsche von Mama waschen und bügeln oder sich täglich bekochen lässt, steht noch nicht hundertprozentig auf eigenen Beinen.
„Denn der Auszug ist zwar nach außen sichtbar, aber nicht unbedingt mit emotionaler Autonomie gleichzusetzen, womöglich für junge Menschen nicht so bedeutend wie von Medien etc. suggeriert“, folgert Christine Geserick vom Institut für Familienforschung (ÖIF). Die Jugendlichen argumentieren, „die emotionale Bindung an die Eltern bleibe von der räumlichen Trennung unberührt.“
Apropos Sex
Die soziale Ablösung (z. B. bei Konsumverhalten oder Sexualität) findet heute früher statt, das Experimentieren mit Lebensstilen und ein gleitender Übergang in das Erwachsenenleben sind durchaus üblich. Ende des 20. Jahrhunderts wurde daher der Begriff Postadoleszenz für die eigene Lebensphase zwischen Jugendlichem und Erwachsenen etabliert.
Apropos Sex: Kommt der nicht zu kurz, wenn junge Leute bei den Eltern leben? In Publikationen zum Thema Nesthocker wird dieser Bereich erstaunlich selten erwähnt. Für den Generations and Gender Survey wurden 5.000 Personen zwischen 18 und 45 Jahren gebeten abzuschätzen, wie sich ein Auszug innerhalb der nächsten drei Jahre auf die verschiedenen Lebensbereiche auswirken könnte. Am positivsten schätzen die Befragten die Auswirkungen auf ihre Autonomie und ihr Sexualleben ein, hier rechnen 46 Prozent (Autonomie) bzw. 40 Prozent (Sexualleben) mit einer viel besseren oder besseren Situation. Die Mehrheit antwortete jedoch neutral („weder noch“), in fast allen Bereichen – außer bei den Finanzen. Hier prognostizierten die Befragten eindeutig negative Konsequenzen.
Mama bleibt die Beste
Und nach dem Auszug? Deutlich mehr als die Hälfte der befragten Personen zwischen 20 und 39 Jahren sieht ihre/seine Mutter mindestens einmal pro Woche, wobei der tägliche Kontakt bei Söhnen fast doppelt so häufig genannt wurde wie von Töchtern.
Der Kontakt zu den Vätern ist weniger intensiv, besonders deutlich ist der Unterschied bei den 20- bis 24-Jährigen. Nur knapp die Hälfte hat mindestens einmal pro Woche Kontakt mit dem Vater. Auch vollständiger Kontaktabbruch zum Vater kommt deutlich häufiger vor als zur Mutter.
1 Österreichisches Institut für Familienforschung der Universität Wien, Christine Geserick, Working Paper 76/2011, Ablösung vom Elternhaus, Ergebnisse aus dem Generations and Gender Survey (GGS) 2008/09
2 Immowelt.at: Wohnen und Leben Winter 2012, Repräsentative Studie zum Wohnen und Leben in Österreich
3 Statistik Austria: Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich, Wien 2009
Österreichisches Institut für Familienforschung der Universität Wien, Studie zur Ablösung vom Elternhaus
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]]>Neues Lebensgefühl
In einem Wiener Gemeindebau zu wohnen war etwas Besonderes. Bis 1920 war die Wohnsituation in Wien äußerst schlecht. Um 1900 lebten etwa 300.000 Menschen in Wien ohne Wohnung. Mit dem Metzleinstalerhof im 5. Bezirk läuteten die Sozialdemokratinnen und -demokraten eine neue Ära ein, die das Landschaftsbild ebenso prägen sollte wie die Wiener Kultur – die Ära des kommunalen Wohnbaus. Architektonisch selbstbewusst und strotzend vor Ideologie versprachen die „Arbeiterquartiere“ nicht nur komfortables Wohnen. Wiener Gemeindebauten standen für ein neues Lebensgefühl, ein neues Selbstbewusstsein der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung. Jede Wohnung verfügte über Wasser und Strom. Zahlreiche Sozialeinrichtungen wie Wäschereien, Kindergärten, Bibliotheken oder Lehrwerkstätten sowie große, begrünte Innenhöfe ergänzten das Wohnen um soziale und funktionale Facetten, die das Leben der BewohnerInnen deutlich verbesserten. Der kommunale Wohnbau in Wien ist ein Vorzeigeprojekt mit internationaler Anerkennung.
Heute leben knapp 500.000 Menschen, also ein Viertel der Wiener Bevölkerung, in den rund 2.300 Wiener Gemeindebauten. Kathrin F. ist bald eine davon. Die 18-jährige Studentin wird noch heuer in eine Zweizimmerwohnung in den denkmalgeschützten Reumannhof am Margaretengürtel einziehen. Ob allein oder mit einer Freundin steht noch nicht fest. Kathrin kommt aus einer klassischen Bildungsfamilie. Beide Eltern haben studiert, ihre Geschwister ebenso. Dem Bild einer typischen Gemeindebaubewohnerin entspricht Kathrin wenig. Denn trotz zunehmender Verjüngung wohnen im Gemeindebau etwa viermal häufiger ältere Menschen über 65 Jahre als beispielsweise in geförderten Neubauwohnungen. Laut einer Studie von SORA im Jahr 2010 sind MieterInnen von Gemeindewohnungen im Schnitt älter, haben ein geringeres Bildungsniveau und ein geringeres Haushaltseinkommen als BewohnerInnen von geförderten Neubauwohnungen.
30 Prozent der BewohnerInnen von Gemeindewohnungen lebten 2008 unter der Armutsgrenze. Mit der Öffnung des Wohnungszugangs für Drittstaatsangehörige im Jahr 2006 ist der Anteil an Migrantinnen und Migranten im Gemeindebau weiter gestiegen. Den größten Anteil stellen mit elf Prozent Menschen türkischer Herkunft. Den „Alteingesessenen“ gefällt diese Entwicklung zumeist nicht. 2006 befragte das Institut für Soziologie 216 BewohnerInnen von drei Gemeindebauten in Wien Floridsdorf über die Zufriedenheit des Zusammenlebens im Gemeindebau. 57 Prozent bewerteten das Zusammenleben mit Migrantinnen und Migranten als negativ, 34 Prozent bemängelten das Miteinander zwischen Alteingesessenen und neu Zugezogenen und 21 Prozent kritisierten jenes zwischen Jung und Alt. Vincent Wohinz kennt diese Zahlen, so wie er auch all die Wehwehchen der BewohnerInnen kennt, wenn sie ihren Ärger bei ihm entladen. Wohinz ist so etwas wie ein Gemeindebau-Coach. Er und seine rund 100 Kolleginnen und Kollegen von „wohnpartner unterwegs“ stehen den Gemeindebaubewohnerinnen und -bewohnern seit 2010 mehrmals wöchentlich für Beschwerden und Anregungen zur Verfügung.
WohnpartnerInnen
Die meisten davon sind ausgebildete SozialarbeiterInnen. Knapp die Hälfte der WohnpartnerInnen hat selbst Migrationshintergrund, was den Kontakt zu Gemeindebaubewohnerinnen und -bewohnern aus demselben Herkunftsland erleichtert. „Bei Konflikten geht es um Gefühle. Und die kann man in der Muttersprache am besten ausdrücken“, so Josef Cser, Leiter von Wohnpartner Wien.
Die Themen sind fast immer die gleichen: Die Jungen fahren mit dem Rad im Innenhof herum, obwohl das nur bis zum zwölften Lebensjahr erlaubt ist. Außerdem sei in den Anlagen nur noch türkisch zu hören. Migrantinnen und Migranten würden sich überall breit machen, ihre Teppiche und Leintücher in der Waschküche herumliegen lassen und den ganzen Tag Zwiebel anbraten. Vor allem würden sie nicht grüßen, was laut Cser häufig der Stein des Anstoßes ist. Die Öffnung der Gemeindewohnungen für Nicht-EU-BürgerInnen habe zu großer Verunsicherung geführt. Gerade ältere MieterInnen zeigen sich Neuen gegenüber skeptisch. Wenn diese dann Kopftücher tragen und sich nicht erwartungsgemäß verhalten, stößt das schnell auf Ablehnung. Wohinz und seine Kolleginnen und Kollegen haben in diesen Fällen die Aufgabe, zu vermitteln und kulturelle Missverständnisse zu überbrücken. Vor allem aber sollen die Wohnpartner den Mieterinnen und Mietern im Gemeindebau das Gefühl geben, dass sie nicht allein gelassen werden – eine Aufgabe, die einst den Hausbesorgerinnen und -besorgern zukam.
Kathrin F. hat von den Querelen schon einen ersten Vorgeschmack bekommen. Bei der Besichtigung ihres neuen Zuhauses wurde sie bereits von der Nachbarin, einer älteren Frau, auf den Lärm im Innenhof hingewiesen. Außerdem traue sie sich kaum noch die Wohnung zu verlassen, seit so viele Leute mit Kopftuch herumlaufen. Das Image der Wiener Gemeindebauten hat mit Prestige und Stolz der BewohnerInnen nicht mehr viel gemein. Häufig wird der steigende Anteil an Migrantinnen und Migranten im Gemeindebau dafür verantwortlich gemacht. Laut Wohnpartner-Statistik haben jedoch nur zwei Prozent der Konflikte ihre Wurzeln in kulturellen Differenzen. Viel schwieriger gestaltet sich das Zusammenleben zwischen Jung und Alt. Migrantinnen und Migranten als Vorwand zu nehmen ist einfacher, so Wohinz. Für die FPÖ, die gerne in den Gewässern der Gemeindebauten fischt, ist das ein gefundenes Fressen.
Politisch umkämpft
Gemeindebauten sind politisch heiß umkämpfte Reviere. Immer wieder versuchen Parteien, den Roten das Zepter über das kommunale Wohnen aus der Hand zu nehmen, um selbst aus dem Wählerpotenzial zu schöpfen. Die ÖVP kritisierte im Wahlkampf fehlende soziale Gerechtigkeit im Gemeindebau. Auch gut Verdienende würden für wenig Geld im Gemeindebau wohnen und Bedürftigen den Wohnplatz wegnehmen. Sie fordert Einkommens-Checks, also die Evaluierung der Einkommen nach einer bestimmten Zeit. Wer den sozialen Kriterien für eine Gemeindewohnung nicht mehr entspricht, soll zur Kassa gebeten werden. Die Sozialdemokratie versucht, das angekratzte Image der Gemeindebauten anders aufzupolieren. „Soziale Durchmischung“ heißt das Zauberwort, auf das die Roten schwören – eine ausgewogene Mischung von Jung und Alt, von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, von Einkommensschwachen und besser Verdienenden, von gut und weniger gut Gebildeten. Um das zu gewährleisten, wurden 2010 die Einkommensgrenzen für Gemeindewohnungen beachtlich angehoben. Neben der Öffnung für Drittstaatsangehörige 2006 wurde kommunales Wohnen damit um eine weitere soziale Facette reicher. Auch Kathrin leistet einen Beitrag zur sozialen Durchmischung. Sie ist jung und gut gebildet. Ob ihre Nachbarinnen und Nachbarn Mehmet oder Susanne heißen, ist ihr ziemlich egal. Das Leben im Gemeindebau sieht sie wie das Leben im Alltag. Probleme gibt es überall.
2004 wurde der letzte „echte“ Gemeindebau in der Liesinger Rößlergasse gebaut. Seither legt die Stadt ihren Schwerpunkt auf Wohnraumsanierung. Für die Errichtung und Verwaltung von Gemeindewohnungen ist nun das öffentlich-rechtliche Unternehmen Wiener Wohnen zuständig – mit über 220.000 Wohnungen die größte Hausverwaltung Europas. Mit Projekten wie dem Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof, der Seestadt Aspern oder dem Nordbahnhofgelände ist der soziale Wohnbau weiterhin äußerst aktiv. Auch deren Steine werden soziale Geschichten erzählen, nur völlig andere als zu Zeiten des „Roten Wien“.
Ausstellung „Waschsalon“:
www.dasrotewien-waschsalon.at
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]]>Arbeitsplätze schaffen
Von besonderer Bedeutung ist der Wohnbau in der Krise, da von ihm Impulse ausgehen, die Arbeitsplätze nicht nur in der Bauwirtschaft schaffen, sondern darüber hinaus auch in anderen Sektoren der Wirtschaft positive Inputs geben. Immerhin schafft die Investition von einer Mio. Euro im Baubereich je nach Berechnung dauerhaft zwischen 15 und 20 Arbeitsplätze.
Allerdings zeigen sich, bedingt durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, Veränderungen in der Neubauleistung. Auch konnte durch einen verstärkten Zuzug besonders in den Ballungsräumen eine Verknappung des Angebotes festgestellt werden. Schenkt man den Berechnungen Glauben, wird allein die Stadt Wien in den kommenden Jahrzehnten um bis zu 250.000 Menschen wachsen. Ein Nachfrageüberhang bei Wohnungen ist die logische Folge. Schon heute fehlen in Österreich jährlich etwa 8.000 Neubauwohnungen. Der jährliche Neubaubedarf wird auf 48.000 bis 50.000 Wohnungen geschätzt.
Der Wohnbau lässt sich jedoch nicht mehr so leicht finanzieren, dies besonders durch eine Verschärfung der Finanzregelungen durch Basel III, den Einbruch des Verkaufs von Wohnbauanleihen und die budgetären Vorgaben der öffentlichen Hand. Damit ist eine Neuausrichtung der österreichischen Wohnbaupolitik unumgänglich.
Als Ziele einer Nachjustierung lassen sich folgende Punkte identifizieren:
Geförderter Wohnbau rückläufig
Bedingt durch die Konsolidierungspolitik der Länder ist der geförderte Wohnbau in Österreich stark rückläufig. Zwischen 2009 und 2011 sind die Förderungszusicherungen um 21 Prozent oder 6.800 Einheiten zurückgegangen.
Somit wurden in diesem Jahr nur noch 26.500 Wohnungen öffentlich gefördert. Besonders betroffen ist von dieser Entwicklung der Mietwohnbau mit einem Rückgang der Förderungen um 36 Prozent auf nunmehr 10.400 Wohneinheiten. Damit sind besonders Personen im unteren und mittleren Einkommenssegment von den Einsparungen betroffen.
Impulse durch Sanierungsscheck
Einen weiteren wichtigen Punkt im Wohnungswesen stellt die Sanierung von Altbauwohnungen dar. Bedingt durch den Sanierungsscheck konnten Impulse gesetzt werden, die auch klimapolitischen Zielsetzungen folgen.
Zurzeit werden etwa 50.000 Wohnungen pro Jahr einer thermischen Sanierung unterzogen. Das entspricht einer Sanierungsrate von etwa 1,5 Prozent pro Jahr. Die öffentliche Hand fördert die thermische Sanierungsleistung mit zuletzt 425 Mio. Euro und investiert damit etwa 50 Prozent des Gesamtvolumens der für Sanierung vorgesehenen Mittel.
Um die Klimaziele weiter verfolgen zu können, benötigt dieses Land jedoch eine Ausweitung der Sanierungsleistung auf drei Prozent pro Jahr. Eine Ausweitung der Mittel ist in diesem Bereich daher unumgänglich. Folgt man der Argumentation des WIFO, kann eine Erhöhung der Sanierungsrate auf drei Prozent nicht weniger als zwei Mio. Tonnen Kohlendioxyd einsparen. Damit verbunden ist die Schaffung von rund 28.000 Arbeitsplätzen.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat seit 2008 dazu geführt, dass eine restriktive Kreditvergabe vonseiten der Banken weniger Wohnbauleistungen hervorgebracht hat. Ein verminderter Verkauf von Wohnbauanleihen führt ebenfalls zu Ausfällen. Die geringere Förderung der Bausparverträge lässt den Abschluss von Bausparverträgen ins Stocken geraten. Statt wie bisher 2,2 Mrd. Euro stehen nur noch 1,8 Mrd. Euro an Finanzierungsmitteln zur Verfügung. Der Verkauf von Wohnbauanleihen ist zwischen 2009 und 2011 um 75 Prozent eingebrochen. Damit stehen nur noch 650 Mio. Euro zur Verfügung.
Es lässt sich somit zeigen, dass in Summe Mittel im Ausmaß von 1,5 bis 2 Mrd. Euro fehlen, um im Wohnungsbau kräftige Impulse zu setzen.
„Wohnen 2020“
Die Initiative der Sozialpartner „Umwelt + Bauen“, angeführt von der Gewerkschaft Bau-Holz und der Wirtschaftskammer Österreich, Bundesinnung Bau, hat sich konstituiert, um die Nachfrage am Wohnungsmarkt aufzuzeigen und Lösungsschritte zu erarbeiten. Bereits 2012 wurden im Positionspapier „Wohnen 2020“ die oben beschriebenen Problembereiche identifiziert, einer Analyse unterzogen und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Diesem Positionspapier folgte eine eingehende Neubewertung der Wohnsituation in Österreich. Somit konnte der Öffentlichkeit im Frühsommer 2013 ein Forderungspaket präsentiert werden:
Zusammenfassend lässt sich daher der Schluss ziehen, dass zwar die Situation in Österreich im Gegensatz zur internationalen Lage weniger dramatisch ist, eine Verschlechterung ist jedoch dennoch im Zuge der Verländerung der Wohnbauförderung und der Aufhebung der Zweckbindung eingetreten. Die Vorschläge der Stakeholder von „Umwelt + Bauen“ stellen einen konstruktiven Katalog von Maßnahmen dar, die die gegenwärtige Situation entschärfen und den Wohnungsmarkt in Österreich entlasten werden.
Mehr Info unter:
www.umwelt-bauen.at/umwelt-bauen
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian.foelzer@gbh.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Um den Bewohnerinnen und Bewohnern, die ja kaum Geld hatten, die Einrichtung zu erleichtern und gleichzeitig Arbeitsplätze in der Möbelproduktion zu schaffen, wurde nach 1950 die Aktion „Soziale Wohnkultur“ gestartet, zunächst noch in Kooperation mit Arbeiterkammer und Handelskammer (heute: Wirtschaftskammer), dann von der Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter im Namen des ÖGB und der Stadt Wien allein getragen. Die Aktion konnte an Projekte aus der demokratischen Vorkriegszeit anknüpfen, wie etwa an jenes des 1928 in Frankfurt gegründeten CIAM (Internationaler Kongress der modernen Architektur) zur Wohnung für das Existenzminimum. Wien stellte zehn Millionen Schilling zur Verfügung, die Arbeiterbank (heute: BAWAG) unterstützte mit günstigen Kreditbedingungen.
Die Serienproduktion begann 1954 und das SW-Logo wurde schon bald in ganz Österreich zum Markenzeichen für preisgünstiges und gleichzeitig qualitätvolles und zeitgemäßes Mobiliar. Das Programm bestand aus 77 Einzelstücken, die von zehn Firmen mit 450 Arbeitern erzeugt wurden. 1969 stieg Wien aus der Aktion aus und 1976 wurde der Trägerverein aufgelöst: Die meisten ArbeitnehmerInnen konnten sich mittlerweile eine teurere und vor allem repräsentativere Einrichtung leisten als die bewusst einfach gehaltenen SW-Produkte.
Wie schon der Name andeutet, wurde „Soziale Wohnkultur“ auch als volksbildnerisches Projekt verstanden, vor allem im Kampf gegen falsch verstandene „Repräsentativität“: Der Mensch selbst soll der Mittelpunkt werden; alles andere, die Möbelstücke und das Drum und Dran, soll ihm dienen, soll der Rahmen für seinen Lebenslauf sein. Alles soll auf den Bewohner selbst bezogen sein, auf ihn abgestimmt sein und nicht auf die Vortäuschung von Wohlhabenheit. Weniger modern waren die Vorstellungen über die Rolle der Frau: Die Wohnung sei für sie nicht nur der Schauplatz des häuslichen Lebens, sondern vorwiegend der Ort ihrer Tätigkeit und ihrer Arbeitsleistung für Familie und Staat. Gerade deshalb habe sie aber Anspruch auf eine Erleichterung der Haushaltsarbeit. Eines der ersten in Serie erzeugten SW-Produkte war demgemäß die „Wiener Küche“, ein von Franz Schuster auf Basis der berühmten „Frankfurter Küche“ der österreichischen Architektin Grete Schütte-Lihotzky weiterentwickeltes Modell, das sich auch für die kleinen Kochnischen der Wiener Gemeindewohnungen eignete.
Zusammengestellt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Der Theodor Körner Fonds wurde, initiiert von der Arbeiterkammer, im Jahr 1953 anlässlich des 80. Geburtstages des damaligen Bundespräsidenten Theodor Körner gestiftet.
