Langsamer wachsender Kuchen
Dieser Vergleich zeigt, wo heute die elementare verteilungspolitische Auseinandersetzung stattfindet: zwischen den Millionären und den Multis auf der einen Seite und den auf die Erträge ihrer Arbeitskraft angewiesenen Menschen auf der anderen Seite. Die inakzeptable Ausgangssituation kommt im starken Zuwachs der leistungslosen Vermögenseinkommen und der enormen Konzentration des Vermögensbesitzes bei gleichzeitiger Stagnation der Leistungseinkommen aus Arbeit und Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse besonders krass zum Ausdruck. Die sozialen Auseinandersetzungen um die Verteilung des Wohlstandes werden ohne Zweifel an Intensität gewinnen. Denn wenn der Kuchen langsamer wächst, wird der Streit um seine Verteilung heftiger.
Österreich tut bedeutend mehr als andere Staaten, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, die soziale Absicherung für alle Menschen zu gewährleisten und den Ertrag des Wirtschaftens nicht völlig unfair zu verteilen. Aber Österreich ist auch ein nicht unbedeutender Spieler bei der Verschleppung der Bekämpfung des Steuerbetruges:
Finanz über den Verhältnissen
Jahrzehntelang haben Finanzsystem und Vermögende auch in Österreich über unsere Verhältnisse gelebt. Mit dem Zurückdrängen ihrer Ansprüche auf das Sozialprodukt kann großflächig Raum für sozialen Fortschritt geschaffen werden. Deshalb muss die Bekämpfung der vielfältigen Formen des Steuerbetruges zu einer zentralen Aufgabe der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in Europa werden. Zu Recht wurden Luxemburg und sein ehemaliger Premierminister Jean-Claude Juncker an den Pranger gestellt. Nun sind die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen: automatischer Informationsaustausch, Aufbau eines internationalen Finanzkatasters, Finanzsteuern. Die Bekämpfung von Steuerbetrug in Österreich bildet zusammen mit der steuerlichen Belastung großer Vermögen und Erbschaften das zentrale Element des Steuerreformkonzepts von AK und ÖGB. Die Vermögensbesteuerung und die Entlastung der Arbeitseinkommen sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
Wir legen Ihnen drei ganz besonders spannende Beiträge ans Herz:
Der Fiskalpakt – Hauptkomponente einer Systemkrise
„Mit dem Fiskalpakt hat die EU wesentliche Forderungen der ideologischen Hauptgegner des Europäischen Sozialmodells, der ‚Schule von Chicago‘, übernommen.“ Stephan Schulmeister beschreibt in seinem Beitrag das Konzept hinter den Regeln des Fiskalpakts. Es geht davon aus, dass sich die Sparpolitik nicht negativ auf Produktion und Beschäftigung auswirkt. Im Mittelpunkt steht dabei das „strukturelle Defizit“. Um dieses zu berechnen, werden abstruse Annahmen getroffen. So wird unterstellt, dass der überwiegende Teil der Arbeitslosen „natürlich“, also strukturell bedingt ist.
Oder anders und vereinfacht ausgedrückt: Nur Lohnsenkungen oder ein Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten könne ohne Inflationsdruck Beschäftigung schaffen, nicht aber eine Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung bzw. der Nachfrage.
In der Realität aber zeigt sich ein gänzlich anderes Bild: Der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Finanz- und Wirtschaftskrise lässt sich nicht durch plötzliche strukturelle Probleme erklären, sondern durch den krisenbedingten Nachfrageausfall. Gleichzeitig zeigen die Zahlen, dass die Staatsschuldenquote genau in jenen Ländern am stärksten stieg, welche nach Ausbruch der Finanzkrise dem radikalsten Sparkurs folgten.
Lesen Sie mehr:
blog.arbeit-wirtschaft.at/fiskalpakt-als-systemkrise/
Austeritätspolitik als folgenschwerer Fehler
Während die EU weiter an ihrem Austeritätskurs festhält, ist der Internationale Währungsfonds schon einen entscheidenden Schritt weiter. In einem umfangreichen Evaluierungsbericht übt der IWF harte Kritik an seinen eigenen wirtschaftspolitischen Empfehlungen in den Krisenjahren.
Wie Philipp Heimberger beschreibt, wird die vom IWF ab 2010 vorgeschlagene Politik der Staatsausgabenkürzungen und Steuererhöhungen nun als folgenschwerer Fehler beurteilt. Angesichts „hoher wirtschaftlicher Unterauslastung, eingeschränkter Effektivität geldpolitischer Maßnahmen und der fortgesetzten Entschuldungsbemühungen von privaten Haushalten und Unternehmen hätte der IWF, insbesondere in Ländern mit größerem fiskalpolitischem Handlungsspielraum, auf ausgeweitete Konjunkturprogramme drängen müssen, statt Austeritätspolitik zu fordern“.
Lesen Sie mehr:
blog.arbeit-wirtschaft.at/iwf-austeritaetsfehler-eingestaendnis/
Wer nützt direkte Demokratie?
Besonders viele Reaktionen hervorgerufen hat zuletzt der Beitrag von Eva Maltschnig und Katharina Hammer. Sie setzten sich mit der Frage auseinander, ob mit direktdemokratischer Beteiligung der Unzufriedenheit mit dem demokratischen System entgegengewirkt werden kann und ob so der Wille der Bevölkerung direkt und deutlich sichtbar wird.
Die beiden AutorInnen argumentieren dabei, dass partizipatorische Innovationen erstens nicht automatisch den Mehrheitswillen der Bevölkerung widergeben. Zweitens bestehe die Gefahr von sozialer Verzerrung von Entscheidungen, da sozial Schwächere in höherem Ausmaß nicht an direktdemokratischen Beteiligungsformen teilnehmen und somit im politischen Prozess unberücksichtigt bleiben. „Gerechte und ausgewogene Beteiligungen sollten (daher) einen zentralen Stellenwert bei der Einführung neuer Beteiligungsinstrumente haben.“
Lesen Sie mehr:
blog.arbeit-wirtschaft.at/wer-nuetzt-direkte-demokratie/
Neuer Schwerpunkt Bildung und Demokratie
Neben diesen Beiträgen rückten im Blog zuletzt immer stärker Bildungsthemen und demokratiepolitische Themen in den Mittelpunkt, die Spannbreite reichte dabei von „Deutsch lernen in der Erwachsenenbildung“ über das Stipendiensystem an den Universitäten bis hin zur Frage „Wer nützt direkte Demokratie?“
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Das Wunderland der Kinderbetreuung?
Gewerkschaftlich gesehen sind Kinderbetreuungseinrichtungen in Schweden tatsächlich ein Wunderland. Mehr als 70 Prozent der Krabbelstuben und Kindergärten sind gewerkschaftlich organisiert und durch BetriebsrätInnen und Sicherheitsvertrauenspersonen vertreten. Zwischen den verschiedenen Anbietern von Kinderbetreuung lassen sich jedoch sowohl in der pädagogischen Qualität als auch bei den dienstrechtlichen Regelungen Unterschiede feststellen. Obwohl aktuell in jeder Gruppe nur 16‒18 Kinder von mindestens drei pädagogischen Fachkräften betreut werden, sehen die Zukunftsprognosen eher weniger rosig aus. Bei meinem Gespräch mit der Leiterin des Vereins Skolverket, der für die Ausbildung von PädagogInnen zuständig ist, wurde der Negativtrend spürbar: Schon bald sollen mehr Kinder von weniger Fachkräften pro Gruppe betreut werden.
Kommunal goes international
Internationale Kontakte spielen in der Gewerkschaftsarbeit eine auffallend wichtige Rolle. Während meines Praktikums war jede/r meiner KollegInnen mindestens einmal für ein paar Tage im Ausland bei anderen Gewerkschaftsorganisationen und nahm dort an Meetings, Besprechungen oder Abstimmungen teil. Dass schwedische GewerkschafterInnen viel reisen, wurde mir versichert, sei nichts Außergewöhnliches. Mona, die beispielsweise für Beschäftigte bei der Feuerwehr zuständig ist, besuchte während meines Praktikums gleich zwei internationale Treffen – eines in China und eines in Brüssel. Auch ich konnte an mehreren internationalen Meetings in der Nähe von Stockholm teilnehmen. Sowohl bei dem Treffen der Rauchfangkehrer als auch bei der länderübergreifenden Aktion „Domestic work is work“ wurde klar, dass Kommunikation und Austausch über die Ländergrenzen hinaus ein zentraler Teil schwedischer Gewerkschaftsarbeit ist und daher so intensiv verfolgt wird. Darum, über den Tellerrand hinauszusehen, ging es auch beim „Global Forum on Migration“ an dem ich teilgenommen habe.
Kommunikation als Schlüssel
In allen Bereichen der Arbeitswelt sieht Kommunal Kommunikation als Schlüssel zum Erfolg. Der Großteil der Mitglieder wird im persönlichen Gespräch geworben. Nur wenige melden sich mittlerweile online an. Doch nicht nur in der Mitgliederwerbung, sondern vor allem auch im Büroalltag spielt Kommunikation eine Schlüsselrolle. So kommt es, dass auch das Raumkonzept des Gewerkschaftshauses Kommunikation geradezu herausfordert. So treffen sich die GewerkschafterInnen jeden Vormittag für eine Stunde in der Kaffeeküche zur traditionellen „Fika“ (= Kaffeepause) – während der Arbeitszeit. Für die AbteilungsleiterInnen, die an den Fikas ebenfalls teilnehmen, ist dies die wertvollste Zeit des Tages. Es werden Projekte besprochen, Probleme diskutiert und kreative Lösungen für Fragestellungen erarbeitet. Kommunikation zieht durch alle Bereiche des Arbeitsalltags und ist das schwedische Rezept zum Erfolg.
INTERVIEW
Zur Person - Anita Lundberg
Alter: 58
Beruf: „Ombudsman“ bei der Gewerkschaft Kommunal
Firmenstandort: Stockholm
Gewerkschaft: Kommunal
Was bedeutet für Sie Arbeit?
Bei der Gewerkschaft arbeiten zu dürfen bedeutet mir sehr viel. Für mich bedeutet die Arbeit, bei Kommunal etwas verändern zu können.
Welche Bedeutung hat die EU für Sie?
Vernetzung und gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Seit unserem EU-Beitritt hat sich die Vernetzung zwischen den europäischen Gewerkschaften intensiviert. Das sehe ich als großes Potenzial.
Welches europäische Land mögen Sie am liebsten?
In Europa ist Schweden das Land, das ich am meisten mag. Ich habe aufgrund des Berufes meines Mannes bereits in vielen Ländern gewohnt. Er ist Inbetriebnehmer von Kraftwerken, aktuell arbeitet er in Norwegen. Wir haben gemeinsam zwei Jahre lang in Brasilien gelebt, wo auch meine zweite Tochter geboren wurde. Aber zu Hause ist es doch am schönsten.
Wie und wie oft machen Sie Urlaub?
Der Urlaubsanspruch in Schweden beträgt, genauso wie in Österreich, 25 Arbeitstage pro Jahr. Deshalb nutze ich jede freie Minute, um Zeit mit meiner Familie und besonders mit meinem Mann zu verbringen. Dazu reise ich auch gerne an die Orte, an denen mein Mann gerade arbeitet. So sind wir schon viel herumgekommen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Faire Arbeitsbedingungen und ein Einkommen für alle arbeitenden Menschen, von dem man leben kann. Für mich und meine Familie wünsche ich mir Gesundheit.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin astrid.mayrhofer@gpa-djp.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>ArbeitnehmerInnenveranlagung
Die Lohnsteuer, die ArbeitnehmerInnen von ihrem Einkommen zahlen müssen, wird direkt vom Arbeitgeber einbehalten und an das Finanzamt abgeführt. Wenn man bestimmte Ausgaben geltend machen und steuerlich absetzen will, muss man eine ArbeitnehmerInnenveranlagung durchführen. Für den Antrag hat man fünf Jahre Zeit.
Außergewöhnliche Belastungen
Außergewöhnliche Belastungen sind Aufwendungen für die Lebensführung, die steuerlich absetzbar sind. Das können Krankheitskosten, Mehraufwendungen aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder Kosten der Heilbehandlung sein. Allerdings wirken diese erst, wenn ein Selbstbehalt überschritten wird, dessen Höhe nach den Einkommens- und den Familienverhältnissen abgestuft ist.
Direkte und indirekte Steuern
Die direkten Steuern werden unmittelbar bei dem Steuerschuldner festgesetzt und erhoben. Zu den direkten Steuern zählen die Steuern auf Einkommen und Löhne. Bei direkten Steuern kann man je nach Einkommen unterschiedliche Steuersätze anwenden. Zu den indirekten Steuern zählen die Umsatzsteuer sowie die Verbrauchsteuern (z. B. Biersteuer, Mineralölsteuer). Die Steuer wird vom Händler geschuldet und von den KundInnen bezahlt. Bei indirekten Steuern wird für alle Personen unabhängig von deren Einkommen derselbe Steuersatz angewandt. Die Belastung durch indirekte Steuern ist bei BezieherInnen niedriger Einkommen höher als bei Besserverdienenden.
Durchschnittssteuersatz
Der Durchschnittssteuersatz misst den Anteil der Steuer am Bruttoeinkommen. Bei progressiven Steuern steigt der Durchschnittssteuersatz mit dem Einkommen. Bei 2.000 Euro Bruttomonatseinkommen liegt der Durchschnittssteuersatz bezogen auf das Jahreseinkommen bei 10,4 Prozent, bei 4.000 Euro bei 20 Prozent, bei 6.000 Euro bei 25 Prozent.
Eingangssteuersatz
Das ist der Steuersatz, mit dem nach dem steuerfreien Einkommen von 11.000 Euro pro Jahr der Einkommensteuertarif beginnt. Der Eingangssteuersatz beträgt 36,5 Prozent und ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Daher fordern ÖGB und AK eine Senkung des Eingangssteuersatzes auf 25 Prozent.
Erbschaftssteuer
Die Erbschaftssteuer besteuert den Übergang von Vermögenswerten des Verstorbenen an den Erben. In Österreich wird die Erbschaftssteuer seit 2008 nicht mehr erhoben. Das entlastet v. a. Großerben, denn bei der Erbschaftssteuer kamen 56 Prozent des Aufkommens von den drei Prozent der größten Erbschaftsfälle. ÖGB und AK fordern daher die Wiedereinführung einer reformierten Erbschaftssteuer.
Familienbesteuerung
Bei der Familienbesteuerung hängt die Höhe der Steuer vom Familieneinkommen ab. Im Gegensatz dazu wird bei der Individualbesteuerung das Einkommen jeder Person getrennt besteuert. Die Steuerersparnis steigt mit der Einkommensdifferenz im Haushalt an.
Finanztransaktionssteuer
Eine Finanztransaktionssteuer ist eine Steuer auf Finanztransaktionen. Eine minimale Besteuerung von Finanztransaktionen, etwa im Ausmaß von 0,01 Prozent, würde nur kurzfristig-spekulative Transaktionen verteuern und so einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte leisten. ÖGB und AK fordern seit Jahren die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in der EU (siehe auch „Immer einen Schritt voraus“).
Flat Tax – proportionale Steuer
Im Gegensatz zu einem progressiven Steuersystem wird bei einer Flat Tax ein konstanter Steuersatz unabhängig von der Höhe des Einkommens verrechnet. Das wirkt zugunsten Besserverdienender. Die Kapitalertragsteuer ist eine proportionale Steuer und beträgt unabhängig von der Höhe der Kapitalerträge immer 25 Prozent.
Grenzsteuersatz und Grenzabgabensatz
Der Grenzsteuersatz misst den Anteil der Steuern an einer Einkommenserhöhung. Ab einem Monatseinkommen von etwa 1.190 Euro brutto wird bei einer Einkommenserhöhung der Grenzsteuersatz von 36,5 Prozent fällig. Ab einem Bruttomonatseinkommen von ca. 2.500 Euro fällt der Grenzsteuersatz von 43,2 Prozent an und ab ca. 5.850 Euro der Grenzsteuersatz von 50 Prozent. Der höhere Grenzsteuersatz wird nie auf das gesamte Einkommen angewandt, sondern nur auf den Teil des Einkommens, der in die höhere Steuerstufe fällt.
Der Grenzabgabensatz misst den Anteil von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen an einer Einkommenserhöhung und ist daher höher als der Grenzsteuersatz.
Individualbesteuerung
In Österreich gilt seit 1973 das Modell der Individualbesteuerung. Demnach werden Einkommen direkt bei dem/der LohnempfängerIn besteuert – unabhängig davon, ob er/sie verheiratet ist und/oder Kinder hat. Die Individualbesteuerung fördert die Erwerbsbeteiligung der Frauen. Familienförderung findet in Österreich weniger durch Steuern als durch Leistungen wie die Familienbeihilfe statt, die sich am Grundsatz „Jedes Kind ist gleich viel wert“ orientiert (zur aktuellen Debatte über Familiensteuern siehe auch „Splitting Family?“).
Kalte Progression
Damit wird die Steuermehrbelastung bezeichnet, die dann eintritt, wenn bei einem progressiven Steuertarif dessen Eckwerte nicht der Inflation angepasst werden. Einkommenserhöhungen in Höhe der Inflationsrate erhöhen zwar nicht die Kaufkraft, führen aber zu einer Erhöhung der Steuerlast bzw. des durchschnittlichen Steuersatzes.
Körperschaftsteuer
Während die Einkommensteuer alle natürlichen Personen betrifft, stellt die Körperschaftsteuer die Einkommensteuer der juristischen Personen wie Aktiengesellschaften und GmbHs dar. Die Körperschaftsteuer beträgt 25 Prozent.
Jahressechstel
Sonstige Bezüge (das sind zum Beispiel 13. und 14. Monatsgehalt, Belohnungen, Prämien, Jubiläumsgelder) werden im Ausmaß eines Sechstels der laufenden (in der Regel monatlichen) Bezüge begünstigt besteuert. Das Jahressechstel wird nach Abzug eines Freibetrags von 620 Euro mit sechs Prozent Lohnsteuer begünstigt besteuert.
Negativsteuer
Wenn man ein geringes Einkommen bezieht, kann es in folgenden Fällen zu einer Steuergutschrift (Negativsteuer) kommen: Besteht Anspruch auf den Arbeitnehmerabsetzbetrag, werden grundsätzlich zehn Prozent der Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung (höchstens jedoch 110 Euro) gutgeschrieben. ÖGB und AK fordern eine Erhöhung der Negativsteuer, damit auch GeringverdienerInnen eine Entlastung bekommen (siehe auch „Die gerechtere Negativsteuer“).
Sonderausgaben
Das Einkommensteuergesetz definiert bestimmte private Ausgaben, die steuerlich begünstigt werden, z. B. Nachkauf von Versicherungszeiten, bestimmte Versicherungsprämien für Wohnraumsanierung, Kirchenbeiträge, bestimmte Spenden. Sonderausgaben stellen einen Freibetrag dar (siehe auch „Pfade durch den Steuer-Dschungel“).
Steuerpflichtiges Einkommen
Bildet die Bemessungsgrundlage für die Steuerberechnung. Vom Bruttoeinkommen werden die Sozialversicherungsbeiträge abgezogen, bevor das Einkommen der Besteuerung unterworfen wird.
Steuerprogression
Darunter versteht man das Ansteigen des Steuersatzes in Abhängigkeit vom zu versteuernden Einkommen. Das heißt, jemand mit einem höheren Einkommen zahlt einen höheren Steuersatz.
Steuertarif
In Österreich gelten je nach Einkommenshöhe unterschiedliche Tarifstufen. Die ersten 11.000 Euro steuerpflichtigen Einkommens pro Jahr sind steuerfrei. Für 11.000 bis 25.000 Euro ist ein Steuersatz von 36,5 Prozent fällig, für 25.000 bis 60.000 Euro 43,2 Prozent, bei über 60.000 dann 50 Prozent. Dazu muss aber berücksichtigt werden, dass das sogenannte Jahressechstel begünstigt mit sechs Prozent besteuert wird.
Vermögenssteuer
Private Vermögen sind in Österreich höchst ungleich verteilt. Die reichsten fünf Prozent der Haushalte besitzen 57 Prozent des Privatvermögens. Vermögen sind derzeit in Österreich nicht besteuert. Der ÖGB fordert eine Vermögenssteuer für Privatpersonen auf die Nettovermögen (Vermögen abzgl. Schulden) bei einem Freibetrag von 700.000 Euro (siehe auch „Was vermögen Vermögende?“).
Werbungskosten
Werbungskosten sind beruflich veranlasste Ausgaben, die in Beziehung mit einer nichtselbstständigen Tätigkeit stehen. Werbungskosten wirken als Freibetrag, d. h. sie reduzieren die Einkommensteuer in Höhe des jeweiligen Grenzsteuersatzes. Zu den Werbungskosten zählen u. a. das Pendlerpauschale, Arbeitskleidung, Arbeitsmittel und Werkzeuge, Aus- und Fortbildung, die Betriebsratsumlage, ein Computer, Fachliteratur, Gewerkschaftsbeiträge (siehe auch „Pfade durch den Steuer-Dschungel“).
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor david.mum@gpa-djp.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Wird Luft besteuert?
So weit, so klar. Aber was sind eigentlich Kuriositäten wie „Luft- oder U-Bahn-Steuer“? Martin Saringer, Steuerexperte der AK Wien, erklärt: „Die ,U-Bahn-Steuer‘ gibt es wirklich. Der offizielle Name ist allerdings: Dienstgeberabgabe. Es handelt sich, wie der Name schon sagt, um eine Abgabe, die nicht auf die Beschäftigten überwälzt werden darf. Bezahlen muss sie der Arbeitgeber direkt an das Magistrat. Die Höhe beträgt zwei Euro pro Beschäftigten für jede angefangene Kalenderwoche und ist monatlich zu bezahlen.“ Die Einnahmen von rund 60 Millionen Euro jährlich sind für Investitionen in das U-Bahn-Netz zweckgebunden. Bei der „Luftsteuer“ handelt es sich um eine sogenannte Gebrauchsabgabe. Sie entrichten wir nicht für die Luft zum Atmen, sondern für die Benützung von öffentlichem Gemeindegrund oder dazugehörigen Anlagen wie Grünstreifen oder eben dem Luftraum. Unter diese Abgabe fallen somit Werbetafeln, Hinweisschilder, Markisen, aber auch die beliebten Schanigärten. Die Sinnhaftigkeit von Gebühren wie der „Luftsteuer“ ziehen ExpertInnen wie Casandra Hermann, Geschäftsführerin der taxservices Steuerberatungs- & Unternehmensberatung, etwas in Zweifel: „Die Abwicklung ist hier extrem aufwendig, die Einnahmen sind hingegen gering.“ Anders betrachtet könnte es zu einem Wildwuchs führen, würden GastronomInnen ihren Schanigarten dort aufstellen, wo sie wollen. Die Luftsteuer erzielt somit einen regulierenden Effekt.
Wechseln wir zu einem anderen Aspekt des Steueralltags: Stichwort freiwillige ArbeitnehmerInnenveranlagung, umgangssprachlich auch Lohnsteuerausgleich genannt. Diese kann, muss aber nicht eingereicht werden. Besonders für alle, die wenig verdienen oder nicht das gesamte Jahr über gearbeitet haben, lohnt sich der Antrag beim Finanzamt aber in den meisten Fällen. Hier muss man selbst aktiv werden – aber warum eigentlich, wo doch alle Daten ohnedies beim Fiskus zusammenlaufen? Ganz so einfach ist die Sache nicht. Dazu AK-Experte Saringer: „Bei ArbeitnehmerInnen zieht der Arbeitgeber monatlich die Lohnsteuer ab und führt diese ans Finanzamt ab. Bei PensionistInnen macht dies die Pensionsversicherungsanstalt. Wird zu viel Lohnsteuer abgebucht, weil man nicht das ganze Jahr gearbeitet hat oder weil die Bezüge unterschiedlich hoch waren, dann wird die gegebenenfalls zu viel einbehaltene Lohnsteuer vom Finanzamt im Wege der ArbeitnehmerInnenveranlagung an die ArbeitnehmerInnen bzw. PensionistInnen zurückbezahlt.“ Das passiert nicht automatisch, weil das Finanzamt grundsätzlich nicht weiß, ob man auch noch Abschreibungen geltend machen kann, ob bestimmte Absetzbeträge zustehen oder ob ein Gehalt nur in einem Monat nur deshalb höher ist, weil Überstunden ausbezahlt wurden, oder ob der/die ArbeitnehmerIn eine dauerhafte Gehaltserhöhung erhalten hat.
Dem Finanzamt nachlaufen
Veranschaulicht an einem Beispiel: Verdiente eine Arbeitnehmerin im Jahr 2013 in Summe nur 10.000 Euro, musste sie keine Lohnsteuer zahlen. Denn bis zu einem Jahresbruttoeinkommen von 11.000 Euro fällt keine Lohn- bzw. Einkommensteuer an, erst darüber hinaus greift der „Grenzsteuersatz“ von 36,5 Prozent. Sehr wohl musste die Arbeitnehmerin aber Sozialversicherungsbeiträge „berappen“. Diese kann sie sich nun teilweise über den Weg der ArbeitnehmerInnenveranlagung in Form der Negativsteuer zurückholen (siehe auch „Die gerechtere Negativsteuer“). Die Negativsteuer beträgt zehn Prozent der bezahlten Sozialversicherungsbeiträge beziehungsweise maximal 110 Euro jährlich. Jetzt drängt sich natürlich die Frage auf, warum man dem Finanzamt für Geld, das einem zusteht, „nachlaufen“ muss. Nun ist für die Lohn- und Einkommensteuer das Finanzamt zuständig, für Sozialabgaben wiederum die Sozialversicherung – es handelt sich also um getrennte Institution, die den Ausgleich nicht automatisch durchführen. Deshalb muss die Arbeitnehmerin dies mittels ArbeitnehmerInnenveranlagung selbst urgieren.
Hol dir dein Geld zurück
Ein anderes Beispiel: Eine Arbeitnehmerin war von Jänner bis Juli 2013 in Elternkarenz. Ab August 2013 hat sie wieder gearbeitet und monatlich 2.000 Euro brutto verdient. Ihr Jahreseinkommen liegt somit unter der Steuergrenze von 12.000 Euro. Allerdings wurden ihr bereits während ihrer Beschäftigung monatlich knapp 230 Euro an Lohnsteuer abgezogen, weil sie dem „Eingangssteuersatz“ unterlag. Sie hat also eindeutig zu viel Steuer gelöhnt. Weil auch hier das Finanzamt nicht automatisch sein Füllhorn ausschüttet, muss die Arbeitnehmerin wiederum die ArbeitnehmerInnenveranlagung machen: Die Einkünfte werden dann auf das ganze Jahr verteilt und die zu viel bezahlte Lohnsteuer zurückbezahlt. „Für Teilzeitbeschäftigte, Lehrlinge, FerialpraktikantInnen oder auch für Personen, die während des Jahres in Karenz gegangen sind, ist es daher fast immer empfehlenswert, die ArbeitnehmerInnenveranlagung zu machen“, empfiehlt die AK. „Auf jeden Fall sollten Sie eine ArbeitnehmerInnenveranlagung durchführen, wenn Sie im betreffenden Kalenderjahr so wenig verdient haben, dass Sie keine Lohnsteuer – aber Sozialversicherungsbeiträge – bezahlt haben“, heißt es weiter in der Broschüre „Hol dir dein Geld zurück“ der AK Wien. Das Schöne daran ist, dass man keine Belege für Sonderausgaben (zu diesem Punkt kommen wir gleich) und auch keine Lohnabrechnungen oder Jahreslohnzettel sammeln muss. Es reicht, die Anzahl der Arbeitgeber bzw. der pensionsauszahlenden Stellen im betreffenden Kalenderjahr anzugeben. Da kann sich der/die BürgerIn schon ärgern, weil diese Daten ja dem Finanzamt bekannt sind. Aber dieses wird hier eben wiederum nicht von selbst aktiv, also: unbedingt das Formular zur ArbeitnehmerInnenveranlagung ausfüllen. Dieses (Bezeichnung L1) ist bei jedem Finanzamt erhältlich oder auf finanzonline.at abrufbar.
Was sind Sonderausgaben?
„Das sind Ausgaben für Wohnraumschaffung und Wohnraumsanierung bzw. Rückzahlungen für Darlehen im Zusammenhang damit. Weiters fallen Ausgaben für bestimmte Personenversicherungen, Spenden, Kirchenbeitrag u. a. darunter“, erklärt Saringer. Werbungskosten können ebenfalls abgesetzt werden, sie haben aber nichts mit Werbung zu tun: „Das sind Kosten, die beruflich veranlasst sind. Hier gibt es ein weites Spektrum, das von Ausgaben für Aus- und Fortbildung sowie Umschulung über Arbeitsmittel und Pendlerpauschale samt Pendlereuro bis hin zu Gewerkschaftsbeiträgen und der Betriebsratsumlage reicht“, so Saringer. Und das sind noch nicht alle Aspekte, die berücksichtigt werden müssen. Es gibt z. B. außergewöhnliche Belastungen (u. a. Krankheitskosten) oder den Kinderfreibetrag. Viele Fachbegriffe, die ArbeitnehmerInnen schnell verunsichern.
Doch niemand sollte vor der ArbeitnehmerInnenveranlagung zurückschrecken. Schließlich wird man im Regelfall mit einer Rückzahlung belohnt – Geld, das sonst dem Fiskus geschenkt würde. Auf finanzonline kann man die freiwillige ArbeitnehmerInnenveranlagung auch in Ruhe vorab durchkalkulieren. Finanzielle Nachteile können dabei nicht entstehen, weil der Antrag auch wieder zurückgezogen werden kann, sollte die Berechnung ergeben, dass man zu wenig Steuern bezahlt hat und also Beiträge nachzahlen müsste. In der AK steht man den ArbeitnehmerInnen in Sachen Steuer außerdem tatkräftig zur Seite: Es gibt Informationen im Netz und in den Publikationen der AK-Länderkammern sowie Broschüren zum Thema. Über die alltägliche Beratung in Steuerfragen hinaus veranstalten die AK-Länderkammern traditionell im März die Steuerspartage, in manchen Länderkammern dauern sie bis April. Die Fragen, die den ArbeitnehmerInnen unter den Fingern brennen, sind völlig unterschiedlich, erzählt AK-Experte Saringer. „Die Bandbreite reicht von den Kosten für Kinderbetreuung bis hin zu Möglichkeiten, Fortbildungen steuerlich gelten machen zu können.“
So wird also niemand im Steuer-Dschungel allein stehen gelassen.
Webtipp:
Homepages der AK-Länderkammern:
holdirdeingeldzurueck.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor harald.kolerus@gmx.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Was heißt Splitting?
Am leichtesten ist das Prinzip anhand des klassischen Ehegattensplittings erklärt: Die Einkommen der beiden Eheleute werden zusammengerechnet, durch zwei dividiert und dann erst versteuert. Kurz gesagt, es wird so getan, als würden beide das Gleiche verdienen – und zwar auch dann, wenn eine/einer der beiden gar kein Einkommen hat. Andere Systeme rechnen auch die Kinder ein, wieder andere nur die Kinder und nicht die EhepartnerInnen.
Grundsätzlich wird die Einkommen- und Lohnsteuer umso höher, je mehr jemand verdient – und zwar nicht nur in absoluten Beträgen, sondern auch in Prozent. Das ist der Grundsatz der sogenannten Steuerprogression. Die Idee dahinter ist, dass jemand mit einem niedrigen Einkommen das meiste davon braucht, um die notwendigsten Bedürfnisse abzudecken. Von diesem Teil des Einkommens soll er oder sie nicht auch noch Steuern zahlen müssen. Deswegen wird auch in Österreich bis zu einem Brutto von rund 1.200 Euro keine Steuer eingehoben (wohl aber Sozialversicherungsbeiträge). Je höher das Einkommen wird, desto eher ist es zumutbar, etwas davon für das Gemeinwohl in Form von Steuern abzugeben, lautet die Idee dahinter. Das ist fürs Erste einmal unerfreulich, aber das Geld kommt in anderer Gestalt wieder zurück: in Form von Schulen, Straßen, Krankenhäusern, Kindergärten – oder auch als Familienleistung, etwa in Form der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages.
Beim Splitting passiert dann Folgendes: Jemand mit einem hohen Einkommen, der deswegen auch eine hohe Steuerstufe erreicht, kann dieses fiktiv auf die Familienmitglieder aufteilen. Damit haben alle – natürlich nur rein rechnerisch – ein viel niedrigeres Einkommen und somit auch eine niedrigere Steuerstufe. So wird beispielsweise aus einem stark besteuerten Spitzenverdienst dank Familiensplitting ein nur mehr moderat besteuertes Durchschnittsgehalt.
Umverteilung nach oben
Die Frage ist natürlich, wer von einem solchen System profitieren würde. Der Vorteil des Splittings ist umso offensichtlicher, je größer der Einkommensunterschied im Haushalt ist. Am deutlichsten ist er dort, wo jemand mit Spitzenverdienst einen/eine EhepartnerIn ohne Einkommen hat – oder umgekehrt. Damit sparen in Splitting-Systemen vor allem gut verdienende Männer mit gering oder gar nicht verdienenden Ehefrauen beträchtlich Steuern. Keinen Vorteil haben hingegen Paare, die beide in etwa gleich viel verdienen. Auch Alleinerziehende schauen durch die Finger.
Splitting-Systeme sind eine massive Umverteilung hin zu den höheren Einkommen. Zudem verschlingen sie viel Geld: Rund vier Milliarden würde die Einführung in Österreich kosten. Zum Vergleich: Die Familienbeihilfe schlägt mit etwa 3,5 Mrd. pro Jahr zu Buche. Es lässt sich leicht ausrechnen, dass in Zeiten des Sparzwangs die Kosten eines Splittings zu Kürzungen bei anderen Familienleistungen führen könnten.
Ein weiteres Problem ist, dass das Splitting innerhalb der Familie in beide Richtungen wirkt: Der Besserverdienende zahlt zwar weniger Steuern, aber die Person mit dem geringeren Einkommen dafür mehr. Damit sind vor allem Frauen, die eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder ausweiten wollen, VerliererInnen dieses Systems. Ihnen wird ein viel größerer Brocken „wegversteuert“, als das bei einer individuellen Besteuerung der Fall wäre. Kein Wunder also, dass laut Berechnung des Instituts für Höhere Studien bei Einführung des deutschen Systems in Österreich die Erwerbstätigkeit von Müttern deutlich sinken würde.
Kinder statt Ehefrau
Das klassische Splitting fordert allerdings heute kaum noch jemand. Stattdessen wird jetzt die drastische Erhöhung des Kinderfreibetrages gefordert. Dieser wurde mit der Steuerreform 2009 eingeführt. Derzeit beträgt er „nur“ 220 Euro jährlich pro Kind, bei Teilung zwischen den Eltern 264 Euro. Je nach Forderung soll er auf bis zu 7.000 Euro pro Kind und Jahr vervielfacht werden. Die Kosten dafür würden je nach Modell zwischen mehreren Hundert Millionen und vier Milliarden Euro betragen.
Dabei ist der Kinderfreibetrag aus verteilungs- und genderpolitischer Perspektive ähnlich problematisch wie das Familiensplitting. Freibeträge entlasten nämlich ebenso höhere Einkommen viel stärker als niedrige. Geringe Einkommen mit weniger als ca. 1.200 Euro Monatsbrutto gehen überhaupt leer aus – 60 Prozent davon sind Frauen. Den Familien ist mit dem Kinderfreibetrag nicht wirklich geholfen, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen. Eigentlich sollten sie im Ausmaß von 165 Millionen entlastet werden, tatsächlich wurden im Jahr 2012 aber nur 68 Millionen ausgeschöpft. Damit konnte der Freibetrag nicht einmal für die Hälfte aller potenziell anspruchsberechtigten Kinder in Anspruch genommen werden.
Negativsteuer: der bessere Weg
Derzeit läuft die Steuerreformdebatte auf Hochtouren, dabei wird natürlich auch über eine Entlastung der Familien diskutiert. 500 Millionen Euro wurden dafür in den Raum gestellt. Genauso viel würde die Erhöhung der Negativsteuer, wie sie ÖGB und AK fordern, kosten – das wird aber vom Finanzminister abgelehnt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass aber gerade die Negativsteuer eine Maßnahme wäre, die Familien helfen würde. Die Negativsteuer ist ein Bonus für jene, die unter der Steuergrenze liegen und somit von anderen Entlastungen nicht profitieren. Seit der Einführung in den 1990er-Jahren beträgt sie unverändert 110 Euro im Jahr – während Mieten, Lebensmittel und Fahrtkosten viel teurer geworden sind. Besonders für Frauen, die häufig nur wenig verdienen, wäre die Anhebung wichtig. Einer der wichtigsten Gründe für ihre niedrigen Verdienste ist die Arbeit in Teilzeit. 70 Prozent der beschäftigten Frauen mit Kindern unter 15 Jahren gehen einer solchen Erwerbstätigkeit nach. Sie haben kaum einen Vorteil aus dem Kinderfreibetrag, sehr wohl aber von der Negativsteuer.
Besonders entscheidend ist diese Frage für die Gruppe der Alleinerziehenden: Sie haben mit 27 Prozent eine fast doppelt so hohe Armutsgefährdung wie der Durchschnitt. Gerade diese von Armut Betroffenen würden von der Negativsteuer, nicht aber vom Kinderfreibetrag profitieren. Das gilt auch für die Haushalte mit weiblichen Hauptverdienerinnen, die zu 23 Prozent armutsgefährdet sind. Diese Zahlen bedeuten, dass Kinder, die in solchen Haushalten leben, in Armut aufwachsen. Die Negativsteuer wäre eine Beitrag, ihre Lage zu verbessern – der Kinderfreibetrag wäre das nicht.
Webtipp:
Web-Skriptum WI-12 – Steuerpolitik:
www.voegb.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sybille.pirklbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Demokratie hat ihren Preis
„Steuern erheben ist die Kunst, die Gans so zu rupfen, dass man möglichst viele Federn mit möglichst wenig Gezische bekommt“, meinte einmal Jean-Baptiste Colbert, Finanzminister unter dem französischen absolutistischen König Ludwig XIV., der sein Volk schröpfte, um die leeren Staatskassen zu füllen. Indirekt bat er aber auch Adel und Klerus zur Kasse. Die Hauptsteuerlast trugen damals die Bauern, die zusätzlich auch Kirchensteuern und Abgaben an den Grundherrn leisten mussten. Das alte Steuersystem aus dem Feudalismus nährte unter anderem die Wut des französischen Volkes und gipfelte 1789 in der Französischen Revolution.