Der Theodor Körner Fonds unterstützt und fördert:
Der Förderpreis wird für „work in progress“ vergeben, das heißt, die eingereichte Arbeit darf noch nicht fertiggestellt sein. Ausschlaggebend ist ihre allgemeine wissenschaftliche bzw. künstlerische Qualität.
Der Förderpreis ist projektgebunden. Nicht gefördert werden Diplomarbeiten, Forschungsaufträge, Restfinanzierungen etc. Die eingereichten Projekte beur-teilt ein unabhängiger wissenschaftlicher Beirat unter der Leitung von Univ. Prof. DDr. Oliver Rathkolb, der sich aus führenden Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Kunst zusammensetzt.
Die Höhe der Preise (1.500 Euro bis 3.000 Euro) richtet sich nach den vorhandenen Geldmitteln und der Anzahl der eingereichten förderungswürdigen Arbeiten.
Alle Infos unter:
www.theodorkoernerfonds.at
Bewerbungen werden vom 1. Oktober bis 30. November 2013 nur online entgegengenommen!
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Checkliste: Die AK hat für Sie eine Checkliste zusammengestellt, mit der Sie Überblick gewinnen, was Sie bei den Kosten und Spesen nachfragen und worauf Sie aufpassen sollten.
Mehr Info unter:
tinyurl.com/nzrtnmm
Bis zur WM werden wahrscheinlich bis zu 4.000 Arbeiter sterben, schätzt der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB). Die Veranstalter lässt das alles kalt: Fifa-Chef Joseph Blatter bedauerte zwar die Todesfälle, sagte aber, der Fußball-Weltverband wäre für Arbeitsbedingungen in Katar nicht zuständig.
An einen anderen Ort denkt Blatter nicht. „Wir wollen Katar, wir ziehen das durch.“ Der Anwalt Ramesh Badal aus der nepalesischen Gewerkschaft GEFONT vertritt nepalesische Arbeiter, die in Katar gearbeitet haben. „Was in Katar geschieht, ist moderne Sklaverei“, berichtete er. „Die Arbeiter haben keine Rechte, die vereinbarte Bezahlung wird nicht eingehalten, sie hausen in Räumen ohne Fenster, für 40 Personen gibt es ein einziges WC. Dagegen hilft nur ein weltweiter Aufschrei.“ Die Fifa habe es in der Hand, die Lage zu ändern, so Badal, daher müsse der Druck dorthin verstärkt werden. Der marokkanische Fußballer Abdeslam Ouaddou spielte bei einem Verein in Katar: „Ich war in einer anderen Lage als die Arbeiter aus Nepal oder Bangladesch, denn ich bin Fußballer“, sagte er. „Deshalb habe ich die Verantwortung und die Pflicht, den Menschen die Augen über die unmenschlichen Bedingungen in Katar zu öffnen. Die Praktiken, die es hier gibt, sind aus einem anderen Jahrhundert.“ Tim Noonan (IGB) leitet die Kampagne „Re-Run the Vote“. „Es ist eine Schande, dass so ein schönes und wichtiges Ereignis, die Fußball-WM, auf Sklaverei aufbaut.“ Zwei Jahre lang hätte der IGB auf die Lage aufmerksam gemacht, nichts sei geschehen. „Jetzt hat das Schweigen ein Ende, aber jeder Tag ohne Veränderung heißt ein toter Arbeiter mehr. Daher muss jetzt der Druck verstärkt werden. Jeder einzelne Mensch auf der Welt kann helfen, die Veränderung können wir aber nur gemeinsam erreichen.“
Mehr Info unter:
www.rerunthevote.org/?lang=de
Diese Frage wurde Anfang Oktober auch in der ÖGB-Fachbuchhandlung von Bernhard Achitz, Leitender Sekretär im ÖGB, Elias Felten, Jurist, Margarete Grandner, Historikerin, Julia Hofmann, Soziologin, David Mayer, Historiker und der Initiatorin Brigitte Pellar leidenschaftlich diskutiert. Der aktuelle Jahrgang der Sozialakademie beteiligte sich an der Diskussion.
Mehr Info:
www.wissenschaft-gewerkschaft.at
Noch nie so schlecht gelebt...
Am Rande der Mandarinenplantagen Süditaliens haben sich diese Männer aus Pappendeckeln und Plastiksäcken Unterkünfte gebaut, drinnen alles was sie haben: einen Schlafsack, ein Bündel Kleider. So wohnen sie, so hausen sie. Ist das die bessere Zukunft, die sich diese Menschen erträumt haben, will ich wissen. „Sie alle sagen, dass sie noch nie so schlecht gelebt haben wie heute“, ist Gilles Reckingers Antwort.
„Wohnst du noch oder lebst du schon?“, dieser Werbeslogan eines Möbelhauses kommt mir in den Sinn. Ich schreibe diese Zeilen in meiner Wohnung. Draußen ist Herbst. Es wird frisch und früher dunkel. Manchmal drehe ich schon die Heizung auf. Die afrikanischen Migrantinnen und Migranten sind weit weg, unvorstellbar ihre Situation. Kein Raum für sich, kaum Intimsphäre, keine sanitären Einrichtungen, kein Platz für Hab und Gut. Und doch ist es gerade 100 Jahre her, dass in Wien beinahe vergleichbare Zustände herrschten. Die Stadt hatte damals mehr als zwei Millionen EinwohnerInnen. ArbeiterInnen – unter ihnen viele ZuwandererInnen – lebten unter heute nur mehr schwer vorstellbaren Bedingungen. In aus dem Boden gestampften Zinskasernen wohnten die Menschen in Zimmer-Küche-Einheiten, zu mehr als 90 Prozent ohne eigene Toilette oder Wasserleitung. Es gab nicht einmal überall elektrisches Licht. Und um sich das leisten zu können, musste jeder vierte Haushalt Untermieter oder gar Bettgeher beherbergen.
Wie revolutionär war da das Rote Wien. Zwischen 1918 und 1934 wurden 65.000 Gemeindewohnungen gebaut. In Anlagen wie dem Karl-Marx-Hof hatten die Menschen plötzlich Licht, Luft und Sonne, ein menschenwürdiges Leben. Und mehr: In den neuen Wohnanlagen wurde auch eine eigene Infrastruktur geschaffen, mit Gemeinschaftsräumen, Spielplätzen, Gasthäusern und Arztpraxen. Zusätzlich wurde mit Freibädern und Sportplätzen auch der öffentliche Raum für die ArbeiterInnen erschlossen.
MieterInnen der „Festung Europa“
Wie alle großen Städte – und auch aufgrund der hohen Lebensqualität – wird Wien Zuzugsstadt bleiben. Die Stadt wächst. Projekte wie die Seestadt Aspern, das Nordbahnhofgelände und das Sonnwendviertel sind jetzt wieder kräftige Lebenszeichen des sozialen Wohnbaus. Der öffentliche Raum in der Stadt ist belebt wie nie. Auch das ein Erbe des „Roten Wien“. Den Flüchtlingen hilft das wohl wenig. Nur ein kleiner Prozentsatz landet hier in Wien und ich möchte gar nicht wissen, wie wenige davon hier eine Wohnung haben. Ich möchte nur daran erinnern, dass wir sie nicht vergessen dürfen, dass wir hinschauen müssen, und dass wir als Haupt- und UntermieterInnen der „Festung Europa“, als enagierte und solidarische Menschen dafür eintreten müssen, dass diese Menschen hier bei uns die faire Chance auf ein menschenwürdiges Leben haben.
]]>Das Recht auf Marmelade
Die Initiative Stadtfrucht Wien (stadtfruchtwien.wordpress.com) will ein „Recht auf Marmelade“ durchsetzen. Zwei ihrer VertreterInnen sind die Architektin Andrea Seidling und der Journalist Peter A. Krobath. Die Initiative für urbane Selbstversorgung hat sich viel vorgenommen und teilt eine Vision: Von Rettungsaktionen für ungenutztes Obst und Gemüse, dem Schutz fruchtbarer Böden vor Beton und Asphalt bis hin zur Pflanzung von Obstbäumen und Sträuchern. Ziel ihrer Petition: Zehn Prozent der vom Wiener Stadtgartenamt gepflanzten Bäume (2.000 Stück pro Jahr!) sollen Obstbäume sein.
„Wir hoffen, demnächst genügend Unterschriften zu haben, damit unsere Anliegen im Gemeinderat diskutiert werden und vielleicht auch mit uns über eine mögliche Umsetzung ein Gespräch geführt wird“, erklärt Krobath, der in seinem Journalistenleben viele Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt hat und einiges zum Thema Ressourcenknappheit erzählen kann. Zumindest bei den Obstbäumen will Krobath etwas verändern: „Wir schlagen ein Commons-Modell vor: Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern sollen sich um die Obstbäume in ihrer Nachbarschaft kümmern – also in erster Linie darauf schauen, dass die Früchte, welche die Passantinnen und Passanten nicht naschen, geerntet werden und nicht faul herumliegen.“ Der Titel „Recht auf Marmelade!“ verweist auf die „Recht auf Stadt!“-Bewegung, die ein neues Verständnis von Urbanität hat. Die Marmelade selbst steht für eine Kultur des Selbermachens und Schenkens – eine Kultur, die auch in anderen Bereichen sinnvoll wäre.
Andrea Seidling: „Unser Traum ist, dass sich das Anliegen verselbstständigt und sich viele Leute darum kümmern. Wir wollen anstoßen und das Beste ist, wenn es andere Leute übernehmen und wir können weiterziehen und andere Projekte machen.“ Ob auf den Steinhofgründen oder nahe der Seestadt Aspern, die Initiative ruft immer wieder zu Erntetouren per Rad auf – die Fülle reicht von Apfel, Kirsche, Zwetschke und Nuss bis hin zur Maulbeere. „Das Gärtnern und Pflanzen ist ein Tool, um Gemeinschaften zu schaffen und es ist sehr niederschwellig. Egal, mit wem ich rede, es ist ein Gesprächsthema. Uns ist wichtig, dass bei den Aktionen auch Humor reinkommt, dass man an politische und gesellschaftliche Themen auch lustvoll rangehen kann.“
500 Unterschriften pro Petition
In Wien können BürgerInneninitiativen nur auf sich allein gestellt nicht besonders viel bewirken. Seit Jänner 2013 können konkrete Anliegen an den Petitionsausschuss der Gemeinde herangetragen werden – bei einer Anzahl von 500 Unterschriften muss das Anliegen vom Petitionsausschuss behandelt werden. Doch eine weitere Verpflichtung ist damit nicht verbunden. Eine Übersicht über die aktuellen Petitionen in Wien bietet die Petitionsplattform: www.wien.gv.at/petition/online.
Anders in deutschen Städten, etwa in Hamburg: Dort können BürgerInneninitiativen eine Volksabstimmung durchsetzen, wenn sie genug Unterschriften für ihr Begehren sammeln. Die Initiative „Unser Hamburg, unser Netz“ fordert, dass die Stadt Hamburg ihr privatisiertes Stromnetz wieder zurückkauft. Die Argumentation: „Mit den Strom- und Gasnetzen und der Fernwärmeversorgung machen die Konzerne jährliche Umsätze von über einer Mrd. Euro und 100 Mio. Euro Gewinn. Die Renditen im Netzbetrieb sind solide. Wir wollen, dass dieses Geld künftig in Hamburg bleibt.“ Im Jahr 2010 wurde daraus eine „Volksinitiative“. Dieses Instrument garantiert den Bürgerinnen und Bürgern, dass ihr Anliegen von der Hamburgischen Bürgerschaft (dem Stadt-Parlament) behandelt wird. Dafür müssen innerhalb von sechs Monaten 10.000 Unterschriften von Wahlberechtigten aus Hamburg gesammelt werden. Wird das Anliegen von der Hamburgischen Bürgerschaft abgelehnt, können die Initiatoren der Volksinitiative ein Volksbegehren einleiten.
Dazu ist es erforderlich, innerhalb von drei Wochen 60.000 Unterschriften zu sammeln. Im Juni 2011 gaben rund 116.000 Wahlberechtigte ihre Unterschrift ab, damit wurde eine Volksabstimmung notwendig. Diese fand aber erst heuer am 22. September parallel zu den Bundestagswahlen statt. Mit 51 Prozent stimmten die BürgerInnen für diesen Vorschlag. Ein Erfolg – aber knapper als es in den Umfragen noch Monate davor aussah. Die Gegner kämpften mit allen Mitteln, so wurde inzwischen das Aktionsbündnis „Nein zum Netzkauf“ gegründet. Der Sprecher des Aktionsbündnisses ist der Vorsitzende des Industrieverbands Hamburg.
Manifestation des Egoismus
Das ist kein Einzelfall, denn in BürgerInneninitiativen sind Höhergebildete und Ressourcenstarke überproportional vertreten. Damit Menschen auf eine Initiative aufmerksam werden, braucht es organisatorische und fachliche Kompetenzen. „Dort, wo das Einkommen sehr hoch und die Wohnsituation sehr gut ist, gibt’s die meisten Bürgerinitiativen, die nach öffentlichen Ressourcen rufen. Wo das Einkommen eher gering und die Wohnsituation nicht so gut ist, tut sich dagegen wenig“, weiß Thomas Ritt, Leiter der Abteilung Kommunalpolitik der AK Wien. Viel zu oft vertritt eine BürgerInneninitiative die lautstarke Manifestation des Egoismus Einzelner. Sie erweckt den Anschein, es handle sich um die Mehrheitsmeinung. Mitunter wird bei einem neuen Wohnprojekt von den ersten Mietern der eben fertiggestellten Anlage gegen den Weiterbau des Projekts gekämpft.
Lokale Agendas betreuen Gebiete
Wieder kann die Hansestadt Hamburg mit einem Beispiel dienen. So wurde von der Hamburger Bürgerschaft die Einführung einer sechsjährigen Grundschule beschlossen. Doch eine BürgerInneninitiative konnte eine Volksabstimmung durchsetzen und diese Entscheidung schließlich kippen. Die vierjährige Grundschule und die Privilegien des Gymnasiums blieben erhalten. Diese Initiative wurde vor allem von Wohlhabenden und Menschen aus der Mittelschicht organisiert.
Zu wenig vertreten sind bisher die Bevölkerungsgruppen, die von sozialer Spaltung, Ausgrenzung und Armut besonders stark betroffen sind. Diesen fehlen häufig die erforderlichen Schlüsselqualifikationen und die Zivilcourage. Es gibt einige BürgerInnenbeteiligungsverfahren, die die Wünsche dieser Gruppe auch berücksichtigen möchten. In Wien sind es etwa Projekte der Gebietsbetreuung oder der Lokalen Agenda, die sich bemühen, alle Betroffenen – etwa bei der Gestaltung eines Platzes – einzubeziehen. Mehrsprachige StadtteilmanagerInnen gehen aktiv auf die Menschen zu, um sie in ihrer Muttersprache nach ihrer Meinung zu fragen und sie persönlich zu Veranstaltungen einzuladen. Dabei geht es nicht vordergründig um schlechte Deutschkenntnisse, sondern um das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Auch Kinder und Jugendliche werden durch nonverbale Methoden wie Bauen, Basteln und Ausprobieren zum Mitmachen angeregt. Erzählende Methoden wie „Storytelling“ nehmen den Druck, sich gewählt ausdrücken zu müssen. Viele BürgerInnen verstehen Pläne und Karten nicht, deshalb helfen Stadtteilspaziergänge dabei, die Sichtweisen unterschiedlicher Zielgruppen kennenzulernen. BürgerInneninitiativen und BürgerInnenbeteiligung sind eine Bereicherung der Demokratie – doch freilich, die höchste Beteiligung aller BürgerInnen gibt es noch immer bei Wahlen.
Guerilla Gardening Wien:
ggardening.blogsport.eu
Lokale Agenda Wien:
www.la21wien.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die AutorInnen sophia.fielhauer@chello.at resei@gmx.de oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>(Wahlkampf-)Thema
Die steigenden Wohnkosten fanden in den letzten eineinhalb Jahren breite Resonanz in den Medien. Leistbares Wohnen wurde ein intensiv diskutiertes Thema. Auch die Politik hat die Brisanz der Lage erkannt. Heuer im Frühjahr haben die Parteien Konzepte vorgelegt, wie die Wohnkosten wieder auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden können. Neben konkreten Vorschlägen, wie einzelne Instrumente der österreichischen Wohnpolitik verbessert werden können – etwa durch eine erneute Zweckbindung der Wohnbauförderung –, wurde dabei auch eine Grundsatzfrage aufs Tapet gebracht: Ist es besser, wenn die Menschen zur Miete oder wenn sie im Eigentum wohnen?
Im Parteienspektrum rechts der Mitte gibt es dazu erwartungsgemäß eine eindeutige Antwort. Ein Land der Haus- und WohnungseigentümerInnen sei wünschenswert. Eigentum am Wohnsitz bringe den Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes mannigfaltige Vorteile.
Im Folgenden wird gezeigt, dass diese Behauptungen in der Realität nicht zutreffen. In einer Reihe von Ländern – wie den USA, Großbritannien, Spanien und Irland – hat der einseitige wohnpolitische Fokus auf den Eigentumserwerb zu schweren Immobilienkrisen geführt. Die drastischen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen kennen wir. Für einen beträchtlichen Teil der österreichischen Haushalte würde ein kreditfinanzierter Erwerb von Haus- oder Wohnungseigentum aufgrund der Einkommenssituation eine schwere bis unmögliche Belastung darstellen. Aus ökonomischer Perspektive spricht daher alles dafür, die bisherige Strategie in der österreichischen Wohnbauförderung beizubehalten und neue Miet- wie auch Eigentumsobjekte in einem ausgewogenen Verhältnis zu fördern.
Die Österreichische Nationalbank hat Ende 2013 eine Studie veröffentlicht, welche aufzeigt, wie stark die Einkommen der österreichischen Haushalte durch die Wohnkosten belastet sind.1 Dabei wurde zwischen verschiedenen Wohnformen unterschieden. Einerseits zwischen Miete und Eigentum, andererseits wurde die Kategorie Eigentum nochmals in kreditbelastete sowie bereits ausfinanzierte Objekte unterteilt. Die Einkommen der Haushalte wurden der Höhe nach in vier Gruppen unterteilt und schließlich wurde analysiert, wie stark diese Einkommen in den resultierenden Quartilen durch die Wohnkosten bei unterschiedlichen Wohnformen belastet sind. Die markanten Ergebnisse: Im untersten Einkommensviertel ergibt sich bei kreditfinanziertem Eigentum eine mittlere Belastung des Monatsnettoeinkommens durch die Wohnkosten von 87 Prozent. Bei dem folgenden Quartil, also dem Viertel der Haushalte mit den zweitniedrigsten Einkommen, ist der entsprechende Wert zwar nicht mehr derart horrend, liegt aber mit 48 Prozent immer noch äußerst hoch.2
Kreditfinanzierter Eigentumserwerb stellt also für die Hälfte der österreichischen Haushalte eine erhebliche finanzielle Belastung und damit ein beträchtliches wirtschaftliches Risiko dar. Wenn man vom Median aus die Einkommensleiter nach unten steigt, nehmen Belastung und finanzielles Risiko logischerweise stark zu. Eine Einkommensbelastung von 87 Prozent im untersten Viertel legt nahe, dass sich dieser Teil der Bevölkerung kreditfinanzierten Eigentumserwerb nicht leisten kann. Wenn man diese Menschen, wie in den USA im vorigen Jahrzehnt geschehen, mit Subprime-Krediten in die Verschuldung lockt, dann ist eine wirtschaftliche Katastrophe vorprogrammiert.
Geförderte Mietwohnungen
Es ist ein besonderes Verdienst der österreichischen Wohnpolitik, dass aus Mitteln der Wohnbauförderung über die Jahrzehnte ein großer Bestand an preisgeregelten Genossenschafts- und Gemeindewohnungen aufgebaut wurde, der den Menschen eine attraktive Alternative zur Verschuldung geboten hat und weiterhin bietet. Zu diesem Fazit kommt auch das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) in einer von der AK Wien beauftragten Studie aus dem vorigen Jahr: Der „Verschuldungsgrad der privaten Haushalte entwickelte (…) sich stabil, dafür ist auch das breite Angebot (geförderter) Mietwohnungen mitausschlaggebend. Neben der Objektförderung [= Wohnbauförderung, Anm. Lukas Tockner] wirkte der relativ große Mietensektor (mit moderaten Mieten) stabilisierend und trug zur Vermeidung von Immobilienpreisspekulationen in einem solchen Ausmaß wie in Großbritannien, USA und Spanien bei.“3
USA und Großbritannien
Anhand dieser Daten zeigt sich, dass die Forderung nach einem „Land der Haus- und WohnungseigentümerInnen“ vor dem Hintergrund der Einkommenssituation vieler Menschen in Österreich ökonomischer Unsinn ist. Natürlich gibt es hierzulande auch Haushalte mit stabiler Beschäftigung und entsprechenden Einkommen, wo aus rein ökonomischer Sicht wenig gegen ein Einfamilienhaus oder eine Eigentumswohnung spricht. Gefährlich wäre allerdings ein umfassender Fokus der Wohnpolitik auf den Eigentumserwerb, das wird auch durch den internationalen Vergleich ausgesprochen deutlich. In anderen Ländern wurde die Idee der „Haus- und Wohnungseigentümergesellschaft“ politisch wirkungsmächtig, etwa in den USA oder Großbritannien. Um die dafür notwendige Verschuldung der privaten Haushalte zu organisieren, musste zuerst die Kreditvergabe dereguliert werden. Die Kombination aus erleichtertem Kreditzugang und überproportional steigenden Immobilienpreisen führte in weiterer Folge zu einer stetig steigenden Verschuldung der privaten Haushalte. Damit wurde ein Grundstein für die schwere Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 gelegt. Die Autorinnen und Autoren des WIFO resümieren: „In Großbritannien reagierte die Neubautätigkeit erst verhältnismäßig spät und in geringem Ausmaß auf die Immobilienpreissteigerungen, wohingegen die Verschuldung der privaten Haushalte stark anstieg – das knappe Neubauangebot und die verstärkte Nachfrage führten so zu einer Immobilienpreisblase.“4 Für die USA stellen sie fest: „Innovationen und Liberalisierung auf den Finanzmärkten trugen zu einer wesentlichen Ausweitung der Kreditnachfrage bei – die Verschuldung der privaten Haushalte ist in den USA auffallend hoch und stieg in diesem Zeitraum [gemeint ist bis zum Jahr 2007, Anm. Lukas Tockner] noch deutlich auf über 130 Prozent der verfügbaren Einkommen an.“5
Schließlich hat sich 2008 herausgestellt, dass diese Verschuldung nicht mehr tragbar war. Die Immobilienblase platzte, was in beiden Ländern dramatische gesamtwirtschaftliche Auswirkungen hatte. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sind sprunghaft und stark gestiegen und verharren seither auf hohem Niveau. Am Beispiel der USA: Die Arbeitslosigkeit hat sich zwischen 2007 und 2010 mehr als verdoppelt, von 4,6 auf 9,6 Prozent, und ist seither nur wenig zurückgegangen. Die Staatsverschuldung ist ebenfalls drastisch gestiegen. War sie 2007 noch bei 66 Prozent des BIP gelegen, so betrug dieser Wert 2012 bereits 107 Prozent des Nationalprodukts.6
Arbeitsplätze, günstige Wohnkosten
Wer angesichts dieser Tatsachen weiterhin ein „Land der Haus- und WohnungseigentümerInnen“ fordert, hat offensichtlich keinen klaren Blick auf die jüngsten Lehren der Geschichte. Klar ist auch, dass der aktuelle Vorsorgewohnungsboom nichts zur Wohnversorgung von Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen beiträgt. Tatsächlich erforderlich ist eine erneute Zweckbindung in der Wohnbauförderung. Das würde nicht nur Bauinvestitionen und Arbeitsplätze, sondern vor allem auch niedrigere Wohnkosten bringen.
1 vgl. Beer/Wagner 2012.
2 vgl. Beer/Wagner 2012, 4.
3 Kunnert/Baumgartner 2012, 107.
4 Kunnert/Baumgartner 2012, 106.
5 Kunnert/Baumgartner 2012, 31.
6 Daten aus der World Economic Outlook Database des Internationalen Währungsfonds.
Internet:
WIFO-Studie: tinyurl.com/ohs2rr7
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor lukas.tockner@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
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Die Meisten kommen aus der Türkei
Mesut Özil holte zwar mit dem FC Bayern München nicht den Champions League Titel, dafür aber der österreichische Nationalteamspieler David Alaba. Gemeinsam mit Alaba kämpft der Österreicher mit serbischen Wurzeln, Marko Arnautovic, um den Einzug in die Play Offs der WM 2014. Der Bosnier Edin Dzeko hatte mit Manchester City keine Chance gegen den FC Bayern München, dafür feiert er mit vielen Deutschland-Legionären wie Ibisevic, Salihovic und Spahic einen Sieg nach dem anderen in der bosnischen Nationalmannschaft. Die Liste könnte ewig lang so fortgeführt werden. Aber die Türkei, Deutschland, Serbien, Montenegro und Bosnien haben nicht nur erfolgreiche Fußballspieler, sondern auch noch eine andere Gemeinsamkeit. Die meisten Zuwanderinnen und Zuwanderer in Niederösterreich stammen aus diesen Ländern. Die Türkei führt die Gruppe an – mit 25.400 Personen. Knapp dahinter auf Platz zwei liegen die Deutschen mit 25.300, gefolgt von Migrantinnen und Migranten aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo (23.200). Etwa 16.000 Zuwanderinnen und Zuwanderer aus Bosnien-Herzegowina leben in Niederösterreich.
Insgesamt betrug der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich Anfang des Jahres 2013 rund 11,9 Prozent, das sind rund eine Million Menschen. Die meisten zieht es in die Bundeshauptstadt, ein Großteil von ihnen aber – mehr als ein Zehntel – lebt und arbeitet in Niederösterreich. „MigrantInnen sollen sich der Kultur ihrer Wahlheimat anpassen.“ Diese Auffassung ist nicht nur in Österreich weit verbreitet. Oft ist es aber für Menschen mit Migrationshintergrund nicht leicht, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, sich zu integrieren und an der Gesellschaft teilzuhaben. Der Behördendschungel erschwert die Situation zusätzlich: Von alltäglichen Amtswegen über die Kindergartenpflicht, Schulpflicht der Kinder bis hin zur Anerkennung eigener Bildungsabschlüsse. Oft kommen Sprachbarrieren und Erfahrungen von Flucht, Verfolgung und Krieg hinzu. Laut der Studie „Immigrant Youth In Cultural Transition: Acculturation, Identity and Adaptation Across National contexts“ des Autors und Psychologen John Berry gelingt jedoch jenen jugendlichen Migrantinnen und Migranten die Integration am erfolgreichsten, die offen für die neue Kultur sind, aber die Traditionen ihres Geburtslandes nicht vergessen. Für die Studie wurden in einem Zeitraum von zehn Jahren mehr als 5.000 Interviews mit Kindern der ersten MigrantInnen-Generation geführt. „Im Rahmen der NÖ Dorf- und Stadterneuerung entstand in Bad Vöslau der Arbeitskreis Integration, der durch Veranstaltungen wie Sprachenkarussell, Sprachenreise oder gemeinsames Kochen, Menschen aus allen Kulturkreisen zusammenbringt und versucht Vorurteile abzubauen. Durch gemeinsame Aktivitäten erfahren die Menschen mehr über das Leben der Nachbarn und verstehen so besser, warum es manchmal anders zugeht oder am Freitag mehr Autos zur Moschee fahren“, berichtet Christoph Prinz, Bürgermeister von Bad Vöslau, über Maßnahmen der Stadtgemeinde, die gesetzt werden, um gegenseitiges Verständnis und ein besseres Zusammenleben zu fördern.
Auf Dialog setzen
Im Oktober 2009 wurde in Bad Vöslau eine Moschee eröffnet. Neben Wien und Telfs ist sie der dritte prominente Moscheenneubau in Österreich. Anfangs gab es in der Bevölkerung viel Protest gegen die Errichtung – vor allem wegen der geplanten Höhe der Minarette. „Die größte Herausforderung war mit Sicherheit, den Konflikt um den Bau der Moschee im Einverständnis aller beteiligten Gruppierungen zu lösen. Besonders wichtig war, alle politischen Gruppen einzubinden und die Sorgen und Ängste, aber auch die Rechte, wie etwa die freie Glaubensausübung, der Bevölkerung ernst zu nehmen“, sagt Prinz. Am Ende wurde ein Kompromiss gefunden, mit dem alle Beteiligten einverstanden waren. Auch bei der Höhe der Minarette einigte man sich auf 13,5 Meter statt den geplanten 25. „Es gab unzählige direkte Gespräche mit den BürgerInnen bei verschiedensten Veranstaltungen, in denen ich über den Stand der Mediation informieren und Bedenken zerstreuen konnte. In einer großen Abendveranstaltung wurde auch die endgültige Version des Bauprojekts der Bevölkerung vorgestellt“, erzählt der Bürgermeister.
Seit der Eröffnung sind vier Jahre vergangen. Da die Moschee nicht nur den Gläubigen als Ort des Gebetes dient, sondern auch als Kulturzentrum und vielseitige Begegnungstätte genutzt wird, haben viele Vöslauer BürgerInnen diese besucht und gesehen. „Die Menschen sehen, dass die Moschee eine Bereicherung für die Stadt darstellt und für alle Interessierten immer offen steht. Spezielle Veranstaltungen wie ‚Tag der offenen Tür‘, ‚Lange Nacht der Moscheen‘ oder auch gemeinsame Treffen haben viel dazu beigetragen, Informationen weiterzugeben und Vorurteile abzubauen“, freut sich Prinz, dass heute das Zusammenleben problemlos funktioniert. Selfet Yilmaz, ATIB-Vertreter bei den Verhandlungen um den Bau, lobt die Herangehensweise des Bürgermeisters, während der Gespräche Bevölkerung und Medien immer am Laufenden gehalten zu haben: „Die offene Kommunikation war der Schlüssel zum Erfolg.“
Barrieren abbauen
Um ein gutes Miteinander zu schaffen, müssen Barrieren abgebaut werden und Offenheit für andere Kulturen gezeigt werden. Viele Schwierigkeiten entstehen durch mangelnde Deutschkenntnisse und Kommunikationsschwierigkeiten. Deutschunterricht für Eltern, wie in manchen Schulen Österreichs angeboten, gibt es in Bad Vöslau nicht. Jedoch bietet die Frauengruppe „Frauenvielfalt“ eine Deutschgesprächsrunde für Migrantinnen an, berichtet Prinz. In einer gemütlichen Runde können sie ihre Deutschkenntnisse verbessern, da gezielt auf die sprachlichen Bedürfnisse eingegangen wird.
Auch kulturübergreifende Veranstaltungen werden oft organisiert und von allen Bevölkerungsgruppen besucht. „Das Stadtfest im August ist die größte Veranstaltung in Bad Vöslau und immer ein beliebter Treffpunkt aller Kulturen. Hier kann man österreichische Hausmannskost genauso wie türkische Kebabs ausprobieren“, erzählt Prinz und fügt hinzu, dass sehr viele, egal welcher Herkunft, dem Weihnachtsmarkt einen Besuch abstatten.
Miteinander reden
Im Jahr 1961 lebten nur knapp über 100.000 Menschen mit ausländischen Wurzeln in Österreich, meist ArbeitsmigrantInnen. Heute ist es rund eine Million. Und sie sind in vielen Bereichen vertreten, unter anderem im Gesundheitswesen, in der Politik und besonders im Sport. Die Namen Jukic, Alaba, Arnautovic und Körkmaz sind allen gut bekannt und nicht selten lassen sie die Emotionen vieler BürgerInnen hochgehen. Ob Freude, weil Österreich eine Europameisterin im Schwimmen hat, oder Wut, weil Arnautovic nicht nur schnell auf dem Fußballrasen ist, sondern auch auf Österreichs Autobahnen – Emotionen sind vorprogrammiert. Genauso wie Angstgefühle und Unsicherheit bei den Vöslauer BürgerInnen, als sie sich mit etwas Neuem, teilweise Unbekannten konfrontiert sahen. „Ich habe schlicht versucht, die Wünsche von ATIB und die Ängste der Menschen durch viele offene Gespräche in Einklang zu bringen. Teilweise funktioniert die Integration in Bad Vöslau heute sogar besser als vor der Debatte. Davor haben die unterschiedlichen Gruppen einfach nebeneinander gelebt, es gab keine Probleme, weil es keine Berührungspunkte gab. Durch das Bauprojekt waren wir alle gezwungen uns zu entscheiden, ob wir in Zukunft miteinander oder gegeneinander leben wollen“, erzählt Bürgermeister Prinz. „Bad Vöslau“ scheint ein Beispiel dafür zu sein, dass mit guter und offener Kommunikation viele Probleme gelöst werden können. Und wer weiß, vielleicht treffen sich am Bad Vöslauer Sportplatz bereits die nächsten Klein-Alabas, Klein-Özils und Klein-Dzekos und trainieren fleißig, um später den Einzug zur Fußball-WM zu schaffen.
Mehr Info unter:
www.integrationsfonds.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin amela.muratovic@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Arbeit&Wirtschaft: Sie sind Obmann des Österreichischen Verbands Gemeinnütziger Bauvereinigungen (GBV) sowie Chef der beiden gemeinnützigen Bauträger Gewog und Neue Heimat. Was sind die Gemeinnützigen Bauvereinigungen, kurz gefasst?
Karl Wurm: Die gemeinnützigen Bauvereinigungen sind Bauträger, deren Rahmen gesetzlich genau determiniert ist. Rund 50 Prozent der Gemeinnützigen sind Genossenschaften, die andere Hälfte sind Kapitalgesellschaften, GmbHs und ein paar wenige Aktiengesellschaften. Ihr Rechtsrahmen ist das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz, das sehr genau beschreibt, wie vorzugehen, wie zu wirtschaften ist, wie die Preise zu binden sind, wie sich Mieten zu bilden haben, was verlangt werden darf, was nicht, was für ein Gewinn gemacht werden kann – nur ein ganz bescheidener. Dazu gibt es die jeweiligen Wohnbauförderungsgesetze in den Bundesländern, die mit der Wohnbauförderung noch zusätzliche Auflagen verknüpfen.
Was hat sich seit dem Fallen der Zweckwidmung 2001 verändert?
Die Zweckwidmung ist schleichend ausgehöhlt worden. 2001 war ein wesentliches Datum: Damals hat Finanzminister Grasser das berühmte „Null-Defizit“ ausgerufen und die Länder verpflichtet mitzutun. Im Ausgleich dazu hat er ihnen die Finanzhoheit überlassen – und damit auch die Zweckbindung der Wohnbauförderung aufgehoben. Gänzlich aufgehoben wurde sie eigentlich erst 2008 im Zuge der Finanzausgleichsverhandlungen – mit dem bekannten Ergebnis. Die Wohnbauförderungsmittel wurden sukzessive auch für andere Dinge verwendet. Was man oft vergisst ist, dass die Wohnbauförderungsmittel ab 1996 nicht mehr indexiert wurden, also nicht mehr der Inflationsrate angepasst wurden. Dadurch gingen bis jetzt 450 Mio. Euro verloren. Davon spricht kaum jemand. Im selben Zeitraum sind die Qualitätsanforderungen irrsinnig gestiegen. Es ist viel gebaut worden. Wenn man nun überlegt, dass die Mittel, die zu den Ländern geflossen sind, auch noch teilweise ganz anders verwendet wurden, so ist die Leistung, die erbracht wird, großartig. Wenn man das System kritisiert, muss man auch darüber nachdenken, die Indizierung wieder einzuführen.
Wohnen ist ein Grundbedürfnis und es hat sich mit der Wohnsituation seit 1996 einiges verändert.
Die Ansprüche sind höher geworden, die Normen gestiegen. In den letzten Jahren beobachten wir ein ziemliches Auseinanderklaffen der Wohnungsmärkte. Am weiten Land ist die Nachfrage nicht so groß. Da gibt es Gebiete, da braucht man nicht wirklich einen neuen Wohnbau. In manchen ländlichen Bereichen sind neue Wohnungen sehr wohl notwendig, aber es ist kein Riesendruck da. Dagegen in den Ballungsräumen, in den Städten, ist ein unheimlicher Druck entstanden. Das hängt mit dem Zuzug zusammen, mit der Bevölkerungsentwicklung. Wenn ich nur an Wien denke, das wächst im Jahr um zwischen 20.000 und 25.000 Menschen. Die müssen wohnversorgt werden. Anderen Städten geht es anteilig ähnlich.
Lange Zeit hat man – auch in der Politik – den Eindruck gehabt: Das Wohnen funktioniert eh. Und darum hat sich der Fokus auf andere Dinge verlagert. Dann hat es ein paar Wissenschafter gegeben, wie den Herrn Dr. Felderer, damals IHS. Der hat immer wieder erklärt, die Wohnbauförderung sei unnötig, eine Subjektförderung – also Wohnbeihilfe – reiche vollkommen und im Übrigen haben wir einen gut funktionierenden Kapitalmarkt. Das haben Politiker mitbekommen und die Industrie hat das gerne aufgenommen. Immer, wenn es darum gegangen ist, wo kann der Staat sparen, hat es dann geheißen: Der Felderer hat doch gesagt, man braucht die Wohnbauförderung nicht mehr.
Jetzt sind wir dort, wo wir sind. Die Bevölkerungsentwicklung wurde offenbar zu wenig beachtet. Dieses schleichende anders Verwenden der Wohnbauförderungsmittel hat dazu geführt, dass wir weniger gebaut haben. Die fehlende Indexierung hat uns sowieso einen Teil der Mittel gekappt.
Und dann kam die Krise ...
Und dann kam die Krise. Und plötzlich hieß es: Das Wohnen ist so teuer. Die Krise hat noch einen ganz interessanten Aspekt hervorgebracht. Und ich glaube, dass das einer der Hauptgründe ist, warum die Politik auch so rasch reagiert. Es sind nicht so sehr die steigenden Mieten, die die Emotionen aufgebracht haben: „Wohnen ist teurer.“ Seien wir uns ehrlich, es gibt sehr viele Leute auch im Mittelstand, die sich etwas Geld, so 300.000 Euro erspart haben. Es ist überall signalisiert worden, dass man sein Geld nur nicht auf die Bank legen soll, sondern in Immobilien investieren. Da haben sich die Leute gedacht: „Kaufen wir uns auch eine Wohnung. Dann haben wir sogar – Sichwort ‚Vorsorgewohnungen‘ – ausgesorgt im Alter.“ Und dann sind sie losmarschiert mit ihren 300.000 Euro und haben festgestellt: Sie bekommen keine 100 m² darum, sondern maximal eine 52-m²-Wohnung. Und ich glaube auch, dass diese Leute dazu beigetragen haben, dass der Eindruck entstanden ist, Wohnen sei furchtbar teuer geworden.
Wie viele ÖsterreicherInnen wohnen in einer gemeinnützigen Wohnung?
Unseren Berechnungen nach wohnen ungefähr 2,5 bis 2,8 Mio. Menschen bei uns. Das wäre jede/r Vierte.
Wie viele wollen?
Wenn ich die frage, die bei uns wohnen – also die Wohnzufriedenheit abfrage – sind es viele. Bei der jüngsten Befragung der Stadt Wien zu den Gemeindewohnungen war das Ergebnis ein Zuspruch weit über 80 Prozent für Genossenschaftswohnungen. Das verdeutlicht sich auch darin, dass die Kinder sehr früh schon für eine Wohnung angemeldet werden. Auch das zeigt, dass die Zufriedenheit mit den Gemeinnützigen recht groß ist. Das ist aber auch nicht so abstrakt. Wenn Sie bei den Gemeinnützigen den Zins zahlen, wohnen Sie, so lange Sie wollen. Da gibt es keinen befristeten Mietvertrag, es wird niemand hinausgeekelt, die Häuser werden ständig in Schuss gehalten, ordentlich saniert. Vandalenakte werden sofort behoben.
Die GBV beschäftigt ja auch noch immer mehr als 3.500 HausbesorgerInnen.
Als das Hausbesorgergesetz 2001 abgeschafft wurde, haben wir versucht, ähnliche Arbeitsverhältniskonstruktionen zu finden, nämlich in Form von HausbetreuerInnen. Wir wollten, dass wer im Haus da ist. Für die gefühlte Sicherheit der MieterInnen ist es sehr wichtig, dass es da jemanden gibt, der sich kümmert. Das hat für uns auch betriebswirtschaftlich gesehen Vorteile.
Wie viele warten auf Wohnungen?
Wir haben jetzt keine österreichweite Statistik – aber in den Städten gibt es lange Wartelisten. Wir haben ja ein weites Spektrum: Einerseits Neubauwohnungen, die natürlich teurer sind, weil die Baukosten höher sind. Aber wir haben auch sehr günstige ältere Wohnungen und die kommen dann vor allem für rasche Hilfe in Frage: Scheidungsfälle, AlleinerzieherInnen. Selbst da besteht eine gewisse Wartezeit, weil aus sehr günstigen Wohnungen die Menschen nicht oft ausziehen. Trotzdem wird immer was frei. Mir ist das deswegen so wichtig, weil oft unterschätzt wird, welchen Wert dieser Bestand hat.