Auch in der Geschichte der USA spielten Steuern eine wesentliche Rolle bei der Geburt der Nation. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) wurde von der Parole „No taxation without representation“ – keine Besteuerung ohne politische Vertretung – geprägt: Befürworter der Unabhängigkeit kritisierten, dass die dreizehn amerikanischen Kolonien zwar zu Steuerzahlungen an die britische Krone verpflichtet waren, ohne jedoch im britischen Parlament mit eigenen gewählten Abgeordneten vertreten zu sein.
Grundanforderungen
Um die Besteuerung gerechter zu gestalten, nannte 1776 der schottische Ökonom Adam Smith vier Grundanforderungen, nach denen Steuern erhoben werden sollten: Gerechtigkeit, Ergiebigkeit, Unmerklichkeit und Praktikabilität. Smith forderte, dass der Steuersatz proportional zu den Fähigkeiten und Einkommen der Bürger bestimmt werden sollte, zudem sollte klar ein Zahlungs-betrag und -termin definiert werden, die Bürger hätten das Recht, ihre Steuern auf jene Weise zu zahlen, die ihnen am praktischsten erscheint, und die Kosten für die Steuererhebung sollten so gering wie möglich gehalten werden. Bis heute haben Smiths Steuermaximen in modernen Steuersystemen, wenn auch leicht modifiziert, ihre Gültigkeit behalten. Die Kulturgeschichte der Steuer bietet jedoch auch eine Fundgrube an Kuriositäten, angefangen von skurrilen Steuerkreationen bis hin zu außergewöhnlichen Steuermodellen, die in der heutigen Gesellschaft unvorstellbar sind. Hervorzuheben ist etwa das Steuermodell der alten Griechen, im antiken Athen rund 500 bis 400 Jahre vor Christi.
Das Finanzwesen der Griechen unterschied sich bereits darin, dass sie keine zentrale Staatskasse hatten und auch keine regelmäßige Einkommensteuer entrichten mussten, sondern bestimmte Einnahmen für bestimmte Zwecke in unterschiedliche Kassen flossen. Diese waren zudem auch nicht öffentlich, sondern wurden von einzelnen Bürgern oder Gemeinschaften unterhalten. Denn für die Griechen war mehr von Priorität, wie sehr die Bürger auf das Gemeinwesen angewiesen waren, wie sehr sie sich als Teil eines Ganzen fühlten. Die Bürger von Athen waren grundsätzlich von direkten Steuern befreit. Der Großteil der Einnahmen stammte aus indirekten Steuern wie Zoll-, Markt- und Fremdensteuern. Fremde, auch Griechen, die zwar in Athen ansässig, aber keine Bürger Athens waren, mussten eine Kopfsteuer entrichten. Die sogenannten „Metöken“ standen zwar unter einem speziellen Schutz der Polis Athen, hatten dafür aber keinerlei politisches Mitbestimmungsrecht, konnten aber bei Bedarf zum Kriegsdienst einberufen werden. Auch die Prostitution, „das älteste Gewerbe der Welt“, wurde besteuert, genauso wie Güter, die den Bosporus passierten.
Der eklatanteste Unterschied gegenüber späteren Steuersystemen war jener, dass die Gelder nicht dem Staat zugute kamen, der in einem Gesamtbudget darüber verfügte. So konnten Überschüsse einer Kasse zwar in eine andere wechseln, aber generell wurden die Einnahmen direkt nach den notwendigen Ausgaben bemessen. Reiche und adelige Familien trugen ihren Reichtum gerne zur Schau, indem sie sich finanziell fast schon auf verschwenderische Weise mit Abgaben beteiligten. Zudem wurden sie auch deutlich mehr zur Kasse gebeten, da sie im Gegensatz zur breiten Masse der Bürger mehr politisches Mitspracherecht hatten.
Kein Griff ins Klo
In 5.000 Jahren der Steuergeschichte machten viele Politiker und Herrscher frei nach dem Motto „Not macht erfinderisch“ mit fiskalischer Kreativität von sich reden. Spatzensteuer, Jungfernsteuer, Leuchtmittelsteuer, Zuckersteuer, Fahrradsteuer – nicht einmal Spielkarten und Essigsäure blieben von einer Versteuerung verschont.
„Pecunia non olet“ – Geld stinkt nicht. Der Ausspruch stammt vom römischen Kaiser Vespasian, der in seiner Regierungszeit (69–79 n. Chr.) die Benutzung öffentlicher Toiletten im alten Rom versteuerte, um damit die leeren Staatskassen zu füllen. Titus, ein Sohn des Kaisers, warf seinem Vater Ungerechtigkeit vor. Um sich vor seinem Sohn zu rechtfertigen, dass es egal ist, woher das Geld kommt, und man in der Öffentlichkeit nicht unbedingt darüber reden muss, hielt ihm Vespasian Geld aus den ersten Einnahmen unter die Nase und fragte ihn, ob das Geld stinke. Titus verneinte und der Kaiser antwortete darauf mit „Atqui e lotio est“ – und doch ist es vom Urin. Daraus entwickelte sich das geflügelte Wort „Geld stinkt nicht“.
Noch älter als die Latrinensteuer ist das Nilometer im alten Ägypten. Mit diesem wurden jährlich die Überschwemmungen des Nils gemessen. Denn je höher der Stand des Nils war, desto besser fiel die Ernte aus, und dementsprechend wurde auch die Erntesteuer eingehoben.
15 Jahrhunderte später erwies sich auch der russische Zar „Iwan der Schreckliche“ als äußerst erfinderisch in Bezug auf Steuern: Gelder auf Flinten, Festungen und Salpeter, Steuern auf die Beförderung von Beamten und auf Schützen sind nur einige der skurrilen Abgaben, die während seiner Herrschaft etabliert wurden.
1699 führte Zar „Peter der Große“ die Bartsteuer ein – ob die Steuer hauptsächlich als Einnahmequelle diente oder auf unsanfte Art und Weise Russland dem modernen Westen näherbringen sollte, ist nicht klar. Die Steuer war nach Ständen gestaffelt und horrend hoch. Die Bürger waren gezwungen ihre Bärte abzuschneiden oder mussten Buße zahlen, wenn sie diesen behalten wollten. Da eine Bartrasur jedoch als Verhöhnung des Gottesbildes im Menschen galt, mussten tiefgläubige Russen eine Steuer entrichten, um ihren Bart zu behalten.
Obwohl inzwischen ein Großteil dieser kuriosen Steuern abgeschafft wurde, gibt es nach wie vor Länder, deren Politiker sich sehr erfindungsreich geben, wenn es um neue Einnahmequellen geht.
Nobelpreis-Spenden
Im mormonischen US-Bundesstaat Utah muss jeder, der aus geschäftlichen Gründen leicht bekleidet oder gar nackt auftritt, eine zusätzliche Steuer von zehn Prozent zahlen – eine Maßnahme, die also vor allem SchauspielerInnen und StripteasetänzerInnen betrifft. Und der amerikanische Fiskus macht nicht einmal vor einem Nobelpreisträger halt: Wenn ein US-Bürger diesen renommierten Preis und somit das Preisgeld von rund einer Million Euro erhält, muss er dieses versteuern. Kein Wunder also, dass das Preisgeld so oft gespendet wird.
Webtipp:
Bundeszentrale für politische Bildung:
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]]>Breitband für alle
Die massenhafte Anwendung von Smartphones & Co. wäre ohne die breite Unterstützung des Staates beim Ausbau von Daten-Highways und WLAN nicht möglich. Fast ein Drittel der österreichischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten würde ohne Förderung nicht mit High-Speed-Internet versorgt werden. Mit der Breitband-Fördermilliarde des BMVIT soll bis 2020 High-Speed-Internet auch dort errichtet werden, wo es für Privatunternehmen nicht rentabel ist.
2013 lag Österreich mit einer Forschungsquote von 2,81 Prozent des BIP auf Platz fünf in der EU hinter Finnland, Schweden, Dänemark und Deutschland, wobei der Anteil öffentlicher Gelder (inklusive EU-Förderungen) mit 41 Prozent im internationalen Vergleich außergewöhnlich hoch ist.
Global Innovation Index
Doch hohe Forschungsinvestitionen bedeuten nicht zwangsläufig viele Innovationen, denn es gibt keine lineare Beziehung zwischen F&E, Innovationen und Wirtschaftswachstum. Entscheidend sind etwa gute Verbindungen zwischen Forschung und Wirtschaft sowie die breite Streuung auf verschiedene Gebiete. Innovationen abseits von Technik und Forschung können, wie etwa in Großbritannien auf dem Gebiet der Musik, durchschnittliche F&E-Ausgaben durchaus ausgleichen. Laut aktuellem Global Innovation Index liegt Großbritannien in puncto Innovationsleistung deutlich vor Österreich, das hinter einigen Staaten mit niedrigeren F&E-Quoten auf Platz 20 rangiert.
Die EU hat drei Prozent F&E-Quote als Ziel bis 2020 definiert. „Wir wollen bis dahin 3,76 Prozent erreichen, wobei zwei Drittel der Forschungsgelder von privaten Unternehmen und ein Drittel vom Staat kommen sollen“, erklärt Mariana Karepova, FTI-Expertin im Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie. Das Ministerium ist für den Großteil der Förderungen in der angewandten und wirtschaftsnahen Forschung zuständig.
Eine wesentliche Basis für radikale Innovationen bildet die Grundlagenforschung, die praktisch zur Gänze von öffentlichen Institutionen abgedeckt wird und in den Bereich des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft fällt. Mit einem BIP-Anteil von 0,52 Prozent (2011) liegt Österreich bei der Grundlagenforschung hinter vergleichbaren OECD-Ländern.
Kooperation mit der Wirtschaft
Seit 2002 sind die heimischen Universitäten autonom und können daher beispielsweise auch Patente anmelden, aus wissenschaftlichen Projekten Erträge erzielen und Kooperationen mit Unternehmen eingehen. Das erleichtert den Wissenstransfer, birgt aber theoretisch auch die Gefahr, dass mit Steuergeldern finanzierte Forschungsergebnisse von (kooperierenden) Unternehmen billig oder gratis genutzt werden. Dem sollen unter anderem eigene IP-Strategien zum Schutz des geistigen Eigentums (Intellectual Property) der Forschungsinstitutionen vorbeugen. Der internationale Trend jedenfalls ist klar: Unternehmen reduzieren ihre Forschungskosten. Mazzucato liefert dafür jede Menge Beispiele: „Unbestritten ist (jedoch), dass die privaten Pharmafirmen, als sie ihre Forschungsausgaben zurückfuhren, immer mehr Geld für den Rückkauf eigener Aktien aufwendeten. Damit trieben sie die Kurse ihrer Unternehmen in die Höhe, was sich wiederum auf den Wert von Aktienoptionen und damit auf die Bezahlung hochrangiger Manager auswirkte, bei denen Aktienoptionen oft ein Gehaltsbestandteil sind.“ Aus den Finanzberichten von Apple etwa ginge hervor, „dass das Unternehmen mit wachsendem Erfolg ein neues Produkt nach dem anderen auf den Markt brachte, aber das Verhältnis von F&E-Ausgaben zum Umsatz gleichzeitig kontinuierlich zurückging“.
Ist Österreich anders?
In Österreich war das erklärte Ziel, trotz Krise mithilfe einer antizyklischen Investitionspolitik die Forschungsabteilungen der Unternehmen im Land zu halten. „Das ist uns auch gelungen“, so Karepova. Von 2002 bis 2011 ist die Zahl der Beschäftigten in Forschung und Entwicklung von rund 39.000 auf über 61.000 gestiegen. „Wir haben errechnet, dass in diesem Bereich jeder Fördereuro der heimischen Wirtschaft Umsätze im Wert von zehn Euro bringt. Mit 36.000 Fördereuros kann ein Arbeitsplatz neu geschaffen oder ein bestehender nachhaltig gesichert werden.“ Jedes vom BMVIT geförderte Projekt wird drei Jahre nach dem Ende evaluiert.
In Zusammenhang mit dem EU-Forschungs- und Innovationsprogramm 2020 wurden auch in Österreich zahlreiche Ideen, Empfehlungen und Maßnahmen ausgearbeitet, um Österreich bezüglich F&E weiter voranzubringen. 2011 etwa hat die Bundesregierung die FTI-Strategie „Auf dem Weg zum Innovation Leader“ präsentiert. 2013 hat der Rat für Forschung und Technologieentwicklung dazu im „Weißbuch zur Steuerung von Forschung, Technologie und Innovation in Österreich“ konkrete Reformschritte präzisiert, unter anderem für eine schnellere und transparentere Bereitstellung von Fördermitteln für Forschung und Innovation. Einige Vorschläge wurden bereits umgesetzt, zum Beispiel gibt es heute insgesamt vier Wissenstransferzentren an Universitäten, die dazu beitragen sollen, das von Hochschulen erzeugte neue Wissen gesellschaftlich nutzbar zu machen.
Verbesserungsbedarf
Doch bis 2020 gibt es noch einiges zu tun, selbst wenn der föderalistische Förderdschungel schon etwas gelichtet wurde. Die schon länger geforderte Transparenz will sich auch noch nicht so recht einstellen. Es gibt zwar Online-Portale, die etwa Unternehmen einen Überblick über Fördermöglichkeiten bieten. Doch wer von wem und wie gefördert wurde, ist dort nicht nachvollziehbar. Auf transparenzportal.gv.at gibt es ebenfalls einen allgemeinen Überblick und man kann überprüfen, welche Förderungen und staatlichen Leistungen man selbst in Anspruch genommen hat. Die Suche nach dem Stichwort „Bundesforschungsdatenbank“ etwa ergab sogar bei den Ministerien keine Treffer. Der Link zur Förderungsliste als Ausschnitt aus der Bundesforschungsdatenbank war erst auf Anfrage zu bekommen. Vor einigen Monaten kritisierte der Präsident des Österreichischen Patentamts, Friedrich Rödler, im „Format-Extra“ zum Forum Alpbach 2014 die heimische „Fragmentierung der Zuständigkeiten“ und forderte das One-Stop-Shop-Prinzip für den Innovationsbereich. Derzeit würde aus 30 bis 40 Prozent aller Anmeldungen beim Patentamt gar kein Patent, weil die eingereichten Innovationen schon längst erfunden sind. Auch Förderinstitutionen würden nur selten prüfen lassen, ob eine „Innovation“ nicht bereits zum Patent angemeldet ist.
Der Weg zum Innovation Leader ist manchmal steinig und letztendlich darf man sich wie Mariana Mazzucato fragen, ob die Innovations- und Risikofreude des Staates findigen UnternehmerInnen und internationalen Konzernen vielleicht mehr nützt als der Allgemeinheit.
Webtipp:
Link zur Liste der Forschungsförderungen und Forschungsaufträge des Bundes 2013:
tinyurl.com/n6syf6n
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]]>Quote ist nicht gleich Abgabenquote
Tatsächlich wies Österreich für das Kalenderjahr 2012 eine Abgabenquote von 43,2 Prozent aus, wohingegen der Durchschnitt für alle Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lediglich 34,5 Prozent betrug. Diese Diskrepanz scheint auf den ersten Blick das Argument der BefürworterInnen einer Steuersenkung zu untermauern. Allerdings wird hierbei übersehen, dass ein länderübergreifender Vergleich von Abgabenquoten nur bedingt zulässig ist, da Staaten ihre Sozialsysteme unterschiedlich organisieren. Um dies zu verstehen, muss man wissen, wie die Abgabenquote errechnet wird.
Laut Definition der OECD umfasst die Abgabenquote sämtliche Steuern und Abgaben, die an den Staat oder an eine seiner Körperschaften geleistet werden. Zahlungen für einen konkreten Leistungsaustausch (z. B. Abwassergebühr) sind nicht darin enthalten. Dies scheint zunächst klar zu sein, doch treten in vielen Fällen auch Abgrenzungsschwierigkeiten auf. Besonders im Bereich der Transfers und der Sozialversicherungsbeiträge tritt dieses Problem ganz offenkundig zutage.
Verzerrtes Bild
Werden die staatlichen Förderungen in Form von direkten Zahlungen, d. h. Transfers, gewährt, wie etwa die Familienbeihilfe in Österreich, dann sind zunächst Steuern und Abgaben vom Staat zu erheben, um diese dann wieder an die Haushalte weiterzugeben. Andererseits können solche Unterstützungen auch in Form von Steuerermäßigungen gewährt werden, wie es beispielsweise Frankreich mit seinem Familiensplitting oder Deutschland mit dem Ehegattensplitting und dem Kinderfreibetrag in der Einkommensteuer macht. Im ersten Fall steigen zunächst die Steuereinnahmen und folglich auch die Abgabenquote, wohingegen Steuerermäßigungen die Abgabenquote niedrig halten.
In beiden Fällen kommt den Personen aber eine staatliche Förderung zugute, weshalb der Unterschied der Abgabenquote bei differenzierter Ausgestaltung von Förderungen keine Aussage über die effektive Belastung der Haushalte zulässt.
Auch im Bereich der sozialen Absicherung gibt es gravierende Unterschiede. Viele Staaten setzen hierbei auf die Einhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, welche grundsätzlich in der Abgabenquote enthalten sind. Allerdings werden nur solche Beiträge erfasst, welche sowohl verpflichtend als auch direkt an den Staat oder eine seiner Körperschaften bezahlt werden müssen. Nicht umfasst sind daher alle freiwilligen Zahlungen, unabhängig davon, ob sie an öffentliche oder private Institutionen gezahlt werden. Aber es sind auch verpflichtende Beiträge ausgeschlossen, wenn diese an privatrechtliche Organisationen zu leisten sind. Besonders im Bereich der Pensionsvorsorge haben solche Beiträge aber teils ein beträchtliches Ausmaß, da viele Länder die Beitragseinhebung und -verwaltung an private Versicherungen oder Pensionskassen ausgegliedert haben (beispielsweise Dänemark, Finnland, die Niederlande, die Schweiz oder Schweden). Das Außerachtlassen der freiwilligen oder verpflichtenden Zahlungen an private Institutionen bringt folglich große Verwerfungen in der Aussagekraft der offiziellen Abgabenquote. Auch die nicht berücksichtigten Zahlungen stellen Belastungen für die Personen dar und werden aus denselben sozialpolitischen Überlegungen heraus geleistet.
Teilweise bereinigt
Um die Tragweite der Problematik sichtbar zu machen, wurde versucht, die Abgabenquote zumindest hinsichtlich nicht erfasster Beiträge zur sozialen Sicherung zu adaptieren. Hierfür wurden die öffentlichen Abgaben laut Definition der OECD um freiwillige Sozialversicherungsbeiträge und von privaten Haushalten geleistete Beiträge an Pensionskassen und -versicherungen sowie private Gesundheitsausgaben ergänzt.
Somit wird weitgehend der Tatsache Rechnung getragen, dass unterschiedliche Staaten die soziale Absicherung anders organisieren.
Schweiz: Überdurchschnittlich hoch
Insgesamt weist Österreich zwar weiterhin eine überdurchschnittlich hohe adaptierte Abgabenquote auf, doch der Abstand zum Durchschnitt ist deutlich geringer als bei Betrachtung der offiziellen Quote. Aber viel bedeutender ist die Erkenntnis, dass vermeintliche Niedrigsteuerländer ihre BürgerInnen nicht minder belasten als andere. Besonders eklatant ist dies in der Schweiz sichtbar. Die offizielle Abgabenquote betrug hier im Jahr 2012 zwar nur 28,2 Prozent, weshalb die Schweiz im internationalen Vergleich im unteren Drittel lag. Allerdings müssen Schweizer ArbeitnehmerInnen keine Pensionsversicherungsbeiträge im Sinne der OECD-Definition bezahlen, sondern sind gesetzlich dazu verpflichtet, Beiträge an private Pensionskassen zu leisten. Rechnet man dies und private Gesundheitsausgaben ebenfalls in die Abgabenquote ein, so steigt diese plötzlich auf 40,8 Prozent. Somit liegt auch die Schweiz über dem Durchschnitt und sogar im oberen Mittelfeld.
Für die USA liegen zwar keine Daten hinsichtlich des Ausmaßes der privaten Beiträge zu Pensionskassen und -versicherungen vor, doch laut OECD sorgt nahezu die Hälfte der Erwerbsbevölkerung privat für die Pension vor. Dies legt den Schluss nahe, dass auch hier die Beiträge ein beträchtliches Ausmaß annehmen, weshalb die effektive adaptierte Abgabenquote der USA zumindest den OECD-Durchschnitt erreichen wird.
Weiters ist zu bedenken, dass die Bereinigung der Abgabenquote nur hinsichtlich der Finanzierungsquellen für soziale Sicherungssysteme vorgenommen wurde. Unterschiedliche Gestaltungen von Sozialleistungen, d. h. ob diese in Form von Transfers oder Steuererleichterungen gewährt werden, wurden nicht berücksichtigt. Würde auch hier eine Bereinigung vorgenommen werden, dann würden sich die Abstände noch weiter verkleinern. So ist ein Teil der verbleibenden Diskrepanz zwischen der österreichischen und deutschen Abgabenquote dadurch zu erklären, dass Deutschland z. B. bei Familienleistungen einen stärkeren Fokus auf steuerliche Begünstigungen legt. Würde der Anteil der steuerlichen Förderung in beiden Ländern gleich sein, dann hätte Deutschland eine um einen Prozentpunkt höhere Abgabenquote.
Kein Widerspruch zu Prosperität
Abschließend ist festzuhalten, dass die Forderung nach einer allgemeinen Steuersenkung mit Verweis auf die vergleichsweise hohe Abgabenquote zu kurz greift. Ein Blick auf die adaptierte Abgabenquote zeigt, dass sieben von zehn der wirtschaftlich erfolgreichsten OECD-Staaten (gemessen in BIP pro Kopf) eine überdurchschnittliche Abgabenquote aufweisen. Eine höhere Abgabenquote ist also kein Widerspruch zu wirtschaftlicher Prosperität. Vielmehr ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Steuern und Abgaben zur Finanzierung des Sozialstaates in einem bestimmten Ausmaß notwendig sind. Diese Prämisse wird wohl für alle Staaten mit einem vergleichbar ausgebauten Wohlfahrtsstaat gelten, was die Betrachtung der adaptierten Abgabenquote untermauert. Somit kann man nur zur Schlussfolgerung kommen, dass die Forderung nach der Senkung der Abgabenquote eigentlich eine Forderung nach dem Abbau des Wohlfahrtsstaates ist.
Webtipps:
Aspekte der Steuerbelastung und Steuergerechtigkeit in Österreich:
tinyurl.com/kkeklkj
Umverteilung durch den Staat Österreich:
tinyurl.com/kuoulnu
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]]>Die Frage nach dem Warum
Zur Beantwortung der Frage nach dem Warum der Vermögenskonzentration sind mehr und bessere Daten zur Vermögensentstehung notwendig. Wurde das Vermögen erarbeitet und erspart, geerbt, geschenkt, oder kam es durch Kursgewinne zustande? Der prominenteste Vermögensforscher, Thomas Piketty, der jüngst einen viel beachteten Auftritt in der Arbeiterkammer Wien hatte, fordert hierzu vehement Datentransparenz. Dies wäre ein unumgänglicher erster Schritt zur Aufklärung über die ungleichen sozialen Verhältnisse. Wenig weiß man schließlich zu den Privatstiftungen im In- und Ausland, zu den in Steueroasen gebunkerten Vermögen, aber auch zum Unternehmensvermögen und zu Teilen des Finanzvermögens. Bankgeheimnis und der steuerliche Regelrahmen, mit seiner Schieflage und seinen Ausnahmen, nutzen den Vermögenden.
Vermögende und Politik
Thomas Piketty achtet in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ besonders auf die Top-1-Prozent, am wichtigsten erachtet er aber einen noch kleineren Kreis von Vermögenden, die Top-0,1-Prozent. In Österreich wären dies nur etwa 4.000 Haushalte. Eine so massive Vermögenskonzentration impliziert auch eine Konzentration von Macht und damit einher geht die Gefahr, dass demokratische Institutionen inhaltlich ausgehöhlt werden. Am Markt entsteht Vermögensungleichheit, in vermögenden Familien wird sie dynastisch ausgebaut, doch erst von der Politik wurde sie über billige Privatisierungen, Deregulierung und Steuersenkungen befördert. Die Vermögenden können leichter selbst politische Ämter übernehmen oder sie können jene Parteien unterstützen, die ihre Interessen verfolgen. An Gleichheit orientierte Politik hingegen hat kaum noch ein Instrumentarium zum Gegensteuern zur Verfügung. Dieses Dilemma ist seit Langem bekannt und war bereits ein Thema in der Großen Depression der 1930er-Jahre. US-Präsident Franklin D. Roosevelt mahnte damals, dass politische Gleichheit bedeutungslos werde, angesichts der Ungleichheit in der Wirtschaft. Die Problematik ist folgende: Würden Reiche dasselbe von der Politik wollen wie Arme, dann könnte dies das Gemeinwohl stärken, da die Vermögenden ja auf jeden Fall in der Gesellschaft durchsetzungsfähiger sind. Die Vermögenden haben – wie wir aus Studien wissen – jedoch andere Vorstellungen zu Sozialausgaben und Budgetkonsolidierung als der Rest der Bevölkerung. Soziale Themen sind ihnen weniger wichtig. Reagiert die Politik nun stärker auf die Vorstellungen der Vermögenden, so werden die Interessen des Rests beeinträchtigt.
Doch können wir in allen gesellschaftlichen Fragen von einer einheitlichen Orientierung der Vermögenden ausgehen? Aus den USA wissen wir, dass Milliardäre wie die Koch-Brüder massiv die republikanische Tea Party unterstützen. Andererseits gibt es auch Vermögende, die den Demokraten finanziell zur Seite stehen. Daher mag es sein, dass sich konservative und liberale Milliardäre in ihrer Wirkung auf die Politik ausgleichen. Doch dies kann von der Mitte abwärts niemanden beruhigen, denn es sind jedenfalls die Vermögenden, die gegenüber dem Rest viel mehr an Einflussmöglichkeiten haben, und dies ist schlecht für eine Demokratie. Dabei geht es nicht um eine direkte Kontrolle der Politik durch die Vermögenden, sondern es geht um immense Möglichkeiten der Beeinflussung.
Die Vermögenden vermögen, und dies ist hinreichend für eine Schieflage, weil die Politik dann beginnt, von Sachzwängen zu sprechen. Wenn Vermögende ihre Interessen dann auch in Einzelfällen konkret verfolgen, dann reichen ihre Möglichkeiten von Lobbying, Parteispenden, einer stärkeren Regelausnutzung und -missachtung bis zum Agenda Setting. Durch ein geschicktes Platzieren von Themen können öffentliche Debatten beeinflusst werden. Gäbe es eine funktionierende Kontrolle durch die Medien, so wäre diese Schieflage weniger schlimm. Doch die vierte Gewalt bleibt von der Vermögenskonzentration nicht unberührt.
Öffentliche Debatten zum Vermögen
Die Bevölkerung bleibt zum Reichtum und speziell zu den Beziehungen der Vermögenden mit der Politik auch aufgrund der Datenschwächen auf Vermutungen angewiesen. Politische Macht ist leicht an Ämtern zu erkennen, doch wirtschaftliche Macht wird auch ohne politische Ämter ausgeübt. Wie können die Interessen der Top-0,1-Prozent vom Rest der Gesellschaft erkannt werden? Die Diskussion von Verteilungsfragen wird auf verschiedenen Wegen erschwert: So wird der eigene Reichtum von Vermögenden gerne relativiert. Diese reihen sich dann in der Selbstwahrnehmung irgendwo in der Mitte einer Gesellschaft ein. Wer aber in der Mitte steht, muss seinen Reichtum nicht begründen.
Vorgetäuschtes Allgemeininteresse
In den USA wird auch viel diskutiert, dass es zu einer großen Verkehrung kommt, die Reichen sehen sich selbst als Opfer von Kampagnen. Und aktiv können Vermögende sogar mit Graswurzelbewegungen reagieren. Diese sind erfindungsreiche volksnahe Initiativen der Vermögenden, die in ihrer Form Basisbewegungen durchaus ähneln und sehr hilfreich sind, wenn es um die ureigenen Interessen der Vermögenden geht, etwa um die Vermeidung von Vermögensbesteuerung. Je eher es Vermögenden gelingt, symbolische Macht zu erlangen, desto eher können sie ihre eigenen Interessen fälschlich als Allgemeininteressen ausweisen.
Abwertend sprechen manche von Armutskultur und argumentieren, dass manche Arme ohnedies selbst verschuldet in Not seien, da ihr geringes Einkommen durch Fehlverhalten und Charakterschwächen erklärbar sei. Diesen Armen mangle es an Entschlossenheit, Bereitschaft zum Verzicht, Fleiß und Risikoorientierung. Die Reichtumskultur wäre dann eine von Sparsamkeit, Mut, Innovation und Wohltätigkeit. Doch psychologische Studien zeigen, dass Reiche bei Verhaltensvergleichen in Experimenten schlechter abschneiden als Arme. Forscher platzierten sich etwa auf Straßen bei Fußgängerübergängen. Die Fahrer von Luxuswagen hielten weit seltener. Die experimentelle Forschung zeigt zudem, dass es an Empathie und Rücksichtnahme bei Reichen mangelt und dass Betrügen und Täuschen eher akzeptiert werden. Eine wohltätige Verwendung von Teilen des erworbenen Reichtums wird daher die Akzeptanz der Vermögenskonzentration stärken.
Besonders ärmere Menschen glauben an das sinnvolle Wirken von vermögenden Wohltätern. Dass die Demokratie aber auch über ein für die Gemeinschaft eingesetztes Vermögen geschwächt werden kann, ist schwer einzusehen. Insbesondere wenn der Sozialstaat seit Jahrzehnten als Bürokratie attackiert wird.
Mehrheitsbefund
Die Beschreibungen in diesem Artikel basieren auf den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien. Der Befund von den verhängnisvollen Folgen von Vermögenskonzentration für das Gemeinwesen wird von vielen geteilt. Der Aussage „Zu großer Reichtum einiger weniger führt zu gesellschaftlichen Problemen“ stimmt in Österreich eine deutliche Mehrheit zu.
Linktipp:
Beitrag und Video der A&W-Diskussion „Lektionen aus Pikettys Thesen“ zum Nachlesen und -sehen.
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]]>Nationale Zuständigkeit
Die fehlende Steuerharmonisierung ist auch für Heinz Zourek, den Generaldirektor Steuern und Zollunion der Europäischen Kommission, ein nicht zu unterschätzendes Problem: „Weil Steuerangelegenheiten in der EU hauptsächlich noch als ausschließlich nationale Zuständigkeit angesehen werden und jede Gemeinschaftsvorschrift eine einstimmige Beschlussfassung erfordert, dauert es immer sehr lange, bis man zu einer abgestimmten Vorgangsweise kommt.“ Dabei hätten alle etwas von einer stärkeren Europäisierung der Steueragenden, „weil wir damit nicht nur den Betrug erheblich schwerer machen, sondern auch zu einer faireren Verteilung der Lasten kommen könnten“.
In den EU-27 ist es zwischen 1995 und 2013 zu einer deutlichen Abnahme des durchschnittlichen Körperschaftssteuersatzes von 35 Prozent auf 23 Prozent gekommen. Bereits zwischen 1980 und 1995 war der Durchschnitt in ähnlichem Ausmaß gesunken. Das heißt, wir sprechen hier von einem Steuerwettlauf nach unten, der mittlerweile bereits dreieinhalb Jahrzehnte lang anhält.
Legale Steuervermeidung
Derzeit scheinen Großunternehmen, Wirtschaftskanzleien, SteuerberaterInnen und Banken der EU immer einen Schritt voraus zu sein, wenn es um das Vertreten privater Gewinninteressen und die Vermeidung von Steuern geht. Vom Steuerwettlauf profitieren vor allem internationale Unternehmen mit Standorten in mehreren Ländern. Sie verschieben ihre Gewinne durch „aggressive Steuerplanung“ in jene Länder, wo die geringsten Steuern anfallen. Dazu bedarf es gar keiner komplexen Konstrukte, es reicht die Verrechnung von Rohstoffen oder Fertigprodukten von einem Standort zum nächsten. So erfolgt die Preisgestaltung nicht am freien Markt, sondern bloß innerhalb des Unternehmens, also von der Unternehmenszentrale geplant und von der EU geduldet.
Je größer und internationaler ein Unternehmen ist, desto einfacher funktioniert diese völlig legale „Verrechnungspreismanipulation“. So zahlte die Kaffeekette Starbucks in Deutschland zehn Jahre lang und in Großbritannien 15 Jahre lang keinen einzigen Cent an Steuern. Dazu locken viele EU-Länder Unternehmen mit immer niedrigeren Steuersätzen. Zypern verlangt beispielsweise bloß 12,5 Prozent, Bulgarien zehn Prozent und in Irland kann man die Steuersätze überhaupt gleich neu verhandeln. Der Konzern Apple und die irische Regierung einigten sich auf einen Satz von zwei Prozent.
Hohe Verluste
Die Verluste durch die Nichtbesteuerung von Unternehmensgewinnen betragen ein Vielfaches von den Verlusten durch die viel zitierten Steuerhinterziehungen in ferne Steueroasen. Und dabei sind Erstere völlig legal! Der für Steuerfragen zuständige EU-Kommissar Algirdas Šemeta geht von einem Verlust von einer Billion Euro pro Jahr aus.
Kein Wunder also, dass GewerkschafterInnen schon seit Langem einen EU-weiten Mindestkörperschaftssteuersatz fordern, der nicht unterboten werden soll. Heinz Zourek hält diese Forderung zwar grundsätzlich für richtig, stuft die Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung in nächster Zeit aber offenbar als eher gering ein: „Auf dem Weg dahin haben wir als ersten Vorschlag einmal darauf abgezielt, eine einheitliche gemeinsame Berechnungsgrundlage für die nationalen Körperschaftssteuern einzuführen.“ Bei der Steuerbelastung geht es nämlich nicht nur um die Höhe der Steuersätze, sondern auch um die Definition der Steuerbemessungsgrundlage, von der die Gewinnsteuern berechnet werden.
Während die alten Probleme noch nicht einmal ansatzweise gelöst sind, stehen im Übrigen schon die nächsten Herausforderungen vor der Tür. Der immer weiter zunehmende Internethandel erfordert besondere Aufmerksamkeit. Schließlich werden oft überhaupt keine Waren mehr gehandelt, sondern nur mehr Film-, Musik- oder Softwaredateien heruntergeladen. Die Festlegung, woher die „Lieferung“ kommt und wo die fälligen Steuern theoretisch zu bezahlen wären, erweist sich dabei als große Herausforderung. Diese wird noch größer, wenn Firmen wie Google oder Facebook ihre Leistungen den KundInnen bzw. UserInnen gratis zur Verfügung stellen.
Illegale Steuervermeidung
Wo die – wenn auch sehr weitreichenden und umfassenden – legalen Möglichkeiten nicht ausreichen, verlassen manche Unternehmen schon einmal den Boden der Legalität. Am naheliegendsten ist dabei das Verheimlichen von relevanten Tatbeständen bzw. die absichtliche unvollständige Informierung der Finanzbehörden. Aber es gibt auch viel raffiniertere Methoden, wie Zourek berichtet: „Zum Beispiel kann man ein Unternehmen dazu verwenden, Güter an andere Unternehmen zu verkaufen, die dabei anfallende Mehrwertsteuer zu kassieren, aber noch vor dem Termin der Abrechnung mit dem Finanzamt einfach verschwinden. Der Fiskus muss dann wohl dem Käufer die sogenannte Vorsteuer vergüten, wenn dieser die Ware weiterverkauft hat, bekommt aber selbst nie die ihm zustehende erste Zahlung.“ Wenn man diese Praxis über mehrere Mitgliedsstaaten hinweg ausdehnt, sprechen die SteuerexpertInnen von einem Karussellbetrug.
Gegensteuern seitens der EU?
Die Europäische Kommission hat bereits 2012 festgestellt, dass „die Steuereinnahmen der Mitgliedsstaaten insgesamt womöglich nur so gut geschützt sind, wie es der am schwächsten reagierende Mitgliedsstaat zulässt“.
Die Kommission hat also offenbar die Probleme richtig erkannt, beschränkt sich aber im Wesentlichen auf Empfehlungen an die nationalen Regierungen. So sollen zum Beispiel bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen so umgeschrieben werden, dass keine zweifache Steuerbefreiung mehr möglich ist. Die nationalen Finanzbehörden sollen außerdem künstliche Gebilde, deren offenbar einziger Zweck die Steuervermeidung ist, nicht mehr berücksichtigen.
Dass solche Vorschläge relativ zahnlos sind, liegt auf der Hand. Einerseits würden wohl nicht alle Länder bereit sein, ihre Abkommen in diesem Sinne zu novellieren – und selbst wenn, kann eine solche Erneuerung Jahre dauern. Das Europäische Parlament schlägt dagegen vor, dass die Kommission einfach im Namen aller Mitgliedsstaaten Steuerabkommen mit Drittländern aushandeln soll, die ihrerseits wiederum eine Grundbedingung für den positiven Abschluss von Handelsvereinbarungen sein sollen.
Mangelnder Wille
Dieser interessante Ansatz ist derzeit wegen des mangelnden Willens zur Steuerharmonisierung allerdings genauso schwer umsetzbar wie der Körperschaftssteuer-Mindestsatz oder die nachhaltige Trockenlegung von Steueroasen. Dazu Heinz Zourek: „Es bedarf des politischen Willens aller Mitgliedsstaaten!“ Ohne größeren und vor allem gemeinsamen Druck der Interessenvertretungen der Mitgliedsstaaten wird sich dieser Wille aber nicht formieren.
Laut Zourek ist es aber nicht hoffnungslos: „In letzter Zeit hat sich immer stärker die Erkenntnis durchgesetzt, dass man den Betrug oder Missbrauch nur dann wirklich erfolgreich bekämpfen kann, wenn man auch grenzüberschreitend zusammenarbeitet.“
Blog-Tipp:
blog.arbeit-wirtschaft.at/killing-financial-transaction-tax/
Mehr zum Thema gibt es in der GPA-djp-Broschüre „Steuerpolitik. Analysen und Vorschläge für mehr Steuergerechtigkeit“. Die Beiträge stammen unter anderem von Heinz Zourek, Kurt Bayer und Martin Saringer.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor martin.bolkovac@gpa-djp.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Registrierkassenpflicht
Mit einer umfassenden Registrierkassenpflicht wäre nach Meinung vieler bereits ein wichtiger und lukrativer Schritt zur Betrugsbekämpfung gesetzt. Die heftige Abwehrreaktion diverser Wirtschaftskammerfunktionäre insbesondere aus dem Gastronomiebereich verwundert, wenn man bedenkt, dass die Registrierkassenpflicht bereits jetzt für Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 150.000 Euro besteht.
KollegInnen aus der Steuerfahndung und Betriebsprüfung der Finanzämter sehen allerdings die Erwartungen, die an die Ausweitung des Kreises der Verpflichteten geknüpft werden, als weit überzogen an. Im Zusammenhang mit Registrierkassen und Kassensystemen sehen sie sich nämlich der viel tiefer gehenden Problematik gegenüber, dass Kassensysteme relativ einfach manipuliert werden können.
Das ARD-Fernsehmagazin „Plusminus“ deckte kürzlich auf, wie das Schwarzgeschäft trotz Registrierkasse funktioniert: Ein kurzer Dreh am Schlüssel der Kasse genügt, um die Umsätze erheblich schrumpfen zu lassen. Eine andere beliebte Methode ist der Trainingsmodus, in welchem Umsätze zwar per Bon ausgewiesen, nicht aber gespeichert werden. So bekommen selbst Angestellte nicht mit, wenn der Chef in die eigene Tasche wirtschaftet. Bei Recherchen mit versteckter Kamera boten Händler sogar an, beim Kauf der Kasse die entsprechende Software oder Tools zur Manipulation als zusätzliches Leistungsmerkmal gleich mit zu verkaufen.
Der OECD-Bericht „Umsatzverkürzung mittels elektronischer Kassensysteme – eine Bedrohung für die Steuereinnahmen“ aus dem Jahr 2013 verweist neben den erwähnten Manipulationsmethoden noch auf etliche andere Hard- und Software-basierte Möglichkeiten1.
ExpertInnen schätzen den jährlichen Schaden für die Steuerkasse in Deutschland laut ARD auf fünf bis zehn Milliarden Euro. Umgelegt auf österreichische Verhältnisse bedeutet dies ein Schadensvolumen von rund einer Milliarde Euro.
Nur ein erster Schritt
Eine umfassende Registrierkassenpflicht kann also nur ein erster Schritt sein, ohne eine gesetzliche Pflicht zum Einbau von Sicherheits-Software in elektronische Kassen ist wohl eher von einem Placebo auszugehen. Dabei ist eine Lösung technisch machbar – mit einem Chip. Bei diesem Verfahren bekommt jede Buchung an der Kasse einen Schlüsselcode. Ein Prüfer könnte selbst Jahre später die Manipulation feststellen. Entsprechende Systeme gibt es bereits, allerdings werden sie bislang kaum genutzt. Zusätzlich müssen die Herstellung und der Vertrieb von Manipulations-Software verboten und die Manipulation selbst unter massive Strafdrohung gestellt werden, denn nur wenn sichergestellt wird, dass Registrierkassen nicht mehr einfach manipuliert werden können, ist die Beantwortung der klassischen Frage „Brauchen S’ eine Rechnung?“ mit „Ja, natürlich!“ auch tatsächlich ein Beitrag zur Vermeidung von Steuerhinterziehung.
Umsatzsteuer(Karussell)betrug
Immer wieder wird im Zusammenhang mit der Steuerreform auch die Bekämpfung von Betrugsmustern im Bereich der Umsatzsteuer eingefordert, die gemeinhin als Umsatzsteuerkarusselle bezeichnet werden. Nahezu sämtliche Umsatzsteuerbetrugsmodelle großen Stils bewegen sich zum Zwecke ausgeklügelter Verschleierungs- und Abschirmungsmaßnahmen über mehrere Staaten (Drittländer und Binnenmarkt). Die Finanz wird dabei nicht nur um die Umsatzsteuer geprellt, sondern muss auch die geltend gemachten Vorsteuern auszahlen. Österreich hat hier in den letzten Jahren erfolgreich zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs gesetzt. Engagierte und hochqualifizierte PrüferInnen der Finanzämter, der Großbetriebsprüfung und der Steuerfahndung haben in multilateralen Prüfungen wesentlich an der Aufdeckung und Zerschlagung von Betrugskartellen mitgewirkt. Als besonders hilfreich erweist sich dabei die Ausweitung des Reverse Charge System in der Unternehmerkette, womit die Auszahlung von Vorsteuerbeträgen an betrügerische Unternehmen verhindert wird. Die Lieferung von besonders betrugsanfälligen, meist hochpreisigen Gütern und Zertifikaten fällt nun unter diese Regelung. Damit ist es gelungen, den direkten Schaden durch Steuerausfälle in Österreich zu minimieren.
Der Fokus muss aber weiter darauf gelegt werden, Teilnehmer vom Markt zu nehmen, die als Zwischenhändler in solchen, als Karussell bezeichneten betrügerischen Unternehmensketten mitwirken. Wenn damit auch keine unmittelbaren Fiskalerträge zu erzielen sind, wird doch künftigen Steuerausfällen vorgebeugt und wesentlich dazu beigetragen, dass nicht andere, vor allem junge Mitgliedsstaaten in der EU regelrecht ausgeplündert werden. Laut EU-Rechnungshof schätzt man den Schaden durch Karussellbetrug europaweit immerhin auf mehr als 100 Milliarden Euro.
Gewinnverschiebung in Steueroasen
Die aktuelle Debatte um Luxemburgs Steuergeschenke an multinationale Konzerne richtet den Fokus wieder auf das Problem mit Steueroasen. Um die globale Steuerschuld zu verringern, verschieben multinationale Unternehmen ihre Profite gern in Steueroasen (siehe auch„Globales Geldverstecken“).
Dabei bieten sich vor allem zwei Wege an: Transferpreisgestaltung und interne Kredite. Liefert ein Konzern von einer Tochterfirma in Österreich an eine Tochter in Irland, wo das Produkt weiterverarbeitet oder auf dem Markt verkauft wird, und liegt der Transferpreis unter den eigenen Kosten samt Gewinnaufschlag, führt das zu einer Minderung der Gewinne der österreichischen Firma – und treibt die Gewinne der irischen Tochter in die Höhe.
Beträchtliche Ersparnisse
Ein niedriger Transferpreis bringt damit beträchtliche Steuerersparnisse, da die Steuersätze in Irland viel niedriger sind als in Österreich. Nur der Ansatz „korrekter“ Transferpreise, wie z. B. die Marktpreise im Handel zwischen unabhängigen Unternehmen (Fremdvergleichspreise), sind eine objektive Benchmark für die Ermittlung von steuerpflichtigen Gewinnen in jedem Land.
Die gleiche Logik gilt für interne Kapitalmärkte von großen Konzernen. Die Finanzierung inländischer Konzernaktivitäten durch ausländische Konzerngesellschaften führt zu einem Zinsaufwand in Österreich und damit zu einer Gewinnminderung, während die Zinseinkünfte im Ausland nicht oder nur gering besteuert sein können. Der interne Kredit verringert eindeutig die globale steuerliche Belastung des Konzerns zulasten Österreichs. Finden solche Gewinnverschiebungen aus Gründen der Steuerumgehung statt, ist es in der Regel Aufgabe der Spezialistinnen und Spezialisten der Großbetriebsprüfung, diesen einen Riegel vorzuschieben.
Akuter Personalmangel
Diese drei Beispiele stellen nur einen Ausschnitt der Tätigkeiten der KollegInnen der Finanzverwaltung dar. Wer will, dass die Einhaltung der Steuergesetze weiter in gewohnt hoher Qualität erfolgt, darf vor dem akuten Personalmangel nicht die Augen verschließen.
Der jüngst veröffentlichte Bericht des Rechnungshofes zum Risikomanagement und Personaleinsatz der Finanzverwaltung unterstreicht voll und ganz die langjährige Forderung der Finanzgewerkschaft nach mehr Personal.
Allein die vom Rechnungshof aufgezeigte Streichung von 190 Vollzeitkräften von 2008 bis 2012 bedeutet einen Nettoverlust für den Staat und die Steuerzahler von rund 80 Millionen Euro pro Jahr.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor otto.aiglsperger@goed.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Informationsaustausch
Die jüngste Regulierung zielt schwerpunktmäßig auf automatischen Informationsaustausch und die Abschaffung des Bankgeheimnisses ab. Weniger im Fokus stehen Briefkastenfirmen – Unternehmen, Stiftungen, Treuhandschaften und Trusts –, die offiziell von VerwalterInnen geführt werden und deren Begünstigte anonym bleiben. Die Konstruktionen benutzten das ursprünglich im angelsächsischen Kulturraum verankerte Berufsgeheimnis für AnwältInnen. Die zunächst von Jersey und der Schweiz genutzte Rechtsform wurde seit den 1960er-Jahren in anderen Jurisdiktionen eingeführt und wird heute besonders auf Jersey, den Cayman Islands und den Britischen Jungferninseln genutzt. Anders als häufig angenommen, beschränken sich anonyme Unternehmenskonstruktionen keinesfalls auf den angelsächsischen Rechtsraum. In Österreich können Geldflüsse über Treuhandschaften, Privatstiftungen und Aktiengesellschaften anonym bleiben. Zur Regulierung sollen öffentlich einsehbare Register eingeführt werden, in denen u. a. Daten über die Ausübung von Kontrolle und Besitz und Begünstigte online abzurufen sind. Öffentlich einsehbare Register werden bislang von verschiedenen Staaten der EU blockiert.
Eine weitere wichtige Baustelle ist die Steuerflucht und -vermeidung von Konzernen. Eine Arbeitsgruppe der OECD analysiert im Rahmen der 2013 begonnenen BEPS-Initiative (Base Erosion and Profit Shifting, deutsch: Aushöhlung der Besteuerungsgrundlage und Gewinnverschiebung) zunächst Probleme und arbeitet Regulierungsvorschläge aus. Die Initiative ist ein Fortschritt, weil bislang wenig Material zum Thema vorliegt. Ob Maßnahmen folgen, ist allerdings unklar. Versuche, die Konzernbesteuerung in der EU über die Einführung einer „gemeinsamen konsolidierten Körperschaftssteuerbemessungsgrundlage“ zu reformieren, sind bislang gescheitert, weil RegierungsvertreterInnen Nachteile für nationale Unternehmen befürchteten. Steueroasen spielen auf Zeit und versuchen, Regulierungen hinauszuzögern: Der Zeitplan zur Implementierung des automatischen Informationsaustausches sieht Übergangsfristen vor, für Österreich beispielsweise bis 2018. Bis dahin können Steueroasen weiter genutzt werden. Die Steuerflucht-Dienstleistungsbranche gewinnt Zeit, um nach neuen Geschäftsmodellen und etwaigen Lücken in der Gesetzgebung zu suchen oder die Umsetzung der Maßnahmen über Lobbyarbeit zu behindern.
Hinter den Möglichkeiten
Häufig werden fehlende Maßnahmen mit technischen Schwierigkeiten erklärt. Wenngleich die Regulierung aufgrund der Komplexität internationaler Steuer- und Finanzsysteme kein Pappenstiel ist, bleibt die Politik hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Einführung des automatischen Informationsaustausches und öffentlich einsehbarer Register für Unternehmen und Stiftungen sollte schneller erfolgen. Unternehmen sollten nach Ländern getrennt bilanzieren, womit Tricksereien eher auffallen würden. Der Informationsaustausch sollte auf Drittstaaten, insbesondere Steueroasen, ausgeweitet werden. Transaktionen mit nichtkooperativen Steueroasen sollten über Quellensteuern oder Nachbesteuerung erfasst werden. Finanz- und Wirtschaftspolitik im Rahmen der EU sollten nicht auf Austerität basieren, sondern auf der Einführung von Mindeststandards und umfassender Regulierung von Finanzakteuren. Dazu gehören Mindeststeuersätze für Unternehmen. Bezogen auf Österreich steht neben Transparenz im Sektor der Treuhandschaften und Unternehmen die geplante Aufhebung des Bankgeheimnisses auch für InländerInnen an. Bis 2018 soll es nur für AusländerInnen fallen. Dabei nutzt es nur Eliten und schadet ArbeitnehmerInnen und VerbraucherInnen, die höher belastet werden. Im Übrigen greift eine Vermögens- und/oder Erbschaftssteuer effektiv nur, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbehörden eingeschränkt wird, wie es in den meisten Staaten und bei Arbeitseinkommen sowieso schon üblich ist.
Kavaliersdelikt
Die Wirksamkeit jüngster Initiativen zur Abschaffung von Steueroasen kann nicht ausschließlich unter technischen Aspekten beurteilt werden. Aus gesellschaftlicher Perspektive muss gefragt werden, warum Steueroasen überhaupt lange akzeptiert wurden. Ulrike Herrmann erklärt dies mit dem Verhalten der Mittelschicht, sich nach oben hin zu identifizieren und nach unten hin abzugrenzen. Nach dem Motto „Wenn ich reich werde, tue ich das auch“ wurde Steuerflucht als Kavaliersdelikt wahrgenommen. Ein weiterer Grund ist das negative, über neoliberale Ideologie transportierte Image von Staat und Steuern. Nach Friedrich Hayek infantilisieren steuerfinanzierte Sozialausgaben die Bevölkerung. Milton Friedman behauptet, der Staat gebe generell so viel Geld wie möglich aus, vor allem zur Aufrechterhaltung von Parteien und eines Heeres von LobbyistInnen – Aussagen, die in dieser Einseitigkeit empirisch falsch sind. Große Anteile der Steuereinnahmen kommen unteren Bevölkerungsschichten zugute. In verschiedenen Fällen wurde nachgewiesen, dass Interessengruppen gezielt Fehlinformationen in den Diskurs einführen, beispielsweise unzutreffende Aussagen über Omas Sparbuch oder den „gläsernen Bürger“. Besonders suggestiv wirken bildliche Begriffe. Der Begriff „Steueroase“ verweist auf einen fruchtbaren Ort in der Wüste, nicht aber auf intransparente Konten und Briefkastenfirmen. „Steuerflucht“ unterstellt, dass eine verfolgte Person flieht, nicht aber, dass Geschäftsleute das System unfair ausnutzen.
Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass Steueroasen ein Zweiklassenrechtssystem sind; die Politik steht unter Erwartungsdruck. Die Beharrungskräfte der Steuerflucht sind jedoch stark. Berufsgruppen wie JuristInnen und BankerInnen verdienen an Dienstleistungen für die Steuerflucht oder -vermeidung, ebenso Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die ein doppeltes Geschäft machen, wenn sie klamme Regierungen bei Privatisierungen beraten. Mit dem Argument des Standortwettbewerbs werden neue, für Konzerne vorteilhafte Regulierungen geschaffen, beispielsweise Patentboxen für Konzerne. Vorschnell wird behauptet, dass, was den Unternehmen nützt, auch der Bevölkerung dient. De facto bringen steuerminimierende Unternehmen der Bevölkerung genauso wenig wie Banken mit Anlagen von Steuersäumigen. Die Bevölkerung muss die Steuern für die von Unternehmen genutzte Infrastruktur aufbringen und finanziert außerdem die Bildung von qualifiziertem Personal, Gesundheitssysteme und weitere Leistungen, die für ein funktionierendes System notwendig sind. Steuerfluchtgelder werden nicht zwangsläufig vor Ort angelegt, sondern an internationalen Finanzmärkten. Verglichen mit dem produzierenden Sektor schafft die Finanzbranche im Verhältnis zu ihren Gewinnen wenige Arbeitsplätze. Es ist kein Zufall, dass europäische Steueroasen wie Zypern oder Irland mit laxen Regulierungen oder Griechenland mit maroden Steuersystemen besonders stark von der Finanzkrise betroffen waren und sind. Kurz: Wachsamkeit anstatt vorschneller Euphorie ist geboten.
Webtipp:
Momentum Quarterly – Zeitschrift für sozialen Fortschritt:
tinyurl.com/nvjodbd
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin silke.oetsch@uibk.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Ein wichtiger Schritt für den globalen, automatischen Steuer-Informationsaustausch wurde Ende Oktober in Berlin gesetzt. Über fünfzig Staaten unterzeichneten ein multilaterales Rahmenabkommen zum „OECD Common Reporting Standard“ und tauschen ab Herbst 2017 Daten aus. Von den EU-Staaten, die dem bereits beigetreten sind, wird einzig Österreich seine Steuerdaten erst ab 2018 mit anderen teilen. Weitere Staaten müssen noch unterzeichnen. Erstmals werden Daten wie Zinsen, Dividenden und andere Einkünfte samt Steueridentifikationsnummer an ausländische Finanzbehörden übertragen. „Doch es wäre sinnvoller, nicht bilaterale Abkommen abzuschließen, sondern Abkommen mit mehreren Ländern. Und es müssten immer Sanktionsmöglichkeiten enthalten sein, sonst ist das Ganze zahnlos“, erklärt Gertraud Lunzer, Referentin für Steuerpolitik der AK Wien.
Albert und die Millionäre
Steueroasen bieten oft ein gutes Leben, aber meistens nur für die Reichen, sonst sind sie eher ein Hort konservativer Werte. In der konstitutionellen Monarchie Monaco regiert Fürst Albert das Kabinett, ernennt Minister und den Regierungspräsidenten. Sein Bild hängt allerorts, nie würde jemand ein schlechtes Wort über den Regenten verlieren – schließlich ist der Lebensstandard hoch, das Netzwerk überlebenswichtig. Im Fürstentum gedeihen die Günstlinge – wer in Ungnade fällt, hat es in Monaco nicht leicht. Der Fürstenpalast entscheidet, wer Geschäfte eröffnet und wer schließen muss, wer die Projekterlaubnis als Handwerker erhält oder nicht. Jährlich beantragen mehr als 500 Personen die monegassische Staatsbürgerschaft, doch nur rund fünf Menschen erhalten sie. Millionäre und Milliardäre sitzen in 30-stöckigen Betonburgen, um die Einkommensteuer zu sparen. Sie teilen sich den nach dem Vatikan zweitkleinsten Staat der Erde (36.000 Einwohner) mit gebürtigen Monegassen, les enfants du pays (Landeskinder, die seit Generationen – ohne Staatsbürgerschaft – in Monaco leben) und reichen Ausländern, die an der Côte d’Azur einem lukrativen Job nachgehen.
Außerdem pendeln täglich 40.000 Menschen zur Arbeit nach Monaco, die sich hier niemals eine Wohnung leisten könnten. Blitzsaubere, kaugummifreie Straßen, reichlich Polizisten mit schnee-weißen Handschuhen – und eine überaus schmutzige Gentrifizierung: In einem älteren Mehrparteienhaus bewohnt eine dreiköpfige Familie eine 60-m²-Wohnung für monatlich 1.100 Euro – das Haus wurde verkauft, um einer Luxuswohnanlage zu weichen. Erwarteter Quadratmeterpreis: bis zu 80.000 Euro. Für rund acht Millionen Euro wäre dann eine 100 m² große Bleibe zu erwerben – normal für Monaco. Die restlichen HausbewohnerInnen wurden herausgekauft und vertrieben, der Abbruch schreitet voran, obwohl die Familie noch im Haus wohnt. Drei gleichwertige Wohnungen wurden ihnen vom neuen Besitzer – wie es das Recht verlangt – nicht angeboten. Macht, Geld, Gesetzesbruch. Wer seine günstige Wohnung als NormalverdienerIn verliert, dem/der bleibt nur der Weg hinaus aus dem Steuerparadies. Die gesellschaftliche Lage entspricht nicht unbedingt einem mitteleuropäischen Land. Ein Recht auf Abtreibung gibt es bis heute nicht: Selbst nach einem „liberalisierten Gesetz“ (beschlossen 2009) können Frauen nur nach einer Vergewaltigung oder bei einem stark behinderten Fötus ihre Schwangerschaft beenden.
Brot, Spiele, Verschleierungstaktik
Auf den ersten Blick paradox: Weil Zug seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Steuern stetig senkte, wurde der Kanton zum reichsten Schweizer Gliedstaat. Noch in den 1960er-Jahren hatte Zug die höchste Pro-Kopf-Verschuldung in der Schweiz, 1975 wurde der Liberale Georg Stucky Finanzdirektor: „Ich hätte wohl einen Eintrag im ‚Guinness Buch der Rekorde‘ gut, denn ich habe innerhalb von 16 Jahren neunmal die Steuern gesenkt.“ Im interkantonalen Finanzausgleich ist Zug der größte Geldgeber, obwohl die Steuerbelastung nur rund die Hälfte des Schweizer Durchschnitts beträgt. Holdinggesellschaften zahlen eine Steuer von gerade einmal 25 Franken pro Million ihres Kapitals, Gewinnsteuern werden in Zug überhaupt nicht eingehoben. Das durchschnittliche Einkommen liegt hier fast 80 Prozent über dem Schweizer Mittel. Zu den Superreichen im Kanton gehören auch die Familie Brenninkmeijer (C&A), Johann Rupert (südafrikanischer Mehrheitseigner des Genfer Luxusgüterkonzerns Richemont mit Cartier, Dunhill, Montblanc) und Kjeld Kirk Kristiansen (Lego).
Geld hat die Macht: 2001 wurde der öffentliche Einblick ins Steuerregister abgeschafft, Großverdiener hatten sich politisch erfolgreich für mehr Diskretion eingesetzt. Auch DurchschnittsverdienerInnen zahlen wenig Steuern. Die Kehrseite sind die teilweise exorbitanten Mieten und Immobilienpreise. Viele Familien können sich das Wohnen nicht mehr leisten. So lebt etwa ein Viertel der Polizisten, die in Zug Dienst tun, außerhalb des Kantons. Dafür ist der Eintritt ins Strandbad am Zuger See gratis, der DVD- und Bücherverleih in den Bibliotheken meist auch. Auch baute fast jede Gemeinde eine Mehrzweck- und eine Dreifachturnhalle.
Durstige Staaten und saftige Oasen
Die Finanzplätze, die sich auf vielerlei Tricks der Steuervermeidung spezialisiert haben, schaden den anderen Staaten gleich mehrfach: Sie bieten reichen Privatleuten eine Möglichkeit, ihr Geld zu verstecken. Dadurch sind sie hauptverantwortlich, dass auch in den „normalen“ Staaten Kapitalerträge meist deutlich geringer besteuert werden als andere Einkommensarten und Erbschaftssteuern reduziert oder ganz abgeschafft wurden. „Die Länder konkurrieren mit einem Steuersenkungswettlauf der Körperschaftssteuersätze. Dadurch versuchen sie Anreize zu schaffen, das Kapital im Land zu behalten. Das Absenken der Steuersätze führt jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis – und letztlich schaden sich die Länder zusätzlich durch den Einnahmenausfall aufgrund der niedrigeren Steuersätze“, weiß die AK-Steuerexpertin Gertraud Lunzer.
Daneben bieten sie multinationalen Unternehmen die Möglichkeit, durch kreative Buchführung nur Ministeuern zu zahlen. Und sie zwingen die anderen Länder, einen Steuerwettlauf nach unten anzutreten. Lunzer: „Die AK fordert, dass die Finanzverwaltung verstärkt werden muss, in Österreich passiert aber genau das Gegenteil – es wird abgebaut, vor allem, was Betriebsprüfungen betrifft. Es heißt immer, die Verwaltung ist so aufgeblasen und Personal kostet so viel Geld, doch Betriebsprüfer bringen viel mehr ein, als sie kosten.“ Auch will die AK, dass die Steuerprüfungen bei multinationalen Konzernen international vernetzt werden können und dass es eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die EU-Länder und einen Mindeststeuersatz auf europäischer Ebene gibt.
Blog-Tipp:
blog.arbeit-wirtschaft.at/steueroasen-wo-der-wohlstand-der-nationen-versteckt-wird/
Film-Tipp:
Komödie, Louise Hires a Contract Killer (F 2008)
Die Fabriksarbeiterinnen sind perplex: Sie haben auf Urlaub verzichtet, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, doch plötzlich ist die Fabrik leer geräumt und der Chef verschwunden – ins Steuerpara-dies Jersey. Die Arbeiterinnen engagieren einen Killer.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die AutorInnen sophia.fielhauer@chello.at und resei@gmx.de oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Bis 1872 bestand – außer für Akademiker, hohe Beamte, Pfarrer und Lehrer – ein reines „Zensuswahlrecht“. Im ersten Wahlkörper wählten diejenigen, die jährlich mehr als 80 Gulden Steuer zahlten, im zweiten Wahlkörper Staatsbürger mit einer Steuerleistung von 20 bis 79 Gulden, im dritten Wahlkörper betrug der Zensus – in Städten und Landgemeinden unterschiedlich geregelt – 10 bis 20 Gulden. Das galt für das Abgeordnetenhaus, die Mitglieder des Herrenhauses, der zweiten Kammer des „Reichsrats“, ernannte ohnehin allein der Kaiser.
Nach diesem System bestimmten Besitz und Bildung die Teilnahme am politischen Leben, die große Mehrheit des Volkes war ausgeschlossen.
Daran änderte sich auch mit der Einführung der Wählerkurien 1873 nichts. Die Kurie der Großgrundbesitzer mit nicht einmal 5.000 Wählern hatte von den insgesamt 353 Mandaten 84, die Kurie der Handels- und Gewerbekammern mit ganzen 499 Wählern 21. Die über eine Million Wahlberechtigten aus den Landgemeinden mussten sich dagegen mit mageren 129 Mandaten zufriedengeben, denn die Bindung des Wahlrechts an die Steuerleistung blieb aufrecht. Für die Landgemeinden hieß das: Von etwa 18 Millionen Erwachsenen durften nur rund eine Million überhaupt ihre Stimme abgeben.
Ab 1882 betrug der Steuersatz nur mehr fünf Gulden und 1896 folgte die Einführung einer neuen „allgemeinen Kurie“ mit gleichem Wahlrecht für Männer unabhängig von der Steuerleistung. Für sie waren aber nur 72 der jetzt 425 Mandate reserviert, ein Kandidat benötigte für seine Wahl mehr Stimmen als die anderen Abgeordneten und die Wähler der anderen Kurien durften doppelt abstimmen. Von demokratischer Mitbestimmung konnte also schon allein aus diesen Gründen keine Rede sein. Die „Sesshaftigkeitsklausel“, die einen sechsmonatigen Aufenthalt im Wahlkreis voraussetzte, benachteiligte außerdem die Arbeiterschaft in den Industriezentren und hier wiederum Zuwanderer massiv, da man bei Arbeitslosigkeit häufig in die Herkunftsgemeinden abgeschoben wurde. Nur ein einziger Gewerkschafter, der Bergarbeiter Petr Cingr, überwand 1897 diese Barrieren.
Trotzdem bedeutete die Reform einen ersten Erfolg der Kampagne der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung für ein demokratisches Wahlrecht, in der die Gewerkschaften eine große Rolle spielten. 1907 war das Ziel wenigstens für Männer fast erreicht – eine verschärfte „Sesshaftigkeitsklausel“ blieb. Trotzdem hatten jetzt die führenden Gewerkschafter erstmals Gelegenheit, ihre Anliegen selbst im Parlament zu vertreten.
Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Auch die Produktionsgewerkschaft (PRO-GE) stellt sich klar gegen die Pensionsautomatik. „Es gibt viele Argumente, die gegen einen solchen Automatismus sprechen: Pensionseinbußen als Folge höherer Abschläge. Mehr Arbeitslosigkeit, da ein höheres Pensionsantrittsalter nicht automatisch mehr Arbeitsplätze bringt. Vor allem würde es jene treffen, die aufgrund sehr belastender Tätigkeiten mit Gesundheitsproblemen zu kämpfen und eine geringere Lebenserwartung haben. Sie wäre unsozial und ungerecht“, sagt Rainer Wimmer, Bundesvorsitzender der PRO-GE.
Für die langfristige Absicherung des umlagefinanzierten Pensionssystems ist die Sicherung und Schaffung von Beschäftigung ausschlaggebend. Daher fordert die PRO-GE vehement die Umsetzung des vorgesehenen Bonus-Malus-Systems, damit Betriebe mehr ältere Menschen beschäftigen. „Wir brauchen deutlich mehr alternsgerechte Arbeitsplätze. Statt Angst zu verbreiten sollten Anreize und Voraussetzungen geschaffen werden, damit Betriebe ältere ArbeitnehmerInnen einstellen und in Beschäftigung halten“, sagt Wimmer.
Service: Pensionskonto
www.oegb.at/cms/S06/S06_1.5/themen/das-pensionskonto
Mehr Infos unter:
www.vida.at
Eine klare Absage kommt auch von der AK, auch sie spricht sich gegen eine Erhöhung der ermäßigten Mehrwertsteuersätze für Lebensmittel, Medikamente und Wohnen aus. Diese Grundbedürfnisse dürfen nicht angetastet werden. Grundsätzlich bezeichnet die AK die Diskussion als kontraproduktiv: Sie dient nur dazu, in der Bevölkerung unbegründete Ängste zu schüren. Jetzt ist die Regierung gefordert, die Steuerreform rasch umzusetzen und den ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen endlich die gebührende Entlastung zu bringen. Denn in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten muss der private Konsum als wichtige Stütze der Konjunktur belebt werden.
Mehr Infos unter:
www.lohnsteuer-runter.at
Auch abseits der Bundeshauptstadt gab es in allen Regionen Österreichs eine Vielzahl von Initiativen. „Als wir im Juli mit der Lohnsteuer-Kampagne gestartet sind, haben wir uns eine halbe Million Unterschriften als Ziel gesetzt“, sagte ÖGB-Präsident Erich Foglar am Wiener Westbahnhof. „Dass es jetzt mehr als 800.000 geworden sind, übertrifft alle Erwartungen.“ Das Ergebnis unterstreiche, wie berechtigt die Forderung nach einem gerechteren Lohnsteuersystem und endlich netto mehr Geld sei. „Wie es geht, zeigt das von unseren Expertinnen und Experten gemeinsam mit der Arbeiterkammer fertig ausgearbeitete Lohnsteuermodell. Jetzt liegt’s an der Regierung.“
Eben dieser überreichten ÖGB-Präsident Erich Foglar und AK-Präsident Erich Kaske am 18. November die 882.184 gesammelten Unterschriften und erneuerten damit die Forderung nach der Lohnsteuersenkung. Beide Präsidenten betonten, dass angesichts der schlechten Wirtschaftslage eine spürbare Lohnsteuersenkung kommen muss, und sie forderten die Bundesregierung zum raschen Handeln auf.
Mehr Infos unter:
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Entsolidarisierung
Viel ist von Entsolidarisierung der Gesellschaft die Rede. Das globale Geldverstecken von Einzelpersonen oder Firmen spielt dabei eine wichtige Rolle. Dazu muss man sich nur die eben genannte Summe vor Augen halten und diese in Verbindung mit den Debatten über Sozialabbau oder Berichte über die Situation vieler Hartz-IV-EmpfängerInnen bringen. Denn das Geld, das dem Staat dadurch entgeht, wird an vielen Stellen dringend gebraucht. Nicht nur das: Es sind vor allem jene, die tagtäglich an ihren Arbeitsplätzen ihre Leistungen erbringen, die mit ihren Lohn- und Einkommensteuern die Last der öffentlichen Finanzen tragen müssen.
Diese Ungleichverteilung der Lasten muss sich ändern, und dazu bedarf es nicht nur Anstrengungen im Kampf gegen Steueroasen – bei dem, wie unser Interviewpartner Gabriel Zucman anmerkt, Österreich eine etwas eigentümliche Rolle spielt. Es reicht auch nicht, österreichische SteuersünderInnen effektiver zu bekämpfen, so nötig auch dies ist – einige Vorschläge dazu finden Sie in diesem Heft. Dazu muss ebenfalls darüber gesprochen werden, wie Vermögende einen fairen Beitrag zu den öffentlichen Finanzen leisten können. Dies ist letztlich auch im Interesse der Wirtschaft, denn die öffentlichen Finanzen tragen nicht nur die arbeitenden Menschen, sondern auch die Firmen über die Lohnnebenkosten.
Wenn Wirtschaftstreibende nach einer Entlastung des Faktors Arbeit rufen, müssen also auch sie sich Gedanken darüber machen, woher denn nun die Mittel für die öffentlichen Dienstleistungen kommen sollen. Schließlich kommen diese genauso ihnen zugute, wie man allein daran sieht, dass Österreich immer wieder bescheinigt wird, vor allem wegen des verhältnismäßig gut gestrickten sozialen Netzes gut durch die Krise gekommen zu sein. Es ist ebenfalls viel von Entpolitisierung die Rede. Mich persönlich erstaunt das wenig, denn auch ich stelle bei mir selbst immer wieder einen großen Frust fest. Frust darüber, dass wir zwar in Österreich in einem der reichsten Länder der Welt leben, sich die politischen Debatten aber allzu sehr auf Kürzungen und Einschränkungen beschränken – statt davon, wie eine bessere Zukunft für die Menschen in unserer Gesellschaft geschaffen werden könnte. Möglich wird das aber nur, wenn die öffentliche Hand dazu die Mittel zur Verfügung hat.
Solidarität
Ist dies ein blindes Vertrauen in „Vater Staat“? Nein, ist es nicht. Es ist vielmehr die Erkenntnis, dass eine gerechtere Gesellschaft nicht über Almosen erreicht werden kann. Es ist die Erkenntnis, dass etwa über Bildung die besten Voraussetzungen für Chancengleichheit für die hier lebenden Menschen geschaffen werden können. Es ist die Erkenntnis, dass eben diese Chancengleichheit der beste Garant dafür ist, dass alle Menschen sich ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend entfalten können. Und es ist der Wunsch, dass all diese verschiedenen Facetten wieder mehr in den Vordergrund der politischen Debatten rücken. Ihnen wiederum wünsche ich viel Vergnügen bei der Lektüre!
Erhöhung der Negativsteuer
BefürworterInnen argumentieren häufig, dass dadurch NiedrigverdienerInnen entlastet werden. Diese Personengruppe habe von einer Steuerreform nichts, da sie ja nicht lohnsteuerpflichtig ist. Das Ziel, dass auch diesen Menschen netto mehr bleibt, ist zu unterstützen. Dieses kann man jedoch auch auf einem anderen Weg erreichen: nämlich durch eine Erhöhung der Negativsteuer. Die Negativsteuer ist eine Gutschrift, die ArbeitnehmerInnen erhalten, wenn sie so wenig verdienen, dass sie keine Lohnsteuer zahlen, und eine ArbeitnehmerInnenveranlagung machen. Die Gutschrift beträgt nach der derzeitigen Rechtslage zehn Prozent der ArbeitnehmerInnenbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung, höchstens jedoch 110 Euro im Jahr. In der Praxis ist die Negativsteuer besonders relevant für Teilzeitbeschäftigte, Lehrlinge und FerialpraktikantInnen. Im Steuerkonzept von ÖGB und AK ist vorgesehen, dass die Negativsteuer von derzeit 110 Euro auf 450 Euro im Jahr erhöht wird. Auf diese Weise würde es gelingen, Menschen mit niedrigem Einkommen im Zuge der Steuerreform zu entlasten, ohne dass man die ArbeitnehmerInnenbeiträge zur Sozialversicherung senkt.
Rote Zahlen drohen
Die ArbeitnehmerInnen zahlen Sozialversicherungsbeiträge für die Pensions-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung (sowie die Arbeiterkammerumlage und den Wohnbauförderungsbeitrag). In der Arbeitslosenversicherung gibt es eine Ausnahmeregelung, nach der schon derzeit ArbeitnehmerInnen mit einem monatlichen Bruttoeinkommen bis zu 1.246 Euro keinen ArbeitnehmerInnenbeitrag zahlen, obwohl sie Ansprüche erwerben. Eine Reduzierung des Beitrages zur Kranken- und Pensionsversicherung würde zwangsläufig die finanzielle Situation der jeweiligen Sozialversicherungsträger verschlechtern. Konkret würde dies für den Bereich der Pensionsversicherung bedeuten, dass automatisch mehr Steuermittel zur Finanzierung der laufenden Pensionen beigesteuert werden müssten – und die Krankenversicherung, die erst seit relativ kurzer Zeit keine Verluste mehr hat, würde wieder rote Zahlen schreiben. Würde man den ArbeitnehmerInnenbeitrag zur Arbeitslosenversicherung auch für monatliche Bruttoeinkommen über 1.246 Euro senken, würde dies automatisch zu einer Reduzierung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen führen, was jedoch gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit absolut kontraproduktiv ist.
Ansprüche
Die Senkung der ArbeitnehmerInnenbeiträge wird derzeit im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte über eine Steuerreform diskutiert. Die Sozialversicherung unterscheidet sich aber in einem ganz grundsätzlichen Punkt von der Steuer: Aufgrund der Leistung von Sozialversicherungsbeiträgen erwirbt man Ansprüche wie z. B. den Rechtsanspruch auf eine Pensionsleistung, Krankengeld, Wochengeld, die Kosten der Arztbesuche und der Medikamente (außer der Rezeptgebühr) werden von der Krankenkasse übernommen. Der Zahlung von Lohn- oder Einkommensteuer hingegen stehen keine derartigen Ansprüche gegenüber.
Bis zu einer Steuerbemessungsgrundlage von 11.000 Euro im Jahr zahlt man als ArbeitnehmerIn keine Lohnsteuer, sondern nur Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von circa 15 Prozent. Diese Belastung mag subjektiv als hoch empfunden werden, insbesondere weil man ein niedriges Einkommen hat. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass man im Gegenzug zu den Beiträgen auch gesetzliche Ansprüche erwirbt.