In der Phase des neoliberalen Superwettbewerbs – „auf jeden Fall Eigentum“ – wurden auch die Weichen gestellt in Richtung Verkauf von Mietwohnungen. Abgesehen davon, dass ich glaube, dass es gesellschaftspolitisch nicht sehr gescheit ist, wenn man hoch geförderte Wohnungen günstig verkaufen muss. Da profitieren andere. Es ist aber auch für die zukünftige Versorgung nicht sehr gescheit. Wir haben mit unserem älteren Wohnungsbestand ein gesellschaftspolitisches Vermögen. Wir können immer wieder Wohnungen zur Verfügung stellen.
Die GBH hat die Initiative „Bauen + Wohnen“ ins Leben gerufen – die GBV ist Partner. Da geht es um eine zukunftsorientierte Verbindung zwischen Ökonomie, Ökologie und Sozialem. Über Ökonomie haben wir bereits gesprochen – wie sieht es mit der Ökologie aus?
Das ist über die letzten Jahre ein großes Thema im Wohnbau geworden, wobei ich zu den gespaltenen Geistern in diesem Lande gehöre. Natürlich ist mir bewusst, dass eine ökologische Orientierung ganz wichtig ist. Es ist da in Österreich recht viel passiert. Da wurde erklärt: Wir müssen CO2 einsparen, wir wollen Kyoto erreichen. Wir müssen Verpflichtungen und Auflagen erfüllen. Man hat aber nie dazu gesagt, wie das bezahlt wird. Es wurde immer vermittelt, dass die Maßnahmen, mit denen CO2 gespart wird, nichts kosten und damit auch keine Zusatzkosten schaffen. Das war nie so. Wir haben geglaubt, dass wir bei einem Passivhaus nur geringe Betriebskosten zahlen und dass das ein herrliches Wohnen sei. Fakt ist: Im Sommer ist es zu heiß, weil man nicht lüften darf. Man darf keine Klimaanlage einbauen. Im Winter ist es zu kalt, da muss man elektrisch dazuheizen. Die Gesamtenergiebilanz fällt in Wahrheit auch ein wenig anders aus. Das Entscheidende für die BewohnerInnen ist, mögen auch die Heizkosten ein wenig geringer sein, die Instandhaltungs- und Wartungskosten sind weit höher. Bei jedem Fortschritt muss man sich fragen: Wem nutzt es wirklich, was kostet es und wer zahlt es? Sonst bleibt der Einzelne über, die kleinen MieterInnen. Die müssen über ihr Börsel zahlen und dort ist wenig drinnen, weil die Menschen auch keine Realeinkommenszuwächse hatten. Das ist eine unangenehme Wahrheit, die man immer wieder betonen muss, weil sie nicht in den Sonntagsreden vorkommt.
Und der soziale Faktor? Alte Konflikte mit neu Zugezogenen, MigrantInnen, Singles, Wohnen im Alter etc.?
Die Heterogenität, die Aufgefächertheit hat enorm zugenommen in den letzten Jahren und wird weiterhin ein gewaltiges Thema bleiben. Z. B. Integration und damit meine ich nicht nur die Integration von ausländischen Mitbürgern, sondern auch und vor allem die Integration von Reicheren mit weniger Reichen. Das funktioniert in Österreich relativ gut. Wir haben in unseren Großstädten keine wirklichen Ghettos. Das System der zweigeteilten Förderung, der Objektförderung, die dazu dient, den Ausgangspreis niedriger zu halten, und die Subjektförderung, die abgestimmt ist auf das Einkommen des Einzelnen, erlaubt wirklich, dass Reichere und Ärmere nebeneinander wohnen. In Wahrheit weiß der Herr Professor nicht, wie viel der Nachbar auf Tür Sieben verdient. Diese Integration funktioniert halbwegs. Deshalb ist es so wichtig, dass man das ausgleichende System, das wir haben, nicht leichtfertig über Bord wirft, sondern immer wieder anpasst. Das System besteht aus der Wohnbauförderung, aus Bauträgern, aus Gemeinnützigen, die einfach langfristig verpflichtet sind und nicht, wenn die Förderung ausbezahlt ist, den Höchstpreis verlangen dürfen. Die auch nach der Ausfinanzierung des Hauses, wenn es entschuldet ist, nur einen niedrigen Mietzins verlangen dürfen, weil das Gesetz das so vorsieht. All das ist stabilisierend.
Das Thema Wohnen im Alter ist jetzt von vielen schon aufgenommen worden, ob es um Wohngruppen für Ältere geht oder die Integration Älterer in bestehende Wohnhausanlagen. Oft wird die Frage vernachlässigt, was machen wir mit den Jungen? Wir lachen immer über Italien und das „Hotel Mama“. Von der Größe her gesehen, ist Österreich eines der Länder mit anteilig den meisten Nesthockern. Wir haben 700.000 junge Menschen im Alter zwischen 19 bis 28 Jahren, die zu Hause wohnen. Das mag jetzt vielerlei Motive haben, aber ein Großteil von denen würde auch ganz gerne in eine eigene Wohnung ziehen. Das scheitert aber daran, dass das Wohnen für Junge verdammt teuer ist. Wohnen für junge Menschen, die endlich auf eigenen Füßen stehen wollen, nicht viel Geld haben, weil in prekären Arbeitsverhältnissen oder kaum bezahlten Praktika, ist wirklich schwer leistbar. Auch wenn wir mit unserem Mietniveau europaweit noch relativ gut sind.
Was wären denn Ihre Wünsche an die Bundesregierung?
Dass sie bald steht. Einige Dinge müssen rasch begonnen werden: Wir brauchen Adaptierungen im Wohnrecht. Dort herrscht fast Stillstand. Wenn man innerhalb von fünf Jahren nicht die Frage regeln kann, wer die Therme zahlt, verdeutlicht das am Besten, was ich meine. Da gibt es nicht nur die elementare Frage der Therme, sondern noch weit elementarere Fragen, die beleuchtet werden müssen.
Ich glaube, dass es gut wäre, wenn man es schafft, dass die Länder in ihrer Mittelvergabe mehr Kontinuität hineinbringen. Natürlich kann das durch die Zweckbindung erreicht werden, aber die Zweckbindung der Wohnbauförderung alleine macht es nicht. Es ist entscheidend, wie viel Geld ich zweckbinden kann. Die goldenen Zeiten von der Idee über die Finanzierung zum Projekt sind vorbei. Langfristgeld finanziert zu bekommen, ist seit der Krise und Basel III schwieriger geworden. Der Eigenfinanzierungsanteil steigt. Und weil die Banken nicht mehr so bereit sind 80, 90, 100 Prozent zu finanzieren, ist es notwendig, Geld, das bei uns institutionell verankert ist, sprich bei Pensionskassen und Versicherung, in den Wohnbau umzulenken. Dieses Geld hat längerfristigen Charakter und das würde uns und auch der öffentlichen Hand helfen.
Es wäre gut, wenn es die nächste Regierung schafft, Wohnen ideologiefrei zu sehen – wer ist für Miete, wer für Eigentum? Wir müssen das machen, was passt.
Einen wichtigen Wunsch habe ich noch, dass man herunterkommt davon, dass der geförderte Wohnbau höhere Qualitäten haben muss als der frei finanzierte – damit wird die Wohnbauförderung und leistbares Wohnen pervertiert.
Wie wohnen Sie?
Ich wohne in einer frei finanzierten Wohnung.
Wir danken für das Gespräch.
Das Interview führte Katharina Klee für Arbeit&Wirtschaft.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at
]]>Wir sind wettbewerbsfähig
Selbstverständlich sind uns wettbewerbsfähige Betriebe ein Anliegen, sie bilden eine wichtige Basis für den Wohlstand. Ihre Wettbewerbsfähigkeit beweisen Österreichs Unternehmen jeden Tag in reger Industrieproduktion und hohem Export. In einem offensiven wirtschaftspolitischen Konzept muss sie durch verstärkte Anstrengungen in Aus- und Weiterbildung, Forschung und Innovation abgesichert werden. Die ganze Welt kauft österreichische Produkte. Doch wie lange werden wir selbst uns diese Produkte noch leisten können, wenn die Einkommen nicht ausreichend steigen? Es ist doch bemerkenswert, in welchem hohen Ausmaß die Exportgewinne für Dividendenausschüttungen und damit weitere Vermögenskonzentration volkswirtschaftlich verschwendet werden, statt sie produktiv für höhere Löhne, Investitionen und Innovationen zu nutzen.
Damit sind wir mitten in den sozialen Auseinandersetzungen um die Verteilung von Wirtschaftsleistung und Volkseinkommen. Sie werden ohne Zweifel an Intensität gewinnen. Kräftiges Wirtschaftswachstum ist in absehbarer Zeit angesichts der Lage im Banken- und Finanzsystem wenig wahrscheinlich, zudem bestehen angesichts des hohen Ressourcenverbrauchs berechtigte Zweifel an seiner Nachhaltigkeit. Wächst der Kuchen langsamer, dann wird der Streit um seine Verteilung heftiger werden.
Wir kämpfen um Verbesserungen
Dabei ist unsere Position klar: Finanzsystem und Vermögende haben über unsere Verhältnisse gelebt. Ein Zurückdrängen ihrer Ansprüche an das Sozialprodukt schafft Raum für sozialen Fortschritt. Realistisch gesehen besteht für den großen Ausbau des Sozialstaates derzeit wenig Chance. Doch wir wollen um die dringend notwendigen Verbesserungen bei Kindergärten und Ganztagsschulen, Pflege und Sozialarbeit kämpfen. Diese sind ohne Zweifel auch finanzierbar, durch Umschichtungen von Geld- zu Sachleistungen und einen größeren Beitrag von Reichen und Erben zum Sozialstaat.
Wem gehört die Welt?
Die Spielräume im Budget sind generell knapp. Das ist noch immer Folge von Bankenhilfen und Finanzkrise, deren Verursacher wir noch stärker zur Finanzierung des Staatshaushalts heranziehen wollen. Die weitere Verringerung des Budgetdefizits und der Abbau der Staatsschulden bleiben ein Gebot der Stunde: Wir wollen die Abhängigkeit von den Finanzmärkten verringern und Spielräume für die Finanzierung sozialen Fortschritts gewinnen. Deshalb muss die Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften einen prominenten Platz auf der politischen Agenda behalten, trotz oder vielmehr wegen des heftigen Widerstands. Dieser Widerstand zeigt: Bei den Vermögenssteuern geht es nicht nur um eine faire Verteilung der Abgabenbelastung. Mit diesem Thema wird auch die Machtfrage gestellt.
Und genau das wollen wir tun, die Frage stellen, wem die Welt gehört: Der breiten Masse an Menschen, die von Leistungseinkommen aus Arbeit leben oder den wenigen, die ihr Millionenvermögen „arbeiten“ und ihren Einfluss auf Politik und Medien spielen lassen?
EU-Reformpolitik drückt auf die Lohnentwicklung
Großes Interesse weckte der Artikel zur gedämpften Entwicklung der Löhne in der EU seit Beginn der Krise 2009 von Torsten Müller. Der Senior Researcher am Europäischen Gewerkschaftsinstitut in Brüssel zeigt auf, wozu die überwiegend auf Austerität und neoliberale Strukturreformen ausgerichtete Krisenbewältigungsstrategie der EU geführt hat. Dadurch dass stark auf moderate Lohnpolitik und Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme gesetzt wurde, verdienen die Menschen besonders in Ländern, die auf finanzielle Hilfe der Troika bzw. des IWF angewiesen waren, real weniger. Diese Entwicklung hat auch vor den Mindestlöhnen nicht Halt gemacht. Müller argumentiert, dass gerade die Löhne, besonders in Defizitländern, für die Schaffung bzw. Stabilisierung der Binnennachfrage und Förderung sozialer Inklusion wichtig sind. Er fordert daher eine politische Neuorientierung auf ein stärker lohn- und nachfrageorientiertes Wachstumsmodell, anstelle der Fortsetzung des bisher propagierten Lohnsenkungswettbewerbs in der EU.
Lesen Sie nach: tinyurl.com/nbl7l5w
Schief läuft’s, und wir alle wissen es
Dass den Menschen in Österreich die steigende Ungleichheit durchaus bewusst ist, stellen Matthias Schnetzer und Miriam Rehm gleich zu Beginn ihres Blogbeitrags klar. Die Ergebnisse einer Befragung zeigen, dass Wunsch und Wirklichkeit in Bezug auf die Verteilung in unserer Gesellschaft auseinanderklaffen: Die überwiegende Mehrheit der Befragten in Österreich wünscht sich eine Gesellschaft mit einer breiten Mittelschicht, mehrheitlich wird jedoch unsere derzeitige Gesellschaftsform als eine Gesellschaft mit einer eher ungleichen Verteilung wahrgenommen.
Es ist daher als ein Auftrag an die Politik zu verstehen, die Wirklichkeit näher an die Wunschvorstellung, eine Gesellschaft mit einer gleicheren Verteilung, zu bringen. Die AutorInnen fordern, dass auch Vermögende und BezieherInnen hoher Einkommen einen gerechten Betrag dazu leisten müssen.
Lesen Sie nach: tinyurl.com/p86c2s7
Zahlt die Mittelschicht Vermögenssteuern auf Unternehmensbeteiligungen?
Miriam Rehm, Expertin für Makroökonomie und Verteilung der AK Wien, räumt in diesem Artikel die Befürchtung aus, dass eine Vermögenssteuer die Mittelschicht oder Unternehmen treffen würde. Erstens werden Unternehmen gar nicht von der Steuer erfasst, sondern nur Privatpersonen. Zweitens zeigt ihre Analyse, dass bei einer künftigen Besteuerung von Unternehmensbeteiligungen nur die reichsten Haushalte in Österreich etwas zu „befürchten“ hätten: Die reichsten fünf Prozent der österreichischen Haushalte besitzen deutlich mehr Firmenanteile als die unteren 80 Prozent. Rehm kommt zum Schluss, dass – wenn entsprechende Freibeträge definiert werden – nur eine kleine Gruppe sehr reicher Personen tatsächlich die Vermögenssteuer zahlen würde. Angesichts der extremen Konzentration des Vermögens könnten dadurch aber ansehnliche Einnahmen generiert werden.
Lesen Sie nach: tinyurl.com/orxkrg6
Duale Ausbildung: Qualität macht attraktiv
Als „Exportschlager“ erweist sich vor dem Hintergrund der europäischen Massenarbeitslosigkeit von Jugendlichen das österreichische Modell der dualen Ausbildung Hierzulande scheint die Lehre aber an Attraktivität einzubüßen. Lisa Sinowatz, Lehrlingsexpertin der AK Wien, geht in ihrem Artikel diesem Widerspruch auf den Grund. Seit Langem ist in Österreich der Lehrstellenmarkt durch einen Rückgang der betrieblichen Ausbildungsbereitschaft gekennzeichnet. Die Pauschalverurteilung der Wirtschaft und der Medien lautet: mangelnde kognitive und soziale Fähigkeiten der Jugendlichen sind dafür verantwortlich.
Die Autorin stellt zu Recht die Frage, welche Verantwortung die Betriebe tragen, wenn es darum geht, die Lehre sowohl für Betriebe als auch für die Jugendlichen attraktiver zu machen. Sinowatz schlägt eine „Qualitätsoffensive“ in der Lehrausbildung vor, denn Befragungen zeigen, dass die Ausbildungsqualität der bestimmende Faktor in Bezug auf die Attraktivität der Lehrausbildung ist. Wichtig sei es, objektiv messbare Qualitätskriterien zu definieren und die Kontrolle über ein verpflichtendes und flächendeckendes Qualitätsmanagementsystem zu etablieren.
Lesen Sie nach: tinyurl.com/ndtcvnl
Mehr dazu und weitere aktuelle, informative Beiträge unserer Expertinnen und Experten lesen Sie unter blog.arbeit-wirtschaft.at
Nach einem Master-Studium an der Harvard Law School promovierte er 1991 in Salzburg zum Doktor der Rechtswissenschaften. 1992 graduierte er zum Master of Science an der London School of Economics and Political Science. 1999 übernahm er eine Professur an der Harvard Kennedy School, aktuell ist er am Oxford Internet Institute tätig.
Sein letztes Buch „Delete“, in dem er das „Recht auf Vergessen werden“ in digitalen Zeiten propagiert, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. In seinem neuesten Buch „Big Data“ beschäftigt sich Mayer-Schönberger mit den gesellschaftlichen Folgen der systematischen und kommerziellen Nutzung von Daten im Internet, er gilt als einer der international anerkanntesten Experten auf diesem Gebiet.
Der internationale Bestseller „Big Data“ wird am 1. Oktober 2013 exklusiv und erstmals in seiner deutschen Übersetzung vor Ort erhältlich sein.
Dienstag, 31. Oktober 2013, 19 Uhr, AK Wien, Bildungszentrum, Großer Saal, Theresianumgasse 16–18, 1040 Wien
Eine Veranstaltung der AK Wien und der Stadtzeitung Falter.
Eintritt frei
Um Anmeldung wird gebeten
stadtgespraech@akwien.at
Telefon 01/501 65-2882
Mehr Infos: www.wienerstadtgespraech.at/aktuell
Was zeichnet nun einen guten Job aus? Die Werte der folgenden Subdimensionen der einzelnen Berufe geben darüber gut Auskunft. Die signifikantesten Unterschiede zeigen sich bei körperlichen Belastungen: In der Kategorie „Physischer Stress“ erreichen BauarbeiterInnen einen Wert von 58 Punkten, BerufsfahrerInnen 39 Punkte und Reinigungskräfte immer noch 20 Punkte. Bei den am besten bewerteten Berufen hingegen liegt der Wert nur bei vier bis acht Punkten. Alarmierend: Rund die Hälfte der BauarbeiterInnen fühlt sich durch schlechte Gesundheitsbedingungen sowie Unfall- und Verletzungsgefahr ziemlich oder stark belastet!
Auch sehr auffällig ist die Belastung aufgrund fehlender sozialer Einbindung: Acht Prozent der BauarbeiterInnen, sieben Prozent der Reinigungskräfte und 16 Prozent der BerufsfahrerInnen leiden in ihrem Beruf unter Einsamkeit und Isolation, aber nur ein Prozent der Bank- und Büroangestellten bzw. GeschäftsführerInnen.
Gute Jobs werden auch durch die Vorgesetzten geprägt: Mit dem Führungsstil sind 84 Prozent der Büroangestellten, aber lediglich 59 Prozent der BauarbeiterInnen zufrieden. Auch die subjektiven Zukunftsperspektiven gestalten sich höchst unterschiedlich. Mehr als zwei Drittel in den Top-3-Berufen sind mit ihren Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten zufrieden – aber gerade etwas mehr als ein Drittel der Beschäftigten in den Jobs mit niedriger Zufriedenheit.
Selbst für UnternehmensberaterInnen ist die Frage, ob sich Beschäftigte vorstellen können, noch einmal in der gleichen Firma anzufangen, ein guter Indikator für das Betriebsklima. Für mehr als 80 Prozent der Büro- und Bankangestellten und GeschäftsführerInnen ist das sehr gut vorstellbar. Trist schaut es hingegen in der anderen Gruppe aus: 37 Prozent der BerufsfahrerInnen, 48 Prozent der Reinigungskräfte und sogar mehr als die Hälfte der BauarbeiterInnen sagen: Selber Betrieb, nein danke!
Hier gibt es mehr Info zum Arbeitsklima-Index.
]]>Die Allianz „Wege aus der Krise“ hat mit Blick auf die Nationalratswahlen 2013 die bundesweit kandidierenden Parteien zu deren Positionen und Vorschlägen rund um das Thema Steuerreform und Zukunftsinvestitionen befragt. Der Fragenkatalog basiert auf den Eckpfeilern des zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudgets, welches die Allianz seit 2010 jedes Jahr erstellt. Mit Ausnahme von FPÖ und Team Stronach haben alle Parteien geantwortet.
Der Wahlkompass gibt Wählerinnen und Wählern einen gesammelten Überblick über die Vorschläge und Visionen der Parteien rund um das Thema Zukunftsinvestitionen u. a. in Bildung, Pflege, öffentlichen Verkehr oder Energiewende. Ebenso abgefragt wurden die Positionen im Hinblick auf eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Steuerreform und auf eine Demokratisierung des Budgetprozesses. Der Wahlkompass ist entlang dieser drei Blöcke aufgebaut. Die Antworten können entweder in Form eines Parteienvergleichs zu den jeweiligen Fragen abgerufen werden oder für jede Partei einzeln.