Von der Forderung nach einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge geht eine indirekte Gefahr für den Sozialstaat aus. Schon jetzt fordern manche z. B. Selbstbehalte bei Arztbesuchen und/oder eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters. Andere wiederum machen sich für eine sogenannte Pensionsautomatik stark, also die Koppelung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters an die steigende Lebenserwartung. Der ÖGB lehnt eine solche Automatik ab, da für die Menschen ganz wesentliche Entscheidungen, wie es das Pensionsantrittsalter oder das Leistungsniveau der gesetzlichen Pensionsversicherung sind, von der Politik und nicht von einem Computer entschieden werden sollten. In der Praxis hätte ein späteres gesetzliches Pensionsantrittsalter für viele Menschen höhere Abschläge und somit eine wesentlich geringere Pension zur Folge. Besonders jüngere Menschen wären von einer Pensionsautomatik stark betroffen, und es ist daher auch nicht erstaunlich, dass laut einer OGM-Umfrage 77 Prozent der unter 30-Jährigen diese ablehnen.
Rechtfertigung für Sozialabbau
Wenn aufgrund einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge weniger Geld zur Verfügung stünde, ist klar, dass die Rufe nach Selbstbehalten für Arztbesuche oder/und nach einer Pensionsautomatik lauter werden und sich der politische Druck, Leistungen der Sozialversicherung zu reduzieren, massiv erhöhen würde. Natürlich sagt niemand, der für eine Senkung der ArbeitnehmerInnenbeiträge zur Sozialversicherung eintritt, dass gleichzeitig auch das österreichische System der sozialen Sicherheit reduziert werden soll. Manche mögen wirklich das Ziel verfolgen, niedrige Einkommen zu entlasten. Bei anderen, etwa der Wirtschaftskammer oder der Industriellenvereinigung, die immer für eine Reduzierung der Sozialleistungen eingetreten sind und nun auch die Senkung der ArbeitnehmerInnenbeiträge zur Sozialversicherung zum Thema machen, ist jedoch Vorsicht geboten. Es ist eher davon auszugehen, dass es diesen Menschen weniger um die Entlastung der NiedrigverdienerInnen geht, sondern vielmehr darum, mit einem neuen Thema von der aktuellen Diskussion um eine Steuerreform und eine Vermögensbesteuerung abzulenken.
Würden sie eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge erreichen, hätten sie sich mit zwei Anliegen durchgesetzt: Die finanzielle Situation der Sozialversicherungssysteme würde sich erstens verschlechtern und zweitens könnten sie viel leichter argumentieren, dass man die Sozialversicherungsleistungen kürzen oder privatisieren muss. Weiters könnten sie behaupten, dass eine Steuerreform in einem weitaus geringeren Ausmaß notwendig ist, da die ArbeitnehmerInnen durch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge bereits netto entlastet wurden. Der Effekt wäre, dass eine Vermögensbesteuerung aus budgetären Gründen weniger dringend erscheinen würde. Damit hätten sie ihre Ziele erreicht: keine Diskussion über eine Vermögensbesteuerung, sehr wohl aber über die Reduktion von Sozialleistungen.
Anstieg des Konsums
Natürlich muss man bei einer Steuerreform, die eine Tarifsenkung vorsieht, auch über eine Gegenfinanzierung nachdenken. Teilweise finanziert sich eine Steuerreform von selbst, wenn man kleinere und mittlere Einkommen entlastet, da dies zu einem Anstieg des Konsums führt und dadurch wiederum Impulse für Produktion und Beschäftigung ausgelöst werden. Im ÖGB/AK-Modell ist unter anderem vorgesehen, dass durch die Besteuerung großer Vermögen, Erbschaften, Schenkungen und Stiftungen zwei Milliarden Euro gegenfinanziert werden. Dies ist vor allem deshalb gerecht, weil Österreich im Vergleich zu den anderen westeuropäischen Staaten beim Anteil der vermögensbezogenen Steuern am gesamten Steueraufkommen fast Schlusslicht ist ( EU-15-Durchschnitt 5,3 Prozent, Österreich 1,3 Prozent), dafür bei arbeitsbezogenen Steuern und Abgaben jedoch im obersten Spitzenfeld der EU.
Webtipp:
Weitere Infos finden Sie unter
www.lohnsteuer-runter.at/modell.php
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin dinah.djalinous-glatz@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Soziales, Bildung und Gesundheit
Bei Teil zwei, der Finanzierung der Steuersenkung, ist es mit den Gemeinsamkeiten schon wieder vorbei. Das konservative Konzept sieht eine massive Senkung des Steuerniveaus vor. Das soll durch umfangreiche Einsparungen bei den Staatsausgaben finanziert werden. Genau das wurde bereits in den 1980er-Jahren von der konservativen Premierministerin Großbritanniens Margaret Thatcher praktiziert: Sie senkte zunächst die Steuern und wurde dabei von einer breiten Mehrheit politisch unterstützt. Ein untragbar hohes Budgetdefizit war die Folge. Das bildete die ideale Basis für das eigentliche ideologische Anliegen Thatchers: die Zerstörung des einst vorbildlichen britischen Sozialstaates. Meist wird die Forderung nach Senkung der Staatsausgaben zur Finanzierung von steuerlichen Entlastungen mit dem hohen Volumen möglicher Einsparungen „in der Verwaltung“ verkauft. Das klingt zunächst gut.
Verwaltung ist Personal
Doch worin bestehen Verwaltungsausgaben? Primär aus Personalkosten. Diese betragen im österreichischen Staatshaushalt insgesamt 29 Milliarden Euro. Bei einer Gegenfinanzierung des 5,9 Milliarden Euro schweren „Lohnsteuer runter!“-Pakets müsste somit ein Fünftel aller Personalausgaben gekürzt werden. Bestimmt findet sich die eine oder andere Verwaltungstätigkeit, die besser organisiert werden kann. Zum Beispiel, wenn jene vier Verwaltungsebenen reformiert werden, die heute für landwirtschaftliche Förderungen zuständig sind: Europäische Union, Bund, Bundesländer und Gemeinden. Doch Einsparungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro sind damit nicht erzielbar. In der Realität bedeutet die Senkung der Personalkosten deshalb weniger LehrerInnen und KindergärtnerInnen, weniger Krankenhauspersonal und Pflegekräfte.
70 Prozent aller Staatsausgaben entfallen in Österreich auf drei Bereiche: Soziales, Gesundheit und Bildung. Sie bilden das Herz des Sozialstaates. Sie eröffnen allen Menschen den Zugang zu einer guten sozialen Versorgung und den für das Leben essenziellen Bildungsmöglichkeiten, unabhängig von sozialer Herkunft und Einkommen. Genau darauf zielt die konservative Kampagne ab: Wird die Lohnsteuersenkung durch Ausgabenkürzungen finanziert, dann bedeutet das in der Realität massive Leistungskürzungen bei Pensionen, Gesundheitsversorgung und Bildung. Die konservativen Ökonomen sprechen das auch ganz offen aus. Professor Keuschnigg forderte am 19.11.2014 in der Tageszeitung „Der Standard“ eine „Begrenzung der Sozialleistungen auf die Bedürftigen“. Das würde das Ende des österreichischen Sozialstaates und den Übergang zu einer reinen Armenfürsorge bedeuten.
Weltweit an der Spitze
Viele andere Länder finden mit einem niedrigeren Niveau des Sozialstaates das Auslangen. Doch wollen wir das Pensionsniveau Deutschlands mit seiner absehbaren Altersarmut vor allem bei Frauen? Wollen wir das Bildungssystem Großbritanniens mit seiner Klassengesellschaft von reichen Zöglingen der Eliteschulen auf der einen und einer schlecht ausgebildeten Masse an Arbeitskräften auf der anderen Seite? Wollen wir das Gesundheitssystem der USA, das Millionen Menschen von einer elementaren Versorgung ausschließt? Nein. Österreichs Sozialstaat steht weltweit an der Spitze. Er hat den Anspruch, Menschen aus allen sozialen Schichten eine gute soziale Absicherung zu garantieren. Er ist vor allem auf die Bedürfnisse jener Menschen ausgerichtet, die ihr Leben aus Arbeitseinkommen finanzieren. Damit ist er der Sozialstaat der breiten Masse der Bevölkerung. Das ist sozial und wirtschaftlich sinnvoll. Der Sozialstaat verteilt von den Gesunden zu den Kranken um, von den Kinderlosen zu den Familien, von den Erwerbstätigen zu den PensionistInnen und Arbeitslosen. Im Laufe ihres Lebens profitieren somit alle Bevölkerungsgruppen. In manchen Lebensphasen, wenn man noch jung, gesund, ohne Kinder ist und gerade zu arbeiten begonnen hat, wird man NettozahlerIn sein, die Einzahlungen ins System überwiegen die Auszahlungen. Wird man älter, bekommt Kinder, wird manchmal krank oder arbeitslos oder geht dann in Pension, so ist man NettoempfängerIn. Die gleichen sozialen Leistungen kommen gemessen am Einkommen in besonderem Ausmaß der breiten Mittelschicht und der von Armut bedrohten Bevölkerung zugute. Sie könnten sich viele Leistungen privat finanziert nicht leisten, während dies für die SpitzenverdienerInnen und Vermögende kein Problem wäre.
Wirtschaftlich an der Spitze
Die jüngste Finanzkrise hat einmal mehr bewiesen, dass jene Länder auch wirtschaftlich an der Spitze stehen, die das höchste soziale Niveau aufweisen: Die skandinavischen Länder und Österreich bilden nicht nur die Ländergruppe mit gutem Sozialstaat und relativ gerechter Verteilung des Einkommens, sondern auch mit dem höchsten wirtschaftlichen Wohlstand, hoher internationaler Wettbewerbsfähigkeit und niedrigerer Arbeitslosigkeit als in den Krisenländern. Sozialstaat und wirtschaftlicher Erfolg bedingen einander. Das Vertrauen in eine gute soziale Absicherung ist die Basis für Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Erfolge ermöglichen wiederum die Finanzierung der sozialstaatlichen Leistungen.
In vielen Bereichen muss der Sozialstaat weiter verbessert werden. Ein besseres System von Heimhilfen und Pflegeplätzen ist notwendig, um allen Menschen eine gute Pflegeversorgung im Alter zu ermöglichen. Der Zugang zu Gesundheitsleistungen hoher Qualität muss für alle Menschen gesichert werden. Im Bildungssystem darf kein Kind zurückgelassen werden. Diese und viele andere Herausforderungen erfordern einen sparsamen Umgang mit den öffentlichen Mitteln: Der Ankauf teurer Großgeräte in Krankenhäusern muss besser koordiniert werden, die Medikamentenkosten müssen im Zaum gehalten werden, der Verwaltungsaufwand in Relation zu den Leistungen muss so klein wie möglich sein. Eine hohe Qualität des Sozialstaates und ein ausreichendes Angebot an sozialen Dienstleistungen haben eine grundlegende Voraussetzung: eine sichere finanzielle Basis. Diese ist nur mit einem hohen Niveau an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen möglich. Mit dem Steuerniveau der USA, Lettlands oder Großbritanniens ist das Niveau der sozialstaatlichen Versorgung Österreichs nicht leistbar. Wer einen guten Sozialstaat will, muss auch bereit sein, dafür zu bezahlen. Deshalb sind AK und ÖGB gegen allgemeine Steuersenkungen. Wir wollen ein insgesamt hohes Abgabenniveau, weil wir gute öffentliche Leistungen wollen.
Entlastung von Leistung
Wir fordern aber auch eine Reform des Steuersystems. Die Entlastung der Leistungseinkommen aus selbstständiger und unselbstständiger Arbeit soll durch eine Erhöhung vermögensbezogener Steuern finanziert werden. Eine Vermögenssteuer für Millionäre, die Wiedereinführung der Erbschaftssteuer und die konsequente Bekämpfung des Steuerbetruges sind untrennbarer Teil des „Lohnsteuer runter!“-Konzepts.
Sie sind notwendig, weil die Reichen und vom Schicksal Begünstigten heute zu wenig zur Finanzierung des Sozialstaates beitragen, weil große Ungleichheit zwischen der Spitze und dem Rest der Verteilung wirtschaftlichen Schaden mit sich bringt, weil die Konzentration des Reichtums bei einigen wenigen die demokratische Gesellschaft gefährdet. Niedrigere Steuern auf Arbeit und höhere auf Vermögen bilden zwei Seiten der gleichen Medaille unseres Konzepts. Auch wenn es den konservativen Professoren nicht passt.
Webtipp:
Das Konzept von AK und ÖGB für „Lohnsteuer runter!“
www.lohnsteuer-runter.at/modell.php
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor markus.marterbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Double Irish with a Dutch Sandwich
2012 verzeichnete die Bilanz von Pfizer, des größten Pharmakonzerns der Welt, einen Umsatz von 45 Milliarden Euro und einen Gewinn von neun Milliarden. Die österreichische Tochter erzielte 2011 einen Gewinn von vier Millionen Euro (Umsatz 226 Millionen).
Der Gewinnanteil weltweit war also mehr als zehnmal höher als in Österreich. Für diesen (bescheidenen) Gewinn zahlte Pfizer Österreich 121.000 Euro Steuer, das sind drei Prozent! Der offizielle Steuersatz: 25 Prozent. „Wie kommt Pfizer zu einem derart niedrigen Steuersatz? Bei der konkreten Antwort müssen wir wieder passen“, schreiben Klaus Werner-Lobo und Hans Weiss im neuen „Schwarzbuch Markenfirmen“. Dort finden sich zahlreiche Beispiele, wie Konzerne Steuern sparen und Bilanzen verschönern – in der Regel tatsächlich ganz legal. So gibt es etwa die Methode „Double Irish With a Dutch Sandwich“. Dabei werden Umsätze und damit Gewinne zwischen zwei irischen und einer niederländischen Tochterfirma auf ganz legale Art und Weise so verschoben, dass das Finanzamt am Ende durch die Finger schaut.
Tricks des „Grünen Riesen“
Auch das vom Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen Mitte des 19. Jahrhunderts als Genossenschaft gegründete Traditionsunternehmen Raiffeisen liegt diesbezüglich voll im Trend. Der „grüne Riese“ ist als typischer Mischkonzern in unzähligen Geschäftsbereichen aktiv. Die Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien beispielsweise ist indirekter Haupteigentümer der NÖM. Zum Raiffeisen-Reich gehören außerdem die größte österreichische Versicherung UNIQA, mehrere Reisebüroketten, die Salinen AG, Immobilienfirmen, Wellnesshotels etc. Dazu kommen noch zahlreiche Unternehmensbeteiligungen, auch im Medienbereich. „Die Auflistung aller Besitztümer und Beteiligungen würde ein ganzes Buch füllen“, so Hans Weiss im „Schwarzbuch Landwirtschaft“.
Allein die konsolidierte Bilanzsumme der Raiffeisen-Bankengruppe Österreich beträgt 292 Milliarden Euro (2012). Damit ist sie die größte Bankengruppe Österreichs. Weiss kritisiert nicht nur, dass die Raiffeisen-Zentralbank entgegen allen Beteuerungen 2009 eine staatliche Unterstützung von 1,75 Milliarden Euro in Anspruch nahm – mehr als jede andere Bank –, sondern sogar Negativsteuern kassierte. „Unangefochtener österreichischer Meister in dieser Disziplin ist die Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien, die es zusammengerechnet in den Jahren 2006 bis 2008 schaffte, bei einem Gewinn von 739 Millionen Euro nicht nur keinen einzigen Euro Steuer zu zahlen, sondern vom Staat auch noch eine Gutschrift in der Höhe von 21,6 Mio. Euro einzuheimsen. Aber auch die Raiffeisenlandesbanken Steiermark, Oberösterreich, Tirol sowie die Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien verbuchten in manchen Jahren – bei satten Gewinnen – derartige Zuschüsse vom Finanzamt.“
2005 wurde mit der zweiten Etappe der Steuerreform unter Finanzminister Karl-Heinz Grasser die Konzernbesteuerung modernisiert: Die so entstandene Gruppenbesteuerung ermöglicht den (grenzüberschreitenden) Ausgleich von Gewinnen und Verlusten innerhalb einer Unternehmensgruppe und wurde in Wirtschaftskreisen als europaweit vorbildlich gelobt. Sie gilt bis heute als wichtige standortpolitische Maßnahme, die Konzernen unter anderem die Expansion nach Zentral- und Osteuropa ermöglichte und Österreich als Headquarter attraktiv machte. Ursprünglich geplant war, dass die Verluste ausländischer Töchter nur so lange in Österreich geltend gemacht werden können, bis die Osttöchter profitabel sind. Später müssten die Gewinne nachversteuert werden. Tatsächlich wird es von internationalen Konzernen so gehandhabt, dass die Gewinne von Tochterfirmen in Ländern mit hohen Steuern möglichst klein geschrieben werden, während die Gewinne in Ländern mit niedrigen Steuern aufgebläht werden.
Problematische Gruppenbesteuerung
Im Sommer 2013 kritisierte der Rechnungshof, dass dem Staat durch die Gruppenbesteuerung jährlich 450 Millionen Euro an Einnahmen aus der Körperschaftssteuer entgingen und eine Evaluierung der Effekte der Gruppenbesteuerung erforderlich wäre. Etwa eine Billion Euro gehen in der EU Jahr für Jahr durch Steuerhinterziehung und Steuerumgehung verloren.
Ende 2012 veröffentlichte die Europäische Kommission einen Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. Darin wurde unter anderem ein europäisches TIN-Portal (TIN: Taxpayer Identification Number) für Steueridentifikationsnummern vorgestellt, das mehr Transparenz ermöglichen soll. Die Kommission setzt auf internationale Zusammenarbeit und richtete entsprechende Empfehlungen für den Kampf gegen aggressive Steuerplanung (Ausnützen von Steuerschlupflöchern oder von Unstimmigkeiten zwischen mehreren Steuersystemen) an die Mitgliedsstaaten.
Steuersenkungswettbewerb
Würden die im „Schwarzbuch Markenfirmen“ aufgelisteten 50 Konzerne den in Deutschland er-wirtschafteten Gewinn auch entsprechend versteuern, dann müssten sie das Sechsfache des Bisherigen bezahlen – mehr als sieben Milliarden Euro! Angesichts von Wirtschaftskrise und (drohenden) Absiedlungen in Billiglohnländer waren viele Staaten bemüht, für Unternehmen möglichst angenehme Bedingungen zu schaffen.
Auf diese Weise entstand ein intensiver Steuersenkungswettlauf, der im Prinzip nicht viel geändert hat. Denn trotzdem gilt nach wie vor: „Die Konzerne wissen genau, dass sie am längeren Ast sitzen und Regierungen sich nicht trauen, die Steuerschraube anzuziehen. Es genügt die Drohung, Betriebe und damit Arbeitsplätze aus Deutschland oder jedem beliebigen Land abzusiedeln“, bringen es Werner-Lobo und Weiss auf den Punkt.
Regulierung
Hier kann nur internationale Koordination zur Regulierung der Finanzmärkte und Steueroasen, die über den EU-Raum hinausgeht, wirklich Abhilfe schaffen.
In „Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird“ plädiert der französische Ökonom Gabriel Zucman etwa für eine globale Besteuerung mit Sanktionsmöglichkeiten und einem weltweiten Finanzkataster unter Leitung des IWF. Angesichts der Tatsache, dass etwa die OECD schon 1998 Maßnahmen gegen den schädlichen und verzerrenden Effekt des internationalen Steuerwettbewerbs erarbeitet hat, sollte man sich diesbezüglich allerdings mit Geduld wappnen.
Webtipp:
Weitere Infos finden Sie unter: markenfirmen.com
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin a.fadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
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Arbeit&Wirtschaft: Was glauben Sie – wie ist es um das Wissen über Steueroasen in der Bevölkerung bestellt?
Gabriel Zucman: Wir wissen heute viel mehr als noch vor 15 Jahren. Es wurde sehr wichtige Arbeit von Journalisten und NGOs geleistet, die unser Verständnis von Steueroasen deutlich verbessert hat.
Wieso forschen Sie seit fünf Jahren zum Thema Steueroasen?
Dafür gibt es zwei Gründe. Ein Ausgangspunkt war die Finanzkrise. Ich wollte wissen, was da vor sich geht, und habe begonnen, internationale makroökonomische Daten zu untersuchen, zum Beispiel über grenzüberschreitende Kredite, Depots etc. Diese Daten zeigen, dass Milliarden von Dollars in Offshore-Finanzzentren wie die Cayman Islands oder die Schweiz transferiert werden. Ich wollte verstehen, was dabei legal, was illegal ist und welche Konsequenzen diese Cashflows haben. Der zweite Ausgangspunkt ist mein Interesse an der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen und dessen Messung. In der Regel messen wir Einkommen und Vermögen anhand von Steuerdaten. Doch es muss uns bewusst sein, dass diese Daten unvollständig sind, weil die Summen fehlen, die in den Steuererklärungen nicht deklariert werden. Mir ging es also darum, unsere Messmethoden von Einkommen und Vermögen zu verbessern und zu vervollständigen und zu untersuchen, wie diese Erkenntnisse unseren Blick auf Ungleichheit verändern.
Welche Ergebnisse Ihrer Untersuchungen haben Sie am meisten überrascht?
Dass die Offshore-Vermögen immer noch sehr dynamisch ansteigen. Obwohl es bereits Fortschritte im Hinblick auf die Lockerung des Bankgeheimnisses gegeben hat, fällt auf, dass das Geschäft der Vermögensverwaltung bei den Schweizer Banken extrem gut läuft und andere Steueroasen sogar noch mehr florieren. Ich war außerdem überrascht, dass es dasselbe Phänomen bei internationalen Unternehmen gibt, die immer größere Teile ihrer Profite in Länder mit niedrigen Steuern verlagern wie nach Bermuda, Irland oder auf die Cayman Islands – und die Zeichen deuten darauf hin, dass es so weitergeht.
Die ungleiche Verteilung von Vermögen ist das Thema unserer Zeit. Zugleich gibt es eine globale Steuerflucht. Wie eng sind die beiden Themen miteinander verknüpft?
Ich weiß es nicht. Es liegen uns kaum Daten darüber vor, wer Steuern hinterzieht und warum. Ich versuche derzeit, mehr darüber herauszufinden. Was klar ist: Steuerflucht ist ein wichtiger Bestandteil der steigenden Ungleichheit. Die Steuern, die multinationale Konzerne zahlen, sind – auf einem globalen Level – stark zurückgegangen, was vor allem den Aktionären zugute kommt. Der Rückgang der Kapitalsteuern und besonders der Einkommensteuern, die Firmen bezahlen, fördert die Ungleichheit auf kraftvolle Art. Wenn es keine Kapitalsteuern mehr gibt, weil die Regierungen Angst davor haben, dass die Unternehmen ihr Geld auf die Bermudas überweisen, könnte das einen dramatischen Effekt auf die Ungleichverteilung von Vermögen haben.
Ihre Arbeit zeigt starke Anknüpfungspunkte an die Thesen, die Thomas Piketty vertritt. Wie stehen Sie zu seiner Arbeit?
Thomas Piketty hat in Paris meine Doktorarbeit betreut und wir arbeiten sehr viel zusammen. Ich war durch seine Arbeit inspiriert und fühle mich als Teil der Bewegung, die über die Ursachen der Ungleichheit nachdenkt – und darüber, welche Art von Institutionen und demokratischen Mitteln wir brauchen, um darauf zu reagieren. Ich frage mich, wie Steuersysteme des 21. Jahrhunderts gestaltet sein sollten oder wie wir multinationale Unternehmen besteuern können.
Sie geben in Ihrem Buch konkrete Empfehlungen, um die Verluste, die weltweit durch Steuerhinterziehung entstehen, in den Griff zu bekommen. Wie sind Sie zu Ihren drei Vorschlägen gekommen?
Eine der Hauptideen in meinem Buch ist, Steueroasen durch Sanktionen zu bekämpfen. Diese Idee war zuvor in der Debatte nicht wirklich präsent, denn die Politiker waren bisher eher der Ansicht, dass es reicht, die Steueroasen freundlich um Kooperation zu bitten. Doch das ist aus meiner Sicht ein naiver Ansatz. Die wirtschaftliche Perspektive auf dieses Problem zeigt, dass Länder nicht auf solche Aufforderungen und Anreize reagieren, solange es sehr profitabel ist, Menschen und Unternehmen zur Steuerhinterziehung zu ermutigen. Nur wenn dieses Verhalten für die Steueroasen sehr unprofitabel wird, werden sie damit aufhören. Das heißt, die Strafen müssen den Kosten, welche Steuerhinterziehung verursacht, proportional entsprechen. Diese ökonomische Sichtweise hat bisher gefehlt. Es gab zwar zum Thema Steuerhinterziehung viele sehr gute Untersuchungen, aber sie kamen vor allem von Journalisten, NGOs und Politikwissenschaftern.
Welche Reaktionen hat Ihr Buch bisher ausgelöst?
Einen großen Fortschritt hat es bereits beim automatischen Informationsaustausch zwischen den Staaten gegeben – hier passieren derzeit substanzielle Veränderungen. Vor fünf oder sechs Jahren hielten die Politiker den automatischen Datenaustausch auf globaler Ebene noch für völlig utopisch – heute entwickelt er sich zum Standard. Weit weniger hat sich bei der Entwicklung eines weltweiten Wertpapierregisters getan. Die Idee ist, dass dort namentlich verzeichnet wird, wer welche Aktien und Anleihen besitzt. Das braucht noch ein bisschen Zeit, aber das Bewusstsein wächst, dass ein solches Register für Transparenz sorgt. Und der dritte Punkt, die Idee der Sanktionen, gewinnt gerade an Popularität. Die USA etwa haben konkrete Strafen für Banken eingeführt, die den automatischen Informationstransfer mit dem Finanzamt verweigern.
Sie haben erstmals Zahlen publiziert, die eine Idee davon geben, wie viel Geld den Staaten durch Steueroasen entgeht. Wie reagierte die Öffentlichkeit darauf?
Die Öffentlichkeit zeigt weltweit Interesse, denn es gab bisher wenig zuverlässiges Zahlenmaterial. Aber es gibt nach wie vor sehr viele Unsicherheiten, denn die Wirtschaftswissenschafter haben sich bisher nicht viel mit diesem Thema befasst. Insofern ist mit meiner Forschung jetzt einmal ein erster und vorbereitender Schritt passiert. Ich hoffe, dass diese Basis zu mehr Forschung in diesem Gebiet führen wird.
Glauben Sie, dass große soziale Probleme aufkommen könnten, wenn wir die Reichen nicht davon abhalten, noch reicher zu werden, unter anderem indem sie Steuerflucht betreiben?
Ungleichheit in einem gewissen Ausmaß ist sicher gut, denn sie motiviert zum Beispiel dazu, hart zu arbeiten oder zu sparen. Aber es kann zu viel Ungleichheit geben, wobei niemand weiß, an welchem Punkt es zu viel wird. Wenn aber der weltweite Trend in Richtung ungleiche Verteilung von Vermögen weitergeht, insbesondere in den USA und den angelsächsischen Ländern, werden wir diesen Punkt in naher Zukunft erreichen. Für den Fall, dass die Ungleichheit zu extrem wird, müssen wir schon jetzt überlegen, mit welchen Maßnahmen wir wieder die Kontrolle darüber gewinnen können.
An Ihren Handlungsempfehlungen fällt auf, dass Sie vor allem an Maßnahmen auf globaler Ebene denken. Glauben Sie nicht, dass individuelle Strafen für Steuerhinterzieher wichtig wären?
Ich halte alle Ebenen für wichtig: Es muss Strafen sowohl für einzelne Steuerhinterzieher geben als auch für Firmen, die Steuerhinterziehung unterstützen, sowie für Länder, die dasselbe tun. Besonders wichtig finde ich es, dass niemand eine Sonderbehandlung bekommt. Das Recht muss bei allen angewandt werden, ohne Ausnahmen.
Die Beispiele von Prominenten, die des Steuerbetrugs verdächtigt werden, zeigen, wie viel Zeit, Geld und Manpower nötig ist, um die komplexen Konstrukte von Briefkastenfirmen, Stiftungen und Co. zu entwirren.
Das Schlüsselproblem dahinter ist die fehlende Transparenz bei Finanzvermögen. Für Grundstücke und Immobilien gibt es Register, wenn sie auch nicht lückenlos sein mögen. Bei Finanzvermögen gibt es hier ein Informationsdefizit: Es fehlt ein weltweites Finanzkataster, auch weil es in vielen Ländern keine Vermögenssteuern gibt. Vermögenssteuern zwingen dazu, Informationen über Finanzvermögen zu sammeln.
Ihr Buch ist auffallend einfach zu lesen. War es Ihre Intention, dass das Thema von möglichst vielen Menschen verstanden wird?
Ja, das war mir sehr wichtig. Das Buch richtet sich an ein breites Publikum, und ich habe mich wahnsinnig bemüht, sehr klar und verständlich zu schreiben. Es freut mich, dass mir das offenbar gelungen ist. Die Informationen und Daten sollen den Bürgern dazu dienen, einen demokratischen Prozess in Gang zu setzen. Sie haben damit Argumente in der Hand, um die Politik zu Veränderungen auf diesem Gebiet zu bewegen.
Sie schreiben, die bisherigen Maßnahmen gegen Steuerbetrug hätten kaum Wirkung gezeigt. Warum ist das so? Müssen wir den Regierungen unterstellen, dass sie eigentlich gar nichts dagegen unternehmen wollen?
Über einen langen Zeitraum war der politische Wille tatsächlich zu gering. Es herrschte die Einstellung, gegen Steuerbetrug könne man ohnehin nichts unternehmen. Doch jetzt gibt es Fortschritte seitens vieler Regierungen. Natürlich braucht es noch mehr davon. Es geht jetzt vor allem darum, das Problem genau zu erklären, und es braucht Druck seitens der Zivilbevölkerung.
Brauchen wir mehr politische Bekenntnisse gegen Steuerbetrug?
Was wir brauchen, sind Politiker mit dem Willen, Sanktionen und Strafen gegen Länder zu verhängen, die nicht kooperieren. Wir brauchen starke politische Führer, die bereit sind, dem Anreizsystem der Steueroasen etwas entgegenzusetzen.
Warum existiert ein weltweites Wertpapierregister, wie Sie es vorschlagen, nicht längst?
Es muss intensiv darüber diskutiert werden, wie ein solches Register konkret funktioniert. Natürlich kostet das auch etwas, nur dürfen die Kosten nicht übertrieben hoch sein. Es geht auch um Fragen der Datensicherheit, damit es hier keinen Missbrauch gibt. Da ist noch sehr viel zu tun. Aber schlussendlich muss es ein solches Register geben.
Selbst wenn all Ihre Vorschläge realisiert werden würden: Würden einige es sich nicht wieder richten und neue Wege finden, um ihrer Steuerschuld zu entkommen?
Nein, das glaube ich nicht. Wir sind dem Steuerbetrug nicht schicksalhaft ausgeliefert. Es gibt Wege, damit fertig zu werden. Natürlich müssen die Instrumente und Steuerinstitutionen laufend neu erfunden und dann konstant immer wieder angepasst werden – wenn zum Beispiel neue Anlageformen wie etwa Bitcoins entstehen.
Die Maßnahmen und Sanktionen, die Sie vorschlagen, sind ziemlich hart. Geht es wirklich nur auf diese Tour? Oder haben Sie auch andere Möglichkeiten in Betracht gezogen und überprüft?
Natürlich gibt es verschiedene andere Möglichkeiten, zum Beispiel Strafzahlungen für Banken. Ich versuche in meinem Buch, sehr konkrete Vorschläge zu machen. Was wichtig ist, ist ein Prinzip: Die Strafen müssen den Steueroasen teurer kommen, als sie durch die Steuerhinterziehung gewinnen.
Wie wichtig ist es, ständig an diesem Thema dranzubleiben und die Daten aktuell zu halten?
Das ist sehr wichtig. Ich versuche laufend, meine Schätzungen zu aktualisieren, denn, wie gesagt, das Offshore-Vermögen steigt nach wie vor sehr rasch an. Ich stelle regelmäßig neue Daten auf meine Website (gabriel-zucman.eu) und schreibe immer wieder neue Aufsätze. Im September 2015 wird mein Buch in aktualisierter und erweiterter Auflage auf Englisch erscheinen. Die Welt ändert sich ständig, und es ist sehr wichtig, am Ball zu bleiben, aktuelle Entwicklungen zu verfolgen und immer die neuesten Daten einzubeziehen.
Würden Sie Österreich als Steuerparadies bezeichnen?
Bis vor Kurzem wehrte sich Österreich gegen den automatischen Informationsaustausch innerhalb der EU. Von diesem Standpunkt aus gesehen, hat Österreich die Steuerflucht bis dahin ermöglicht und wurde zu Recht auf der Liste der Steuerparadiese geführt. Nun hat es seinen Widerstand aufgegeben.
Sind Sie in dieser Einschätzung nicht sehr milde, immerhin ist Österreich das einzige EU-Land, das seine Teilnahme am automatischen Informationsaustausch auf OECD-Ebene auf 2018 verschoben hat?
Es gibt dennoch positive Entwicklungen. Vor allem aber waren in Österreich nie große Summen an ausländischem Vermögen geparkt. Die Beträge sind vergleichsweise bescheiden, laut Oesterreichischer Nationalbank sind es 30 Milliarden Euro. Zum Vergleich: In Luxemburg sind es zehnmal so viel, in der Schweiz 60-mal so viel. Österreich war also nie ein bedeutender Finanzplatz. Von daher ist es eigentlich nicht nachvollziehbar, warum man so lange weiterhin am Bankgeheimnis festgehalten hat und sich über Jahre hinweg aufseiten Luxemburgs so engagiert hat, um das Bankgeheimnis aufrechtzuerhalten oder den automatischen Informationsaustausch und die EU-Sparrichtlinie zu verzögern.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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]]>Als Kutalek die Leitung der Akademie übernahm, verfügte er über viele Erfahrungen in der politischen Erwachsenenbildung. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst beim Verband Wiener Volksbildung. Er promovierte 1961 und war von 1966 bis 1986 Professor für Pädagogische Soziologie und Politische Bildung an der Pädagogischen Akademie. 1985 erhielt Kutalek von der AK den Auftrag, ein neues pädagogisches Konzept für die Sozialakademie zu entwickeln. Dabei sollten die Themen Mitbestimmung, Humanisierung der Arbeit und soziale Kompetenz besondere Berücksichtigung finden.
Norbert Kutalek gilt als Mitbegründer und Vertreter einer neomarxistisch orientierten, kritischen Erziehungs- und Bildungswissenschaft in Österreich. Für ihn war Bildungspolitik immer der Hebel, um die Veränderung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse voranzutreiben. Sein Motto dabei lautete immer „Fördern statt Auslesen“. Integratives Lernen war eine Antwort auf neue gesellschaftliche Herausforderungen. In der Sozialakademie reformierte er die bestehende Prüfungssystematik und führte eine fächerübergreifende Projektarbeit, die in Teamarbeit durchgeführt wird, ein.
Die Analysen Kutaleks im Bereich der emanzipatorischen Bildung haben großteils heute noch ihre Richtigkeit und Aktualität, auch in der gewerkschaftlichen Bildung.
„Erzählen Sie, bitte, um was es geht“, bat Sabrina, stellte eine Teekanne und zwei Tassen bereit und rückte die Schale mit Keksen zurecht.
„Es geht um meinen Freund – Kollegen Julian. Er ist weg.“
So wie Frau Mathes’ Katze. Was war da heute los?!
„Seit wann?“ Sabrina goss den nach Zimt duftenden Tee ein.
„Er kam gestern nicht nach Hause. Es gab in der letzten Zeit Veränderungen an seinem – an unserem Arbeitsplatz. Eine neue Geschäftsführung, Mitspracherechte wurden beschnitten, die Entscheidungsprozesse zentralisiert. Wir waren das anders gewohnt.“
Sabrina machte sich Notizen, ließ sich die Namen geben.
„Julian hat darunter sehr gelitten, er wurde als Einziger häufig kritisiert. Dazu kommt …“ Norman Steirer griff nach seiner Tasse. Seine Hand zitterte, als er sie zum Mund führte. „Julian und ich haben ein Verhältnis. Wir wollten es an der Arbeit geheim halten. Aber ein Kollege hat kürzlich mitgehört, wie wir uns unterhalten haben. Über – egal, es war klar, dass wir zusammen sind und zusammen wohnen. Darüber wurde hinter seinem Rücken getuschelt. Dann wurde Julian über Sitzungen nicht informiert, Informationen, die er brauchte, wurden ihm vorenthalten.“
„Mobbing?“, fragte Sabrina.
„Vermutlich. Ich habe nicht solche Anwürfe zu hören bekommen. Wenn jemand dumme Scherze macht, verbitte ich mir das ausdrücklich. Julian hat gehofft, wenn er es ignoriert, wird es besser. Es wurde aber nur schlimmer. Er könnte sich etwas angetan haben.“
„Ist er irgendwo hin gefahren? Um sich zu erholen?“
„Julian? Nein, er kennt kaum Leute.“
„Was ist mit Familie?“
„Zu seinem Vater in Amerika hat er fast keinen Kontakt, auch die Mutter sieht er selten. Bei den beiden habe ich als Erstes gefragt.“
„Ich werde alles tun, um Ihren Freund zu finden. Haben Sie ein Bild von ihm?“
„Natürlich.“ Norman Steirer gab ihr eine abgegriffene Farb-Fotografie.
„Haben Sie eine Vermisstenanzeige gemacht?“
„Nach weniger als einem Tag? Die haben mich nicht ernst genommen. Es heißt, wenn es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, wird nach Volljährigen nicht gesucht.“ Gedrückt saß Norman Steirer in der Sofaecke, als ein Scharren hörbar wurde. Etwas Schwarzes schoss unter dem Sofa hervor. Frau Mathes’ schwarze Katze!
„Molly, was machst du hier?“, fragte Sabrina.
„Molly? Du heißt Molly?“ Norman Steirers Gesichtsausdruck wurde weich.
„Was für eine schöne Katze, wirklich rein schwarz.“
Die Katze sah von unten her zu ihm auf, sprang auf das Sofa, legte ihm den Kopf aufs Knie und schnurrte ihn an. Norman Steirer lächelte. Kurz darauf sprang Molly auf und schoss zur Tür – Sabrina ging hin, um zu öffnen. Das schwarze Fellknäuel zischte hinaus. Ein Fall gelöst, zumindest einer!
Auch Norman Steirer verabschiedete sich nun, deutlich entspannter, wenngleich immer noch besorgt. Sabrina schloss fröstelnd die Tür. Sie telefonierte die Polizeistationen ab, ob etwas über Selbstmorde bekannt war – nichts. Dann die Spitäler – kein Julian Miller. Bei Julians Arbeitgeber gab sie sich als mögliche Kundin aus und bekam zu hören, er sei nicht im Büro.
Sabrina sah auf die Uhr. Zeit für eine kurze Pause bei Leon. Ihr schwuler Cousin stand in der Tür seiner Café-Bar auf dem Markt.
„Sabrina, wie schön, dich wiederzusehen!“
„Servus, Leon! Ich hab viel zu tun.“
„Ist doch gut, wenn das Geschäft läuft. Komm rein, du erfrierst mir noch.“ Leon hielt ihr die Tür auf. Drinnen saßen ein paar wenige Gäste über einem späten Frühstück. Sabrina setzte sich an die Bar. Leon hantierte an der Espresso-Maschine und stellte einen Cappuccino vor sie hin.
„Ich brauche deine Unterstützung.“ Sie nahm einen Schluck Kaffee und spürte, wie ihre Gehirnzellen auf Trab kamen. Dann erzählte sie ihm von ihrem Auftrag, ohne Namen zu nennen. Leon behandelte alles vertraulich, das wusste sie. „Ich weiß, du hast dich nie versteckt“, sagte sie , „aber wie würde jemand deiner Erfahrung nach reagieren, wenn er wegen seines Schwulseins gemobbt wird?“
„Hat er sich an eine Beratungseinrichtung gewandt?“ Leon griff zu einem Telefonbuch unter dem Tresen und zeigte ihr drei Namen. „Viel Glück. Übrigens, kannst du meinen Ex-Freund wiederfinden, Sabrina?“
„Was habt ihr alle? So viele Mittel zur Kommunikation, und ihr schafft es trotzdem nicht, Kontakt zu halten!“
„Och …“
„Aber Ex-Freund ist ein gutes Stichwort.“
Sie warf Leon ein paar Münzen auf die Theke und verabschiedete sich schnell.
Im Büro wählte sie Norman Steirers Nummer und fragte nach Ex-Freunden. „Wissen Sie Namen?“
„Natürlich.“ Pause. „Es gibt eigentlich nur einen. Paul Schmidtschläger war mit ihm in einer Theatergruppe. Er war mir nie sympathisch, auch ohne dass er mein Vorgänger war.“
„Wo finde ich ihn?“
„Er ging früher gern ins Café Rose. Das ist ein, ähm, Schwulen-Treffpunkt.“ Ein Seufzen drang durch die Leitung. „Halten Sie die Lage für dermaßen aussichtslos?“
„Nein, im Gegenteil. Je mehr Spuren wir nachgehen, umso erfolgversprechender.“
„Das hoffe ich.“ Sabrina ließ sich den Ex-Freund beschreiben, dann legten sie auf. Noch ein Gespräch mit Leon, ein paar Infos über das Café Rose – und Sabrina machte sich auf den Weg. Noch ein Kaffee. Warten. Ein Glas Wein. Da, das konnte er der Beschreibung nach sein. Ein schlanker junger Mann, kinnlange blonde Haare. Sabrina ging zu ihm hinüber.
„Herr Schmidtschläger?“
„Ja.“ Irritiert sah der Blonde sie an. „Wer lässt fragen?“
„Sabrina Lahodinski, ich bin Detektivin und in einem Auftrag hier. Hätten Sie kurz Zeit?“
Schmidtschläger schob sich zögernd eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Worum geht es?“
„Kennen Sie Julian Miller?“
„Ich …“ Wieder die Haare. „… kannte ihn.“
„Er wird vermisst.“
Schmidtschläger wirkte nicht sehr überrascht.
„Haben Sie ihn gesehen? Bitte sprechen Sie.“
„Wenn Norman das erfährt, dann …“
„Norman hat mich beauftragt, weil er sich Sorgen macht. Ich behandle jede Information vertraulich. Es geht um das Wohl von Julian Miller.“
Schmidtschläger gab sich einen Ruck. „Julian war außer sich, als er gestern zu mir kam. Gestern ist das Mobbing eskaliert. Ein paar Idioten haben ihn in der Toilette überfallen. Sein direkter Vorgesetzter kam dazu und hat Julian fristlos entlassen, weil er ihn für den Schuldigen hielt. Es sagten alle anderen Zeugen genau dies aus.“ Schmidtschläger stockte, als die Kellnerin sich näherte und einen kleinen Mokka vor ihm abstellte. „Julian war unsicher, wie sein Freund zu ihm steht, da er in derselben Firma arbeitet. Er hatte sogar Angst, dass Norman mit der Attacke zu tun hat. Deshalb ist er zu mir gekommen. Er wusste nicht, wem er trauen konnte. Norman ist zudem eifersüchtig.“
„Na, dann kann ich ja Entwarnung geben. Schöne Grüße an Herrn Miller, vielleicht kann er sich jetzt bei seinem Freund melden.“
„Mache ich. Wenn Norman wirklich unschuldig ist …“
„Andernfalls hätte er sich wohl kaum an mich gewandt.“
Schmidtschläger nickte nachdenklich.
„Das Mobbing gehört weiterverfolgt und möglicherweise vors Arbeitsgericht.“
Sie verabschiedeten sich, vom Büro informierte Sabrina ihren Klienten.
Als sie sich fertig machte zum Heimgehen, schaute Florian überraschend in ihrem Büro vorbei.
„Wie geht’s dir und deinem Filmprojekt? Weißt du schon, wie du meinen Großvater darstellen wirst?“ Neugierig sah sie ihn an.
„Nicht sag, du vermisst auch jemanden.“
„Jemanden nicht, aber etwas.“ Er grinste Sabrina an. „Und zwar das Essen mit einer bestimmten Person, die mir das noch schuldig ist.“
„Na gut, dann löse ich das heute ein. Gehen wir.“
Anni Bürkl ist Journalistin, (Krimi-)Autorin und Lektorin. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Göttinnensturz“ und ist Teil einer Krimireihe rund um Teelady Berenike Roither, die Fortsetzung erscheint 2015 wieder im Gmeiner Verlag.
]]>Einschränkungen
Schauen wir nur einige Jahre zurück. „Speed kills“ war ab 2000 das Motto einer Politik, die das Begutachtungsrecht von ÖGB und AK schlicht ignorierte. Gesetzesänderungen mit Kürzungen im Sozialbereich wurden nicht sozialpartnerschaftlich verhandelt, sondern als Initiativanträge im Parlament eingebracht, und schon waren die Möglichkeiten der Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen erheblich eingeschränkt. GewerkschafterInnen, die gegen diese Politik auftraten, wurden durch Gesetzesänderungen aus einflussreichen Positionen entfernt. Die Zusammensetzung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger wurde geändert, um den damaligen Hauptverbandspräsidenten und Regierungskritiker Hans Sallmutter aus dieser Position zu entfernen. Der AK wurde mit der Halbierung des Beitrags gedroht und die gesetzliche Mitgliedschaft immer wieder zum Thema gemacht. Erst durch massiven gewerkschaftlichen Widerstand, Streiks und Demonstrationen kam die Regierung zurück an den Verhandlungstisch. Ohne dieses entschlossene Auftreten wären die gewerkschaftlichen Möglichkeiten, Einfluss auf für ArbeitnehmerInnen wesentliche Gesetze zu nehmen, wohl für lange Zeit verloren gewesen.
Unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Regierung wird auch der Ton zwischen den Kollektivvertrags-Verhandlern rauer. Sozialpolitische Fortschritte durch Verbesserung des Rahmenrechts sind immer schwieriger zu erreichen. Die Arbeitgeberseite hat sich in die Forderung nach Arbeitszeitflexibilisierung verrannt. Und das, obwohl die ArbeitnehmerInnen in Österreich noch immer alle Aufträge in der Zeit erledigt haben. Zeichen eines härter werdenden Verteilungskampfs. Der früher selbstverständliche Konsens, den ArbeitnehmerInnen einen fairen Anteil am Unternehmenserfolg zuzugestehen, ist vielfach nicht mehr gegeben. Dividenden sind wichtiger als Investitionen oder das Wohl der Beschäftigten, die die Gewinne erarbeiten. Immer öfter müssen zur Durchsetzung von Lohnerhöhungen Kampfmaßnahmen ergriffen werden. Wenn es bei der Gewinnmaximierung hilft, wird auch einmal eine andere Gewerbeberechtigung angenommen, um einen „billigeren“ Kollektivvertrag anwenden zu können. Die rechtlichen Mittel, dagegen vorzugehen, sind inzwischen unzureichend und müssen verbessert werden.
In die Trickkiste greifen
Auch das Leben der BetriebsrätInnen wird härter. Mit den Instrumenten der 1970er-Jahre im heutigen Umfeld die Belegschaft bestmöglich zu vertreten ist eine Herausforderung. Die VerfasserInnen des Arbeitsverfassungsgesetzes konnten sich Umstrukturierungen und Ausgliederungen im heutigen Ausmaß nicht vorstellen. BertriebsrätInnen müssen, unterstützt von Gewerkschaften und Arbeiterkammern, schon hart arbeiten und manchmal auch tief in die Trickkiste greifen, um die Interessen der Belegschaft gegenüber dem Unternehmen durchzusetzen. Auch hier ist eine Verbesserung des rechtlichen Handwerkszeugs nötig.
„Jammern auf hohem Niveau“, sagt Karoly, unser ungarischer Kollege. Eine Herausforderung und der Auftrag, sich nicht mit Erreichtem zufriedenzugeben, sage ich. Mitbestimmung ist durch starke und aktive Gewerkschaften und Betriebsräte jeden Tag neu zu erkämpfen.
Arbeiten ohne Ende? Arbeiten bis zum Ende?!
Johanna Klösch, Arbeits- und Organisationspsychologin der Arbeiterkammer Wien, greift ein Thema auf, das viele von uns kennen: das Gefühl, aufgrund der ständigen Erreichbarkeit nicht mehr genug Zeit für Erholung zu haben.
Umfragen zeigen, dass bereits ein Drittel der Beschäftigten auch in der Freizeit arbeitet, 14 Prozent sogar im Krankenstand. In vielen Unternehmen ist es üblich, dass man am Wochenende erreichbar sein muss oder in der Freizeit wichtige Abendveranstaltungen besucht.
Klösch weist darauf hin, dass Menschen Erholungszeiten jedoch dringend benötigen und die individuellen gesundheitlichen Folgen, aber auch die betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten nicht zu unterschätzen sind. Einige Unternehmen haben die negativen Auswirkungen des „Hamsterrads“ bereits erkannt und entsprechende Maßnahmen gesetzt. Wichtig wäre jedoch eine neue Arbeitszeitkultur in allen Unternehmen.
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http://blog.arbeit-wirtschaft.at/arbeiten-ohne-ende/
Arbeitszeitverkürzung
Der Ökonom Michael Schwendinger beschäftigt sich mit dem „quasi-religiös“ diskutierten Thema der Arbeitszeitverkürzung (AZV). Dabei greift er Argumente auf, die üblicherweise gegen eine AZV ins Treffen gebracht werden.
„AZV funktioniert nicht“ – KritikerInnen argumentieren, dass die Arbeitszeitverkürzung in der Komplexität der realen Arbeitsmärkte nicht funktionieren kann, ein fixes Arbeitsvolumen könne nicht einfach problemlos umverteilt werden. Schwendinger plädiert dafür, Arbeitszeitverkürzung differenziert und unter Berücksichtigung wichtiger kritischer Fragen (bspw. des Lohnausgleichs) zu diskutieren.
„AZV kann man sich nicht leisten“ – Erfahrungen aus Österreich bzw. Deutschland (Bsp.: Kurzarbeit) oder auch Frankreich zeigen, dass Arbeitszeitverkürzung nicht per se zu höheren Kosten führt. Zudem erkennen bereits jetzt manche Unternehmen, dass eine Arbeitszeitverkürzung Krankenstände reduzieren und die Produktivität steigern kann.
„AZV dämpft die Nachfrage“ – hier herrscht große Uneinigkeit unter ÖkonomInnen. Schwendinger verweist in diesem Zusammenhang auf Keynes, der die Verkürzung der Arbeitszeit als wichtiges Instrument zur Erreichung von Vollbeschäftigung herausgestrichen hat.
Schwendinger kommt zum Schluss, dass die Arbeitszeitverkürzung kein nebenwirkungsfreies Allheilmittel sei, aber unter bestimmten Voraussetzungen Beschäftigung schafft.
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http://blog.arbeit-wirtschaft.at/arbeitszeitverkuerzung-als-instrument-der-wirtschaftspolitik/
Fünf Thesen zur Debatte von TTIP
Pia Eberhardt, Expertin für Konzernlobbyismus in der EU-Außenhandels- und Investitionspolitik, greift das „heiße Eisen“ des geplanten Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA (TTIP) auf. Sie präsentiert fünf Thesen zur Deutung des doch überraschenden Schritts der EU-Kommission, Konsultationen zum TTIP zuzulassen.
Eberhardt streicht hervor, dass der gemeinsame Widerstand von zivilgesellschaftlichen Organisationen und BürgerInnen Früchte getragen hätte. Diesen konnte die Kommission – trotz ihrer „Abschottung“ – nicht länger ignorieren. Die Kritik am TTIP bezieht sich vor allem auf die geplanten Investor-Staat-Klagerechte. Konzerne könnten die Klagerechte nutzen, um vor privaten internationalen Schiedsgerichten, im Namen des Eigentumsschutzes im Investitionsrecht, Politik im Sinne des Gemeinwohls zu bekämpfen, und Entschädigungen in Milliardenhöhe kassieren.
Laut Eberhardt besteht die Gefahr, dass die EU-Kommission die Reform von TTIP heranziehen könnte, um neue „reformierte“ Investoren-Rechte in der EU zu verankern und damit das Regime der Investitionsrechte weiterhin abzusichern.
Der momentane Streit um das Konzern-Klagerecht könne durchaus ein „Window of Opportunity“ sein, das es in Anbetracht der Reichweite des Abkommens zu nutzen gelte. Es brauche dazu aber einen langen Atem und eine Verbreitung des Widerstandes auf beiden Seiten des Atlantiks.
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Einzelbetreuung
Die Sektion Zürich/Schaffhausen ist eine sogenannte Pilotregion, in der die Gewerkschaftsarbeit in eine kollektive Mitgliederbetreuung und eine individuelle Mitgliederbetreuung geteilt wurde. Konkret bedeutet das, dass die Beratung und Betreuung des oder der Einzelnen von der restlichen gewerkschaftlichen Arbeit getrennt wird. Die Umstellung auf dieses Modell hatte zur Folge, dass mehr Potenzial für die kollektive Mitgliederbetreuung freigesetzt und die Beratung zielgerichteter und qualitativ hochwertiger geworden ist.
Schon die ersten Wochen führten zu interessanten Erkenntnissen. So verlaufen Mitgliederwerbegespräche in der Schweiz ähnlich wie in Österreich. Thema Nummer eins: der Gesamtarbeitsvertrag (GAV) – also das Schweizer Äquivalent zum Kollektivvertrag. Lauscht man den Gesprächen, stößt man aber auch auf andere Themen wie die „Vollzugskosten“, die Mitglieder über ihre Gewerkschaft zurückfordern können, oder die Paritätische Kommission, die in der Schweiz auch bei Lohnproblemen tätig wird. Der wohl auffälligste Unterschied scheint aber zu sein, dass es für die Schweizer GewerkschafterInnen im Außendienst zu ihrem Alltag gehört, mehr- und vielsprachige Gespräche mit den Menschen zu führen.
Organizing bedeutet harte Arbeit. Die Zürcher „OrganizerInnen“ teilen sich ihre Arbeit weitgehend selbst ein, wobei abends und an Wochenenden auffällig viel gearbeitet wird. Sogenannte House Visits stellen ein effektives Mittel in der Schweizer Gewerkschaftsarbeit dar. Wie der Name schon sagt, werden ArbeitnehmerInnen in ihren eigenen vier Wänden besucht, was – wie es scheint – eine Reihe an Vorteilen mit sich bringt.
„Die Menschen fühlen sich zu Hause wohl und es fällt ihnen leichter, offene Gespräche zu führen. Zu Hause fühlen sie sich sicher, wenn sie uns über Probleme in ihrem Betrieb berichten oder wenn sie sich rechtlich beraten lassen wollen“, erklärt ein Zürcher Gewerkschaftssekretär.
Aufbauteam
Mit gezielter Kampagnenarbeit für ArbeitnehmerInnen der verschiedenen Branchen beschäftigt sich in der Unia das Aufbauteam. Als sich vor den Gesamtarbeitsvertragsverhandlungen Schwierigkeiten in der Baubranche abzuzeichnen begannen, trafen sich die Mitglieder des Aufbauteams mit den BauarbeiterInnen – zum Teil in Baracken – und nutzten deren Vormittagspausen und Mittagspausen für Präsentationen und Informationsveranstaltungen. Neben der Betreuung der Vertrauensleute und der verschiedenen Branchen kümmert sich das Aufbauteam auch um die Sprachgruppen, die eine ganz besondere Gruppe innerhalb der Schweizer Gewerkschaftsbewegung darstellen. Sprachgruppen arbeiten aktiv an Weiterbildungsveranstaltungen, zu denen unter anderem Sprachkurse zählen. Portugiesisch, Albanisch und Serbokroatisch stehen dabei im Vordergrund.
Teil des eigenen Erlebens
Nur wenige Wochen in einem „fremden“ Land führen zu vielen neuen Eindrücken und Erfahrungen. Eindrücke und Erfahrungen enden nicht in dem Moment, in dem sie passieren. Hat man sie einmal gesammelt, ist es unmöglich, an jenen Punkt zurückzukehren, an dem sie noch nicht Teil des eigenen Erlebens waren. Man nimmt sie mit und sie verändern die eigene Sichtweise, das eigene Arbeiten und das eigene Wesen. Und das ist das Wertvolle daran, weil wir schließlich alle voneinander lernen können.
INTERVIEW
Zur Person - Matthias Hartwich
Alter: 47
Beruf: Director, Mechanical Engineering and Materials Industries
Erlernter Beruf: Diplom-Politikwissenschafter
Firmenstandort (Mitarbeiter): Genf (GE), knapp 50 MitarbeiterInnen
Gewerkschaft: Unia (Unia ist eine branchenübergreifende Schweizer Gewerkschaft. Sie organisiert die Arbeitnehmenden in Industrie, Gewerbe, Bau und privatem Dienstleistungsbereich), IG BAU
Was bedeutet Ihnen Arbeit?
Selbstverwirklichung, mit Menschen umgehen, soziale Kontakte. Ich habe, im wahrsten Sinne des Wortes, „einen Bock auf Leute“.
Wie sehen Sie die Wirtschaft?
Gesellschaftliche Basis, auf der wir uns bewegen, Spielfeld für die sozialen Konflikte. „Sein bestimmt das Bewusstsein.“ (Marx) Die Wirtschaft ist die Basis für alles, gleich dem Feld, auf dem wir alles erwirtschaften, verteilen und gestalten.
Was bedeutet Ihnen Gewerkschaft?
Die Gewerkschaft ist nicht nur mein Arbeitgeber, die Gewerkschaft ist meine Heimat (vor allem die IG BAU) – mit einer Fülle an Kontakten und einem weltumspannenden Netzwerk. Aus meiner Sicht ist die Gewerkschaft in der Schweiz eher Ordnungsfaktor als Gegenmacht!
Was bedeutet Ihnen die EU?
Die EU ist der Raum, in dem wir ökonomisch und auch politisch die Regeln setzen müssen! In der Schweiz ist die EU wichtiger Partner, aber ein EU-Beitritt kein Thema.
Ihr Lieblingsland in Europa? Warum?
Mein Lieblingstier ist der Otter – ist schlau und fleißig. Ich halte nicht viel von „Lieblingsländern“ und dergleichen.
Was bringt der Euro-Betriebsrat?
Aus Gewerkschaftssicht ist der EBR eines der zentralen Themen und der Beginn einer grenzüberschreitenden ArbeitnehmerInnenmitwirkung (ich war früher als Trainer für Euro-Betriebsräte tätig). Der EBR muss sich noch entwickeln, stellt die Basis dar (siehe auch die Frage über die Wirtschaft) und soll sich über die Grenzen hinweg organisieren. Der EBR ist die einzige grenzüberschreitende ArbeitnehmerInnenvertretung mit gesetzlicher Basis! Mein Wunsch wäre: „Enger an Gewerkschaften.“ Das Problem auch der Schweizer Firmen ist: Sie wollen Marktzugang, Personenfreizügigkeit etc. Die ArbeitnehmerInnenmitwirkung ist jedoch eher gering ausgeprägt!
Wie und wie oft machen Sie Urlaub?
Eher individuell, zweimal im Jahr.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Wir müssen es schaffen, dass es keine Rolle spielt, welche Augenfarbe, Haarfarbe bzw. welches Geschlecht jemand hat. Alle ArbeitnehmerInnen sind Mitglieder einer Gewerkschaft (Stichwort: „freie“ Gewerkschaft) – weltweit (global sind circa sieben Prozent organisiert).
Das Steuersystem in der Schweiz ist anders als in Österreich, was zeichnet es aus?
Der Schweizer Staatsbürger bekommt sein Gehalt/seinen Lohn brutto und führt Steuern selbst ab. Das erfolgt monatlich in Form einer „Steuerrechnung“, man zahlt durchschnittlich circa 25 Prozent, das ist je nach Kanton unterschiedlich. Es gibt eine gemeinsame Veranlagung der Ehepartner. Das Steuersystem ist dreiteilig aufgebaut: Es gibt bundesweite Abgaben (überall in der Schweiz ident), Abgaben im Kanton (unterschiedlich) und Abgaben im Wohnort (unterschiedlich). Das ergibt einen maximalen Durchschnittssteuersatz von circa 30 Prozent. Der „Ausländer“ bzw. der im Ausland wie Frankreich wohnt: Abgaben werden von der Payroll komplett abgezogen und abgeführt. Man bekommt sein Gehalt bzw. seinen Lohn netto.
Wie funktioniert die Sozialversicherung?
Es gibt eine Versicherungspflicht bei privaten Versicherern, die personenbezogene und -abhängige Sätze verrechnen, plus unterschiedliche Selbstbehalte im Versicherungsfall.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor martin.bramato@proge.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Jedenfalls positiv
Die Sozialpartnerschaft hat Zukunft und soll noch lange weiterbestehen: Die Meinung der Präsidenten von ÖGB, AK, WKÖ und LK sowie von deren JugendvertreterInnen kam wenig überraschend, wurde aber von WissenschafterInnen aus verschiedenen Sparten untermauert. „Staaten mit hoher sozialpartnerschaftlicher Intensität weisen eine überdurchschnittliche makroökonomische Performance auf“, lautet das Ergebnis einer Studie von Silvia Rocha-Akis vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO). „Unterm Strich ist die Sozialpartnerschaft auf jeden Fall positiv für das Land“, meint auch Ökonom Friedrich Schneider, Professor an der Johannes Kepler Universität Linz.
Mehr Wachstum
Schneider betont allerdings auch Nachteile der Sozialpartnerschaft, etwa den Rent-Seeking-Effekt: Die Interessenvertretungen würden ihren politischen Einfluss dafür verwenden, eigene Vorteile auf Kosten anderer herauszuschlagen (Schneider: „Zum Beispiel die Landwirte für sich“), was für die Allgemeinheit wiederum negative Folgen haben könne. „Rent Seeking muss aber nicht immer per se negativ sein“, gesteht Schneider zu. Insgesamt würden jedenfalls die positiven Effekte überwiegen: „Die Sozialpartnerschaft hat einen positiven Koordinierungseffekt, sie führt zu mehr Wachstum.“ Zwischen 2001 und 2011 sei die österreichische Wirtschaft um 1,25 Prozent gewachsen, davon seien 0,47 Prozent auf die Sozialpartnerschaft zurückzuführen. Schneider: „Ein Ergebnis, auf das die Sozialpartner stolz sein können.“
Das WIFO hat die österreichische Sozialpartnerschaft im internationalen Vergleich betrachtet. Daten aus 16 westeuropäischen Ländern wurden darauf untersucht, welche Wirkung sozialpartnerschaftliche Strukturen auf Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Einkommensverteilung haben. Die Länder wurden dafür in Gruppen eingeteilt: Zu den Ländern mit intensiver Sozialpartnerschaft zählen neben Österreich Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen und die Niederlande. Kriterien dafür: hoher Organisationsgrad bzw. Pflichtmitgliedschaft bei den Arbeitgeberverbänden, hohes Maß an Koordination der Gewerkschaften. Schwach ausgeprägt sei sie hingegen in der Schweiz, in Großbritannien, Griechenland und Italien. Nach der Krise standen die Sozialpartner-Länder deutlich besser da, vor allem auf dem Gebiet der Arbeitslosigkeit, insbesondere bei den Jugendlichen. Und: „Die Reallöhne sind in den Ländern mit ausgeprägter Sozialpartnerschaft am deutlichsten gestiegen“, sagte Rocha-Akis beim Sozialpartner-Dialog.
Die auf politischer Ebene regelmäßig heftig kritisierte Pflichtmitgliedschaft bewertet die WIFO-Studie positiv: Da alle Bevölkerungsgruppen erfasst sind, verhandeln die beteiligten Verbände im Interesse der Allgemeinheit und nicht nur für die eigenen Mitglieder. Das sieht auch ÖGB-Präsident Erich Foglar so: „Auch wenn ich hier die einzige Organisation repräsentiere, die von freiwilligen Mitgliedsbeiträgen abhängig ist, versichere ich, dass der ÖGB ein starker Partner für die Beibehaltung der Pflichtmitgliedschaft ist.“ Die hohe Kollektivvertragsabdeckung würde eine klare Sprache sprechen: 95 Prozent der heimischen Arbeitsverhältnisse seien über Kollektivverträge geregelt.
Gemeinwohlorientierung
Politikwissenschafter Emmerich Tálos von der Universität Wien betonte, dass die Sozialpartnerschaft mehr sei als nur die Summe von ArbeitnehmerInnen- und Arbeitgeber-Verbänden: Sie sei ein „tripartistisches System, ohne Regierung läuft keine Sozialpartnerschaft“. Auch wenn sich die Sozialpartnerschaft laufend verändert habe und zuletzt unter der schwarz-blau-orangen Regierung unter Druck geraten sei, müsse man der Sozialpartnerschaft den Vorzug gegenüber anderen Formen der Einflussnahme auf die Politik geben: „Sozialpartnerschaft basiert auf Konsens über verbandsübergreifende Ziele wie Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze usw. und auf Gemeinwohlorientierung – im Gegensatz zu Lobbyingverbänden.“
Abgeschlankte Version
Die Sozialpartnerschaft werde es weiter geben, ist Tálos überzeugt, wenn auch möglicherweise in einer „abgeschlankten Version“: Es sei davon auszugehen, dass eine Koalition von Parteien, die ein enges Naheverhältnis zu den großen Interessenvertretungen haben, in Zukunft keineswegs wie bisher die dominante Regierungsform sein würde. „Eine Regierung aus Neos, FPÖ und Grünen wäre keine förderliche Konstellation für die Sozialpartnerschaft.“
„Nur weil eine Regierung sie nicht will, heißt das noch nicht, dass es keine Sozialpartnerschaft mehr gibt“, merkte ÖGB-Präsident Erich Foglar an. Auch zwischen 2000 und 2006 wurden sämtliche Kollektivverträge verhandelt und abgeschlossen. Sozialpartnerschaft funktioniere auf verschiedenen Ebenen. Die betriebliche Ebene sei „besonders wichtig für den sozialen Frieden im täglichen Arbeitsleben“.
Laut Tálos seien künftig folgende Szenarien möglich: „Erstens die Reduktion der Interessenvermittlung auf punktuelle Absprachen wie Sozialpakte oder zweitens die Reduktion auf bipartite Beziehungen der traditionellen Interessenorganisationen“, also vor allem auf Kollektivvertragsverhandlungen. Die Auflösung der Sozialpartnerschaft hält Tálos für unwahrscheinlich. Ihr werde auch von der Öffentlichkeit großes Vertrauen entgegengebracht, „daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert“. AK-Präsident Rudi Kaske sieht „eine abgeschlankte Sozialpartnerschaft nicht als das Modell der Zukunft. Ich glaube ganz fest an eine starke Sozialpartnerschaft, egal ob das 2014, 2020 oder 2040 ist.“
„Was die Politiker und Sozialpartner im Hier und Jetzt entscheiden, muss von der heutigen Jugend umgesetzt und bezahlt werden“, meinte Herbert Rohrmair-Lewis, Vorsitzender der Jungen Wirtschaft (JW). Entsprechend müsse die Jugend in alle Entscheidungen der Sozialpartner eingebunden werden. Konkreter Sascha Ernszt, Vorsitzender der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ): „Wir Jungen wollen unsere Ideen und Visionen einbringen. Deshalb fordern wir einen fixen Platz im Wirtschafts- und Sozialbeirat.“ Er sprach damit jenen Thinktank der Sozialpartner an, der auch den Bad Ischler Dialog organisiert.
Keine Vertiefung auf EU-Ebene
Obwohl Länder mit intensiver Sozialpartnerschaft in der Krise besser abgeschnitten hätten, sieht Tálos bisher keine Vertiefung der Sozialpartnerschaft auf EU-Ebene. Die Wahrscheinlichkeit für den Ausbau dieser Einrichtung auf europäischer Ebene sei umso geringer, je schwächer nationale Sozialpartnerschaften ausgebildet seien. „Es fehlt der Grundkonsens über gemeinsame Ziele; es fehlt an einer Balance zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Interessen.“
Wettbewerbsfähigkeit
Laut WKÖ-Präsident Christoph Leitl werden die Sozialpartner in Zukunft auch auf europäischer Ebene eine maßgebliche Rolle spielen, wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Europa geht: „Das Match wird lauten: USA gegen China – und gegen Europa. Dabei können wir nur durch Qualifikation, Innovation und Geschwindigkeit punkten. Wir müssen die Sozialpartnerschaft in Europa auf eine breite Basis stellen, um hier punkten zu können.“ Und auch Erich Foglar sieht Handlungsbedarf in Brüssel: „Auf EU-Ebene fehlen noch viele Voraussetzungen gesetzlicher Art, die nötig wären, damit Sozialpartnerschaft funktionieren kann.“
Linktipp:
Bad Ischler Dialog 2014 der österreichischen Sozialpartner: www.sozialpartner.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor florian.kraeftner@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Gewerkschaftliche Bildung fördert selbstständig denkende und eigenständig agierende BetriebsrätInnen (BR) und GewerkschafterInnen und gibt ihnen das Handwerkszeug, um die Interessen der ArbeitnehmerInnen erfolgreich vertreten zu können. Es geht dabei – anders als in manch anderen Bildungseinrichtungen – nicht darum, den TeilnehmerInnen eine bestimmte Meinung als die einzig richtige und wahre zu vermitteln. Ganz im Gegenteil, sie sollen Aussagen hinterfragen, Dingen auf den Grund gehen und sich selbst aufgrund der Faktenlage und vor dem Hintergrund des interessenpolitischen Standorts eine Meinung bilden können.
Emanzipatorischer Ansatz
Der emanzipatorische Ansatz gewerkschaftlicher Bildung ist geprägt durch selbst organisierte Lernphasen, die durch den Austausch mit FachexpertInnen ergänzt werden. Lebens- und Arbeitsbedingungen sind keine Naturgesetze, sondern durch Entwicklungen und Ideologien entstanden und deshalb auch jederzeit veränderbar. „Das ist so und kann nicht verändert werden“, ist einer jener Sätze, denen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit massiv entgegengetreten wird. Sinnvolle Veränderungen sind jedoch möglich, wenn die aktuellen Verhältnisse verstanden und aufgrund von Faktenkenntnissen Schlüsse für die Zukunft gezogen werden können. Wer Dinge verändern möchte, muss Realitäten kennen/anerkennen und klare Visionen für die Zukunft entwickeln. Genau dies versucht die gewerkschaftliche Bildungsarbeit in ihren verschiedenen Angeboten mitzugeben – indem klare Fakten vermittelt werden, jedoch auch immer darauf hingewiesen wird, welche Auswirkungen diese für die Arbeits- und Lebensbedingungen von ArbeitnehmerInnen sowie andere Gruppierungen haben. Darauf aufbauend werden die TeilnehmerInnen angeregt und begleitet, sich Gedanken über die zukünftige Gestaltung einzelner Bereiche sowie der Gesellschaft insgesamt zu machen.
Die Konfrontation mit immer mehr und immer schneller wechselnden Informationen ist eine große Herausforderung für ArbeitnehmervertreterInnen in der heutigen Zeit. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit schult die Auszubildenden dahingehend, solche Informationen handlungsmotivierend zu verarbeiten und interessenpolitisch einordnen zu können. Damit einher geht die Politisierung von Interessen und Bedürfnissen.
Gewerkschaftliche Bildung gibt genügend Zeit für die Vermittlung von konkreten Sachinformationen sowie für Diskussionsphasen, eigenes Ausprobieren und Experimentieren. Die aktive Mitarbeit der TeilnehmerInnen wird angeregt, Methoden, die Selbstständigkeit fördern, sind für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit somit zentral. Außerdem wird sehr stark auf den Ansatz des exemplarischen Lernens gesetzt. Das heißt, man lernt anhand eines Beispiels, von dem aus auf allgemeine Zusammenhänge geschlossen werden kann.
Blick über den Tellerrand
Denkverbote haben keinen Platz in gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen, vielmehr wird kreatives und alternatives Denken sowie das „Über-den-Tellerrand-Schauen“ speziell gefördert. Daher hat gewerkschaftliche Bildung den Anspruch, immer Allgemeinbildung und Zweckbildung für die soziale Auseinandersetzung zu sein. Somit ist gewerkschaftliche Bildung auch immer politische Bildung.
Vermittelt werden gewerkschaftliche Grundwerte wie demokratische Mitbestimmung, solidarisches Handeln, Chancengleichheit, Toleranz sowie gerechte Verteilung des Wohlstands. Diese Werte sollten in allen Kursen berücksichtig werden. Das zugegebenermaßen etwas utopische Ziel ist, dass man nach einer gewerkschaftlichen Ausbildung im Idealfall ein „homo politicus“ ist, also eine Person, die nach Gerechtigkeit strebt und politisch handelt. Dadurch soll sie sich massiv vom eigennutzmaximierenden „homo oeconomicus“ unterscheiden, der das Ergebnis vieler anderer Ausbildungen darstellt.
Werkzeug
Bei all diesen theoretischen Bildungsidealvorstellungen, die bei der Konzeption und Durchführung gewerkschaftlicher Bildungsangebote einfließen sollten, ist es aber entscheidend, BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen ein Handwerkszeug für ihre konkreten Tätigkeiten in den Betrieben, bei Kollektivvertragsverhandlungen oder bei der Interessendurchsetzung mitzugeben. Erreicht werden soll die Stärkung der gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit.
Diese spezielle Art von Bildung wird in unterschiedlichen Kursen und Lehrgängen des Verbands Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB) und der Arbeiterkammern je nach Zielgruppe angeboten. Österreichweite Bildungsangebote sind die „Sozialakademie der Arbeiterkammer“ (SOZAK) und die „Gewerkschaftsschule“. Die Gewerkschaftsschule ist ein zweijähriger Abendlehrgang, der berufsbegleitend eine gewerkschaftspolitische Basisausbildung für interessierte Gewerkschaftsmitglieder und ArbeitnehmervertreterInnen bietet. Die Gewerkschaftsschule wird in ganz Österreich angeboten und hat zum Ziel, die gewerkschaftspolitische Arbeit und die praktische Betriebsarbeit zu unterstützen. Die Gewerkschaftsschule bietet eine Grundlagenausbildung in wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen sowie in Gesellschaftspolitik, Gewerkschaftskunde und sozialen Kompetenzen wie Rhetorik oder Präsentationstechnik.
Die Sozialakademie wiederum ist seit 1949 die Spitzenausbildung der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. Aus ganz Österreich werden jedes Jahr von den Gewerkschaften und Arbeiterkammern zwischen 20 und 30 BetriebsrätInnen aus großen Unternehmen sowie GewerkschaftssekretärInnen vorgeschlagen, die diesen zehnmonatigen Vollzeitlehrgang in Wien absolvieren. Dabei erhalten die SOZAK-TeilnehmerInnen eine umfassende Bildung und Ausbildung in unterschiedlichen gewerkschafts- und gesellschaftspolitischen Bereichen. Neben arbeitsrechtlichen, volkswirtschaftlichen, betriebswirtschaftlichen sowie (sozial-)politischen Kenntnissen werden an der SOZAK u. a. auch Verhandlungs- und Medienschulungen sowie Führungskräfte- und Rhetoriktrainings durchgeführt.
Bei den SOZAK-Projektarbeiten lernen die TeilnehmerInnen nicht nur selbstständiges Recherchieren und Arbeiten zu gewerkschaftspolitisch relevanten Themen, sondern auch, zukünftige Entwicklungen abzuschätzen und betriebsrätliche und gewerkschaftliche Antworten darauf zu geben.
Um handlungsfähig zu sein, müssen BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen in der heutigen Zeit auch länderübergreifend agieren können. Dazu nötige Fähigkeiten versucht die SOZAK den TeilnehmerInnen durch viele europäische Aktivitäten zu vermitteln. Das bietet neben der Beschäftigung mit europäischen Themen, der Erarbeitung von länderübergreifenden Projektarbeiten vor allem das SOZAK-Europapraktikum. Gegen Ende des Lehrgangs arbeiten die TeilnehmerInnen vier Wochen bei einer Gewerkschaft oder einer BR-Körperschaft anderer europäischer Staaten mit. Sie bekommen dort Einblicke in unterschiedliche gewerkschaftliche Strukturen, können sich gute europäische Netzwerke aufbauen und so ihre europäische Handlungsfähigkeit stärken (siehe auch „Wir sind Europa“ - Voneinander lernen).
Bindung
Was an den gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen wie etwa der Sozialakademie oder der Gewerkschaftsschule aktiv vermittelt wird und aufgrund der ReferentInnenauswahl sowie der Zusammensetzung der Gruppe aus BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen automatisch passiert, ist eine starke Bindung an den ÖGB, die Gewerkschaften sowie die Arbeiterkammer. Das kann keine Universität, keine Fachhochschule und kein College je leisten.