Den Wahlkompass findet man unter:
www.wege-aus-der-krise.at
„Wege aus der Krise“ ist eine Zusammenarbeit von elf verschiedenen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie entwickelt seit 2010 das „Zivilgesellschaftliche Zukunftsbudget“, das nun schon zum dritten Mal in aktueller Form aufgelegt wurde. Darin werden alternative Wege aus der Krise vorgestellt, die solidarisch, ökologisch nachhaltig und demokratisch sind. Die Allianz besteht aus: Attac Österreich, Armutskonferenz, GdG-KMSfB, GLOBAL 2000, GPA-djp, Greenpeace, Katholische ArbeitnehmerInnen Bewegung Österreich, ÖH – Österreichische HochschülerInnenschaft Bundesvertretung, Produktionsgewerkschaft PRO-GE, SOS Mitmensch und Lebensgewerkschaft vida.
Hier gibt es das „Zivilgesellschaftliche Zukunftsbudget“ 2013 zum Download.
]]>Alle Informationen unter: www.kollektivvertrag.at
]]>Seit der Krise gibt es mehr Menschen ohne Arbeit, die Zahl der Erwerbstätigen ist allerdings auch gestiegen. Oft vergessen wird unbezahlte Arbeit, z. B. im Haushalt – für diese wenden Frauen nach wie vor doppelt so viel Zeit auf wie Männer.
]]>Schlagworte für Österreich
Es geht um Österreich, eindeutig: „Mit sicherer Hand für Österreich, kämpfen wir um jeden Arbeitsplatz“, versprechen die einen, „Für ein Österreich der Lebensqualität. Für ein Österreich, das Heimat ist“, die nächsten. Andere propagieren Politik der „Nächstenliebe“ und meinen damit: „Österreicher zuerst bei Arbeitsplätzen und im Sozialsystem“. Und wieder andere probieren es mit Humor: „Österreich braucht mehr Bildunk“. Da gibt es auch ein Konzept zur Staatsreform: „Österreich neu bauen“, und ein Milliardenschwerer Teilzeit-Österreicher verkauft „Neue Werte für Österreich“. WTF, ätzt die Internetgemeinde zurück. „Widersprechen. Auch im Parlament“, wollen welche, die schon ein halbes Jahrhundert nicht mehr drin sitzen – und doch fast immer kandidieren. „Freies Wissen. Freie Kultur. Freie Menschen“, fordern jene, die das letzte Mal erstmals dabei waren. „Wir wollen Österreich erneuern“, versprechen die Neuen.
Sie alle haben es mittels der Unterstützung von 2.600 Bürgerinnen und Bürgern bzw. der von drei Nationalratsabgeordneten geschafft, bundesweit bei der 25. Nationalratswahl anzutreten. Von den – erstaunlichen – 900 registrierten Parteien im Land, werden immerhin fünf in ein bis vier Bundes-ländern auf den Stimmzetteln vertreten sein. „Grüß Gott“, heißt es in Burgenland, Oberösterreich, der Steiermark und Vorarlberg: „Bereit für Österreich!“ In Oberösterreich und Wien lautet das Motto: „Wandel oder es kracht!“ In der Hauptstadt findet man auch die Parole „Kämpfen gegen Arbeitslosigkeit, Prekärisierung und leeres Börsl“. Für „EU-Austritt und ein besseres Österreich!“ kann man sich in Vorarlberg entscheiden oder seine Stimme jenen geben, die verkünden: „Unser Ziel ist die Gleichberechtigung der Männer.“
Die bereits im Parlament vertretenen Parteien werben nicht nur auf riesigen Plakatwänden um Stimmen, bei österreichweiten Wahlkampftourneen verteilen sie Kulis, Wahlzuckerln und anderes. Sie bekommen auch in TV-Diskussionen Gelegenheit, sich gegenseitig die Skandale und Skan-dälchen der letzten Jahre vorzuwerfen. Es geht um den Kanzler, hört man immer wieder, und nicht wie bei unseren ebenfalls wählenden Nachbarn um eine Kanzlerin. Das merkt man auch daran, dass es nur eine Spitzenkandidatin gibt und Frauen auch auf den Plakaten eher nur schmuckes Beiwerk sind. Die Klein- und Kleinstparteien nutzen das Internet und gehen Klinken putzen.
Wahlk(r)ampf
Und da und dort mutiert der Wahlkampf zum Wahlkrampf. Da wird es zum Kreuz mit dem Kreuz am Wahlzettel. Irgendwie kann man manchmal sogar verstehen, dass bei der letzten National-ratswahl 2008 jede/r fünfte Wahlberechtigte von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht hat. Tendenz steigend – also werden vermutlich auch einige bei der 25. Nationalratswahl am 29. September zu Hause bleiben.
Ich nicht – ich glaube an unsere Demokratie, ich glaube sogar, dass Mitglieder all jener oben zitierten wahlwerbenden Parteien daran glauben, dass sie was verändern wollen, dass sie Wünsche, Forderungen und Visionen haben. Viele von ihnen setzen sich in diesen Wochen mit aller Kraft dafür ein, es ist auch Einsatz für ein demokratisches Österreich. Seit 1907 gilt das allgemeine Wahlrecht für Männer in diesem Land. Seit 1917, also nicht einmal 100 Jahre, das für Frauen. Die Freiheit nehme ich mir und gehe zur Wahl – ich wähle Demokratie!
Verlagerung in Billiglohnländer
Durch die zunehmende Globalisierung sind Kapital, Produktion und Arbeitskraft immer weniger an einen Ort gebunden. Die Verlagerung der Produktion in die sogenannten Billiglohnländer bedeutet für diese zwar Wachstum, nicht immer aber menschliche Entwicklung. Für multinational agierende Unternehmen stehen oft nicht mehr die eigentlichen Produkte des Betriebes im Zentrum der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern riskante Verlagerungen auf internationale Finanzmärkte. Auch Unternehmen aus Österreich sind heute vermehrt auf den globalen Märkten aktiv und nutzen dabei Faktoren wie billige Löhne, niedrige Sozial-, Umwelt- und Arbeitssicherungsstandards zur weiteren Profitmaximierung. So fordert der ÖGB-Bundesvorstand im Leitantrag zum Bundeskongress 2013 die Einhaltung der von ILO (International Labour Organization), UNO und OECD geforderten Mindeststandards (Kernarbeitsnormen) und Sanktionen bei Nichteinhaltung für multinationale Unternehmen.
In den vergangenen Monaten konnte man sehen, welche furchtbaren Folgen der globale Wettlauf nach unten hat: Allein in Bangladesch verloren mehr als 1.200 NäherInnen ihr Leben und geschätzte 2.600 ArbeiterInnen wurden verletzt. Ein Aufschrei ging durch Europa und erste Erfolge konnten erzielt werden. So wurde ein rechtsverbindlicher Vertrag zwischen 70 Bekleidungsmarken und lokalen sowie internationalen Gewerkschaften abgeschlossen. Ziel ist die nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie in Bangladesch.
Diesen Erfolg hätte es aber nicht ohne aktive Gewerkschaften und engagierte NGOs gegeben. Umso besorgniserregender ist es, dass in vielen Staaten eine Verschlechterung der Gewerkschaftsrechte festzustellen ist. Noch immer sterben jedes Jahr zahlreiche GewerkschafterInnnen für die Erreichung ihrer legitimen Ziele. Allein in Lateinamerika sind im vergangenen Jahrzehnt rund 500 Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen im Kampf für soziale Rechte und Demokratie ermordet worden. Die anhaltende Wirtschaftskrise verleitet auch demokratische Regierungen dazu, die Rechte der Gewerkschaften einzuschränken. Die neoliberale Politik nutzt die Krisensituation, um Arbeitsrechte abzubauen, den Arbeitsmarkt weiter zu liberalisieren und bestehende Sozialsysteme infrage zu stellen. Zusammenarbeit von Gewerkschaften und NGOs über die Grenzen hinaus ist in diesen Zeiten unerlässlich, wie das EU-finanzierte Projekt „Menschenwürdige Arbeit für ein menschenwürdiges Leben“, das „weltumspannend arbeiten“ gemeinsam mit Südwind durchführt.
Österreich, eines der reichsten Länder der Erde, kann hier Zeichen setzen. Feuerwehrleute, Polizistinnen und Polizisten, Krankenhauspersonal – alle brauchen Uniformen und Arbeitskleidung. Oft wird bei der Auswahl der Bekleidung nicht auf soziale Kriterien geachtet. Bei der Produktion dieser Arbeitsbekleidung in den Ländern des Südens kommt es aber immer wieder zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen. Sozial faire Beschaffung würde bedeuten, dass Steuergeld nicht in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse investiert werden darf.
Fair gehandelte und sozial hergestellte Produkte für öffentliche Küchen, Plätze und Büros: Wenn Bund, Länder und Gemeinden bei ihrem Einkauf die Einhaltung von Mindeststandards fordern, können sie zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen. Eine Reduzierung der Armut weltweit und eine Vorbildwirkung für Konsumentinnen und Konsumenten sowie Unternehmen wären die Folge.
Negativbeispiel FIFA
Ein Beispiel, wie es nicht sein soll, ist die Entscheidung der FIFA, Katar den Zuschlag für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 zu geben. In Katar leben zwar einerseits die reichsten Menschen der Welt, andererseits werden die Bauarbeiter, die die Infrastruktur für die Fußball-WM aufbauen, wie Sklaven ausgebeutet. WanderarbeiterInnen aus Nepal, Indien, Sri Lanka, Bangladesch und den Philippinen müssen bei Arbeitsantritt ihre Pässe abgeben und befinden sich damit in den Händen ihrer Arbeitgeber. Obwohl das WM-Budget für Stadien, Straßen und Flughäfen mehr als 80 Mrd. US-Dollar beträgt, arbeitet der durchschnittliche Migrant im Baugewerbe für 192 US-Dollar im Monat, das entspricht etwa 2,5 Prozent des Lohnes eines Katarers. Unmenschliche Unterkünfte, unzureichende Sicherheitsvorkehrungen, extreme Hitze, zu wenig zu trinken und viel zu lange Arbeitszeiten sind die Realität auf den Baustellen der Fußball-WM. Nach Schätzungen werden beim Bau der WM-Infrastruktur mehr Menschen sterben, als bei der Fußball-WM spielen.
Lösungsansatz MDGs
Der erfolgreichste globale Vorstoß gegen die Armut sind die Milleniumsentwicklungsziele (Millenium Development Goals, MDGs), die im Jahr 2001 von einer Arbeitsgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern der Vereinten Nationen, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und des Entwicklungsausschusses der OECD formuliert worden sind. In weniger als 1.000 Tagen läuft die Frist für die Erreichung der Milleniumsziele ab. In zahlreichen Bereichen herrscht nach wie vor größter Handlungsbedarf. So leidet noch immer ein Achtel der Weltbevölkerung an Hunger, und durch das stockende Wirtschaftswachstum sind zwischen 2007 und 2012 die Arbeitslosenzahlen weltweit wieder gestiegen. Einen Erfolg in diesem Bereich gibt es aber: Die Zahl der in extremer Armut lebenden Erwerbstätigen ist im vergangenen Jahrzehnt trotz der weltweiten Finanzkrise zurückgegangen. Seit 2001 ist die Zahl der Erwerbstätigen, die mit ihren Familien mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen, um 294 Mio. gesunken. Trotzdem leben in Entwicklungsländern weiterhin mehr als 60 Prozent der Erwerbstätigen von weniger als vier Dollar pro Tag. Diese Zahl verdeutlicht die dringende Notwendigkeit, einen nachhaltigen Strukturwandel zu fördern und die Schutzsysteme auszubauen.
Mit viel Energie wird bereits an der Fortführung der Milleniumsentwicklungsziele gearbeitet. Bei der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung (Rio+20) im Juni 2012 griffen die Regierungen die Kritik am begrenzten Fokus der MDGs auf und beschlossen, gemeinsame Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) zu formulieren. Diese Ziele sollen alle drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung (ökonomische, ökologische und soziale) berücksichtigen. Sie sollen in die Post-2015-Entwicklungsagenda (Nachfolgeziele der MDGs) der Vereinten Nationen integriert werden und auf alle Länder der Welt anwendbar sein.
Europa in der Krise – wir handeln
Die negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise sind aber auch schon in unserer näheren Umgebung zu sehen. Arbeitslosenquoten von mehr als 26 Prozent in Spanien und Griechenland werfen ein schlechtes Licht auf die EU-Politik. Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend: Prekäre Arbeitsverhältnisse, Lohnkürzungen und fehlende Sozialleistungen sind nur einige Effekte. Die neoliberale Sparpolitik betrifft besonders das Gesundheitssystem. Durch den Verlust der Arbeit sind ein Drittel der Griechen und Griechinnen nicht mehr krankenversichert. In den Krankenhäusern fehlt es an Verbandsmaterial, Infusionen und Medikamenten. Zudem werden viele staatliche Krankenhäuser und Gesundheitszentren geschlossen. In dieser Situation entstehen in der griechischen ArbeiterInnenbewegung zahlreiche Selbsthilfeprojekte. Die „Klinik der Solidarität“ im nord-griechischen Thessaloniki wird auch von „weltumspannend arbeiten“ unterstützt. Gemeinsam mit österreichischen Gewerkschaften konnten die finanziellen Mittel für den laufenden Betrieb für die letzten sechs Monate sichergestellt werden.
weltumspanned arbeiten:
www.weltumspannend-arbeiten.at
Projekt „Menschenwürdige Arbeit für menschenwürdiges Leben“:
www.fairearbeit.at
Klinik der Solidarität in Thessaloniki:
www.klinik-der-solidaritaet.at
Keine Fußball-WM ohne ArbeiterInnenrechte:
www.rerunthevote.org
Schreiben Sie Ihre Meinungan die Autorin gudrun.glocker@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Nicht zukunftsfähig
Da Ausgabenkürzungen und neoliberale Strukturreformen die Nachfrage drosseln, kam es zu einem massiven Einbruch der Wirtschaft. Dass diese Entwicklung im Süden letztlich auch die Länder des Zentrums treffen werde, war kritischen Ökonominnen und Ökonomen von Anfang an klar: 87 Prozent der Nachfrage nach europäischen Gütern und Dienstleistungen kommen vom europäischen Binnenmarkt. Nachdem die Rezession 2012 erneut auch die Kernländer der Eurozone erfasst hat, lässt sich ein Zusammenhang nicht mehr länger leugnen.
Trotzdem die Politik in den „Krisenländern“ aus der Perspektive der breiten Masse gescheitert ist, wird sie in ganz Europa verallgemeinert: Ein „Reformbündnis“ aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, neoliberalen Staatschefs und EZB hat ab 2010 energische Anstrengungen unternommen, Teile der sogenannten Austeritätspolitik (bedingungslose Kürzung der öffentlichen Leistungen) und der „Strukturreformen“ auf ganz Europa auszuweiten. Im Zentrum dieser Bemühungen stehen die sogenannte Economic Governance (Paket aus sechs Rechtsakten, welches die Haushalts- und Wirtschaftspolitik verstärkt in die Hände der Europäischen Kommission legt) und der Fiskalpakt (völkerrechtliche Verpflichtung auf drastische Sparpolitik), die Ende 2011 bzw. Anfang 2013 in Kraft getreten sind.
Pakte für Wettbewerbsfähigkeit
Diese Politik soll nun mit einer Grundsatzentscheidung im Dezember 2013 in ihre nächste Etappe gehen: In „Pakten für Wettbewerbsfähigkeit“1, so die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, sollen sich alle Mitgliedsstaaten der Euro-Zone vertraglich gegenüber der Kommission zur Deregulierung ihres Arbeitsrechts, zur „Reform“ ihrer Pensionssysteme und zur Senkung ihrer Löhne verpflichten. Um politischen Widerstand zu überwinden, werden Zuckerbrot und Peitsche in Position gebracht: Wenn die Maßnahmen umgesetzt werden, gibt es dafür – ganz nach dem in den Krisenländern zur Anwendung kommenden Modell – finanzielle Unterstützung. Andernfalls drohen Verwarnungen und Geldbußen.
Die Wirtschaftskrise und ihre „Bearbeitung“ haben die ohnehin oft schon prekäre Lebenssituation vieler Menschen weiter verschärft und die neoliberalen Europabilder brüchig werden lassen. Eine Vertiefung der Union im Interesse der wenigen stößt daher immer weniger auf den Konsens der Bevölkerung und lässt sich deshalb auch immer schwerer demokratisch durchsetzen. Es überrascht daher nicht, dass die bisherigen Bausteine der Krisenpolitik ein autoritär-neoliberales Muster aufweisen: Sie stellen einen Eingriff in die europäischen Verträge dar, der ordnungsgemäß nur durch ein Vertragsänderungsverfahren erfolgen hätte können.
Gegen diese Krisenpolitik bilden sich zunehmend Bündnisse von unten. Hierfür steht der Aufruf „Europa geht anders“2, der von zahlreichen Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichnern aus ganz Europa unterstützt wird. Auf der entsprechenden Homepage heißt es: „Wir fordern alle Menschen, die ein anderes Europa wollen, auf, Druck auszuüben, damit möglichst viele Regierungschefs dem Wettbewerbspakt eine Absage erteilen. Es braucht eine Kehrtwende hin zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Europa der Vielen!“
Europa braucht eine Kehrtwende
Über die Wettbewerbspakte hinaus geht es um den Kampf für ein neues Europa. Die fatale Abwärtsspirale aus Sparpolitik, Sozialabbau, Zerstörung der Tarifautonomie und Arbeitslosigkeit muss gestoppt werden. In der AK-Broschüre „Die EU auf Kurs bringen – Ein neues Europa für die Menschen“3 finden sich Vorschläge, wie sich die EU ändern muss, um die Krise zu überwinden und die Grundlagen für ein neues Wohlstands- und Verteilungsmodell zu schaffen. Kurzfristig sind Sofortmaßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung unumgänglich, wobei die Verteilungsfrage zentral ist: Durch koordinierte und markante Steuererhöhungen auf Vermögen, Spitzeneinkommen, Unternehmensgewinne und den Finanzsektor können die massiven Verteilungsungleichgewichte angegangen und budgetäre Spielräume für eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik gewonnen werden. Darüber hinaus braucht es weitere tief gehende Maßnahmen zur Schrumpfung des Finanz- und Bankensektors, wie Re-Regulierung, öffentliche Kontrolle und Aufspaltung. Weitere Ressourcen zur Finanzierung öffentlicher Investitionen, vor allem in die soziale und ökologische Infrastruktur, können durch die rasche Einführung der geplanten Finanztransaktionssteuer und wirksame Maßnahmen gegen Steuerflucht, Steuerhinterziehung und Steuerdumping sichergestellt werden.
Die restriktiven fiskalpolitischen Vorgaben zur Budgetkonsolidierung sind dahingehend zu lockern, dass öffentliche Zukunftsinvestitionen nicht den neuen Fiskalregeln unterliegen („Goldene Regel der Finanzplanung“). Gleichzeitig muss das Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte umfassend überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass Mitgliedsstaaten mit Leistungsbilanzüberschüssen gezielt ihre Binnennachfrage stärken und Parlamente anstatt der Exekutive über die Wirtschaftspolitik entscheiden. Ein Sozialpakt, der soziale Mindeststandards einschließlich der Verankerung von Lohnuntergrenzen auf nationaler Ebene (unter Wahrung der Tarifautonomie), Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping sowie zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit beinhaltet, muss wesentlicher Bestandteil einer verbesserten sozialen Dimension der Währungsunion sein.
Vertiefung der Europäischen Union
Die Umsetzung dieser Maßnahmen ist Bedingung für eine „Vertiefung der Europäischen Union“. Sie bilden Einstiegsprojekte in die notwendige umfassende Transformation der europäischen Integration, die nicht nur eine formale Demokratisierung des Institutionengefüges zur Voraussetzung hat, sondern auch jene Akteure des neoliberalen Reformbündnisses entmachten muss, die für die gegenwärtige Politik der Verelendung verantwortlich sind. Ein „anderes Europa“ kann nur über eine weitreichende Verschiebung der Kräfteverhältnisse erstritten werden, welche auch die Monopolisierung wirtschaftlicher Entscheidungen durch eine umfassende Demokratisierung aufbrechen muss.