Linktipp:
Plattform der SOZAK-AbsolventInnen: www.ichwardabei.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die AutorInnen brigitte.daumen@akwien.at und georg.sever@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Jedes vierte Unternehmen
Dem AK-Strukturwandelbarometer zufolge ist bei jedem vierten Unternehmen einmal jährlich mit Umstrukturierungsaktivitäten zu rechnen. Jede/r zehnte Betriebsrätin/Betriebsrat war im letzten Jahr mit Verlagerungen von Tätigkeiten über die Grenze konfrontiert. Fast die Hälfte der befragten ArbeitnehmerInnenvertreter steht dieser Entwicklung negativ gegenüber und sieht darin Nachteile für die Belegschaft. Denn die Folgen sind meist Einsparungen bei Löhnen und Gehältern oder die Zuordnung zu einem nachteiligeren Kollektivvertrag.
Neben diversen Formen der Auslagerung haben auch Eigentümerwechsel, Verschmelzungen oder Akquisitionen meist gravierende Folgen für die Beschäftigten, da sie oftmals mit einem Strategiewechsel verbunden sind. Umstrukturierungen stellen somit immer große Herausforderungen für die BetriebsrätInnen dar, verbunden mit dementsprechend hoher Verantwortung. Ein Blick auf das rechtliche Instrumen-tarium zeigt, dass die gesetzlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten relativ schwach ausgeprägt sind. Die „Mitwirkung in wirtschaftlichen Angelegenheiten“ ist im Arbeitsverfassungsgesetz auf einige wenige Paragrafen beschränkt. Eine wirkliche Parität der Mitbestimmung, also eine gleichberechtigte Teilnahme am Entscheidungsprozess in wirtschaftlichen Angelegenheiten, fehlt jedoch. Das wird von der „herrschenden Lehre“ zumeist mit Grundrechtsschranken zum Schutz der Eigentümer und Unternehmer – v. a. Eigentumsfreiheit und Erwerbsfreiheit – argumentiert. Eine Verfassungsklausel in Richtung „Sozialbindung“ des unternehmerischen Eigentums, wie sie in Deutschland besteht, fehlt in Österreich.
Information statt Mitbestimmung
Mehrere einschlägige Richtlinien der EU enthalten in ihren Präambeln Absichtserklärungen und „Erwägungsgründe“. Diese offenbaren recht unverblümt den primär wirtschaftlich ausgerichteten Geist der Europäischen Union, deren notwendiger Antagonist „Sozialunion“ noch in den Kinderschuhen steckt. Da heißt es zum Thema Umstrukturierungen etwa: „Die Stärkung des Dialogs und die Schaffung eines Klimas des Vertrauens sind notwendig, um … die Arbeitsorganisation flexibler zu gestalten … Durch Unterrichtung und Anhörung (sollte der Europäische BR) die Möglichkeit haben, dem Unternehmen rechtzeitig eine Stellungnahme vorzulegen, wobei dessen Anpassungsfähigkeit nicht beeinträchtigt werden darf.“(!) Fazit: Für die Europäische Union dient Mitbestimmung scheinbar nur als Feigenblatt vor einer ungehinderten „Entfesselung“ der Wirtschaft.
Handlungsmöglichkeiten
Die Informations- und Beratungsansprüche der BetriebsrätInnen wurden im Rahmen der ArbVG-Novelle 2010 sowie durch gemeinschaftsrechtliche Entwicklungen mittlerweile deutlich verstärkt. Seit 2011 gilt, dass die „Information zu einem Zeitpunkt, in einer Weise und in einer inhaltlichen Ausgestaltung zu erfolgen (hat), die dem Zweck angemessen sind und es dem Betriebsrat ermöglichen, die möglichen Auswirkungen der geplanten Maßnahme eingehend zu bewerten und eine Stellungnahme dazu abzugeben“. Die Gesetzgebungsmaterialien der Novelle 2010 begründen das damit, dass dadurch Klarstellungen betreffend die Rechtzeitigkeit der Information des Betriebsrates getroffen werden. Demnach soll die Novellierung die Rechte effektiver gestalten, „da nur die rechtzeitige und vollständige Information des Betriebsrats die Einbindung der Arbeitnehmer und damit sachgerechte Lösungen ermöglicht“.
Chance für BetriebsrätInnen
Umstrukturierungsmaßnahmen gehorchen in der Regel rein ökonomischen Aspekten und bieten für die Manager ein gut geeignetes Instrumentarium, um schnelles und entschlossenes Handeln zu zeigen. In der Bilanz ausgewiesene Kosten können rasch reduziert dargestellt und der Beschäftigtenstand optisch nach unten gedrückt werden. Nicht selten stellen sich Umstrukturierungsmaßnahmen im Nachhinein als „kurzsichtig“ und ineffizient heraus – und es wird häufig wieder „ingesourct“. Genau darin liegt nun die Chance für BetriebsrätInnen. Im Rahmen einer Stellungnahme können sie langfristige Wirkungen herausarbeiten und der in der Regel primär ökonomischen Sichtweise des Managements soziale Aspekte gegenüberstellen. Meist kennen BetriebsrätInnen die Stärken und Schwächen des Betriebes aus dem tagtäglichen Ablauf heraus sehr genau – ein Wissensvorsprung gegenüber Kapitalvertretern im Aufsichtsrat und anderen Eigentümervertretern, der bei Stellungnahmen von besonderem Wert sein kann.
Zusätzlich benötigte Informationen sollten aufgelistet und eingefordert werden. Auf Prozessebene ist zu klären, wie die Entscheidungen getroffen und die BetriebsrätInnen dabei eingebunden wurden. Die Stellungnahme ermöglicht der Belegschaftsvertretung, ihre Vorstellungen bezüglich einer Einbeziehung in den Umstrukturierungsprozess zu artikulieren. Auf inhaltlicher Ebene sollten die Stärken und Schwächen des vorgelegten Konzepts aus der Sicht der Belegschaftsvertretung dargestellt werden. Auch wenn es nicht primäre Aufgabe der BetriebsrätInnen ist, wirtschaftliche Strategien zu entwerfen, können im Rahmen einer Stellungnahme die seitens des Managements vorgeschlagenen Strategien wirtschaftlich evaluiert werden – und es können unter Umständen sozialverträgliche Alternativen aufgezeigt werden.
Rechtsansprüche
Spätestens seit dieser ArbVG-Novelle ist klar, dass das Management oder die Eigentümer die BetriebsrätInnen nicht „vor vollendete Tatsachen“ stellen dürfen. Weigert sich der Betriebsinhaber, seinen Informations- und Beratungspflichten (einschließlich Diskussion der Stellungnahme des BR) nachzukommen, kann der Betriebsrat seinen Anspruch mittels Leistungsklage bei Gericht durchsetzen. Auch die Möglichkeit einer „einstweiligen Verfügung“ wird diskutiert, um Veränderungen stoppen zu können, die vor der gesetzlich gebotenen vollständigen und rechtzeitigen Information des BR erfolgen. Von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung wurden bestimmte Anforderungen an die Rechtzeitigkeit, Tiefe und Genauigkeit der Informationen betont. Denn die Informations- und Beratungsrechte sind Grundlage und Ausgangspunkt fast aller anderen Mitwirkungsrechte, so der OGH in einer Grundsatzentscheidung vom 22. November 2010 („Mystery-Flyer“), in der das Höchstgericht folgende Prinzipien vertrat:
INFO & NEWS
Im Frühjahr 2015 wird eine Neuauflage des Kommentars zum ArbVG im ÖGB-Verlag erscheinen. Der neuesten Rechtslage rund um Reorganisationspläne wird darin besonderes Augenmerk geschenkt. Nicht zuletzt, um BetriebsrätInnen auch bei Umstrukturierungen zu ermöglichen, mit dem Management „auf Augenhöhe“ zu kommunizieren!
Linktipp:
AK-Strukturwandelbarometer 2013: tinyurl.com/olmtxzz
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren hannes.schneller@akwien.at heinz.leitsmüller@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Vernetzung im In- und Ausland
Ein weiterer Baustein war die breitflächige Einführung des Datenbanksystems Lotus Notes. Dieses ermöglichte zum ersten Mal eine Vernetzung von Projektarbeitsgruppen auch zwischen den verschiedenen Firmenstandorten im In- und Ausland. Spezifisches Know-how sowie Arbeits- und Projektstände waren damit zum ersten Mal vergleichsweise einfach in der virtuellen Welt austauschbar und jederzeit verfügbar. Die Einführung von Internet, Intranet und Lotus Notes wurde eng vom Gesamtbetriebsrat begleitet und mündete im Abschluss einer Gesamtbetriebsvereinbarung. Zum Beispiel wurde eine eingeschränkte Privatnutzung von Internet und E-Mail am Arbeitsplatz erlaubt. Die örtlichen Betriebsratsgremien erhielten das Recht, sich mit eigenen Seiten und Themen im Intranet zu präsentieren.
Erste Stufe des Crowd-Gedankens
Bis 2008 war von einer Community oder gar einem Social-Media-Ansatz nicht die Rede. Die Vernetzung war zwar flächendeckend gegeben, ein Beteiligungsmodell im Sinn eines interaktiven vernetzten Arbeitens existierte aber nicht und war auch kein Thema in den Betriebsratsgremien. Dies sollte sich mit der Einführung der „Business Innovation“-Plattform ändern. Sicher auch angefeuert durch die aufkeimende Finanzkrise, wurde die Idee geboren, das breit gefächerte Wissen aller MitarbeiterInnen anzuzapfen, um innovative und gewinnbringende Ideen rund um den Betrieb aufzugreifen und zu vermarkten.
Der Crowd-Ansatz lag aber nicht nur darin, die einzelnen Ideen aufzunehmen, sondern wurde weitergeführt, indem allen anderen interessierten Mitarbeitern diese Idee zur Diskussion gestellt wurde, sodass in verschiedenen Stufen weiterentwickelt werden konnte. Damit wurde ein Instrument geboren, das völlig im Gegensatz zum bisherigen betrieblichen Verbesserungsmanagement stand. In der Business Innovation nämlich werden die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats ausgehebelt. Ein weiteres Problemfeld aus Sicht des Betriebsrats ist die Frage, wie eine gute Idee zusätzlich vergütet wird. Schließlich haben die Ideen-EinreicherInnen eine positive Arbeitsleistung im Sinn der Unternehmensentwicklung erbracht. Die vom Arbeitgeber entwickelten Spielregeln zu Business Innovation sehen aber keinerlei Vergütungsansprüche vor. Die Nutzung der kollektiven Intelligenz soll also dem Arbeitgeber kostenfrei zur eigenen Strategie und Gewinnoptimierung zur Verfügung gestellt werden.
Trotz aller Nachteile aus Betriebsratsperspektive hat die Plattform beziehungsweise Community den Nerv einer Gruppe innovativer Mitarbeiter getroffen. Über die Community sind natürlich auch Selbstdarstellungen möglich, was durchaus als der Karriere förderlich beurteilt wird. Mittlerweile werden Themenfelder vorgegeben, die aus Unternehmenssicht von besonderem Interesse sind. Ergänzend wird seit Kurzem versucht, den Entwicklungsprozess mithilfe von entsprechenden Kurzmitteilungen über Twitter noch zu beschleunigen, wodurch letztendlich auch die Grenzen des Beruflichen und Privaten verschwimmen. Dies ist schon deshalb problematisch, weil Business Innovation nur begrenzt im Rahmen der Arbeitszeit betrieben werden kann. Es ist also nicht gänzlich auszuschließen, dass während der Privatzeit erbrachte Denkleistungen dem Arbeitgeber in doppelter Hinsicht kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Rückkoppelung
Im Intranet wurden die wesentlichen Entwicklungen des Internets in den vergangenen Jahren Stück für Stück nachgeholt. Eingeführt wurde ein Artikelrating nach Punktevergabe in Form von Sternen, dazu kam eine Kommentarfunktion. Mit diesem einfachen Instrument konnte erstmals eine betriebsöffentliche Themenbewertung stattfinden ‒ und somit auch eine inhaltliche Rückkoppelung an das Unternehmen. Als Betriebsräte sehen wir diese Entwicklung positiv, da diese ein Teil im Mosaik der MitarbeiterInnen-Beteiligung darstellt.
Für uns ist es immer wieder erstaunlich festzustellen, wie offen sich MitarbeiterInnen unter Angabe ihrer persönlichen Daten durchaus auch sehr kritisch zu Wort melden. Hier hat die Vernetzung aus Sicht der Interessenvertretung vielen eine öffentliche Stimme verliehen, die sich bisher nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen ließ. Mit Einführung der Kommentarfunktion war der Schritt nicht mehr weit zu den ersten internen Blogs. Auch hier findet ein Austausch mit den MitarbeiterInnen statt. Die Beteiligung beschränkt sich nicht nur auf den deutschen Standort, sodass man durchaus von einer, wenn auch eingeschränkten, globalen Kommunikation sprechen kann. Auch der Human-Resources-Bereich bedient sich seit geraumer Zeit diverser interner Blogs, um Personal- und Organisationsthemen in die Belegschaft zu tragen. Gerade die Beteiligung und Einbindung von MitarbeiterInnen aus Verwaltung und Entwicklung in die Diskussion um Fragen der betrieblichen Mitbestimmung und Meinungsbildung sind für uns ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Betriebsratsarbeit. Dies stärkt nicht nur die Meinungsvielfalt, sondern führt auch leichter zu von der Belegschaft breitflächig gestützten Maßnahmen und Entscheidungen der Betriebsratsgremien.
Die stark zunehmende Nutzung von sozialen Medien im privaten Umfeld, allen voran Facebook, hat in den vergangenen zwei bis drei Jahren die innerbetriebliche Kommunikation beeinflusst. Schnell zeichneten sich erste Communities von MitarbeiterInnen ab, die sich stark mit betrieblichen Themen auseinandersetzten. Diese teilweise auch abgeschotteten Communitys entstanden auf Privatinitiative und wurden auf bestehenden öffentlichen Internetplattformen wie Xing oder LinkedIn initiiert. Dieses zunächst gut gemeinte Engagement hatte jedoch unter dem Aspekt des Schutzes von Daten und Informationen seine Schattenseiten. Aus Sicht des Betriebsrats ist hier eine teilweise elitäre Kultur entstanden, mit der sich ein Stück der betrieblichen Kommunikation verselbstständigt und letztendlich dem steuernden Zugriff des Unternehmens entzogen hat. Als Gegenstrategie wurde 2012 vom Unternehmen die Idee einer hausinternen Lösung entwickelt, die mit Facebook oder anderen Plattformen vergleichbar sein sollte. Seit geraumer Zeit läuft diese interne Plattform nun mit gezielt ausgesuchten Nutzerbereichen, um zunächst praktische Erfahrungen zu sammeln.
Schlüsselfaktor
Mit der Ausarbeitung einer Neufassung der Internetrichtlinie, die unter anderem auch den Umgang mit Social Media regelt, konnten wir seitens des Betriebsrats unsere Aspekte durchaus mit einbringen. Dazu gehört zum Beispiel die Möglichkeit des Internetzugriffs für alle Beschäftigtengruppen während der Arbeitszeit. Gute Social-Media-Arbeit, egal ob Blog oder auf Austauschplattformen, wird in Zukunft mit Sicherheit ein Schlüsselfaktor erfolgreicher Betriebsratsarbeit werden. Die Generation Digital Native wird in den Betrieben zunehmen. Hier werden Erwartungen nicht nur an die Unternehmen herangetragen, sondern auch an die Belegschaftsvertretung im Sinn eines Beteiligungsmodells.
Die traditionellen Mechanismen der Gewerkschaftsarbeit funktionieren in der virtuellen Welt nicht mehr. Die Transformation steht noch ganz am Anfang. Sie muss schneller, umfassender und tiefgreifender werden, wollen die Gewerkschaften den Anschluss nicht verlieren.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren bernd.oehrler@daimler.com und joerg.spies@daimler.com oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Einheitlicher Kollektivvertrag
Als ein Signal in die richtige Richtung deutet der Gewerkschafter die Tatsache, dass alle Fachverbände bei der diesjährigen Forderungsübergabe anwesend waren. Dem Wunsch nach gemeinsamen Verhandlungen wurde zwar auch dieses Jahr nicht entsprochen, dennoch konnten die Gewerkschaften Anfang November ihr Ziel eines einheitlichen Kollektivvertrages (KV) erreichen. Nach insgesamt 14 Verhandlungsrunden einigten sich die Gewerkschaften PRO-GE und GPA-djp (Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier) mit den sechs Fachverbänden der Metallindustrie auf einen einheitlichen Kollektivvertrag und einen einheitlichen Lohn- und Gehaltsabschluss für alle 180.000 Beschäftigten der Branche. Die Ist-Löhne und Ist-Gehälter sowie die kollektivvertraglichen Mindestlöhne und Mindestgrundgehälter steigen um 2,1 Prozent. Zudem wurde die Anwendung der Freizeitoption vereinbart. Für die ArbeitnehmerInnen bedeutet das, dass die Ist-Erhöhung in zusätzliche Freizeit umgewandelt werden kann. Soweit eine Betriebsvereinbarung vorhanden ist, können die Beschäftigten selbst bestimmen, ob sie die vereinbarte Option in Anspruch nehmen oder nicht.
Kollektivverträge sind die wichtigste Form der Mitbestimmung in Unternehmen. Vertreten durch die Gewerkschaften stehen ArbeitnehmerInnen dem Arbeitgeber gleichberechtigt gegenüber. Wie die Verhandlungen der Metallindustrie zeigen, sind Kollektivverträge einerseits Vereinbarungen zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen, die zur Regelung von Entlohnung und Arbeitsbedingungen abgeschlossen werden. Andererseits haben sie viele zusätzliche Funktionen zu erfüllen, wie etwa gleiche Konkurrenzverhältnisse auf der Arbeitgeberseite herbeizuführen. Das wird erreicht, indem ein System von Lohn- und Arbeitsbedingungen im Bereich größerer Wirtschaftsgruppen festgelegt wird, das die Bedingungen der jeweiligen Gruppe vereinheitlicht. Nicht zuletzt haben KVs auch eine wichtige Ordnungsfunktion, da durch sie viele Auseinandersetzungen auf Betriebsebene vermieden werden.
98 Prozent durch KV geschützt
In Österreich fallen fast alle unselbstständigen ArbeitnehmerInnen unter einen Kollektivvertrag. Zum ersten umfassenden KV-Abschluss kam es im Jahr 1896. Damals profitierten die Buchdrucker von den Vorteilen eines KVs. Mittlerweile gibt es hierzulande über 800, jährlich werden über 450 von den Gewerkschaften verhandelt.
Eine Studie der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) zur Tarifbindung von ArbeitnehmerInnen bescheinigt Österreich eine Spitzenposition im internationalen Vergleich. Knapp 98 Prozent aller österreichischen ArbeitnehmerInnen sind durch KVs geschützt. Im Vergleich dazu sind zum Beispiel nur 62 Prozent der deutschen und nur 14 Prozent der Beschäftigten in den USA abgesichert. Kollektivverträge verhelfen ArbeitnehmerInnen zu vielen Rechten und Ansprüchen, die nicht gesetzlich geregelt sind, wie etwa das Urlaubs- und Weihnachtsgeld und die jährlichen Lohnerhöhungen.
Auch hinsichtlich der Arbeitszeit gibt das Gesetz nur den Rahmen vor, die Gewerkschaften verhandeln hier für jede Branche faire Arbeitsbedingungen aus. KVs regeln außerdem die Zuschläge für Schichtarbeit, Feiertagsarbeit, Überstunden und Mehrstunden – und auch Freizeitansprüche bei Übersiedlung oder Heirat. Außerdem gelten in Österreich Kollektivverträge für alle ArbeitnehmerInnen, auch wenn sie keine Gewerkschaftsmitglieder sind. Im Fachjargon wird das „Außenseiterwirkung“ genannt. Nichtsdestotrotz ist es überaus wichtig, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Mehr Mitglieder bedeuten, dass mehr Druck ausgeübt werden kann, um bessere Ergebnisse und mehr Mitbestimmung für Beschäftigte bei den Verhandlungen erzielen zu können.
Trotz Beendigung wirkt der KV nach
Anders als in anderen Ländern nimmt der KV hierzulande eine sehr hohe Stellung ein und steht in der Arbeitsrechtsordnung auf Platz zwei, direkt nach dem zwingenden Recht laut Gesetz. Dahinter reihen sich Betriebsvereinbarung, Arbeitsvertrag, dispositives Gesetzesrecht und Weisungen.
Welche Vorteile ein Kollektivvertrag und dessen richtige Anwendung haben, zeigt deutlich das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Fall der AUA (Austrian Airlines). Mitte 2012 beschloss die AUA, ihren Flugbetrieb in Form eines Betriebsüberganges in die Tochtergesellschaft Tyrolean einzubringen. Damit sollten auch die Arbeitsbedingungen des Tyrolean-KVs für die Beschäftigten gelten, da der bestehende Kollektivvertrag auch aufgekündigt wurde. Für das Bordpersonal bedeutete das 20 bis 25 Prozent weniger Gehalt.
Der Betriebsrat und das Bordpersonal wehrten sich und bekamen vor kurzem durch den EuGH Recht. Das Urteil besagt, dass ein alter Kollektivvertrag auch bei einem Betriebsübergang nachwirkt. Mit seinem Urteil legt der Gerichtshof die Vorschrift dahin aus, dass „in einem KV vereinbarte Arbeitsbedingungen im Sinn dieser Bestimmung auch solche mit einem Kollektivvertrag festgelegten Arbeitsbedingungen sind, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats trotz Kündigung dieses Vertrags weiter auf Arbeitsverhältnisse, die unmittelbar vor seinem Erlöschen durch ihn erfasst waren, nachwirken, solange für diese Arbeitsverhältnisse nicht ein neuer KV wirksam oder mit den betroffenen Arbeitnehmern nicht eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen wird“.
Ein Kollektivvertrag ist ein auf Dauer angelegtes Rechtsverhältnis und muss entweder durch einen neuen ersetzt oder gekündigt werden. Für die Beendigung kommen die einvernehmliche Lösung, die vorzeitige Lösung aus einem wichtigen Grund und der Zeitablauf bei Vereinbarung einer Befristungs- oder Bedingungsklausel in Betracht. Befristete und unbefristete Kollektivverträge entfalten nach Beendigung jedoch eine sogenannte „Nachwirkung“. Das bedeutet, dass der erloschene Kollektivvertrag für seinerzeit von ihm erfasste Arbeitsverhältnisse weiterhin anwendbar bleibt, bis ein neuer Kollektivvertrag oder eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen wird. Für die ArbeitnehmerInnen bedeutet das, dass sie in einem kollektivvertragslosen Zeitraum ihr Gehalt bzw. ihren Lohn erhalten.
Online informieren
Jene zwei Prozent, die noch keinen KV haben, sind zumeist Branchen, die nicht der WKÖ angehören. Dazu gehören Freizeit- und Vergnügungsbetriebe, aber auch zum Beispiel Fachhochschulen. Die Arbeiterkammer rät Beschäftigten, die unter keinen Kollektivvertrag oder Mindestlohntarif fallen, die vereinbarte Lohnhöhe mit dem Arbeitgeber schriftlich festzuhalten, zum Beispiel im Arbeitsvertrag oder auf dem Dienstzettel.
Sollte es keine Vereinbarung geben, steht der Lohn zu, der für den Beruf „angemessen und üblich ist“. Wenn kein Kollektivvertrag oder Mindestlohntarif zur Anwendung kommt, hat man auch nur dann Anspruch auf Urlaubszuschuss und Weihnachtsgeld, wenn es vereinbart wurde.
Rasche Übersicht
Die Informationsplattform www.kollektivvertrag.at bietet allen Interessierten eine rasche Übersicht und enthält die aktuellsten und wichtigsten Informationen rund um Kollektivverträge, erstmals stehen mehr als 500 Kollektivverträge öffentlich für alle ArbeitnehmerInnen im Internet zur Verfügung. Gewerkschaftsmitglieder und BetriebsrätInnen profitieren nach dem Log-in von zusätzlichen Funktionen, zum Beispiel dem Drucken von Kollektivverträgen.
Linktipps:
Die KV-Informationsplattform von ÖGB und Gewerkschaften: www.kollektivvertrag.at
Weitere Infos finden Sie auch unter:
www.kvsystem.at
www.arbeiterkammer.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin amela.muratovic@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
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]]>Fressen und Gefressenwerden
Das alte Spiel vom „Fressen und Gefressenwerden“ setzt sich also in der neuen Sphäre des Web 2.0 nahtlos fort. Aber nicht immer müssen dabei die „Kleinen“ auf der Verliererseite stehen. Gewerkschaften nutzen zunehmend die Möglichkeiten des Internets und von Social Media im Sinne der ArbeitnehmerInnen-Interessen – obwohl der Start noch etwas holprig verlief, wie etwa im Handbuch „Soziale Bewegungen und Social Media“ (#sbsm) festgehalten wird. #sbsm versteht sich als praktischer Wegweiser durch das Web 2.0 und geht dabei auch auf die Nutzung von Social Media durch Gewerkschaften und BetriebsrätInnen ein. Das wesentliche Merkmal dieser sozialen Medien besteht darin, dass sie den NutzerInnen die Möglichkeit bieten, sich untereinander auszutauschen und gemeinsam oder individuell Inhalte zu erstellen. Interaktivität soll passiven Medienkonsum ersetzen, RezipientInnen können gleichzeitig zu ProduzentInnen werden, so die Idee des Web 2.0 – die Praxis sieht freilich bisweilen anders aus.
Auch die heimische Gewerkschaftsbewegung orientiert sich verstärkt in diese Richtung: Zu den großen Homepages gesellen sich flexiblere themen- oder zielgruppenspezifische Webauftritte, die interaktiver, partizipativer und offener werden. „Was Social Media betrifft, sind Gewerkschaften mittlerweile selbstverständlich auf Facebook präsent, es gibt Blogs und YouTube-Kanäle. Die Plattformen werden heute nicht mehr von einzelnen, zentralistischen Auftritten dominiert, sondern auch von mehreren, diversen Unterorganisationen mit eigenen Seiten und Kanälen bevölkert“, heißt es im #sbsm-Handbuch. Das breite Spektrum reicht von regionalen Gruppen über lokale Branchenverbände und thematische Netzwerke bis hin zu eigenen Seiten, die sich beispielsweise der Organisation eines Kongresses widmen.
Im gewerkschaftlichen Bereich spielen logischerweise die BetriebsrätInnen eine wesentliche Rolle innerhalb dieses bunten Mosaiks. Zu den zentralen Aufgaben des Betriebsrates zählt laut österreichischem Arbeitsverfassungsgesetz neben Friedens-, Verschwiegenheits-, Kooperations- und Interessenwahrnehmungspflicht nicht zuletzt die Informationspflicht gegenüber der Belegschaft. Spätestens beim letztgenannten Punkt kommen moderne soziale Medien ins Spiel. Abgesehen von den zumindest halbjährlich gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsversammlungen erfolgte der Informationstransfer früher vor allem durch klassische Medien wie MitarbeiterInnen-Zeitungen, diverse Info-Blätter und andere Aussendungen sowie Aushänge am „Schwarzen Brett“. Durch die rasanten Umbrüche in der Arbeitswelt (mehr Flexibilität, Teilzeitjobs, zunehmende räumliche Distanzen als Folge der Aufnahme von externen MitarbeiterInnen und Ausbau von Filialnetzen sowie Teleworking) stoßen diese „alten Medien“ allerdings an ihre Grenzen.
Newsletter statt „Schwarzes Brett“
Im 21. Jahrhundert ergeben sich zum Glück andere Möglichkeiten, in die Christian Penn, stellvertretender Vorsitzender des Zentralbetriebsrates der Diözese Linz, Einblick gewährt: „Das klassische Schwarze Brett beispielsweise ist prinzipiell eine gute Einrichtung, macht aber wenig Sinn, wenn die ArbeitnehmerInnen geografisch weit verstreut sind. Unsere rund 320 MitarbeiterInnen sind über die gesamte Diözese, sprich praktisch über das ganze Bundesland Oberösterreich, verteilt.“ Lange Zeit versuchte man die MitarbeiterInnen durch eine Betriebsratszeitung zu erreichen. Die erschien aber nur einmal im Jahr, was bedeutet, dass auf Neuerungen nur sehr begrenzt eingegangen werden konnte. Auch war die Produktion relativ kosten-, aber vor allem zeitintensiv. Deshalb entschied sich die Diözese Linz für einen Newsletter: „Dieser ist einfacher zu produzieren als eine Zeitung, Kosten für den Druck fallen weg und wir können Informationen laufend aktualisieren und rasch an unsere Mitarbeiter transportieren“, führt Penn weiter aus.
Blog ersetzt Zeitung
Die gedruckte Zeitung wurde von einem Betriebsrats-Blog abgelöst. Darauf werden Interna, gesellschaftspolitische Themen oder überregionale gewerkschaftliche Aktionen wie etwa die Kampagne „Lohnsteuer runter!“ behandelt. Im Zeitalter der Vernetzung durfte im Newsletter der Link auf den Blog nicht fehlen. Penn verrät, dass zu Beginn der Schritt ins World Wide Web im Betriebsrat durchaus kontroversiell diskutiert worden ist. „Es bestand die Sorge, dass die Zeit für Social-Media-Arbeit an anderer Stelle fehlen könnte. Diese Zweifel haben sich aber schnell als unbegründet erwiesen und das Konzept stößt heute auf breite Zustimmung. Wir erhalten auch von unseren MitarbeiterInnen regelmäßig positive Rückmeldungen“, so Penn. Neben dem Austausch zu internen und betriebsexternen Fragen schätzt Penn aber auch ganz einfach die praktische Seite der intermedialen Welt: „So kann zum Beispiel der Weg zur nächsten Betriebsversammlung via Google-Maps beschrieben werden. In Zukunft hoffe ich nur, mehr KollegInnen für die Mitarbeit am Blog motivieren zu können.“ Facebook nützt Penn privat und steht hier auch im Austausch mit KollegInnen, eine geschlossene, arbeitsspezifische Gruppe wurde aber nicht gegründet.
Ist somit das Zusammenspiel zwischen sozialen Medien und der ArbeitnehmerInnenvertretung eine Erfolgsstory par excellence? Hier ist Vorsicht geboten. Denn das Netz ist bekanntlich ein offenes Buch. Es besteht die Gefahr, dass Gewerkschaftsmitglieder, BetriebsrätInnen und ArbeitnehmerInnen allzu offen ihr Herz ausschütten. Das könnte wiederum den mitlesenden ArbeitgeberInnen in die falsche Kehle rutschen, mit möglicherweise nicht gerade angenehmen Konsequenzen für die Poster. Einen schmalen Grat betreten hier gerade BetriebsrätInnen, sie unterliegen ja immerhin der Verschwiegenheitspflicht. Deshalb wird in #sbsm den BetriebsrätInnen empfohlen: „Der Betriebsrats-Blog ist kein Ort, sich mit dem Gegenüber im Management zu duellieren oder Rechnungen zu begleichen. Dokumentiere Medienberichte zum Unternehmen und zur Branche, aber erkläre nicht selbst, wie es um das Unternehmen steht. Stelle nichts Vertrauliches online, sondern behandle Themen allgemein. Sprich also beispielsweise keinen konkreten Mobbingfall an, sondern stelle stattdessen Informationen und Links zum Thema online.“ Das dürfe keinesfalls als medialer Maulkorberlass missverstanden werden. Thomas Kreiml von der GPA-djp schreibt dazu: „Im Sinne einer gewerkschaftlichen Politik der Befreiung aus Abhängigkeits- und Machtverhältnissen im Interessenkonflikt zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen müsste individuelles Auftreten in der Netzöffentlichkeit durch kollektiv organisierte Solidarität unter ArbeitnehmerInnen gegen Unternehmensinteressen verteidigt werden ...“ (tinyurl.com/nefna5w)
Potenzial für Mitbestimmung
Ein naheliegendes („Minimal-“)Ziel bestünde demnach im Schutz von ArbeitnehmerInnen vor Konsequenzen am Arbeitsplatz aufgrund von Publikationen in sozialen Medien, den es gewerkschaftlich zu formulieren und zu vertreten gelte. Kreiml, der einer der beiden Herausgeber des #sbsm-Handbuchs ist, weist im Gespräch mit „Arbeit&Wirtschaft“ aber explizit auf die positiven Seiten von Social Media hin: „ArbeitnehmerInnen und deren Vertretungen können auch kommerzielle Medien wie Facebook gut nutzen, um ihre Zielgruppe zu erreichen und breite Öffentlichwirksamkeit zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist die Lohnsteuerkampagne. Social Media weisen ein erhebliches Potenzial auf, um für mehr gesellschaftliche Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen zu sorgen.“
Mehr Infos im Internet unter:
www.betriebsratsblog.at
www.betriebsraete.at
www.lohnsteuer-runter.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor harald.kolerus@gmx.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Nur in der Theorie
In Österreich wurden die Vorgaben zwar umgesetzt, in der Unternehmenspraxis sind sie offenbar noch nicht angekommen. Wie war das noch gleich bei der ÖIAG, der OMV, dem Burgtheater oder der Telekom Austria? Professionelles Strategie- und Krisenmanagement sieht anders aus. Dafür braucht es zweifellos eine neue Generation von AufsichtsrätInnen, die sich qualifiziert, verantwortungsvoll und mutig der Unternehmenskontrolle stellt. Engagierte Kräfte, die, losgelöst von Netzwerk-(Fall-)Stricken, der Politik und/oder des Vorstands, kritisch überwachen und strategisch beraten. Die BetriebsrätInnen im Gremium spielen dabei schon jetzt eine große Rolle, trägt doch die Drittel-parität maßgeblich zur unabhängigen und kritischen Aufsichtsratsarbeit bei. Mit Ausdauer und Sensibilität in den eigenen Reihen könnte es der ArbeitnehmerInnenvertretung sogar gelingen, die treibende Kraft für einen jünge-ren, weiblicheren und internationaleren Aufsichtsrat zu werden.
Thank you for being a friend
„Der Aufsichtsrat ist ein Kollegialorgan. Er braucht Diversität: vom Gesellschaftsrechtler über den Marktexperten bis zu einem Human-Resources-Vertreter“, sagt der Mehrfachaufsichtsrat Wolfgang Ruttenstorfer. Gesagt, getan? Leider nein. Wie eine aktuelle österreichische Aufsichtsratsstudie zeigt, wird bei der Neubesetzung von Aufsichtsratspositionen nur in etwas mehr als einem Drittel der Unternehmen auf die Fachdisziplin geachtet.
Zu 91 Prozent erfolgt die Besetzung aus dem Eigentümernetzwerk. Unabhängigkeit, Expertise oder Nachwuchsplanung spielen bei der Auswahl der KandidatInnen eine untergeordnete Rolle. Was zählt, ist ein bekanntes Gesicht und Freude am Networking.
Das fröhliche Netzwerk-Recruiting kann zu einseitiger Interessenwahrnehmung sowie mangelnder Kontrolle im Aufsichtsrat führen. Dabei sind Unterschiede im Selbstverständnis zwischen Vertretern der EigentümerInnen und der Belegschaft zu beachten: „Letztere haben eine tiefere Kenntnis des Unternehmens und erkennen bei einer Entscheidung die Vor- und Nachteile für das Unternehmen besser“, stellt Roswita Königswieser in ihrer Untersuchung „Blick in den erlauchten Kreis“ fest. BetriebsrätInnen sind zudem in hohem Maße unabhängig vom Wohlwollen der Unternehmensleitung und durch ihre faktische Unkündbarkeit vor entsprechendem Druck gefeit. Die Unabhängigkeit der VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen im Aufsichtsrat wird von der EU-Kommission ausdrücklich anerkannt. Zudem zeigen deutsche Studien, dass die Mitbestimmung im Aufsichtsrat einen positiven Einfluss auf die Produktivität hat.
This is a man’s world
In der Frage der Vielfalt hat die ArbeitnehmerInnenseite gleichermaßen Aufholbedarf wie die Kapitalvertreter. Aktuelle Daten vom September 2014 zeigen, dass in den 20 im ATX gelisteten Unternehmen von insgesamt 225 AufsichtsrätInnen lediglich 33 Frauen in der Unternehmenskontrolle tätig sind.
Zehn der insgesamt 63 BetriebsrätInnen sind weiblich (15,9 Prozent), unter den KapitalvertreterInnen sind es mit 14,2 Prozent nur knapp weniger Frauen. Mehr als drei Viertel der AufsichtsrätInnen sind 50 Jahre und älter, nur 16 MandatsträgerInnen sind 40 Jahre und jünger.
Ein typischer Aufsichtsrat in den Topbörsenunternehmen ist also männlich und im Schnitt Ende 50. Dabei sieht der Gesetzgeber immerhin seit 2012 vor, dass bei der Auswahl von Aufsichtsratsmitgliedern auf die Aspekte der Diversität hinsichtlich der Vertretung beider Geschlechter und der Altersstruktur sowie bei börsennotierten Gesellschaften auf die Internationalität der Mitglieder zu achten ist. Der Haken dabei: Es gibt keine Sanktionen bei Nichteinhaltung dieses Gesetzes. Was wiederum zur Folge hat, dass sich weder Arbeitgeber- noch ArbeitnehmerInnenseite daran halten. So bleibt vieles beim Alten: Einheitsbrei statt Vielfalt. Einziger Lichtblick sind die staatsnahen Unternehmen, die dank Quotenregelung spürbare Fortschritte machen. Es geht also doch: Von den insgesamt 285 vom Bund entsandten Aufsichtsratsmitgliedern (in jenen 55 Unternehmen, an denen der Staat mit mehr als 50 Prozent beteiligt ist) sind 94 Frauen (33 Prozent).
Fit&Proper
Neben Unabhängigkeit und Vielfalt zeichnet einen professionell zusammengesetzten Aufsichtsrat Qualifikation aus. Mit zunehmender Komplexität der Geschäftsmodelle braucht es mehr Spezialwissen wie beispielsweise bei der Überwachung von Kreditinstituten. Nach der Finanzkrise hat die EU-Kommission als eine von vielen Maßnahmen die unternehmensinterne Bankenaufsicht stärker in die Pflicht genommen. Um laufend die Qualifikation der Organe sicherzustellen, wurde der „Fit&Proper“-Test ins Leben gerufen: So hat die Finanzmarktaufsicht (FMA) seit Mai 2013 die Möglichkeit, alle AufsichtsrätInnen (BetriebsrätInnen ausgenommen!) österreichischer Banken auf ihre Fachkenntnisse zu prüfen.
Eine oftmals langjährige Zugehörigkeit zum Unternehmen sowie der intensive Austausch mit MitarbeiterInnen, dem Vorstand oder der Geschäftsführung bescheren den BetriebsrätInnen umfangreiches Organisationswissen, das sie bei der Überwachung des Unternehmens gut nützen können. Laut FMA sind BetriebsräInnen dazu angehalten, sich laufend weiterzubilden. Das tut die ArbeitnehmerInnenvertretung bereits jetzt, und zwar unter anderem im Rahmen des Instituts für Aufsichtsrat-Mitbestimmung (IFAM), das Gewerkschaften und Arbeiterkammern bereits 1977 ins Leben gerufen haben. Das IFAM bietet ein umfassendes Ausbildungspaket mit Praxisbezug. Übrigens: Neu auf dem IFAM-Programm stehen ab November 2014 „Fit&Proper“-Seminare, die auf die Festigung von bankenspezifischem Wissen abzielen.
Driving force
BetriebsrätInnen bringen sich also schon jetzt dank ihres umfassenden Unternehmenswissens und ihrer Unabhängigkeit von Eigentümerinteressen wertvoll und konstruktiv in die Aufsichtsratsarbeit ein. Was jedoch die neuen Anforderungen betrifft, besteht in den eigenen Reihen wie auf der Kapitalvertreterseite Aufholbedarf. Denn an der Spitze, nämlich im Aufsichtsrat, liegt der Frauenanteil in der ArbeitnehmerInnenvertretung nach wie vor unter 20 Prozent, der angestrebte Zielwert von 40 Prozent bleibt damit unerreicht.
BetriebsrätInnen mit Migrationshintergrund sind weiterhin die Ausnahme und werden viel zu selten in den Aufsichtsrat entsandt. Und zur Frage der Altersstruktur der Belegschaftsvertretung liegen überhaupt nur spärliche Informationen vor, Jüngere dürften allerdings deutlich unterrepräsentiert sein.
Arbeiten wir jetzt gemeinsam als BetriebsrätInnen, Gewerkschaften und Kammern daran, der ArbeitnehmerInnenvertretung ein neues Gesicht zu geben. Halten wir uns an selbst gesteckte Ziele und lösen wir Unterrepräsentanzen mit verbindlichen Regelungen. Die Beschäftigungsvielfalt – gemessen an Arbeitszeit, Geschlecht, Herkunft oder Alter – muss sich endlich an der Unternehmensspitze und damit im Aufsichtsrat widerspiegeln.
Linktipp:
Infos für BetriebsrätInnen im Aufsichtsrat: tinyurl.com/pnvg59d
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin christina.wieser@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Yes, I can
Frauen für gewerkschaftspolitische Funktionen zu motivieren ist ungleich schwieriger als bei Männern. Warum sind Frauen zögerlich, wenn es um die Mitbestimmung im Betrieb und in der Gewerkschaft geht? 2011 haben die ÖGB-Frauen in Oberösterreich eine Befragung unter weiblichen Mitgliedern durchgeführt, um herauszufinden, unter welchen Umständen sich Frauen verstärkt in Gewerkschaften engagieren oder eine Funktion übernehmen würden. „90 Prozent der Frauen haben geantwortet, dass sie zunächst zahlreiche Schulung absolvieren müssten, bevor sie sich eine Funktion zutrauen“, erinnert sich Bettina Stadlbauer, Frauensekretärin des ÖGB Oberösterreich. „Diesen Blödsinn wollten wir ihnen schleunigst ausreden und etwas entgegensetzen.“ So ist das Projekt „Yes, I can“ entstanden, in dem Betriebsrätinnen drei Tage lang mit Selbstbewusstsein geimpft werden. „Frauen schreien nicht ‚hier‘, sondern wägen zunächst ihre Lebensumstände ab. Sie fragen sich: Kann ich das? Passt mir das? Während sie das überlegen, haben Männer längst Ja gesagt.“ Empowerment für Betriebsrätinnen ist die Devise dieses Projekts, das nun auch auf andere Bundesländer ausgeweitet werden soll. Die Doppelbelastung durch Beruf und private Betreuungsverpflichtungen behindern nach wie vor das Engagement von Frauen, wie die Ergebnisse der deutschen Studie hervorbringen. Viele Organisationskulturen im Betriebsrat und in den Gewerkschaften sind trotz des Rufes nach mehr Frauenbeteiligung traditionell männlich. Besonders deutlich wird das bei der Lohnpolitik – dem „core business“ von Gewerkschaften.
Seit Jahrzehnten versuchen Gewerkschaften, die Lohnschere zwischen Frauen und Männern zu schließen. Auch wenn die Hauptverantwortung dafür in den Betrieben liegt, haben Sozialpartner mit den Kollektivverträgen ein wichtiges Instrument für mehr Einkommensgerechtigkeit in der Hand.
Lohnpolitik ohne Frauen
Frauen haben in der Gestaltung der Lohnpolitik verhältnismäßig wenig mitzureden. „Je größer die Branche und je kleiner die Komitees, desto geringer ist der Frauenanteil bei den Lohnverhandlungen“, so Peter Schleinbach, Bundessekretär für Kollektivvertragspolitik in der PRO-GE. Die spezifischen Interessen von Frauen werden zwar über die Frauenabteilungen im Forderungsprogramm berücksichtigt, oft ist bei Verhandlungen aber zu wenig Spielraum, um diese Forderungen tatsächlich umzusetzen. Braucht es also eine höhere Beteiligung von Frauen in den Verhandlungsteams? „Mit einem höheren Frauenanteil bei Lohn- und Gehaltsverhandlungen wären die Themen bestimmt andere“, sind Bettina Stadlbauer und die ÖGB-Bundesfrauenvorsitzende Renate Anderl überzeugt. Etwa hätte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen höheren Stellenwert, ebenso die Umsetzung der Einkommensberichte in den Betrieben oder die Anrechnung von Karenzzeiten. Frauen würden verstärkt auf die Anhebung niedrigerer Lohngruppen setzen und nicht bis drei Uhr morgens verhandeln. Eine Umsetzung dieses Gedankenexperiments ist derzeit äußerst unrealistisch. Für einen höheren Frauenanteil in den Verhandlungskomitees fehlen weibliche Betriebsratsvorsitzende. „Die können wir nicht einfach herzaubern“, so Schleinbach. „Wir brauchen uns aber auch nichts vormachen. Engagierte und qualifizierte Frauen sind auch in Unternehmen und der Politik heiß begehrt. Sie laufen uns daher nicht gerade die Türen ein. Wir müssten schon früh Frauen anwerben und sie für leitende Funktionen im Betriebsrat und in der Gewerkschaft aufbauen.“ Maßnahmen in diese Richtung gibt es nur vereinzelt. Zielgruppen der Gewerkschaften sind meist Betriebsrätinnen, kaum Mitglieder oder andere Aktivistinnen. Das greift eindeutig zu kurz. Ein spannender Pool an potenziellen Frauen wären laut Stadlbauer ehemalige Jugendvertrauensrätinnen, die den Sprung in den Betriebsrat nicht geschafft haben und dann oft auch als Mitglieder wegbrechen.
Frauenquote für den Betriebsrat?
Das Problem der geringen Mitbestimmung von Frauen im Betriebsrat kennt auch unser Nachbarland Deutschland nur zu gut. Der Gesetzgeber hat daher festgelegt, dass jenes Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, zumindest entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis im Betriebsrat vertreten sein muss, wenn dieser aus mindestens drei Mitgliedern besteht (§ 15 Abs. 2 BetrVG). In Österreich wurde eine solche Quotenregelung noch nicht andiskutiert, zumindest nicht offiziell. In Oberösterreich hat Bettina Stadlbauer den Antrag auf Quotenregelung im Betriebsrat im Frauengremium beschlossen. Der Antrag wurde an den ÖGB Oberösterreich weitergeleitet und verweilt nun unter dem Siegel der Verschwiegenheit in einer Schublade. Das Quoten-Thema lässt die Wogen hochgehen, es ist unbequem und wer sich dafür einsetzt, macht sich schnell unbeliebt. Eine Organisation, die öffentlich laut nach Transparenz und nach dem Schließen der Lohnschere ruft, darf sich vor so einem unbequemen Vorstoß nicht verschließen, denn das Thema der Lohnschere und der mangelnden Mitbestimmung von Frauen ist langfristig weitaus ungemütlicher.
Auch innerhalb gewerkschaftlicher Gremien war die geringe Präsenz von Frauen immer wieder Anlass zu Diskussionen. Die GPA (heute GPA-djp) hat 1998 als erste Gewerkschaft die Einführung einer Quotenregelung bei der Besetzung von Gremien entsprechend dem Mitgliederanteil beschlossen. 2007 wurde beim ÖGB-Bundeskongress eine Quote festgelegt, nach welcher der Frauenanteil mindestens der weiblichen Mitgliederzahl entsprechen muss. Im Vorstand ist die Umsetzung der Quote gelungen. „Ich bin nun seit 35 Jahren im ÖGB. In diesem Zeitraum hat sich sehr viel zum Besseren verändert“, mahnt Anderl, die positiven Entwicklungen bei der Mitbestimmung von Frauen im Auge zu behalten. Im Schulungsbereich wird mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse von Frauen genommen und der Frauenanteil unter Mitgliedern, in Betriebsräten und in Gewerkschaftsfunktionen steigt. Abgesehen davon sei die notwendige Mitbestimmung von Frauen in Gewerkschaften nun auch vom Papier in den Köpfen angelangt.
Der Wurm muss schmecken
ÖGB und Gewerkschaften brauchen Frauen dringender denn je. Abgesehen davon, dass Frauen 48 Prozent der unselbstständigen Erwerbstätigen ausmachen und schon deswegen für eine ausgewogene Mitbestimmung in der Arbeitswelt entsprechend vertreten sein sollten, ist die Zukunft der Arbeitswelt weiblich. Das traditionell männliche Erwerbsmodell bricht auf, der Anteil männlicher Mitglieder sinkt und die Arbeitswelt wird informeller, somit „weiblicher“. Es ist nicht nur eine Frage der Ideologie, die Mitbestimmung von Frauen im Betrieb zu fördern, sondern auch eine Überlebensstrategie für ÖGB und Gewerkschaften. Damit sich Frauen gewerkschaftspolitisch engagieren, braucht es machbare Bedingungen abseits traditionell männlicher Organisationskulturen. Gewerkschaften und ÖGB haben allerhand zu tun, das enge Nadelöhr zu vergrößern und den Wurm schmackhaft zu machen.
Linktipp:
Arbeitnehmerinnen im Betriebsrat – eine Ausnahme?
Dissertation über Hemmnisse von Frauen auf dem Weg ins Betriebsratsgremium: tinyurl.com/nub3xmy
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin steindlirene@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Trend zur Prekarisierung
Eine wesentliche Änderung ist der Trend zur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Leiharbeit, „freie“ Dienstverhältnisse und Scheinselbstständigkeit hat es seinerzeit nicht oder jedenfalls nicht in fühlbarem Ausmaß gegeben. Das Gesetz ist an diese neuen Formen von Ausbeutung nicht wirklich angepasst worden. Das merkt man zum Beispiel bei der Betriebsratsgründung bei einem Arbeitskräfte-Überlasser. Der Betriebsinhaber muss niemandem mitteilen, in welchem Einsatzbetrieb überlassene ArbeitnehmerInnen tätig sind. Das Gesetz sieht bis heute vor, dass mit einem Anschlag an einer Tafel am Sitz des Unternehmens zur Betriebsversammlung zwecks Wahl eines Wahlvorstandes einzuladen ist. Dies ist allerdings sinnlos, denn dort sind überlassene ArbeitnehmerInnen praktisch nie.
Eine weitere Herausforderung ist die Frage der Vertretung der LeiharbeiterInnen „über Kreuz“: Darf wirklich der Betriebsrat, der im Überlasserbetrieb gewählt wurde, nicht vor Ort im Einsatzbetrieb kontrollieren, ob wenigstens die Vorschriften des ArbeitnehmerInnenschutzes eingehalten werden – auch wenn dort kein Betriebsrat besteht? Dürfen BetriebsrätInnen im Einsatzbetrieb wirklich keine Einsicht in die Lohnunterlagen der überlassenen Arbeitskräfte nehmen? Wie sollen sie dann feststellen, ob zum Beispiel deren Bezahlung dem Gesetz und Kollektivvertrag (KV) entspricht, was sie ja auch zum Schutz der Stammbelegschaft überprüfen sollen? Beides wird in der Literatur behauptet und beides sollte der Gesetzgeber schnell richtigstellen.
Ein anderes Ungleichgewicht besteht bei den „freien“ DienstnehmerInnen. Denn warum soll ein Kollektivvertrag nicht die wesentlichen Beschäftigungsbedingungen für sie regeln können? Oder deren Vertretung auf Betriebsebene? Warum nicht wenigstens eine Regelung wie jene für HeimarbeiterInnen auch für „freie“ DienstnehmerInnen und für Werkvertragsbeschäftigte ohne eigenen Betrieb schaffen? Für sie gilt: aktives, aber kein passives Wahlrecht; Betriebsvereinbarungen gelten nur, wenn dies ausdrücklich vorgesehen ist.
Machtungleichgewicht
Ein Machtungleichgewicht herrscht allerdings auch bei den regulären Arbeitsverhältnissen. Hätte es zu jener Zeit schon die Praxis benachteiligender Vertragsklauseln gegeben, wer bezweifelt, dass ein Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung solcher Vertragsschablonen vorgesehen worden wäre? Statt den Gerichten eine Vielzahl heikler Abwägungsentscheidungen zu überlassen, wäre die Gestaltung von Vertragsformularen in den Händen der betrieblichen Sozialpartner bei Nichteinigung der Schlichtungsstelle doch weit besser aufgehoben.
Veränderte Strukturen
Vergleicht man die Betriebsgrößen damals und heute, fällt auf, dass es einen massiven Trend zu kleineren Betrieben gibt: Die Zahl der Arbeitsstätten mit weniger als 100 Beschäftigten ist zwischen 1973 und 2012 von rund 280.000 auf fast 700.000 angewachsen! Die Zahl der größeren Betriebsstätten ist fast unverändert geblieben. Kein Wunder, dass allein in den vergangenen fünf Jahren die Zahl jener ArbeitnehmerInnen, die von einem Betriebsrat vertreten werden, von 47 Prozent auf 39 Prozent gefallen ist.1 Was hätte das ArbVG vorgesehen, wenn diese Situation 1974 bereits bestanden hätte? Jedenfalls wären Teilfreistellungen auch in Betrieben mit weniger als 150 Beschäftigten vorgesehen gewesen. Es ist schließlich nicht einzusehen, dass ein Betriebsrat, der zum Beispiel 80 ArbeitnehmerInnen zu vertreten hat, nicht Anspruch auf eine Halbtagsfreistellung hat. Das wäre übrigens auch vorteilhaft für die Arbeitgeber, denn dann ist der Zeitpunkt der Verrichtung von Betriebsratsarbeit viel besser planbar als heute. In einer solchen Situation hätte das Gesetz auch deutlich bessere Rechte der Gewerkschaften betreffend den Zugang zum Betrieb vorgesehen. Diese Rechte sind, was die Betriebsebene betrifft, fast völlig vom Bestehen eines Betriebsrates abhängig. Das führt in Betrieben ohne Betriebsrat zu einem gänzlichen Schutzdefizit! Es braucht zumindest Zugangsrechte, das Recht, Versammlungen durchzuführen, und eine Verhandlungspflicht des Betriebsinhabers.
Auch die Gründung von Betriebsräten muss erleichtert werden. Bei jeder zweiten Betriebsratsgründung muss derzeit ein Gericht eingreifen! Ein Wahlvorstand aus Funktionären der AK (oder aus Richtern) könnte die heikelste Gründungsphase (Wahl des Wahlvorstandes) ersparen. Die Behinderung einer Betriebsratswahl darf nicht länger als Kavaliersdelikt betrachtet werden. Sie sollte, ebenso wie die Behinderung von Wahlen zur Wirtschaftskammer, nach den §§ 266 ff Strafgesetzbuch mit Gefängnis bestraft werden!
Wertungswiderspruch
Aber denken wir auch an die Änderung von Unternehmens- und Konzernstrukturen, die heute alltäglich sind: Ist es nicht erstaunlich, dass ein Eigentümerwechsel oder sogar bloß ein Kontrollwechsel (Wechsel des beherrschenden Eigentümers) zwar für Minderheitsaktionäre Rechte und Handlungsoptionen auslöst, mitnichten aber für ArbeitnehmerInnen? Ist das nicht ein unverständlicher Wertungswiderspruch? Viele Manager berufen sich auf Vorgaben ferner Konzernzentralen, die leider unverhandelbar seien. Rechtswidrigerweise werden BetriebsrätInnen einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Bis ein Urteil ergeht, ist es meist auch längst zu spät! Faktische Entscheidungen sind umgesetzt und irreversibel, der Schaden für die Beschäftigten nicht mehr gutzumachen. Dagegen hilft wohl nur ein abschreckendes Schadenersatzrecht, das den vollen wirtschaftlichen Vorteil solchen Rechtsbruchs zugunsten der ArbeitnehmerInnen abschöpft.
Funktionsverluste
Standortkonkurrenz, Verlagerungen, „entfesselte“ Finanzmärkte, sinkende Realeinkommen, gerade bei den am schlechtesten Verdienenden, und „Deregulierung“ inklusive Abbau sozialer Rechte weltweit: So muss man wohl für die letzten 15 bis 20 Jahre bilanzieren. Und das ist bei Weitem nicht nur ein soziales und wirtschaftliches Problem! Schon 1996 hat der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, am Weltwirtschaftsforum Davos vor den versammelten Regierungschefs gemeint, sie stünden nun unter der Kontrolle der Finanzmärkte. Ähnliche Äußerungen machte auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Waren sich diese bewusst, was sie da sagen? Wenn die Finanzmärkte die Regierungen kontrollieren, leben wir nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer Plutokratie – der Herrschaft der Reichen. An den Börsen hat bekanntlich nicht ein Bürger eine Stimme, sondern ein Dollar: Wer mehr Geld hat, hat dort mehr zu sagen. Ob die „Vorherrschaft der Politik über die Wirtschaft“ wiederhergestellt wird, entscheidet schlicht darüber, ob wir weiterhin in einer Demokratie leben. In Österreich gibt es eine Entwicklung von der Sozialpartnerschaft zur „Konfliktpartnerschaft“. In den vergangenen fünf Jahren war zum Beispiel kein Abschluss in der Herbstlohnrunde möglich, ohne dass arbeitskampfnahe Mittel ergriffen werden mussten. Auch die Debatte um eine Steuersenkung für ArbeitnehmerInnen und die Einführung von Millionärssteuern kam jahrelang nicht voran, bis der ÖGB heuer massiv in der Öffentlichkeit mobilisiert, 800.000 Unterstützungsunterschriften gesammelt und damit die Politik und auch die Wirtschaftskammer unter Druck gebracht hat.
Also weg von jener Sozialpartnerschaft, deren massive Vorteile internationale ExpertInnen auf der Tagung in Bad Ischl jüngst in höchsten Tönen gelobt haben? Vielleicht kann ja eine einfache Frage als Entscheidungshilfe dienen: Besteht Einigkeit darüber, dass das Machtgleichgewicht von 1974 wiederhergestellt werden soll? Wenn ja, muss das Arbeitsverfassungsgesetz rasch und in vielen Punkten geändert werden, damit alles wieder beim Alten ist! Wenn nein, …
1 Eichmann/Saupe: Überblick über Arbeitsbedingungen in Österreich, 2014.
Linktipp:
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]]>Mehr als verdoppelt
Klammer vertritt etwa 300 Arbeiter, 65 davon sind Zeitarbeiter. „Wir sind heuer in einer Abteilung von einem Zweischicht- in einen Dreischicht-Betrieb übergegangen“, erklärt Klammer. Stolz ist er, dass die interne Nachtschichtzulage zweieinhalbmal so hoch ist, wie es der Kollektivvertrag vorsieht. Auch die Leiharbeiter kommen in den Genuss dieser Zulage. Der Betriebsratsvorsitzende handelte geschickt und in der richtigen Minute: „Wenn die Firma schnell von zwei auf drei Schichten wechseln will, dann muss man den Zeitpunkt nutzen, um diese Anliegen durchzubringen.“ Bei den Zeitarbeitern konnte er argumentieren, dass sie für die gleiche Arbeit auch das gleiche Geld verdienen sollten. Mitunter wechseln Zeitarbeiter auch zur Stammbelegschaft über. „Mit 1. November ist wieder jemand übernommen worden, ich habe ihn gleich für die Gewerkschaft angeworben“, zeigt sich der Betriebsratsvorsitzende froh.
Seit 25 Jahren ist Günter Klammer bereits im Betrieb tätig, seit 2011 gehört das Unternehmen zum amerikanischen 3M-Konzern.
Das Betriebsratsgremium funktioniert reibungslos. Die Hauptagenden erledigt Klammer, seit 2012 freigestellt, mit seinem Stellvertreter. Um sechs Uhr morgens ist er schon in der Firma, geht selten vor 15 Uhr nach Hause. „Ich kann damit zwei Arbeitsschichten abdecken und kriege mit, was in der Firma passiert.“ Wenn jemand etwas braucht, kann er auch außerhalb der Arbeitszeiten jederzeit anrufen.
Zu seinen größten Erfolgen zählt der Betriebsratsvorsitzende, dass der Metall-Industrie-Kollektivvertrag in der Firma angewendet wird. Denn die Rappold-Winterthur Technologie GmbH gehört eigentlich dem Fachverband der Steinkeramik an. Klammer: „Bis jetzt haben wir es geschafft, Abstufungen in diesen billigeren Kollektivvertrag zu verhindern.“ Immer wieder wurden besagte Abstufungen von der Geschäftsführung angesprochen, doch vergangenes Jahr hat sich die Chefetage sogar schriftlich zum Metall-Industrie-Kollektivvertrag bekannt.
Unterstützt wird Klammer von der Fachgewerkschaft PRO-GE – das Verhältnis ist sehr gut. Die PRO-GE stellte etwa einen Experten, der Klammer beraten hat, als das Prämien-System in der Firma umgestellt wurde. „Es ist immer gut, wenn noch jemand von außen draufschauen kann. Der Experte hat auch Erfahrungen mit anderen Betrieben und kann schon mit Lösungsvorschlägen kommen.“ Nun wird ein Großteil des alten Prämien-Systems mit dem Fixlohn abgegolten. „Je länger ich im Geschäft bin, desto größer ist das Netzwerk, auf das ich zugreifen kann“, weiß Klammer. „Mit jeder Aufgabe wächst man und liest sich natürlich auch in die Thematik ein.“ Meist läuft der Kontakt über den betreuenden Gewerkschaftssekretär, doch Klammer kennt mittlerweile bereits viele ExpertInnen in den verschiedensten Bereichen. Ein Betriebsrat oder eine Betriebsrätin sollte Diskussionsfreudigkeit und Verhandlungsgeschick mitbringen. Die Bereitschaft dazuzulernen ist äußert wichtig. Über Kurse lässt sich Wissen aufbauen, viel Input kann man bei Gewerkschaftsseminaren einholen und reger Gedankenaustausch entwickelt sich vor allem bei Konferenzen, wo sich BetriebsrätInnen treffen. „Der Austausch mit Betriebsräten aus anderen Firmen ist extrem wichtig – etwa Ortsgruppe, Landesvorstand. Am Ende dieser Veranstaltungen können wir mit den anderen Betriebsräten diskutieren“, freut sich Klammer.
Erfolg im Kleinen
Bis zur Wirtschaftskrise 2008 ist die Firma Flowserve in Brunn am Gebirge – am Standort werden Pumpen, etwa zur Ölförderung, erzeugt und weltweit verkauft – ständig gewachsen. Die Angestellten führen die Entwicklung, aber auch die Auftragsabwicklung und Akquirierung durch. Bei Flowserve sind 200 Angestellte und 80 Arbeiter tätig. Als es während der Krise um Stellenabbau ging, wählte die Belegschaft einen aktiveren Betriebsrat – Angestelltenbetriebsratsvorsitzender wurde Martin Culver. Erfolge gelingen dem gebürtigen Briten und seinem Team durch kleine, gezielte Schritte. Ein Ziel ist, Klarheit zu schaffen, damit einzelne Dinge vergleichbar werden. „Wir versuchen, etwa mit Arbeitsplatzbeschreibungen eine Transparenz zu schaffen.“ Das Betriebsratsgremium teilt sich die Arbeitsbereiche gut auf: „Von jedem werden die besten Fähigkeiten herausgekitzelt“, erklärt Culver. Zum Gremium gehört Peter Kajcsa, er ist der Arbeitsrechtsexperte – „der Paragrafenchef“. Großes Verhandlungsgeschick beweist Jürgen Redl. Freilich sind auch Frauen im Team – Elfriede Diem und Antonietta Manfredi. „Sie sehen die Konflikte oft objektiver und weniger emotional“, weiß der Betriebsratsvorsitzende der Angestellten.
Flowserve ist ein Unternehmen mit vielen unterschiedlichen Kulturen – der Konzern hat weltweit rund 17.000 MitarbeiterInnen. Hier wird Rücksicht geübt, Witze und dumme Bemerkungen etwa über Religionen werden nicht toleriert. Vieles, das verhandelt wird, ist langwierig und erst nach Jahren spürbar. Culver: „Die Leute trauen sich erst langsam, über die Jahre hin, ihre Meinung zu äußern, auch wenn die Geschäftsleitung anwesend ist. Es ist einfach wichtig, auch außerhalb der Firma zu reden.“ Viele Themen lassen sich nämlich einfacher am Würstelstand gegenüber oder nach der Arbeit bei einem Bier bereden.
Betriebsrat initiiert Lehrausbildung
Die Baufirma Porr Steiermark hat Ende Oktober den Anton-Benya-Preis gewonnen. Derzeit bildet sie 21 Lehrlinge aus – bei einer Belegschaft von knapp 200 ist das eine sehr hohe Ausbildungsquote. Vor rund zehn Jahren wurde das Lehrausbildungsprogramm vom Betriebsratsvorsitzenden Christian Supper ins Leben gerufen: „Zu Beginn meiner Tätigkeit habe ich mir mit dem damaligen Niederlassungsleiter Gedanken gemacht, wie wir dem Fachkräftemangel entgegensteuern können.“ Supper hat selbst bei Porr eine Lehre absolviert. „Damals, 1986, waren wir zwei Porr-Lehrlinge in der gesamten Steiermark.“ Das Ziel: Bedürfnisse von Firma und Region auf einen Punkt zu bringen. Herausgekommen ist eine triale Ausbildungsform: Dabei machen die Lehrlinge Erfahrungen im Betrieb, der Berufsschule und auf Lehrbauhöfen, auf denen sie einige Wochen im Jahr betreut werden. Das Projekt hat sich positiv entwickelt. Die Firma profitiert, weil sie gute Maurer und Schalungsbauer ausbildet, die genau wissen, welche Anforderungen es im Betrieb gibt. Lehrlinge haben einen gesicherten Arbeitsplatz mit Perspektive im Konzern – nicht selbstverständlich, besonders, wenn sie aus der Peripherie der Steiermark stammen. In den letzten Jahren haben bereits sechs Lehrlinge die Polierschule absolviert und sind auch bereits als Poliere im Einsatz.
Ungewöhnliche Wege
Niederlassungsleiter, Personalleitung und Betriebsrat bilden eine gelebte Sozialpartnerschaft im Betrieb. Können sich alle auf einen Nenner einigen, kommt auch ein gutes Ergebnis raus. Für Porr wirbt Supper nun auch in den Schulen und Polytechnischen Lehrgängen, um den SchülerInnen die Firma als attraktiven Arbeitgeber vorzustellen. Für die Jungen ist es freilich ab und an hart, gleich mit 15 Jahren Wochenpendler zu werden. Doch binnen einiger Wochen werden sie sehr selbstständig. Bereits seit sieben Jahren gibt es einen Lehrlingstag in der Steiermark, zu dem alle Porr-Lehrlinge und die Eltern aus dem ersten Lehrjahr eingeladen werden. „So können wir uns alle kennenlernen. Es werden auch ungewöhnliche Wege in der Ausbildung gegangen.“
Vor Kurzem haben Lehrlinge vom ersten bis zum dritten Lehrjahr einen Bauabschnitt selbstständig übernommen, erzählt Supper. Bei einem Grazer Wohnhaus waren sie dabei für das Anlegen, Mauern, Schalen der Decken, Bewehren, Betonieren und Versetzen von Fertigteilen auf der Baustelle verantwortlich. Dabei errichteten sie drei Geschoße und ein Penthaus, bloß ein Vorarbeiter kontrollierte die Lehrlinge. Betriebsratsvorsitzender Supper ganz stolz: „Anfangs arbeiteten sie ein bisschen ungenau, doch dann haben sie die Aufgaben toll erfüllt.“
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]]>Bei dem Versuche, schwierige gesellschaftliche Probleme zu lösen, kann es sich nicht darum handeln, verschwommene Ansichten zu sammeln, sondern ein Resultat ist nur zu erwarten, wenn offen und loyal, sachlich und ernst die entgegenstehenden Interessen ihre Vertretung finden und wenn durch das gegenseitige Sich-Aussprechen nach und nach jener Wall von Misstrauen, von Missverständnissen und einseitigen Parteiansichten abgetragen wird.
Hier wurde nicht nur das Bestehen von Interessengegensätzen anerkannt, sondern auch das Austragen von Interessenkonflikten zur Voraussetzung für tragfähige Kompromisse erklärt. Das klingt wie das Urkonzept der modernen Sozialpartnerschaft – der Haken liegt im Wörtchen „loyal“. Dort, wo die Machtverhältnisse infrage gestellt werden konnten, hatte die Öffnung ihre Grenzen. Nur hielten es die klügeren Politiker für besser, der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung kontrollierten Spielraum zu eröffnen und auf Gewalt zu verzichten. Rudolf Müller, einer der Gründer der freigewerkschaftlichen Eisenbahner-Organisation, brachte Baernreithers Konzept auf den Punkt:
Er wollte so ein Stück Harmonie zwischen Unternehmern und Arbeitern schaffen. Es sollten dort die harten Kanten des Klassenkampfes abgeschliffen werden.
Die Gewerkschafter im „Arbeitsbeirat“ beteiligten sich zwar engagiert an dessen Entscheidungsfindungen, wussten aber um die Grenzen einer solchen außerparlamentarischen Mitbestimmung ohne demokratische Bedingungen. Rudolf Müller beim Kongress der Freien Gewerkschaften 1913:
Solange die Arbeiterschaft kein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht hatte, hat der Arbeitsbeirat einen bestimmten Zweck … erfüllen können. Das hat auch die Regierung gewusst. Darum hat sie ihm eine sehr engherzige Geschäftsordnung gegeben. … Sie konnte ihn einberufen und entlassen, ganz nach Belieben. … Es ist … im Laufe der Zeit gelungen, die Institution einigermaßen zu modernisieren. … Aber diese geringe Erweiterung hat auf das Wesen der Körperschaft keinen Einfluss gehabt. Wir dürfen zwar Gutachten abgeben, aber die Regierung ist nicht im Mindesten irgendwie daran gebunden. … Was wir … in erster Linie von dieser Institution verlangen, ist, dass ihre … Beschlüsse bindend sind, … dass sie dem Parlament vorgelegt werden.
Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Ausgezeichnet wurden am 20. Oktober im Wiener Rathaus unter anderem die Lehrwerkstätte der Firma Verbund in Ybbs an der Donau, ein Gesundheitsprojekt der Lehrlingsstiftung Eggenburg sowie das ÖBB-Lehrlingsprojekt „Verdrängte Jahre – Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938–1945“. Insgesamt wurden 21 Preise vergeben.
Bundespräsident Heinz Fischer wandte sich per Videobotschaft an die SiegerInnen – und er würdigte den Stifter, den früheren ÖGB-Präsidenten Anton Benya: „Er hatte sein Ohr bei den Menschen, er wusste, wo sie der Schuh drückt.“
Bundeskanzler Werner Faymann machte auf den Zusammenhang zwischen schlechter Ausbildung und Arbeitslosigkeit aufmerksam: „Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass durchschnittlich ein Fünftel der Jugendlichen Europas, in vielen Regionen über 60 Prozent, keine Arbeit findet. Wir dürfen uns nicht an eine Gesellschaft gewöhnen, die unmenschlich ist, wo letztlich die Demokratie infrage gestellt wird.“
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]]>„Wenn die Unternehmen besser ausbilden würden, könnte sich Österreich die eine oder andere Image-Kampagne für die Lehre sparen. Denn viele Jugendliche wollen eine praktische Ausbildung machen, sie entscheiden sich aber oft dagegen, weil die Lehrplätze zu unattraktiv sind.“ Unternehmen, die gut ausbilden und attraktive Angebote für Jugendliche haben, haben hingegen keine Probleme. Sie bekommen viele Bewerbungen und können sich ihre Lehrlinge aussuchen. Ernszt: „Die jammern dann auch nicht darüber, dass ihnen die Jugendlichen alle zu dumm sind.“
Für mehr Qualität in der Lehrausbildung fordert die ÖGJ:
Bessere Qualität sollte aber mit mehr angebotenen Lehrstellen einhergehen. „Die Wirtschaft muss wieder mehr Lehrlinge ausbilden. Die Zahl der Lehrstellen ist seit 1980 um ein Drittel zurückgegangen, gerade 20 Prozent der Unternehmen, die Lehrlinge ausbilden könnten, tun das auch. Die Zahlen machen klar, dass vor allem auf der Seite der Wirtschaft einiges getan werden muss – sich auf schwache Geburtenjahrgänge auszureden ist zu wenig und verbessert nichts an der Situation“, kritisiert Ernszt. Auch AMS-Chef Johannes Kopf rechne bis 2018 mit einem weiteren Rückgang auf 13,4 Prozent Ausbilderbetriebe. Die ÖGJ fordert daher einen Ausbildungsfonds (Fachkräftemilliarde), in den Firmen einzahlen, die nicht ausbilden, obwohl sie es könnten, und aus dem Betriebe, die qualitativ hochwertig ausbilden, Förderungen erhalten. Der Fonds soll durch ein Prozent der Jahresbruttolohnsumme durch die Unternehmen finanziert werden.
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Um die Umsetzung schlagkräftig voranzutreiben, wurde auch die interne Struktur der Gewerkschaft verändert. Die vida ist künftig in acht Fachbereiche unterteilt: Dienstleistungen, Eisenbahn, Gebäudemanagement, Gesundheit, Luft- und Schiffverkehr, Soziale Dienste, Straße, Tourismus. „In jedem dieser Fachbereiche arbeiten engagierte FunktionärInnen und Beschäftigte der vida zusammen und gestalten aktiv die Arbeitswelt mit. Dazu gehören KV-Verhandlungen genauso wie die Zusammenarbeit mit Bündnis- und Sozialpartnern oder die Einbringung in Gesetzgebungsprozesse“, erläuterte Winkler. Die neue Struktur wurde von den Delegierten einstimmig beschlossen. Im Rahmen des vida-Gewerkschaftstages hielt der Soziologe, Politiker und Autor Jean Ziegler ein Impulsreferat zum Thema „Kampf gegen die absurde Weltordnung – Verteilungsgerechtigkeit“. „Wir leben in einer Welt, in der das Kapital wütet. Die 500 größten Konzerne kontrollierten im letzten Jahr 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts“, berichtete Ziegler und machte deutlich: „Während die Profitmaximierung voranschreitet, wachsen im Süden die durch Hunger entstandenen Leichenberge weiter an. Dieses kannibalische System aus struktureller Gewalt muss gebrochen werden.“
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gewerkschaftstag.vida.at
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Welche Macht?
Nun ist die Realität natürlich komplizierter. „Mitbestimmung bezeichnet grundsätzlich die Mitwirkung und Mitentscheidung jener, deren Existenz, Arbeits- und Lebensweise durch Entscheidungen anderer beeinflusst werden (können), welche aufgrund formaler Rechts- oder Besitzverhältnisse dazu befugt sind, aber deren Entscheidungsbefugnisse durch die Mitbestimmung der davon Betroffenen ihre Begrenzung finden.“ So lautet die Definition auf Wikipedia. Diese enthält nicht nur zentrale Dimensionen von Mitbestimmung, sie weist auch auf zentrale Herausforderungen hin. Denn wie viel Macht haben ArbeitnehmerInnen in Zeiten von Wirtschaftskrise und ständigem Personalabbau überhaupt noch? „Das bringt nichts.“ „Wir haben ja eh keine Macht.“ „Die sitzen sowieso am längeren Ast.“ Solche und ähnliche defätistische Aussagen drücken ebendiese Sorge aus.
Keine Frage, die schwierige wirtschaftliche Lage lässt so manchen Betriebsrat mehr zum Abwehrgremium werden, der zudem immer wieder zwischen die Fronten gerät. Gerade in dieser Situation ist die Rolle der Betriebsräte nämlich umso wichtiger: Sie sind wichtige Sprachrohre der Belegschaft, die oftmals aus Sorge um den eigenen Arbeitsplatz lieber stillhält, als ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Es hilft aber alles nichts: Wer möchte, dass sich etwas tut – sei es, sich nicht verschlechtert oder vielleicht sogar verbessert -, muss den gewählten VertreterInnen ehrliche Rückmeldungen geben und sie über die Probleme informieren. Auch wenn es in vielen Betrieben dafür immer weniger Spielräume dafür gibt, so sollten sich ArbeitnehmerInnen ihre Möglichkeit mitzubestimmen keinesfalls nehmen lassen.