1 Für eine ausführliche Analyse siehe: Oberndorfer, Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit als nächste Etappe in der Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik?, Infobrief eu & international 1/2013, bit.ly/paktefuerwettbewerbsfaehigkeit
2 www.europa-geht-anders.eu
3 tinyurl.com/ksanpth
Europa geht anders:
www.europa-geht-anders.eu
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren norbert.tempel@akwien.at lukas.oberndorfer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>„Wissensbasierter Wirtschaftsraum“
Die sich rasch verändernden Anforderungen der Arbeitswelt scheinen gar keine andere Wahl zu lassen, als ein Leben lang zu lernen. Der Europäische Rat hat daher im Frühjahr 2000 in der Lissabon-Strategie das strategische Ziel formuliert, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“. Ein Jahr später definierte die Europäische Kommission, dass lebenslanges oder lebensbegleitendes Lernen „alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen bzw. beschäftigungsbezogenen Perspektive erfolgt“, umfasst. Eine Definition, die weit über das landläufige Verständnis von Bildung als formale Bildung, die in Schulen und Universitäten erworben wird, hinausgeht und alle Lernprozesse mit einbezieht, die in verschiedensten Zusammenhängen und in allen Lebensphasen – von der Kindheit bis ins hohe Alter – stattfinden. Weiters wird der Blick nicht nur auf konkrete Qualifikationen (TischlerIn, Soziologin/Soziologe …), sondern auch auf Kompetenzen (soziale Kompetenzen, IT-Anwendungskenntnisse, Sprachkenntnisse …) gelenkt. „Beschäftigungsbezogen“ ist nur eine unter mehreren gleichwertigen Perspektiven.
LLL:2020 – Made in Austria
Im Juli 2011 wurde nach einem intensiven Konsultationsprozess, in den auch die Positionen von AK und ÖGB eingeflossen sind, eine „Strategie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich“ beschlossen: „LLL:2020“. Sie enthält zwölf sehr klar formulierte strategische Ziele, wie zum Beispiel die „Erhöhung des Anteils der Beschäftigten, die während der Arbeitszeit in den Genuss einer Weiterbildung kommen und lediglich über einen Pflichtschulabschluss (…) verfügen (…) auf mindestens 15 Prozent“. Zur Erreichung der strategischen Ziele wurden zehn Aktionslinien ausgearbeitet, die von der vorschulischen bis zur nachberuflichen Bildung alle Lebensphasen umfassen und zur Hälfte das Lernen im Erwachsenenalter betreffen. Aktionslinie fünf beschäftigt sich mit „Maßnahmen zur besseren Neuorientierung in Bildung und Beruf und Berücksichtigung von Work-Life-Balance“ oder Aktionslinie sieben mit der „Förderung lernfreundlicher Arbeitsumgebungen“.
An der Umsetzung der Strategie wird seither intensiv gearbeitet. So können Basisbildungen wie Alphabetisierung sowie ein Pflichtschulabschluss, der den Zugang zu weiterführenden Schulen ermöglicht und die Chancen auf eine Lehrstelle erhöht, seit Beginn des Jahres 2012 im Rahmen der Initiative Erwachsenenbildung gebührenfrei nachgeholt werden. Die Zielgruppe dafür ist nicht zu unterschätzen: Nach Berechnungen des Instituts für Höhere Studien (IHS) gibt es in Österreich bis zu 280.000 Personen ohne positiven Abschluss der achten Schulstufe, von denen rund 50.000 tatsächlich als Zielgruppe von diesem Modell angesprochen werden. Die Initiative ist allerdings mit Ende 2014 befristet – aus Sicht von ÖGB und AK ist neben einer unbefristeten Verlängerung auch eine Ausweitung der Initiative unbedingt notwendig: Künftig sollen auch das Nachholen eines Lehrabschlusses sowie die Vorbereitung auf die Berufsreifeprüfung gebührenfrei möglich sein.
Bildungsteilzeit für alle
Dass Bildung nichts kostet, ist schon eine wesentliche Voraussetzung, um lebensbegleitendes Lernen zu ermöglichen. Darüber hinaus muss aber auch der Lebensunterhalt des Lernenden und seiner Familie während der Bildungszeit sichergestellt werden. Eine Möglichkeit ist, neben der bereits bekannten Bildungskarenz, die erst kürzlich eingeführte Bildungsteilzeit: Arbeitszeit für Bildungszwecke reduzieren und für die wegfallenden Stunden einen „Lohnersatz“ bekommen – das ist seit dem 1. Juli 2013 möglich. Der Vorteil gegenüber der Bildungskarenz ist: Gerade für kleinere Einkommen ist die Bildungsteilzeit finanziell attraktiver und außerdem bleibt der Kontakt zum Betrieb aufrecht.
Verbesserungswürdig aus Sicht von AK und ÖGB ist allerdings, dass für den Antrag auf Bildungsteilzeit und Bildungskarenz die Zustimmung der ArbeitgeberInnen notwendig ist, und dass die Absolvierung der Weiterbildung nachgewiesen werden muss. Wer das nicht schafft, dem kann das AMS das Bildungsteilzeitgeld einstellen und im Extremfall sogar zurückfordern! Das so entstehende finanzielle Risiko kann insbesondere für Personen mit niedrigen Einkommen existenzbedrohend sein. Darüber hinaus stellt dies eine nicht zu unterschätzende mentale Hürde für viele Menschen dar, sich überhaupt eine Bildungsteilzeit bzw. -karenz zuzutrauen.
Qualifizierungsstipendium
Bei vielen Weiterbildungen, insbesondere wenn völlig auf einen neuen Beruf umgesattelt werden soll, reicht aber auch das nicht aus. Wer eine Gesunden- und Krankenpflegeschule, eine Höhere Technische Lehranstalt (HTL) besucht oder den Lehrabschluss nachholen will, kann schlichtweg nebenbei auch noch arbeiten gehen.
Die AK hat bereits im Jahr 2006 begonnen, ein „Qualifizierungsstipendium“ zu entwickeln, welches die Lücken im österreichischen Stipendien- und Fördersystem abdecken soll – das mit 1. Juli 2013 in Kraft getretene „Fachkräftestipendium“ hat dieses Modell aufgegriffen: Es handelt sich dabei um eine Existenzsicherung („Deckung des Lebensunterhalts“) unabhängig von der sozialen Situation bzw. dem Haushaltseinkommen, die zum Einsatz kommt, wenn eine aufwendige neue Ausbildung begonnen wird. Nun wurde vom bmask eine Liste mit – auch arbeitsmarktpolitisch sinnvollen – Berufsausbildungen erstellt, für die ein Fachkräftestipendium bezogen werden kann. Das neue Stipendium soll nämlich auch eine Antwort auf den immer wieder zitierten „Fachkräftemangel“ geben. Darüber hinaus wird aber auch der Besuch einer Abend(matura)schule finanziell unterstützt.
Noch lange nicht am Ziel …
Trotz aller Fortschritte bleibt noch immer einiges zu tun. In Österreich herrscht in Bezug auf die Weiterbildung nach wie vor das „Matthäus-Prinzip“ – wer hat, dem wird gegeben: Je höher das Bildungsniveau, desto höher ist auch die Beteiligung an Weiterbildung. Und zwar sowohl im privaten als auch im betrieblichen Bereich. Nur drei von zehn Beschäftigten werden in Österreich mit Unterstützung des Betriebs gefördert – eine Tatsache, die zu einer zunehmenden Polarisierung in der Arbeitswelt führen wird. Besonders Geringqualifizierte und Teilzeitbeschäftigte – und damit überdurchschnittlich viele Frauen – werden dadurch von Weiterbildung ausgeschlossen. Um dem gegen-zusteuern, fordern ÖGB und AK den gesetzlichen Anspruch auf jährlich eine Woche Weiterbildung während der bezahlten Arbeitszeit, wie er beispielsweise in Deutschland schon seit Langem umgesetzt ist.
Bildung muss aber – dies wird schon in oben erwähnter Definition der EU-Kommission deutlich – mehr, als nur dem beruflichen Vorteil dienen. Sie ist auch ein wesentlicher Faktor für die gesellschaftliche, kulturelle und demokratiepolitische Entwicklung eines Landes. Angesichts flauer Wahlbeteiligungen und genereller Politikverdrossenheit sollte gerade politische Erwachsenenbildung im Sinne kritisch-emanzipatorischer Bildung in Strategien und Programmen des lebensbegleitenden Lernens zentral verankert werden. Schließlich stellt die Entwicklung sozialer, ökologischer Verantwortung über den eigenen Interessenbereich hinaus eine Grundvoraussetzung für eine solidarische Gesellschaft dar.
Pflichtschulabschluss und Basisbildung nachholen:
www.initiative-erwachsenenbildung.at
Infoblatt Bildungsteilzeit:
tinyurl.com/k5s5dnq
Fachkräftestipendien – Liste der förderbaren Ausbildungen:
www.ams.at/_docs/001_fks_liste.pdf
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorinnen pia.lichtblau@oegb.at
petra.voelkerer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Bildungsabschlüsse anerkennen
MigrantInnen sind am österreichischen Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt. Das hat eine Studie der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2012 ergeben. Ein Drittel der Beschäftigten mit Migrationshintergrund wird demnach in Österreich nicht gemäß ihrer Qualifikationen eingesetzt. Die Folge ist eine systematische Unterentlohnung. Eine Ursache dafür sieht Manfred Wolf von work@migration, der Interessenvertretung für MigrantInnen innerhalb der Gewerkschaft GPA-djp, an der mangelnden Anerkennung von Bildungsabschlüssen. Viele Ausbildungen, die MigrantInnen im Heimatland absolviert haben, werden in Österreich nicht oder nur sehr zögerlich anerkannt. Sowohl Arbeiterkammer als auch ÖGB und die GPA-djp fordern daher die (schnellere) Anerkennung der im Herkunftsland absolvierten Ausbildungen. Finanzielle Benachteiligungen aufgrund mangelnder Anerkennung von Bildungsabschlüssen können aber auch in Kollektivverträgen abgefedert werden. In der Metall- oder Elektroindustrie erfolgt die Entlohnung nach der tatsächlichen Tätigkeit.
In Diskussionen um Migration fällt schnell die Forderung nach Integration: „MigrantInnen haben sich gefälligst zu integrieren, in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt!“ Ein Argument, das Wolf besonders ärgert: „Einerseits wird Integration und Anpassung an die österreichische Kultur gefordert, zugleich wird alles Mögliche unternommen, um Integration zu verhindern.“ In Krisenzeiten gehören MigrantInnen zu den ersten, die gehen müssen. Sie werden nach wie vor als industrielle Reservearmee gesehen, die rasch aufgenommen und auch rasch wieder abgebaut werden kann. Warum ist Integration so wichtig? Integration ist eine Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt und soziale Sicherheit in der Gesellschaft. Dass es hier massive Mankos gibt, verdeutlichen die „refugee protests“. Seit mittlerweile zehn Monaten protestieren AsylwerberInnen in Österreich aufgrund menschenunwürdiger Lebensbedingungen. Eine zentrale Forderung der „refugees“ war von Anfang an der freie Zugang zum Arbeitsmarkt: „Wir brauchen eine Arbeitserlaubnis. Wir wollen für uns selbst sorgen. Wir wollen nicht vom Staat abhängig sein. Wir verlangen, dass man uns unsere Würde als Menschen zurückgibt.“ Derzeit ist es Asylwerbenden nicht möglich, während des laufenden Asylverfahrens einer Beschäftigung nachzugehen oder eine Ausbildung zu absolvieren. Diese Regelung führt direkt in die illegale Beschäftigung und spielt Lohn- und Sozialdumping in die Hände.
Zugang zu Bildung
Die Sozialpartner haben sich bereits 2011 in Bad Ischl auf die Forderung geeinigt, den Arbeitszugang für Asylwerbende sechs Monate nach Antragstellung zu öffnen, sofern das Asylverfahren noch läuft. Damit ist es aber nicht getan. Die Arbeiterkammer fordert grundlegende Änderungen des Asylwesens. Die Asylverfahren müssen schneller und straffer organisiert ablaufen. Bei längeren Verfahren sollen die AntragstellerInnen die Zeit für Ausbildungen oder einen selektiven Arbeitsmarktzugang nützen können. Im Vordergrund steht die Öffnung von Bildungszugängen für junge Asylwerbende. Seit heuer ist es aufgrund einer Verordnung des Sozialministeriums möglich, dass AsylwerberInnen bis zum 25. Lebensjahr eine Lehre in Mangelberufen (zum Beispiel BäckerIn oder FußpflegerIn) während des Verfahrens beginnen können. Aus Sicht der Arbeiterkammer wäre zu überlegen, auch die Ausbildungsgarantie für Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr für Asylwerbende zu öffnen. Im Bereich der Bildung sei es das Wesentlichste, so Johannes Peyrl, so rasch als möglich die deutsche Sprache zu lernen. Für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei das grundlegend. Dass bereits vor der Einreise nach Österreich deutsche Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 (nach dem Europäischen Rechtsrahmen) und für einen unbefristeten Aufenthalt sowie die Staatsbürgerschaft auf dem Niveau B2 erforderlich sind, erachtet der Migrationsrechtsexperte der Arbeiterkammer als reinste Schikane. „Das schließt soziale Gruppen gänzlich von einem unbefristeten Aufenthaltsrecht und der Staatsbürgerschaft aus. Diese Anforderungen können meist nur jene erfüllen, die im Herkunftsland Zugang zum Spracherwerb haben. In der Regel sind das BewohnerInnen aus Großstädten oder sozial besser gestellte Schichten.“ Laut Peyrl sei es daher sinnvoll, unmittelbar nach der Einreise Deutschkurse für zuziehende Personen anzubieten.
Erwerb der Staatsbürgerschaft
Der Migrationsrechtsexperte plädiert zudem für eine grundlegende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Österreich hat eine der restriktivsten Regelungen in der EU. Derzeitige Einkommens- und Spracherfordernisse seien laut Peyrl zu hoch. Die Staatsbürgerschaft ist ein wichtiger Integrationsschritt. Ihr Erwerb darf nicht am Geld scheitern, so die Position der Arbeiterkammer. Die nötigen Unterhaltsmittel müssen gesenkt werden, Doppel- und Mehrfachstaatsbürgerschaften sollen zugelassen werden. Auch will die Arbeiterkammer die Möglichkeit prüfen, Kindern der 2. Generation bereits bei Geburt die österreichische Staatsbürgerschaft zuzuerkennen, wenn zumindest ein Elternteil rechtmäßig in Österreich niedergelassen ist. Die Novelle wurde kürzlich im Parlament beschlossen. Die Forderungen der Arbeiterkammer blieben unberücksichtigt. „Bei uns im Betrieb gibt es keine Probleme“, bekommt Manfred Wolf von work@migration oft von Betriebsrätinnen und Betriebsräten zu hören. Daran glaubt er nicht. Dort, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenarbeiten, gebe es immer wieder Reibereien. Das liege auch daran, dass MigrantInnen in der Arbeitswelt oft schlechtergestellt sind. Zum Beispiel bei der Bewertung von Sprachkenntnissen. MigrantInnen sprechen oft mehrere Fremdsprachen und verwenden diese auch beruflich. Entlohnt werden diese Kenntnisse selten. Das Argument der ArbeitgeberInnen: „Wir haben nicht verlangt, dass sie die Sprachen sprechen“, erklärt Wolf. Die Praxis zeige jedoch genau das Gegenteil. Für die GPA-djp ist die Entlohnung von Sprachkenntnissen eine wesentliche Forderung.
Auch die Arbeiterkammer will eine gerechte Entlohnung aufgrund faktischer Qualifikationen schaffen. Derzeit sei die gläserne Decke für Menschen mit Migrationshintergrund sehr hoch. Es brauche bessere innerbetriebliche Aufstiegsmöglichkeiten. Die Gleichbehandlung von MigrantInnen in der Arbeitswelt könne zum Beispiel durch ein betriebliches „diversity management“ gefördert werden. Betriebe, die Maßnahmen zur Gleichbehandlung und Antidiskriminierung setzen, sollen finanziell gefördert und bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugt werden. Auch der bereits bestehende Anspruch auf Gleichbehandlung müsse laut Arbeiterkammer besser umgesetzt werden.
Es darf ein bisschen mehr sein
Migration und Asyl sind Reizthemen. Im Wahlkampf wird das durch populistische Wahlkampagnen einzelner Parteien offensichtlich. Bestehende Probleme aufgrund unzureichender Integration von MigrantInnen können nicht totgeschwiegen werden. Und: Österreich braucht Zuwanderung. Das ist spätestens seit den Diskussionen um eine Rot-Weiß-Rot-Card auch ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Mit der Schaffung eines eigenen Integrationsressorts 2011 in der Regierung wurde ein wichtiger Schritt gesetzt, sich politisch des Themas anzunehmen. Die Fortschritte hinken den Erwartungen jedoch hinterher, worauf uns die „refugee protests“ täglich aufmerksam machen. Österreich wird weiterhin Arbeitskräfte rufen. Kommen werden Menschen.
work@migration – Interessenvertretung von MigrantInnen in der GPA-djp:
www.gpa-djp.at
Beschäftigungssituation von Wiener ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund:
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]]>Jeder kann pflegebedürftig werden
Ende des Jahres 2011 waren laut Statistik Austria zwölf Prozent der BezieherInnen von Pflegegeld jünger als 60 Jahre. Ein Autounfall, Herzinfarkt, Schlaganfall, eine schwere Erkrankung oder einfach nur Altersgebrechlichkeit – und was dann? Jeder kann pflegebedürftig werden, völlig überraschend von heute auf morgen oder absehbar, als Folge einer schleichenden Krankheit. Laut Caritas werden etwa 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in den eigenen vier Wänden versorgt, von Familienangehörigen gepflegt. Für die Betroffenen ist die häusliche Pflege unverzichtbar, für die Angehörigen oft eine große Belastung.
Pflegebedürftigkeit verursacht eine ganze Reihe von Kosten für die Betroffenen und deren Angehörige. Neben der Beschaffung von Pflegehilfsmitteln oder Beanspruchung von Pflegeleistungen, entstehen für alle Betroffenen physische und psychische Belastungen. „Mit der Pflegekarenz wird künftig verhindert, dass sich pflegende Angehörige komplett vom Arbeitsmarkt zurückziehen müssen. Derzeit sind vor allem Frauen praktisch gezwungen, ihren Beruf aufzugeben, wenn ein Angehöriger pflegebedürftig wird“, sagt Bernhard Achitz, Leitender Sekretär des ÖGB.
Die neuen Regelungen zur Pflegekarenz und Pflegeteilzeit schaffen eine bessere Vereinbarkeit von pflegenden Angehörigen und Beruf. Pflegende Angehörige können bis zu drei Monate in Pflegekarenz oder -teilzeit gehen. Nach den drei Monaten Karenz oder Teilzeit kann ein anderer Angehöriger daran anschließen – ebenfalls maximal drei Monate. Sollte sich der Zustand des zu pflegenden Angehörigen verschlechtern, ist es erneut möglich, eine Pflegekarenz oder -teilzeit zu beantragen. Voraussetzung für all das ist allerdings die Zustimmung des Arbeitgebers. Der ÖGB hat vorab einen Rechtsanspruch darauf gefordert. „Es darf nicht von der Gnade des Arbeitgebers abhängen, wer in Pflegekarenz gehen darf und wer nicht. Wir werden daher auf einen Rechtsanspruch auf eine befristete Pflegekarenz nicht vergessen“, so Achitz.
Anstrengende Arbeit
Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung sind älter als 80 Jahre. Im Jahr 2050 werden es mit 11,5 Prozent mehr als doppelt so viele sein – etwa eine Million Menschen. Der Betreuungs- und Pflegebedarf steigt und somit auch die Kosten. Das WIFO geht von einem Anstieg der Gesamtkosten von 3,9 Mrd. Euro auf mindestens 5,4 Mrd. Euro im Jahr 2030 aus, so die Caritas. „Pflege muss für alle Menschen leistbar bleiben – unabhängig davon, ob sie arm oder reich sind“, sagt der stv. Vorsitzende der Gewerkschaft vida, Willibald Steinkellner. „Die Einrichtung eines Pflegefonds und dessen Verlängerung bis zum Jahr 2016 waren ein wichtiger Schritt, um die finanzielle Basis des Gesundheits- und Pflegebereichs nachhaltig zu verbessern. Es sind aber weitere Investitionen notwendig.“
Fachkräftestipendium seit 1. Juli 2013
Ende 2012 präsentierten Sozialminister Rudolf Hundstorfer und Wiens Soziallandesrätin Sonja Wehsely kommende Schritte für die Weiterentwicklung der Pflege in Österreich. Der ÖGB lobte vor allem die Festlegung auf eine Steuerfinanzierung bei der Finanzierung des Pflegefonds. Ebenso wurde im Konzept ein Fachkräftestipendium angedacht, welches nun seit dem 1. Juli in Kraft ist. Da mehr Beschäftigte im Pflegebereich benötigt werden, ist das Fachkräftestipendium zur Deckung des Lebensunterhaltes eingeführt werden. Das soll einerseits einen Anreiz zum Wechsel in einen Pflegeberuf geben und andererseits den Umstieg erleichtern. „Investitionen in den Gesundheits- und Sozialbereich sind Zukunftsinvestitionen von hoher Beschäftigungsintensität und sind unverzichtbar für die Lebensqualität der Gesellschaft“, so Steinkellner.
80 Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialbereich sind Frauen. Die Arbeitszeiten in der Branche sind derzeit unterschiedlich geregelt. Die Kollektivverträge in privaten Krankenanstalten sehen eine 40-Stunden-Woche vor, während Beschäftigte in Betrieben des Pflege- und Betreuungsbereichs, in denen der BAGS-KV gilt, eine 38-Stunden-Woche haben. Im Krankenanstaltenarbeitszeitgesetz ist noch die Möglichkeit einer Verlängerung der Tageshöchstarbeitszeit auf bis zu 13 Stunden und der höchstzulässigen Wochenarbeitszeit auf bis zu 60 Stunden festgeschrieben. Außerdem können mittels Betriebsvereinbarungen durch sogenannte Bereitschaftszeiten Arbeitszeiten von bis zu 25 Stunden am Stück vereinbart werden.
KV weiterentwickeln
„Allen Verantwortlichen muss klar sein, dass es bei der Finanzierung dieses Bereiches um die Finanzierung hochwertiger und anstrengender Arbeit geht und nicht um irgendwelche Jobs“, so Steinkellner. „Unregelmäßige Arbeitszeiten durch Überstunden, Schichtdienst, Diensttausch oder Einspringdienste sind im Gesundheits- und Sozialbereich nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Arbeitszeit und Freizeit sind kaum mehr planbar. Diese Belastung wirkt sich negativ auf die Gesundheit der ArbeitnehmerInnen aus. Studien beweisen den Zusammenhang. Die Folgen reichen von Schlafstörungen bis hin zu Herzbeschwerden. Krankenstände, Burn-out und Berufsunfähigkeit gehen damit einher.“
Die Gewerkschaft vida fordert daher eine Weiterentwicklung der Kollektivverträge, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Außerdem unterstützt vida die Forderung der ArbeitgeberInnen an die Geldgeber, kollektivvertragliche Vereinbarungen bei den Leistungs- und Förderverträgen zu berücksichtigen.
Rund um die Uhr
Eine 24-Stunden-Pflege für erkrankte Angehörige ist eine Alternative zum Pflegeheim, weil auch immer mehr Menschen in ihrer gewohnten Umgebung gepflegt und versorgt werden wollen. Seit 2008, als das System der Selbstständigkeit gegen den drohenden Pflegenotstand etabliert wurde, werden pflegebedürftige Menschen in Österreich von Selbstständigen betreut. Der ÖGB kritisiert das und fordert, dass die 24-Stunden-Pflege in Zukunft von ArbeitnehmerInnen erledigt wird, die bei Vereinen wie Caritas, Hilfswerk oder Volkshilfe angestellt werden, und nicht direkt bei den Pflegebedürftigen. Damit soll die Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sichergestellt werden, und die pflegebedürftigen Menschen werden von rechtlichen Risiken entlastet, die die Auftraggeberrolle mit sich bringt.
Diese Position vertritt auch die Gewerkschaft vida. Das Argument, wonach die 24-Stunden-Betreuung bei einer Anstellung der Pflegekräfte deutlich teurer würde, bezeichnet der stv. vida-Vorsitzende als zynisch: „Es kann nicht sein, dass die Frage der Finanzierung auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird und ArbeitnehmerInnen zweiter Klasse geschaffen werden, indem man sie in Scheinselbstständigkeit drängt und so zum Verzicht auf sozialrechtliche Absicherung und kollektivvertragliche Entlohnung zwingt.“
Ein weiteres Anliegen der Gewerkschaft vida bleibt die gesetzliche Verankerung einer Ausbildung, zum Schutz der Pflegebedürftigen, aber auch der Beschäftigten. „Für die Wartung eines Autos braucht der Mechaniker eine Ausbildung, für die Betreuung alter, kranker Menschen geben wir uns damit zufrieden, dass hoffentlich nichts passiert, wenn ungeschulte Kräfte das übernehmen“, betont Steinkellner.
Die ÖGB-Position findet auch Unterstützung bei einer Mehrheit der Menschen in Österreich. Eine Befragung der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft (SWS) hat ergeben: Bei der Frage, ob die 24-Stunden-Betreuung auf selbstständiger Basis oder durch Angestellte bei Sozialvereinen erledigt werden sollte, sprechen sich 61 Prozent für das letztere Modell aus. Nur 24 Prozent setzen auf Selbstständige.
Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz:
www.bmask.gv.at
Gewerkschaft vida:
www.vida.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin amela.muratovic@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Gleiche Rechte für alle?
Gewiss: Es gibt noch Tätigkeiten, die man gut unterscheiden kann, z. B. Fließbandarbeit einerseits, Leitungsaufgaben andererseits. Aber auch wo das zutrifft: Weshalb sollte diese tatsächliche Unterscheidung unterschiedliche Rechte nach sich ziehen? Tatsächlich spricht viel dafür, dass auch die verbliebenen rechtlichen Unterschiede zwischen Arbeiterinnen/Arbeitern und Angestellten verfassungswidrig sind. Aber neue und vernünftige Regeln sind nicht die Aufgabe der Gerichte, die muss schon der Gesetzgeber herbeiführen.
Als allererstes muss endlich mit einer schwarz-blauen Gemeinheit aufgeräumt werden: Bei Fällen der Arbeitsverhinderung aus persönlichen Gründen (Hochzeit, Geburt, Katastrophen …) bestehen gleiche Rechte. Allerdings gelten Regeln in KV – abgeschlossen in grauer Vorzeit – per Gesetz als gültige Schlechterstellung bei Arbeiterinnen und Arbeitern. Es braucht nur einen Federstrich, um das endlich zu lösen; zur Hälfte hat ihn der Gesetzgeber im Zuge der Hochwasserkatastrophen im Sommer bereits gemacht.
Bei Erkrankung und Arbeitsunfällen sind sich alle einig: Das derzeit für Angestellte geltende System ist sozial wenig treffsicher. Es sieht gerade bei langen schweren Erkrankungen schlechtere Leistungen vor als das Arbeitersystem. Bei häufigeren, kürzeren Krankheiten ist es in seinen Leistungen besser, bei Arbeitsunfällen schlechter. Zudem ist das Regelwerk so kompliziert. Kaum jemand kann wirklich feststellen, auf welche Leistungen Anspruch besteht. Also, warum keine einheitliche Regelung, die einfach zu administrieren ist und die man gut überblicken und kontrollieren kann? Die vorgesehenen Leistungen bei Krankheit müssen so weit verbessert werden, dass ArbeiterInnen und Angestellte Anspruch auf gleiche, jedenfalls bessere Leistungen als heute haben. Das würde die ArbeitgeberInnen nicht belasten. Sie ersparen sich im Bereich gehäufter Kurzkrankenstände etwas, aber auch durch einfachere Verwaltung.
Vorzeitige Auflösung
Unterschiedlich geregelt sind auch die Gründe für eine vorzeitige (fristlose) Auflösung der Arbeitsverhältnisse, also Entlassung bzw. Austritt. Für ArbeiterInnen sind sie in der Gewerbeordnung aus 1859 geregelt. Entsprechend merkwürdige Überbleibsel aus vergangenen Tagen finden sich da: So kann ein/e ArbeiterIn z. B. fristlos entlassen werden, wenn er bzw. sie „mit einer abschreckenden Krankheit behaftet ist“ oder der „Trunksucht verfällt“. Aber auch Angestellte können schon deswegen entlassen werden, weil sie sich als „vertrauensunwürdig“ erweisen. Da sind modernere, differenziertere, aber für beide Gruppen gleiche Regelungen überfällig.
Die Kündigungsfristen für Angestellte betragen bei Kündigung durch den/die ArbeitgeberIn mindestens sechs Wochen. Je nach Dienstalter erstrecken sie sich auf bis zu fünf Monate. Bei ArbeiterInnen verhält sich dies anders: Gesetzlich ist eine 14-tägige Kündigungsfrist festgelegt, von dieser kann jedoch im KV abgegangen werden. In den traditionell starken KV, wie z. B. jenen der Metallindustrie, ist eine Anpassung an die langen Fristen der Angestellten bereits gelungen. Eine gesetzliche Gleichstellung gibt es jedoch noch immer nicht. Das führt dazu, dass in manchen Branchen aberwitzig kurze Kündigungsfristen für ArbeiterInnen bestehen, z. B. im Bäckergewerbe (ein Tag) oder im Malergewerbe (in den ersten fünf Jahren gar keine Kündigungsfrist). Das hat im Fall der kurzfristigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses schlimme soziale und finanzielle Auswirkungen für die Betroffenen. Wenn nur mit gleichen Fristen und vor allem zum selben Kündigungstermin aufgelöst werden könnte, gäbe es auch am Arbeitsmarkt einen einheitlichen Termin zum Arbeitsplatzwechsel: den Monatsersten für alle! Das würde kurze Phasen der Arbeitslosigkeit vermeiden, die nur wegen verschiedener Usancen beim Beendigungstermin entstehen. Bei Kündigungsfristen und -terminen gibt es massive Interessengegensätze, zumal wir für ArbeitnehmerInnen weiter möglichst kurze Kündigungsfristen wollen. Dieses Thema wird eine harte Nuss!
Überhaupt nicht nachvollziehbar ist der noch immer bestehende Unterschied bei den Beiträgen zur Krankenversicherung. ArbeiterInnen zahlen hier 3,95 Prozent, anstelle der 3,82 Prozent der Angestellten. Genau um diese Differenz ist wiederum der Arbeitgeberanteil niedriger, sodass die Krankenkassen im Effekt denselben Gesamtbetrag erhalten! Die Krankenversicherung für ei-nen/eine ArbeiterIn ist also für ArbeitgeberInnen – wenn auch nur minimal – billiger, dafür für HacklerInnen entsprechend teurer.
Schöne neue Welt?
Immer wieder locken ArbeitgeberInnen einzelne ArbeiterInnen mit der Zusage, sie in ein Angestelltenverhältnis zu übernehmen. Was verschwiegen wird: Mit dem Wechsel des Kollektivvertrags fallen oft auch Zulagen und Zuschläge weg, die an die typische ArbeiterInnen-Tätigkeit anknüpfen. Bei geänderter Tätigkeit entfällt der Anspruch auf Umstufung und höheren Lohn – denn im Angestellten-KV gibt es natürlich alle diese Arbeiter-Tätigkeiten nicht. Aber das wissen wir ja seit Langem: „Lösungen“ nur für Einzelne von uns sind keine wirkliche Lösung. Gemeinsam sind wir stark! Der Gesetzgeber ist gefordert!
INFO&NEWS - Die wichtigsten Unterschiede auf einen Blick:
Ein Blick in den KV:
www.kollektivvertrag.at
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]]>Dequalifizierungsprozess
Der Alltag aber sieht oft anders aus. Die Qualität der Arbeit ist da nicht mehr so wichtig, wie Eva Angerler von der Gewerkschaft gpa-djp immer wieder von Betriebsrätinnen und -räten hört. Vielmehr finde in der Arbeitswelt ein „Dequalifizierungsprozess“ statt: „Viele Arbeitsprozesse werden immer standardisierter und damit entwertet“, so Angerler. Zugleich finde eine Standortentwertung statt, indem qualifizierte Arbeitsplätze abgezogen werden, während nur noch die Standardgeschäfte in Österreich verbleiben. Sie illustriert das am Beispiel einer international tätigen Versicherung, die nur noch das Customer-Care-Center hier belasse, sprich geringer qualifizierte Arbeitsplätze. „Reporten statt Gestalten“, so laute immer häufiger das Credo, das ursprünglich in den großen Konzernen um sich gegriffen habe, sich inzwischen aber auf die Wirtschaft insgesamt auswirke. „Da spielt natürlich die Technik mit rein, denn die macht eine immer zentralere Steuerung möglich“, so Angerler. Dazu komme, dass man in vielen Unternehmen an Verhaltenskodizes arbeite, die nach Möglichkeit weltweit gleich lauten sollen. Dies beeinträchtige nicht nur die Qualität der Arbeit an sich. Es führe auch dazu, dass die Beschäftigten weniger Verantwortung übernehmen, befürchtet die Gewerkschafterin.
Ein oberflächlicher Blick in die Statistik könnte Anlass zur Zufriedenheit mit den österreichischen Arbeitgebern sein. Immerhin gilt die große Mehrheit von ihnen als „weiterbildungsaktiv“: Laut Statistik Austria ließen 87 Prozent der Betriebe im Jahr 2010 ihre Beschäftigten während der Arbeitszeit an Kursen teilnehmen oder finanzierten Weiterbildungsaktivitäten außerhalb der Arbeitszeit. Mit Erstaunen liest man vor diesem Hintergrund die nächste Zahl: Obwohl so viele Unternehmen in Weiterbildung zu investieren scheinen, konnte nur rund ein Drittel der Beschäftigten an einer solchen Maßnahme teilnehmen. Die Diskrepanz ist leicht erklärt: Um als weiterbildungsaktiv zu gelten, reicht es schon, wenn man für einen/eine MitarbeiterIn eine Weiterbildung angeboten oder finanziert hat.
„Wer hat, dem wird gegeben“
Bei genauerem Hinsehen zeigen sich einige Herausforderungen. AK-Bildungsexpertin Petra Völkerer verweist auf einen problematischen Meinungswandel bei den Arbeitgebern. Auf die Frage, warum man den Beschäftigten keine Weiterbildung anbietet, habe man früher geantwortet: Die MitarbeiterInnen sind auf dem neuesten Stand, keine Zeit oder zu teuer. „Jetzt antworten sie: Ich stelle lieber neue Leute ein, die das können“, so Völkerer. „Daraus spricht eine Hire-and-fire-Mentalität.“
Dazu kommt, dass bestimmte ArbeitnehmerInnen-Gruppen mehr profitieren als andere. „Wer hat, dem wird gegeben“, zitiert Völkerer einen leider inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen Satz. „Wer gut gebildet ist, sucht sich Weiterbildungen meist selber aus und geht damit zum Chef.“ Anders die Lage von Geringqualifizierten, die bei Weiterbildungen meist den Kürzeren ziehen. In konkreten Zahlen ausgedrückt: Mehr als zwei Drittel der Personen mit einem Abschluss von der Uni oder einer ähnlichen Bildungseinrichtung bildeten sich weiter, wie eine Studie der Statistik Austria aus dem Jahr 2011 ergab. Bei den Beschäftigten mit Pflichtschulabschluss hingegen war es lediglich ein Viertel.
Außerdem können junge Beschäftigte davon deutlich häufiger profitieren als die ältere Generation. Dazu kommt ein Gender-Gap: Zwar seien die Unterschiede bei den TeilnehmerInnen-Zahlen nicht so groß, meint AK-Arbeitsmarktexpertin Gerlinde Hauer, „Männer bekommen aber meistens umfassendere Weiterbildungen“.
Weiterbildung ist Karrierefrage
Ein weiterer Aspekt, der gegen Frauen wirkt, lautet: Je höher die Position, desto größer die Chance auf Weiterbildung. Doch je höher die Sprosse auf der Karriereleiter ist, desto seltener sind dort Frauen anzutreffen. Nicht zuletzt sind viele Frauen in Branchen beschäftigt, in denen Weiterbildung ohnehin nicht weit oben auf der Tagesordnung steht. Im Nachteil sind im Übrigen auch Beschäftigte mit Migrationshintergrund, wie eine AK-Studie aus dem Jahr 2012 aufzeigte. Betrachtet man sich die Unternehmen selbst genauer, so sagt die Statistik: Je größer der Betrieb, desto mehr Wert wird auf Weiterbildung gelegt. Barbara Riedl-Wiesinger vom Karriereportal Monster: „Bedenklich ist, dass gerade in KMUs, die eine tragende Säule der heimischen Wirtschaft darstellen, die Weiterbildung offensichtlich einen geringeren Stellenwert besitzt.“
Innovation schafft Arbeitsplätze
Wenn sich Beschäftigte in erster Linie als „RichtlinienerfüllerInnen sehen“, habe dies indirekte Folgen für die Innovationsfähigkeit von Unternehmen, unterstreicht Angerler. Eine aktuelle AK-Studie zeigt nämlich: Innovation schafft Arbeitsplätze, und zwar ganze 19.000 pro Jahr. Das ist mehr als ein Drittel des gesamten Beschäftigungswachstums. „Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer innovationspolitischen Strategie sind entsprechende Investitionen in den Aus- und Weiterbildungssektor“, sagte AK-Präsident Rudolf Kaske anlässlich der Präsentation der Studie. Hier allerdings sieht er ein Defizit und fordert mehr Anstrengung der Unternehmen. Der Zugang zu Weiterbildung soll für alle gleich sein, so Kaske. Er fordert: „Eine Arbeitswoche pro Jahr innerhalb der bezahlten Arbeitszeit.“
Um die Qualität der Arbeit wieder in den Vordergrund zu rücken, fordern Gewerkschaft und Arbeiterkammer von den Unternehmen aber nicht nur mehr Engagement in Sachen Weiterbildung. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Arbeitszeit. Immerhin hat Österreich schon jetzt im EU-Vergleich die zweithöchste faktische Wochenarbeitszeit. Im Jahr 2012 kamen 300 Mio. Überstunden zusammen, auch dies ist ein Spitzenwert in Europa – und ein ganzes Viertel davon wird nicht abgegolten. Erhielten früher vor allem Führungskräfte All-in-Verträge, so werden diese inzwischen immer mehr Angestellten aufgezwungen.
Die Gewerkschaft fordert hier ein Zurück zum Ursprung, so Angerler: „Diese dürfen nur Beschätigte in höheren Hierarchie- und Gehaltsstufen bekommen.“ Es müsse bessere Kontrollen geben, fordert Angerler.
Nicht zuletzt oder vielmehr ganz besonders: Der Zugang zur sechsten Urlaubswoche muss erleichtert werden. Und: „Der Sonntag muss frei bleiben“, fordert Angerler. Zugleich müsse auch die Gesundheit der Beschäftigten deutlich mehr gefördert werden. Arbeitsbezogene Erkrankungen nehmen immer mehr zu, vor allem psychische Erkrankungen. „Der Druck, krank zur Arbeit zu gehen oder mehr zu arbeiten, lässt sich in der Statistik in jedem Fall ablesen“, so die Gewerkschafterin. Hier seien die Arbeitgeber gefragt, mehr für die Prävention zu tun.
Denn wie auch immer man es dreht und wendet: In die ArbeitnehmerInnen zu investieren bringt mehr, als sie noch weiter auszupressen – und zwar nicht nur den Beschäftigten, sondern auch den Unternehmern.
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Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Nicht ohne Arbeitsmarkt
Dreh- und Angelpunkt der Gleichstellung ist und bleibt der Arbeitsmarkt. Frauen müssen eine bezahlte Beschäftigung haben können – und dabei gleich viel verdienen wie ihre männlichen Kollegen. Das sichert auch ihre Pension. Nur so können sie wirtschaftlich unabhängig sein. Der Anteil der erwerbstätigen Frauen ist in den vergangenen Jahrzehnten laufend gestiegen. Der Preis dafür ist allerdings, dass eine Vollzeitstelle ohne Befristung mittlerweile die Ausnahme für weibliche Beschäftigte bildet. 44 Prozent der Frauen arbeiten in Teilzeit. Und viele sind nur geringfügig, also ohne Arbeitslosen- und Pensionsversicherung angestellt. Oder sie sind als freie Dienstnehmerinnen tätig – ohne arbeitsrechtlichen Schutz.
Teilzeit ist zwar in rechtlicher Hinsicht gut abgesichert, aber der Verdienst reicht oft nicht zum Leben. Die im Rahmen einer Teilzeitarbeit geleistete Stunde ist nämlich auch um ein Viertel schlechter bezahlt als die Vollzeitstunde. Dass Frauen sich trotzdem so oft auf Teilzeit einlassen, liegt häufig an fehlender Kinderbetreuung und der zu geringen Beteiligung der Väter. Aber in manchen Bereichen – etwa der mobilen Pflege – werden fast nur noch Teilzeitjobs angeboten. Wer dort Vollzeit arbeiten möchte, muss den Beruf wechseln. Auf der anderen Seite müssen viele Männer oft deutlich mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten – und stöhnen unter dieser Belastung.
Wir wollen, dass Beschäftigte den gesamten Schutz des Arbeits- und Sozialrechts genießen. Wie viele Stunden sie tätig sind, sollen ArbeitnehmerInnen selbst entscheiden können. Dazu braucht es eine Umverteilung der Arbeitszeit in Richtung einer ausgewogeneren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Frauen und Männern. Außerdem müssen Überstunden für ArbeitgeberInnen teurer werden. Und wird eine Vollzeitstelle frei, soll der Betrieb zuerst Teilzeitarbeitskräfte fragen müssen, ob sie aufstocken möchten.
Zu wenig zum Leben
Frauen verdienen um fast ein Viertel weniger als Männer, auch wenn die Arbeitszeit herausgerechnet wird. Das ist an sich ungerecht. Dramatisch wird es, wenn sie zu wenig Einkommen zum Leben haben. Zwei von drei beschäftigten Frauen kommen gerade oder gar nicht mit ihrem Einkommen aus. Neben Teilzeit sind deutlich schlechtere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und viele Jobs in schlecht bezahlten Branchen wesentliche Gründe dafür. So kommt es, dass auch ein Vollzeit-Einkommen oft nicht ausreicht. Drei von zehn in Vollzeit beschäftigten Frauen erhalten nur einen „Niedriglohn“. Das bedeutet, sie verdienen nicht einmal zwei Drittel des Durchschnitts. Bei den Männern ist es nur einer von zehn. Nicht zuletzt die schlechtere Bewertung typisch weiblicher Tätigkeiten, wie Pflege oder Kinderbetreuung, ist mit daran schuld. Dabei können wir ganz bestimmt nicht auf diese Arbeiten verzichten.
Wir wollen ein Einkommen, von dem man leben kann. Deswegen fordern wir die Einführung eines kollektivvertraglichen Mindestlohns/Mindestgehalts von 1.500 Euro. Und wer beruflich in der Sackgasse steckt, soll die Möglichkeit haben, eine neue Ausbildung zu absolvieren. Die Kosten dafür sowie die Deckung des Lebensunterhalts sollen dabei vom Arbeitsmarktservice übernommen werden. Außerdem braucht es eine neue Bewertung von Arbeit, nach der alle Anforderungen angemessen bezahlt werden.
Family Business
Es ist ein altes Lied, trotzdem ist es leider noch aktuell: Es gibt zu wenig Plätze in der Kinderbetreuung. Mehr als 140.000 Eltern (vor allem Frauen) sind aufgrund fehlender Kinderbetreuungsplätze nicht oder nur in Teilzeit berufstätig. Zusätzlich beklagen mehr als 100.000 Eltern ungenügende Öffnungszeiten, zu viele Schließtage in den Ferien oder zu hohe Kosten.
Das Argument, mehr Plätze seien nicht leistbar, ist wenig glaubwürdig. Schließlich wurden steuerliche Förderungen in den vergangenen Jahren am laufenden Band eingeführt (z. B. Kinderfreibetrag, Freibetrag Kinderbetreuungskosten). Die begünstigen aber hohe Einkommen, während Eltern mit geringem Verdienst leer ausgehen. Zudem werden Paare mit traditioneller Arbeitsteilung durch den Alleinverdienerabsetzbetrag höher gefördert als solche mit einer partnerschaftlichen Aufteilung.
Wir wollen mehr und bessere Kinderbetreuungsplätze – überall in Österreich. Vor allem für Kleinkinder gibt es viel zu wenig Plätze. Kindergärten sperren oft schon am frühen Nachmittag zu oder haben in den Ferien wochenlang geschlossen. Das muss sich ändern! Außerdem wollen wir mehr Personal für kleinere Gruppen und bessere Betreuung. Das Geld dafür soll aus den ungerechten Steuerförderungen umgeschichtet werden. Das zahlt sich dreifach aus, denn Kinderbetreuung schafft nicht nur bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern bringt auch Tausende zusätzliche Arbeitsplätze. Durch die neue Beschäftigung fließt mittelfristig mehr Geld an die öffentli-che Hand zurück, als die Kinderbetreuung kostet.
Arme Frauen?
Die geringeren Einkommen von Frauen führen zu schlechteren Sozialleistungen. So bekommen Frauen rund 150 Euro monatlich weniger Arbeitslosengeld als Männer. Zudem wird die Notstandshilfe gestrichen, wenn der Partner zu viel verdient – obwohl oft jahrelang Beiträge gezahlt wurden. Acht von zehn dieser Streichungen betreffen Frauen.
Auch am Ende des Erwerbslebens schaut es nicht gut aus: Frauenpensionen sind so gering, dass 26 Prozent der allein lebenden Pensionistinnen von Armut betroffen sind. Auch Alleinerzieherinnen gehören zu den Gruppen, die besonders armutsgefährdet sind. Gerade sie müssen die Nachteile einer Teilzeitbeschäftigung – weniger Geld, weniger betriebliche Bildung, weniger Aufstiegsmöglichkeiten – tragen.
Wir wollen den Ausbau arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und weiterhin 50 Prozent der Mittel für Frauen. Mit diesem Geld können Frauen Beratung und Qualifizierung erhalten, die ihre Jobsituation verbessert. In der Arbeitslosenversicherung muss endlich die Regelung beseitigt werden, dass die Notstandshilfe wegen dem Einkommen des Partners gekürzt oder gar gestrichen wird. Und die Zeiten der Kindererziehung müssen bei der Anrechnung für die Pension mehr wert sein als derzeit.
Gender Budgeting:
www.bka.gv.at/site/5557/default.aspx
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sybille.pirklbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>„Hackln“ bis zum Umfallen
Im aktuellen Wahlkampf fordert die ÖVP eine „Entfesselung der Wirtschaft“ und spricht sich im Rahmen neuer Durchrechnungsmodelle für die Möglichkeit eines Zwölf-Stunden-Arbeitstages aus. Ein Vorschlag, der bei AK und Gewerkschaften auf vehemente Ablehnung stößt: „Eine solche weitere massive Flexibilisierung der Arbeitszeit im Interesse der Wirtschaft würde direkt zu Lohnkürzungen für die ArbeitnehmerInnen führen. Außerdem würde ein Zwölf-Stunden-Arbeitstag mehr gesundheitliche Beschwerden, mehr krankheitsbedingte Erwerbsausfälle und letztendlich auch mehr Invaliditätspensionen verursachen“, heißt es seitens der AK.
Zudem wird in Österreich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bereits jetzt eine sehr hohe „Flexibilität“ abverlangt. So liegt der Anteil der Beschäftigten, die in einem im Wesentlichen gleichbleibenden Stundenausmaß – pro Woche oder pro Tag – arbeiten, deutlich niedriger als im europäischen Durchschnitt (vgl. Eurofound 2010).
Weiters ist die Anzahl der Überstunden in Österreich enorm: Im vergangenen Jahr waren es in etwa 300 Mio., rund 70 Mio. davon wurden nicht abgegolten – weder in Form von Zeitausgleich noch von Einkommen. Damit entgeht den Beschäftigten die stattliche Summe von circa 1,5 Mrd. Euro an zusätzlichem Bruttoeinkommen pro Jahr.
Aufschlussreich sind auch die Ergebnisse des Arbeitsklima-Index der AK OÖ (2011). Demnach geben lediglich 48 Prozent der Befragten an, dass sie angesichts ihrer Arbeit und ihres Gesundheitszustands ihren Beruf auch noch mit 65 Jahren ausüben können. Eine Untersuchung der Statistik Austria belegt weiters, dass bereits jetzt mehr als 300.000 Beschäftigte aufgrund langer Arbeitszeiten gesundheitliche Probleme aufweisen. Bei drei Viertel der Personen führt die zeitliche Überbelastung zu körperlichen Problemen, ein Viertel klagt über Erschöpfungszustände und andere seelische Leiden.
Immer mehr All-in-Verträge
Hochproblematisch ist dabei, dass immer mehr Beschäftigte mit All-in-Verträgen „abgespeist“ werden; bereits jede/r fünfte Vollzeitbeschäftigte (530.000 Personen) arbeitet im Rahmen einer solchen Vereinbarung. All-in bedeutet, dass mit dem regulären Gehalt der zeitliche Mehraufwand pauschal abgegolten wird. Wenn damit die korrekte Verrechnung von Überstunden ausgehebelt wird und Mehrleistungsverpflichtungen jenseits der gesetzlich zulässigen Grenzen abverlangt werden, bleiben die ArbeitnehmerInnen auf der Strecke.
So leiden also einerseits manche ArbeitnehmerInnen unter Überbelastung und wollen weniger Zeit für den Beruf aufwenden. Andererseits sehen wir eine Vielzahl von Personen in Teilzeit-Jobs, die mehr arbeiten möchten, aber keine Möglichkeit dazu finden. Zusätzlich scharren Menschen in den Startlöchern, denen der Weg zum Arbeitsmarkt überhaupt versperrt ist. Eine paradoxe Situation. Die AK zielt daher prinzipiell auf eine Verkürzung der Arbeitszeit ohne Minderung der Kaufkraft ab.
Wir brauchen Sanktionssysteme
AK-Expertinnen und -Experten fordern im Zuge dessen eine Neuregelung bei All-in-Klauseln. Hier soll der Grundlohn für die Leistung der Normalarbeitszeit zwingend im Vertrag ausgewiesen sein. So könnten sich ArbeitnehmerInnen ausrechnen, wie viel sie für die Leistung ihrer Überstunden erhalten, und ungerechter Entlohnung entgegenwirken.
Gleichzeitig bedarf es wirksamer Sanktionssysteme und Kontrollen zur Sicherstellung der Einhaltung des Arbeitszeitrechts (verstärkte Kontrollen der korrekten Arbeitszeitaufzeichnungen) und einer Verdoppelung der Ansprüche der ArbeitnehmerInnen bei mutwilliger Vorenthaltung von Überstundenentgelt. „Wenn es gelingt, die Überstunden nur um 20 Prozent zu reduzieren, könnten auf diesem Weg bis zu 30.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen und die Zahl der vorgemerkten Arbeitslosen um zumindest 10.000 reduziert werden. Der Staat könnte sich zudem jährlich 200 Mio. Euro an Kosten von Arbeitslosigkeit ersparen“, rechnet die AK vor.
Auch eine Verteuerung der Überstunden in Form einer Arbeitgeberabgabe in der Höhe von einem Euro pro geleisteter Überstunde halten die Expertinnen und Experten für sinnvoll. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Thema Bildung. Alexander Prischl, Leiter des Referates für Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik im ÖGB, spricht sich etwa dafür aus, bei der betrieblichen Lehrlingsausbildung noch mehr in die Qualitätssicherung zu investieren: „Es geht hier nicht nur darum, dass von staatlicher Seite Geld fließt. Auch die Betriebe müssen dazu gebracht werden, mehr für die Ausbildung zu tun.“ Prischl fordert daher, dass Unternehmen ein Prozent ihrer jährlichen Bruttolohnsumme in einen „Topf“ einzahlen sollen. Mit diesem Kapital könnten Betriebe gezielt gefördert werden, die sich im Ausbildungsbereich besonders anstrengen. „Im gegenwärtigen System profitieren auch Firmen, die sich wenig um Ausbildung kümmern, das ist ungerecht“, so der Experte.
Wobei Bildung in frühester Jugend beginnt, bei den Kindern. Sabine Oberhauser, Vizepräsidentin und Frauenvorsitzende des ÖGB, spricht deshalb lieber von Kinderbildungs- als von Kinderbetreuungsplätzen: „Betreuung klingt nach ,Abgeben‘ von Kindern. In Wirklichkeit ist aber zum Beispiel die Förderung des Spracherwerbs und -aufbaus im Vorschulalter von enormer Bedeutung. Wir fordern daher flächendeckende Kinderausbildungsplätze und gute Arbeitsbedingungen für Pädagoginnen und Pädagogen.“ Sauer aufgestoßen ist Oberhauser die in der ÖVP entfachte Diskussion, das Frauenministerium abzuschaffen. Frei nach dem Motto: Ein Familienministerium wäre ausreichend. „Frauen sind nicht nur Ehefrauen, Mütter oder Krankenschwestern. Frauen dürfen nicht nur im privaten Kontext gesehen werden. Deshalb brauchen wir zur Vertretung ein eigenes Frauenministerium – natürlich mit einer Frau an der Spitze“, stellt die ÖGB-Expertin klar.
Wunschzettel und Wahlurne
Eine Zusammenfassung der Forderungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern liefert AK-OÖ-Präsident Johann Kalliauer: „Arbeitslosigkeit und Schieflage im Steuersystem bekämpfen, Kaufkraft stärken, Sozialsystem sichern, Bildungschancen ausbauen.“ Deshalb sei nicht zuletzt die Umstrukturierung des Steuersystems das Gebot der Stunde. Die AK fordert die Entlastung der LohnsteuerzahlerInnen durch Senkung des Eingangssteuersatzes und eine jährliche Anpassung der Progressionsstufen an die Inflation. Zur Gegenfinanzierung sei die Einführung einer Millionärssteuer auf Netto-Privatvermögen ab einer Mio. Euro sinnvoll. Seien wir gespannt, welche Wünsche nach dem Wahlgang tatsächlich in Erfüllung gehen werden.
Mehr Infos unter:
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Maßvolle Konsolidierungspakete
Dessen ungeachtet waren ab 2011 in der Budgetpolitik Steuererhöhungen und Einsparungen angesagt, um die öffentlichen Haushalte wieder zu sanieren. Auch wenn gerade die Einsparungen schmerzhaft waren, so gelang es, nicht zuletzt aufgrund des Einsatzes von Gewerkschaft und AK, die beiden Konsolidierungspakete im internationalen Vergleich maßvoll zu gestalten bzw. sogar mit einigen echten Verbesserungen zu kombinieren. Die nun fast durchgängige Besteuerung von Vermögenszuwächsen reduzierte die Konsolidierungslast der unteren und mittleren Einkommen, Offensivmaßnahmen in Bereichen wie Kinderbetreuung, aktive Arbeitsmarktpolitik, Pflege, Bildung oder thermische Sanierung wirkten sich auf Gemeinwohl und Wirtschaft positiv aus.
Keine schlechte Ausgangslage
Unterm Strich konnte das öffentliche Defizit in nur zwei Jahren bereits wieder halbiert werden, Tendenz weiter fallend. Dies geschah trotz ungeplanter Budgetbelastungen in Form weiterer Milliardenhilfen für heimische Banken, einer nach wie vor im historischen Vergleich hohen Arbeitslosigkeit und gravierender Probleme in der Eurozone. Geht man davon aus, dass wahrscheinlich notwendige weitere Hilfen für die Banken noch heuer budgetwirksam werden und die prognostizierte europaweite Wirtschaftserholung diesmal tatsächlich kommt, so könnte 2014 das Budgetdefizit bereits auf unter ein Prozent des BIP fallen. Somit entstünde gegenüber dem bisherigen gesamtstaatlichen Budgetpfad ein Spielraum.
Angesichts der relativ hohen Arbeitslosigkeit sollte dieser Spielraum nicht für eine noch schnellere Reduzierung der Staatsverschuldung genutzt werden, sondern um Beschäftigung zu schaffen. Denn wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, ist eine gute Beschäftigungsentwicklung nicht nur im Interesse der ArbeitnehmerInnen bzw. der Jugend, sondern auch der Schlüssel für eine sozial verträgliche und nachhaltige Verbesserung des Budgets.
Budgetpolitik muss wieder mehr sein als Konsolidierung. Budgetpolitik ist wichtig zur Erreichung gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Zielsetzungen, von denen sie nicht losgelöst betrachtet werden kann. Vielmehr gilt, dass eine günstige wirtschaftliche Entwicklung Voraussetzung für die Verringerung der öffentlichen Defizite ist: Nehmen Einkommen, Beschäftigung und Verbrauch stetig zu, dann wachsen auch die Steuer- und Beitragseinnahmen und die Neuverschuldung des öffentlichen Sektors geht zurück. Zudem darf nicht aus den Augen verloren werden, dass Budgetpolitik nicht Finanzmärkten, Ratingagenturen oder der Erfüllung europäischer Auflagen dient, sondern gesellschaftlichen Wohlstand fördern soll – unter besonderer Berücksichtigung benachteiligter Gruppen.
Bedarfsgerecht umschichten
Einige Interessengruppen wie z. B. Großbetriebe oder der landwirtschaftliche Sektor haben es ausgezeichnet verstanden, sich Sonderregelungen trotz Konsolidierungsdruck zu erhalten oder sogar auszubauen. In „echten“ Budgetverhandlungen sollte deshalb zu Beginn der kommenden Legislaturperiode bedarfsgerecht umgeschichtet bzw. nachgebessert werden. Bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik gelang es zwar durch Sonderbudgetierungen am Höhepunkt der Krise, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, allerdings müssen diese auch in Zukunft in dieser Höhe bereitgestellt werden. Der Fokus muss auf Weiterbildung Niedrigqualifizierter, Erhöhung der Beschäftigung von Älteren, von Menschen mit besonderen Bedürfnissen sowie jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern liegen.
Beim Thema Wohnbau hat sich die Abschaffung der Zweckwidmung des Wohnbaufinanzierungsbeitrags als Fehler erwiesen. Diese ist wieder einzuführen bzw. auch auf die Rückflüsse aus Darlehen, die mittels ehemaliger Wohnbaumittel vergeben wurden, auszuweiten und dem tatsächlichen Wohnraumbedarf anzupassen.
Die seit 2009 in der Finanzverfassung verankerte „tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern“, die vor allem auch über die bewusste Verteilung der öffentlichen Mittel erreicht werden soll, ist endlich mit Leben zu erfüllen. Beispielsweise wurden weder Konsolidierungs- noch Konjunkturmaßnahmen auf ihre unterschiedliche Auswirkung auf Frauen und Männer analysiert, geschweige denn auch darauf ausgerichtet. Die Einrichtung eines Beirats, der gleichstellungspolitische Empfehlungen abgeben kann, sowie eine über die einzelnen Budgetuntergliederungen hinweg wirksame Gesamtstrategie wären hier wichtige Schritte.
Vermögensbezogene Steuern
Auf der Einnahmenseite ist jedenfalls sicherzustellen, dass im Steuersystem zukünftig die Bessersituierten auch einen relativ höheren Beitrag leisten werden. Das ist momentan kaum der Fall, da diese zwar deutlich höhere Lohn- oder Einkommensteuern entrichten, allerdings relativ zu ihrem Einkommen weniger Verbrauchssteuern und Sozialbeiträge zahlen. Somit sind sie insgesamt nicht mehr belastet als NiedrigverdienerInnen.
Ohne Beitrag der Topvermögenden kann der notwendige Umbau des Steuer- und Abgabensystems nicht finanziert werden. Dies ist nicht nur sozial gerecht, sondern ökonomisch sinnvoll: Einerseits, weil damit einer der Gründe für die Finanz- und Wirtschaftskrise bearbeitet werden kann, nämlich die wachsende Spekulation durch die steigende Zahl von Superreichen. Andererseits, weil dadurch eine Senkung der Belastung des Faktors Arbeit erzielt werden kann.
Neben dem Ausbau der sozialen Infrastruktur muss daher die Steuerentlastung der ArbeitnehmerInnen insbesondere des unteren Einkommensdrittels Vorrang haben.
Europäische Budgetpolitik neu
Die größte Herausforderung ist die Erreichung eines Kurswechsels in der Budgetpolitik auf europäischer Ebene. Als erster Schritt muss die europäische „Schuldenbremse“ reformiert werden, damit Zukunftsinvestitionen getätigt werden können. Die EU-Kommission hat hier bereits erste Vorschläge unterbreitet, die unter eng definierten Umständen Zusatzausgaben für europäische Projekte ermöglichen. Diese Vorschläge greifen allerdings noch viel zu kurz.
Zweitens muss auch auf europäischer Ebene versucht werden, die Möglichkeiten zur Finanzierung vermehrt durch die koordinierte Anhebung der Reichensteuern, die Bekämpfung der Steuer-vermeidung und -hinterziehung sowie die Senkung der Zinslast der öffentlichen Haushalte auf stabile Beine zu stellen. Dieser Kurswechsel würde europaweit die bereits angesprochenen Zu-kunftsinvestitionen bzw. eine Ausweitung der sozialen Dienstleistungen ermöglichen.
Signal mit Mehrwert
Europa könnte so aus der Verschuldung herauswachsen, anstatt durch die übertriebenen Sparmaßnahmen immer weiter in den Abwärtsstrudel aus Arbeitslosigkeit, Stagnation und öffentlicher wie privater Verschuldung hineingezogen zu werden. Dieses positive Signal hätte einen hohen Mehrwert und würde allen zugutekommen.
Mehr Info unter:
blog.arbeit-wirtschaft.at/tag/bundesfinanzrahmen
Analyse zum Bundesfinanzrahmen:
tinyurl.com/nb86cuu
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