Freiere Zeiteinteilung, arbeiten von zu Hause, einfacher Austausch via Intranet und soziale Medien, mehr Gestaltungsspielräume: So lauten einige der Verheißungen der neuen Arbeitswelt. In der Tat ist es in vielerlei Hinsicht besser, wenn man bei der Gestaltung der eigenen Arbeitsabläufe stärker mitbestimmen kann. Immerhin wissen die meisten ArbeitnehmerInnen sehr genau, wo Verbesserungen nötig oder möglich wären. Wie so oft ist diese neue Entwicklung ambivalent: Auf der einen Seite werden die MitarbeiterInnen stärker einbezogen. Auf der anderen Seite aber sollen sie quasi selbst bisweilen an der eigenen Optimierung herumfeilen, ohne dass sie selbst finanziell für diese Leistungen entschädigt werden. So manche Führungskraft entledigt sich so der eigenen Verantwortung.
An einem Strang ziehen!
Natürlich agieren keineswegs alle Arbeitgeber so. Letztlich ist es auch in ihrem Interesse, dass die MitarbeiterInnen zufrieden sind. Mitbestimmung spielt hier eine wesentliche Rolle, wie eine Umfrage belegt: Gibt es in einem Unternehmen einen Betriebsrat, sind die MitarbeiterInnen zufriedener – und zwar sowohl mit ihren Rechten, mit der sozialen Einstellung des Betriebs gegenüber den MitarbeiterInnen als auch mit dem Einkommen. Keine Frage, Mitbestimmung braucht auch Mut, mal mehr, mal weniger. Doch auch der Ameisenbär kann nur dann um sein Essen gebracht werden, wenn die Kugel groß genug ist. Anders ausgedrückt: Je mehr an einem Strang ziehen, desto stärker können sie auch mitbestimmen. Und das ist allemal besser, als über sich bestimmen zu lassen!
]]>Selbstermächtigung
Die ArbeiterInnen lebten ein in hohem Maße fremdbestimmtes Leben unter der Herrschaft der Unternehmer. Ihre Lage war Grundlage für die Formierung emanzipatorischer Interessen, die eine Befreiung aus den herrschaftlichen Zwängen verfolgten. Bei ihren Bildungsaktivitäten und -vereinen ging es daher um die Schaffung selbstbestimmter Räume mit dem Ziel, die wirtschaftliche und politische Mitbestimmung der ArbeiterInnen zu organisieren und so Rechte zu erkämpfen und ihre Lebenssituation zu verbessern. Bildung war hier eine Voraussetzung für wie auch ein Mittel zur Selbstermächtigung und Mitbestimmung.
In der gegenwärtigen „Epoche des lebenslangen Lernens“ mag Wissen nach wie vor eine Art von Macht sein, allerdings erscheint ihr Machtpotenzial stark heruntergekommen. „Bildung“ wird mehr oder weniger zur Anforderung an die/den Einzelne/n, um ihre/seine Chancen am Arbeitsmarkt bzw. im Beruf noch irgendwie halbwegs zu wahren. Für weite Teile der Bevölkerung, die nicht auf die Vererbungseffekte gebildeter und gut situierter Eltern hoffen können, verkümmert sogar dieser letzte Rest an Selbstbestimmung durch Bildung dort, wo „lebenslanges Lernen“ als einzige oder letzte Chance, als Anpassungsqualifizierung an eine sich immer schneller entwickelnde wirtschaftliche Dynamik formuliert wird – und das sowohl von Human-Resources-Abteilungen als auch von der Arbeitsmarktpolitik. „Bildung wird in dieser Entwicklung zu einer Drohung, zu einer nicht ausdifferenzierten, auf alle Lebensbereiche ausgedehnten, aber ausschließlich auf Anpassung bezogenen Notwendigkeit für alle.“1
Lippenbekenntnis
Parallel zu dieser Entwicklung wird zwar die Bedeutung von Bildung und Weiterbildung von Politik und Wirtschaft permanent beschworen. Doch weder im Schulsystem noch in der Weiterbildung sind entscheidende Änderungen hinsichtlich der sozial selektiven Wirkung des Systems festzustellen. Das Schulsystem verteilt Bildungschancen nach sozialer Herkunft, die Erwachsenenbildung erreicht gering Qualifizierte nur sehr schlecht.
Es gibt zwei „Flaschenhälse“ für die Bildungsbeteiligung, die Bildungsangebote, wie sie heute stark propagiert werden, ganz einfach unattraktiv für potenzielle Zielgruppen machen. Erstens die Individualisierung der Verantwortung für Bildung mit dem mehr als vagen Versprechen, die eigene Lebenssituation verbessern zu können. Diese Strategie geht nicht auf, im Gegenteil: „Wenn man die Sinndeutungen der Subjekte konsequent im Zusammenhang mit ihrem lebensweltlichen Kontext betrachtet, dann kann man Nicht-Handeln, in dem Fall Nicht-Teilnahme oder Desinteresse an Weiterbildung auch als Widerstand gegen eine fremdbestimmte Aufforderung zur Daueranpassung verstehen“, stellt der Soziologe Manfred Krenn fest.2
Zweitens gibt es ein in mehrfacher Hinsicht problematisches Verständnis von Bildung in den Betrieben – und zwar sowohl die Zielgruppen, das Ausmaß als auch die Art und das Verständnis betrieblicher Bildungsmaßnahmen betreffend. Während überhaupt nur ein Drittel aller Beschäftigten in österreichischen Unternehmen in den „Genuss“ von betrieblichen Weiterbildungsaktivitäten kommt3, konzentrieren sich die Angebote zusätzlich vor allem auf bereits höher qualifizierte („bildungsaffine“) MitarbeiterInnen. Für diese gibt es dann durchaus auch Angebote zur allgemeinen Bildung (Persönlichkeitsentwicklung, Kompetenztrainings), während sich der Rest der Angebote stark auf eher eng zugeschnittene fachliche Qualifizierung beschränkt.
Experimentierfeld
Diese beiden Problemfelder machen deutlich, dass die Bildungsinteressen und -bedürfnisse der Lernenden selbst vernachlässigt werden. Es ist fraglich, ob ein derartiges Bildungs(un)verständnis die Selbstbestimmungsansprüche als wesentlichen Motivationsfaktor für Bildung überhaupt in den Blick bekommt.
Jedenfalls in den Blick zu nehmen ist die allgegenwärtige Krise, in deren Entstehen die oben beschriebenen Entwicklungen eingeflochten waren. Kaum eine Aufgabe stellt sich dringlicher, als die bestehenden Verhältnisse infrage zu stellen und Bildung und Arbeit anders als bisher zu gestalten. Bildung gekoppelt an Mitbestimmungsansprüche wäre somit wieder höchst gefragt. Doch von wo könnte dieser Prozess ausgehen?
Es liegt nahe, hier insbesondere an den Betrieb zu denken, da hier einerseits viel Zeit verbracht wird und andererseits Gruppen mit ähnlichen Interessenlagen identifiziert werden können. Beide Aspekte begünstigen prinzipiell die Gestaltung von Bildungsangeboten. Betriebe als „mitbestimmte Bildungsräume“ bieten sich auch deshalb an, weil BetriebsrätInnen in Sachen Weiterbildung als wesentliche Instanz, die Mitbestimmungsmöglichkeiten und -ansprüche der ArbeitnehmerInnen bündelt, aktiv werden können. Entsprechend kommt eine aktuelle Studie zu dem Ergebnis, dass sich die Existenz von BetriebsrätInnen in einem Unternehmen tendenziell positiv auf die betriebliche Weiterbildung auswirkt. In mitbestimmten Firmen wird demnach vor allem auch mehr in allgemeine Weiterbildung investiert als in Firmen ohne Betriebsrat.4
Die Ausgangslage ist allerdings alles andere als einfach. Arbeitsverdichtung, Entgrenzung von Arbeit und Individualisierung unternehmerischer Verantwortung erhöhen den Druck auf ArbeitnehmerInnen. BetriebsrätInnen agieren ihrerseits vielfach aus einer defensiven Position heraus.
Potenziale
Doch schwierige Situationen beinhalten gerade ein Momentum, das emanzipatorische Perspektiven begünstigt. Vorstellbar ist, dass über den Einsatz für Bildung Mitbestimmungspotenziale ausgebaut werden. Der Einsatz für Bildungsmöglichkeiten im Sinne der Belegschaft kann den Boden aufbereiten, um auch bei anderen Themen im Betrieb die Handlungsspielräume und Mitgestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Für die Praxis sind hier noch konkrete Umsetzungsvarianten zu ergründen, von Betriebsversammlungen als Bildungsveranstaltungen bis hin zu selbst organisierten abteilungsübergreifenden Lerngruppen.
Distanz zum Alltag
Vielversprechend ist eine Mitbestimmungsstrategie, die auf das Thema Bildung setzt, vor allem auch deshalb, weil Bildungsprozesse prinzipiell auch Zeit und Raum bieten, um sich von den Dynamiken des Arbeitsalltags zu distanzieren und sich seiner Situation bewusst zu werden. Das ist wohl auch ein wesentlicher Grund, warum Unternehmen nur sehr selektiv und in sehr geringem Ausmaß Bildungsmöglichkeiten ihrer MitarbeiterInnen fördern. Vermutlich wissen sie über die Macht von Bildung besser Bescheid, als der Interessenvertretung der ArbeitsnehmerInnen lieb ist.
Blogtipp:
blog.arbeit-wirtschaft.at/der-betriebsrat-bringts-zusammen-beschaeftigten-und-bildung/
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1 Vater, Stefan: Lebenslanges Lernen und Ökonomisierung im Bildungsbereich. Gemeinnützige Erwachsenenbildung, Prekarisierung und Projektarbeit. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 0, Wien 2007, Seite 05-2,
online: tinyurl.com/q8by2km
2 Krenn, Manfred: Gering qualifiziert in der „Wissensgesellschaft“ – Lebenslanges Lernen als Chance oder Zumutung? Wien: FORBA, Seite 17, online: tinyurl.com/p9dvstj
3 Vgl. Statistik Austria: Betriebliche Weiterbildung 2010, Wien 2013.
4 Vgl. Cantner, Uwe/Gerstlberger, Wolfgang/Roy, Ipsita: Works Councils, Training Activities and Innovation: A Study of German Firms, Jena Economic Research Papers Nr. 2014–006.
Indirekte Steuerung
Um möglichst schnell auf veränderte Marktgegebenheiten (technische Innovationen, gesellschaftliche Trends etc.) reagieren zu können, orientieren sich Unternehmen heute vor allem nach außen – an Konkurrenten, den KundInnen, LieferantInnen oder den Aktionären (Vermarktlichung). Der dadurch entstehende Druck wird unmittelbar an die MitarbeiterInnen weitergegeben. Das Management tritt als direkter Befehlsgeber in den Hintergrund und nimmt die ArbeitnehmerInnen mehr in die Verantwortung für die unternehmerischen Ziele. So wird bei ArbeitnehmerInnen die Leistungsdynamik von UnternehmerInnen erzeugt, was anfangs oft als positiv erlebt wird. Doch angestellte „Arbeitskraft-UnternehmerInnen“ können im Gegensatz zu Selbstständigen ihre Kennzahlen und Benchmarks nicht selbst bestimmen, und über die anstrengende Phase als ExistenzgründerInnen kommen sie praktisch nie hinaus. Wer nicht irgendwann selbst die Notbremse zieht, riskiert negative gesundheitliche Konsequenzen.
Schlechtes Gewissen
Der Philosoph und Gründer des Instituts für Autonomieforschung Klaus Peters schildert den exemplarischen Fall eines älteren Mitarbeiters von IBM Deutschland, der seine Arbeitszeit wegen jobbedingter gesundheitlicher Probleme auf das vertraglich vereinbarte Maß reduzieren wollte. Das Management war informiert, die KollegInnen reagierten verständnisvoll und waren damit einverstanden, einen Teil seiner Arbeit zu übernehmen. Doch schon nach wenigen Tagen bekam der Mann ein schlechtes Gewissen, weil er seine KollegInnen belastete, und arbeitete schließlich weiter wie bisher. Das Problem war im Team „gelöst“ worden, das Management hatte nicht eingegriffen.
Das Fallbeispiel zeigt gleich drei charakteristische Merkmale indirekter Steuerung auf: Teams übernehmen Führungsaufgaben (Clan Control). Die Bildung von Teams innerhalb eines Unternehmens kann das Wir-Gefühl und auch die Kommunikation verbessern. Auch gegenseitige „Kontrolle“ ist bis zu einem gewissen Grad ein soziales Phänomen, das in allen Gruppen auftritt. Druck von außen in Form von Zielvorgaben, Bonuszahlungen u. Ä. kann allerdings bewirken, dass die Konkur-renz unter KollegInnen ansteigt. Und wie im Beispiel oben sind bei indirekter Steuerung manche Probleme nicht mehr wie früher Chefsache, sondern es wird erwartet, dass das Team damit fertig wird. Verantwortungsgefühl dem eigenen Team gegenüber ist nur einer der Gründe, wenn Beschäftigte trotz gesundheitlicher Probleme oder Krankheit zur Arbeit kommen (Präsentismus). Dahinter kann auch einfach Angst vor Jobverlust stecken – oder die sogenannte interessierte Selbstgefährdung. So bezeichnen Fachleute das Phänomen, wenn man wider besseres Wissen bewusst seine Gesundheit riskiert, weil eine Sache Spaß macht.
Wenn Stechuhren abgeschafft werden, dann kann das Freiheit bedeuten oder ein Zeichen dafür sein, dass ohnehin genügend Druck und Kontrolle gegeben sind, um die Beschäftigten ausreichend zu motivieren:
Gegensteuern
Es liegt in der Natur der indirekten Steuerung, dass sie mit all ihren Risiken nicht einfach zu identifizieren ist. Umso wichtiger ist die Arbeit der BetriebsrätInnen, um zu verhindern, dass aus dem „Commitment“ engagierter Beschäftigter, die sich meist als selbst schuld am steigenden Leistungsdruck erleben, ernsthafte gesundheitliche Probleme entstehen. Keine einfache Aufgabe, wenn Unternehmen etwa Mechanismen der Gruppendynamik gezielt zur Profitmaximierung einsetzen. Arbeitsrechte und Betriebsrat werden oft als nicht hilfreich angesehen. 42 Prozent der BetriebsrätInnen beobachten, dass sich Beschäftigte aus freien Stücken nicht an Schutzbestimmungen halten. Klaus Peters empfiehlt, sich nicht gegen die neue Selbstständigkeit an sich zu wenden, sondern gegen deren Einschränkungen. Die Unternehmen sollten mit den in der menschlichen Natur liegenden Sachzwängen konfrontiert werden. Solidarität und gemeinsames Vorgehen sind heute genauso wenig out wie kritisches Denken und Selbstverantwortung. Jede/r muss für sich selbst herausfinden, was für sie oder ihn gut ist. Aber niemand muss das allein tun.
1 Gerhartinger, P./Specht, M./Braun, J.: Ergebnisse der ISW-Betriebsrätebefragung 2011, Kapitalmarktorientierte Unternehmensführung, indirekte Steuerung und deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen, Auszug aus WISO 4/2011, Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. www.isw-linz.at
Linktipp:
Institut für Autonomieforschung, Berlin, mit zahlreichen Infos, Links und Literaturtipps: www.cogito-institut.de
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Rahmenbedingungen
In einer Zeit, in der die Wachstumsschwäche im Gefolge der Finanzkrisen die Realwirtschaft und die in ihr Beschäftigten und damit auch die BetriebsrätInnen stark unter Druck bringt, ist weiters wichtig, nicht nur die Einstellungen gegenüber BetriebsrätInnen zu erheben, sondern auch die Rahmenbedingungen und Schwierigkeiten ihrer Tätigkeit. So erhalten auch die die BetriebsrätInnen betreuenden Gewerkschaften wichtiges empirisches Material, um Umfeldveränderungen zu analysieren und zu diskutieren und auf dieser Basis gegebenenfalls ihre Unterstützung für die BetriebsrätInnen adaptieren oder weiterentwickeln zu können. Mit diesen Zielsetzungen hat daher die AK Wien in Kooperation mit den Gewerkschaften in den Jahren 2012/2013 durch IFES eine repräsentative Befragung unter ArbeitnehmerInnen (mit und ohne Betriebsrat) sowie unter Betriebsratsmitgliedern durchführen lassen.
1. Hohe Zustimmung zu Betriebsrat und Gewerkschaften
Die Ergebnisse der Befragung zeigen eine hohe Zustimmung zur kollektiven Vertretung von Interessen der ArbeitnehmerInnen durch gewählte BetriebsrätInnen. Ebenso werden die Gewerkschaften als wichtige gesellschaftspolitische Akteure wahrgenommen. Aus Sicht der Beschäftigten sprechen viele Gründe für die Errichtung eines Betriebsrates, allen voran, dass damit KollegInnen in schwierigen Situationen geholfen werden kann. Insgesamt fällt die Bewertung der Betriebsratsarbeit durch die Beschäftigten sehr positiv aus: Knapp zwei Drittel der Befragten fühlen sich vom Betriebsrat sehr gut bzw. gut vertreten. Dem stehen nur zwölf Prozent der Befragten gegenüber, die sich vom Betriebsrat nicht gut vertreten fühlen. Befragt nach den Eigenschaften „ihrer“ BetriebsrätInnen, attestieren die ArbeitnehmerInnen ihnen am häufigsten Vertrauenswürdigkeit, soziale Gesinnung und eine gute Gesprächsbasis mit der Belegschaft.
2. Betriebsratsarbeit: vielfältig und verantwortungsvoll
2.1 Motive für bzw. gegen eine Betriebsratskandidatur
Die Motive für bzw. gegen eine Betriebsratskandidatur erlauben Rückschlüsse darauf, wie anspruchsvoll betriebsrätliche Arbeit ist, die von den Betriebsratsmitgliedern hohes persönliches Engagement und Know-how erfordert.
Knapp ein Zehntel der befragten ArbeitnehmerInnen gibt an, schon einmal bei einer Betriebsratswahl kandidiert zu haben. Gegen eine Kandidatur zum Betriebsrat sprechen aus Sicht der befragten ArbeitnehmerInnen am stärksten die zeitliche Überlastung (57 Prozent) sowie die mit der Betriebsratsarbeit verbundene hohe psychische Belastung und Verantwortung (43 Prozent). Schwerwiegend sind mitunter auch die Sorge um mangelnde Unterstützung bzw. fehlendes Interesse seitens der KollegInnen (34 Prozent) und zu erwartende Konflikte mit der Geschäftsführung (30 Prozent).
Bei den Motiven für eine Kandidatur zum Betriebsrat rangieren bei den befragten Betriebsratsmitgliedern die Möglichkeit, die Situation für die Beschäftigten zu verbessern (96 Prozent), und die generelle Stärkung der Mitbestimmung im Betrieb (86 Prozent) an vorderster Stelle. Viele haben aber auch kandidiert, weil sie von KollegInnen darum ersucht worden sind (83 Prozent) oder weil sie darin die Chance sahen, ein akutes Problem im Betrieb zu lösen (79 Prozent).
2.2 Rahmenbedingungen der Betriebsratsarbeit
Die befragten Betriebsratsmitglieder sind in hohem Maße zufrieden mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dies bestätigen mehr als zwei Drittel sowohl im Hinblick auf die Ausstattung mit Infrastruktur (wie Räumlichkeiten, Arbeitsmaterialien etc.) wie auch auf die für die Betriebsratstätigkeit zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen. Jedes dritte befragte Betriebsratsmitglied beklagt hingegen mangelnde zeitliche Ressourcen.
Eine weitere wichtige Rahmenbedingung für die Arbeit des Betriebsrates ist dessen Verhältnis zum/zur Arbeitgeber/Arbeitgeberin. Zwei Drittel der befragten Betriebsratsmitglieder schätzen dieses als (sehr) vertrauensvoll und kooperativ ein und 23 Prozent sehen das Verhältnis im Mittelfeld. Als (sehr) konfliktträchtig und angespannt bewertet dieses Verhältnis nur jedes zehnte Betriebsratsmitglied. Ungeachtet dessen wirkt sich das Verhalten der ArbeitgeberInnen am häufigsten erschwerend auf die Betriebsratsarbeit aus: reichend von fehlenden Informationen über ein mangelndes Vertrauensverhältnis bis hin zur mitunter feindlichen Haltung gegenüber dem Betriebsrat.
Für je knapp ein Drittel der Betriebsratsmitglieder erschweren auch Umfang und Komplexität der Aufgaben und die aus der Betriebsratsarbeit resultierenden psychischen Belastungen die Betriebsratsarbeit.
2.3 Veränderungen in der Arbeitswelt beeinflussen die Mitbestimmung
Die in den vergangenen Dekaden zu beobachtende Heterogenisierung der Belegschaften – Stichworte: stärker differenzierte formale Qualifikationsstrukturen, Individualisierung und Atypisierung der Arbeit – wirkt sich auf die Arbeit der Betriebsräte aus (siehe auch „Der Betriebsrat als Störfaktor“).
Rund ein Drittel der befragten Betriebsratsmitglieder meint, dass die betriebsrätliche Arbeit von divergierenden Interessen in der Belegschaft und zu wenig Unterstützung seitens der Belegschaft erschwert wird – ungeachtet dessen, dass die befragten ArbeitnehmerInnen ihren BetriebsrätInnen grundsätzlich eine gute Gesprächsbasis mit der Belegschaft attestieren und sich mehrheitlich interessiert an der Betriebsratsarbeit zeigen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt ein von den Betriebsratsmitgliedern häufig geäußerter Wunsch an Bedeutung, nämlich jener nach einer stärkeren Einbindung bisher unterrepräsentierter Gruppen in die Betriebsratsarbeit, wie etwa Frauen, MigrantInnen oder jüngeren ArbeitnehmerInnen.
2.4 Inhalte der Betriebsratsarbeit
Dass die Betriebsratsarbeit eine vielfältige und anspruchsvolle Tätigkeit ist, lässt sich auch aus dem breiten Themenfeld, das dabei bearbeitet wird, ableiten. Laut Angaben der befragten Betriebsratsmitglieder stehen folgende Aktivitäten im Vordergrund ihrer Betriebsratsarbeit:
In vielen dieser Aktivitätsbereiche können die Betriebsratsmitglieder laut eigener Einschätzung gute Erfolge erzielen. Und die befragten ArbeitnehmerInnen bewerten die Erfolge „ihrer“ BetriebsrätInnen noch positiver als die Betriebsratsmitglieder selbst.
Linktipp: Böckler-Stiftung zu Mitbestimmung:
www.boeckler.de/index_mitbestimmung.htm
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Arbeit&Wirtschaft: Was hat Sie selbst motiviert, in Ihrem Betrieb mitzubestimmen?
Josef Muchitsch: Ich bin eigentlich bestimmt worden mitzubestimmen. Ich war damals 16 Jahre und Maurerlehrling. Im Zuge einer Gruppenversammlung der Arbeiter wurde ich zum Jugendvertrauensrat bestimmt. Aus dieser Bestimmung wurde dann eine Berufung, nämlich Gewerkschafter zu werden.
Wie kam’s?
Ich habe mich sofort danach dafür interessiert, was für Aufgaben ein Jugendvertrauensrat hat, warum man ihn wählt und welche Möglichkeiten der Mitbestimmung er hat. Daraufhin habe ich meinen damaligen betreuenden Gewerkschaftssekretär in der Gewerkschaft Bau-Holz irrsinnig genervt, indem ich sehr viele Fragen gestellt habe und lästig war. Das war mir aber auch zu wenig. Ich habe mir dann wirklich jedes Bildungsangebot von ÖGB und Gewerkschaften reingezogen, von Wochenendseminaren bis hin zu Stufen- und Gruppenkursen.
Liegt der Reiz im Mitredenkönnen?
Genau das ist es. Ich habe als Jugendfunktionär einen Lehrlingsstreik in der Landesberufsschule initiiert, weil man versucht hat, zwei dritte Klassen in einem Lehrgang zusammenzulegen. Das habe ich nicht als fair empfunden, obwohl ich damals erst im zweiten Lehrjahr war. Dann habe ich gesagt: Wir streiken jetzt einmal einen Tag und schauen, was auf uns zukommt. Das hat dann zu sehr vielen Telefonaten geführt, von Graz in Richtung Berufsschule Murau, in denen ich aufgerufen wurde, diesen Streik sofort zu beenden und einzulenken, weil er weder genehmigt noch beschlossen war. Das habe ich damals alles nicht gewusst. Das war Unwissenheit, aber volle Motivation. Und es hat dazu geführt, dass die zwei dritten Klassen nicht zusammengelegt wurden.
In Zeiten des Sparens ist die Arbeit von BetriebsrätInnen nicht gerade einfach. Wie kann man sich da positionieren?
Ich bewundere jeden Menschen, der sich bereit erklärt, mitzubestimmen, ob es als Betriebsrat ist oder als Ersatzbetriebsrat. Denn wir sind letztendlich in einer Gesellschaft angekommen, in der wir keine Dankbarkeit erwarten dürfen. Vielmehr wird das, was Betriebsräte ehrenamtlich leisten und wofür sie kämpfen, von den Kolleginnen und Kollegen als Selbstverständlichkeit angesehen.
Es braucht also auch einen gewissen Mut?
Das ist der noch vorhandene Idealismus, sich für die Kolleginnen und Kollegen einzusetzen. Und weil Betriebsräte die Einstellung haben, mitgestalten zu wollen und nicht über sich bestimmen zu lassen.
Apropos KollegInnen: Was können sie tun, damit die BetriebsrätInnen gut arbeiten können?
Erstens hinter dem Betriebsrat stehen. Zweitens dem Betriebsrat offen die Meinung sagen. Das Schlimmste ist, hinter den Kulissen zu raunzen, zu sudern, alles besser zu wissen, aber es nicht vor dem Vorhang vorzutragen.
Der gestiegene Druck lässt manche zögern, sich an den Betriebsrat zu wenden. Wie kann man damit umgehen?
Das ist Aufgabe des Betriebsrates, den Kolleginnen und Kollegen zu verstehen zu geben, dass sie ohne Angst oder auch ohne Probleme zu haben, mit ihren Anliegen zu ihm kommen können.
Flache Hierarchien sind in. Nur besteht da nicht die Gefahr, dass Interessengegensätze verschwimmen?
Je größer der Betrieb, umso größer auch die Forderung nach einem Betriebsrat, weil es den Eigentümern oder Chefs nicht möglich ist, sich individuell mit den Beschäftigten auseinanderzusetzen. Je kleiner der Betrieb, desto familiärer, desto fürsorglicher ist auch der Umgang mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, denn es gibt eine persönliche Beziehung und eine gegenseitige Verlässlichkeit. Schwarze Schafe sind davon jetzt ausgenommen.
Angesichts der Sparzwänge droht der Betriebsrat zum Gremium zu werden, das nur noch Schlimmeres verhindert. Eine Gefahr?
Der Betriebsrat darf sich vor allem in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht vom Arbeitgeber in eine Rolle drängen lassen, wo er schlechte Nachrichten an die Belegschaft überbringt. Leider passiert das in verschiedenen Fällen. Es ist nicht die Aufgabe des Betriebsrates, einen Bericht über die finanzielle Lage der Firma, über diverse Geschäftsfelder-Erweiterungen oder Sonstiges zu präsentieren. Es ist die Aufgabe des Betriebsrates, sich mit der Umverteilung im Betrieb, mit der Einkommenssituation, mit der Fairness und Gesundheit am Arbeitsplatz auseinanderzusetzen. Hier tappen die einen oder anderen Betriebsräte oft in die Falle, sich als Botschafter oder Briefträger der Geschäftsführung einspannen zu lassen. Und das wirft kein positives Licht auf einen Betriebsrat. Von daher: Mitbestimmen, wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu erhalten – aber nicht, wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu reduzieren.
Oft wird die mangelnde Bereitschaft beklagt, sich zu engagieren. Bei der BetriebsrätInnen-Konferenz im September zeigte sich ein anderes Bild. Eine Ausnahmeerscheinung?
Hier ging es um ein Thema – „Lohnsteuer runter!“ –, das letztendlich alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betrifft, unabhängig von ihrem Status als Arbeiter, Angestellte oder Beamte. Diese Veranstaltung hat eines gezeigt: Dass es sehr wohl möglich ist, an einem Wochen- bzw. Arbeitstag Funktionärinnen und Funktionäre zu mobilisieren. Über 5.000, die sich dort eingefunden haben, waren überwiegend nicht freigestellte Betriebsräte, die ein Zeichen setzen wollten.
Erst kürzlich forderte Neos-Chef Matthias Strolz, dass mehr Entscheidungen auf Betriebsebene verlagert werden. Was spricht eigentlich dagegen?
Das hätten sie gerne, diese neuen, klugen Menschen im Parlament. Das Problem ist, dass nach den Freiheitlichen jetzt mit dem Team Stronach und den Neos zwei weitere Parteien den Einzug ins Parlament geschafft haben, welche Gewerkschaften nicht nahestehen. Das sind Träumer von einer gerechten Arbeitswelt, wo der Arbeitgeber den Arbeitnehmer am Gewinn teilhaben lässt, wo man sich selbst um die Pensionsvorsorge zu kümmern hat, auch wer krank wird, muss sich eben selbst darum kümmern. Diese neoliberalen Parteien hätten Österreich nicht dahin gebracht, wo wir jetzt sind, weder im Gesundheits- und Pensionssystem noch im Pflegesystem.
Sie erwähnten, dass gerade Arbeitgeber in kleineren Betrieben die Fürsorgepflicht, die sie gegenüber ihren MitarbeiterInnen haben, sehr hochhalten. Was spricht dagegen, ihnen mehr Gestaltungsspielraum zu geben?
Diese Familienbetriebe sind überwiegend im Gewerbebereich in Österreich angesiedelt. Wenn wir hier nicht Kollektivvertragsbestimmungen hätten, die ein Mindesteinkommen sichern – dann gute Nacht!
Was wären die negativen Konsequenzen konkret?
Es würde erstens ein Dumping nach unten erzeugen und einen unfairen Wettbewerb unter den Betrieben auslösen. Es würde eine wesentlich höhere Abhängigkeit von Arbeitnehmern bewirken, die nicht die Möglichkeit haben, sich gut zu verkaufen oder auch eine Leistung zu erbringen, etwa aufgrund von Handicaps – jeder Mensch wird einmal älter. Das wäre der Untergang eines fairen Wettbewerbs.
Die sogenannte neue Arbeitswelt könnte bedeuten, dass Beschäftigte nur noch selten im Betrieb sind. Welche Perspektiven gibt es da für die gewerkschaftliche Arbeit?
Das ist letztendlich eine Entwicklung der Zeit, wo die DienstnehmerInnen von sich aus bei den Arbeitgebern vorstellig werden, um einen Teleworking-Arbeitsplatz zu haben oder andere Arbeitsverhältnisse anzustreben. Überall dort, wo die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer außerhalb des Betriebes nicht dementsprechend schlechter behandelt wird in der Entlohnung und der sozialen Absicherung, ist es nicht aufzuhalten und soll auch nicht aufgehalten werden. Aber überall dort, wo diese Formen dazu verwendet werden, um über Ausbeutung von Menschen zu Aufträgen zu kommen oder als Arbeitgeber seine Gewinne zu erhöhen, dort sind wir natürlich aufgerufen, Stopp zu sagen.
Nur wo kann die Gewerkschaft da noch andocken?
Da sind die Gewerkschaften auch aufgerufen, neue Medien einzusetzen wie Social Media und anderes.
Zur Einkommensgerechtigkeit zwischen den Geschlechtern: Da in Österreich so viel über die Kollektivverträge passiert, zählen wahrscheinlich die Kollektivvertragspartner zu den wichtigsten AkteurInnen. Welche Maßnahmen sind da geplant?
Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren ja eine Gleichstellung des Kollektivvertragslohns geschafft. Wo es nicht gelingt, ist auf der Ebene danach. Das heißt, bei der freiwilligen zusätzlichen Entlohnung oder auch bei der Chance, in höher qualifizierte Positionen nachzurücken. Jeder, der etwas anderes behauptet, ist realitätsfern. Fakt ist, dass Frauen hier nach wie vor einen Nachteil haben, das bestätigen die Statistiken. Das ist auch ein Problem, das uns in den nächsten Jahren weiterverfolgen wird.
Was wäre die wichtigste Baustelle: Sind es die Zuschläge, ist es Anrechnung von Familienarbeit?
Ich würde sagen, es ist Aufgabe der Gewerkschaften, alles zu lösen, was den Kollektivvertrag und den Mindestlohn betrifft – dort, wo es noch Baustellen gibt. Das Darüberliegende ist auch ein Auftrag an den Betriebsrat – und auch an die Frauen selbst. Ich spreche das bewusst an: mehr Selbstvertrauen, mehr Bewusstsein, sich auf die Beine zu stellen bei unterschiedlicher Entlohnung, freiwilliger Überzahlung bei gleicher Tätigkeit. Dort gilt es stärker aufzutreten.
Die Gewerkschaft wird immer noch als sehr männlich wahrgenommen. Wie könnte man es für Frauen attraktiver machen, sich für die eigenen Interessen zu engagieren?
Was meine Fachgewerkschaft betrifft, ist das natürlich eine schwierige Frage, bei einem Männeranteil von 94 Prozent der Mitglieder. In meiner Zeit ist es gelungen, dass Frauen in der Gewerkschaft wesentlich stärker wahrgenommen werden, auch in unserer 94-Prozent-Männergewerkschaft, und sogar leitende Positionen und eigene Verantwortungsbereiche haben. Das wäre vor zehn, 15 Jahren noch undenkbar gewesen. Dass es sich langsam weiterentwickelt: Ja, das ist so, aber es bedarf auch entsprechender Möglichkeiten und Ressourcen. Aber es geht vorwärts.
Sie selbst sind Nationalrat. Wie lässt sich die Funktion eines Gewerkschafters mit jener eines Parlamentariers vereinbaren?
Dann müsste man die Frage stellen, was die Vertreter von Banken oder anderen Institutionen wie Wirtschafts- oder Landwirtschaftskammer im Hohen Haus machen. Wenn es im Hohen Haus nicht möglich sein soll, dass Interessenvertreter von der Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerseite vertreten sind, dann brauche ich dieses Haus aber auch nicht mehr unter den Titel Demokratie einordnen.
Kritisiert wird dabei der Klubzwang.
Den Klubzwang unter Anführungszeichen gibt es im Landtag, den gibt es im Gemeinderat. Es passiert hier nichts anderes: Im Vorfeld verständigt sich eine Fraktion darauf, wie sie zu gewissen Tagesordnungspunkten steht und wie ihr Stimmverhalten ist. In den Klubvollversammlungen wird entschieden, wie sich eine Mehrheit zu welchem Tagesordnungspunkt, zu welchen gesetzlichen Änderungen bzw. Beschlüssen bildet. Demokratie ist genauso, runtergebrochen. Da läuft eine Mehrheitsbildung in einer Fraktion haargleich wie in einer Gemeinderatssitzung oder bei einem Sportvereinsvorstand.
Wie viele Möglichkeiten zur Gestaltung gibt es auf EU-Ebene angesichts der viel beklagten Macht der Lobbys von Banken und Wirtschaft?
Letztendlich gelingt es nur über den direkten Zugang zu europäischen Abgeordneten, das eine oder andere noch im Europäischen Parlament zu Fall zu bringen.
Wie steht’s um die Euro-Betriebsräte?
Das ist eine wichtige Ebene. Nur meine Erfahrung ist, dass wir in unseren Bereichen viel zu kleinkariert denken und sagen: Am wichtigsten ist meine Firma vor Ort und danach befasse ich mich vielleicht mit Themen, die den Europa-Betriebsrat betreffen.
Wie kann die Gewerkschaft mehr Menschen motivieren, sich als BetriebsrätInnen zu engagieren?
Je stärker es uns gelingt, unsere Botschaften an die Beschäftigten zu bringen, umso größer sind die Chancen der Gewerkschaften, stärker zu werden bzw. auch Funktionärinnen und Funktionäre zu erhalten. Diese Erneuerung des ÖGB – gezwungenermaßen 2006 wegen des Bawag-Desasters – hat dazu geführt, dass Gewerkschaften letztendlich unter dem Dach des ÖGB die Eigenständigkeit erlangen mussten. Darüber hinaus ist man auch im Bereich Marketingbotschaften neue Wege gegangen. Früher war es selbstverständlich, nicht zu kampagnisieren, dass das Weihnachts- und Urlaubsgeld nicht vom Himmel fällt, sondern nur durch die Gewerkschaften erreicht und abgesichert wird bzw. dass es Gewerkschaften sind, die Lohnerhöhungen erreichen. Ich glaube, dass uns das jetzt stärker gelungen ist.
Warum sollte man Betriebsrat oder Betriebsrätin werden?
Ich durfte bereits in jugendlichen Jahren erkennen: Wenn man nicht selbst Politik macht, dann wird mit einem Politik gemacht. Mein Leitsatz ist: Im Wissen, man kann es nie allen Menschen recht machen, soll man eines nie zulassen, nämlich dass andere mit einem Politik machen. Deshalb: Mitarbeiten, mitkämpfen und versuchen mitzubestimmen!
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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]]>Die beschleunigte Arbeitswelt fordert ständige Erreichbarkeit und ein inhumanes Tempo, mit dem viele Menschen nicht mehr mithalten können oder wollen. Psychischer Druck spielt bei vielen Erkrankungen eine Rolle. Präsentismus, also trotz Krankheit zu arbeiten, ist weit verbreitet. Rund ein Drittel gehen sogar gegen den Rat ihres Arztes arbeiten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Stressfolgen zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt. Waren die drei größten Leiden der Menschheit im Jahr 1990 noch Lungenentzündung, Durchfall und Kindstod, so prognostiziert die WHO für 2020 Herzinfarkt, Depressionen und Angststörungen – allesamt häufig Folgen von Stress – als größte Gesundheitsgefahren der Menschheit.
Drei Dimensionen
Hartmut Rosa erfasst in seinem Buch “Beschleunigung“ die kulturellen und strukturellen Ursachen der “Beschleunigungswelle”. Er beschreibt drei Dimensionen und stellt deren Auswirkungen auf das Arbeiten und Entscheiden dar:
Mit der Zeit leben
Sich der Ursachen der Beschleunigung bewusst zu werden ist der erste Schritt, um das eigene Empfinden von Zeitzwang und Zeitdruck zu hinterfragen. “Nicht gegen die Uhr sondern mit der Zeit zu leben” wäre ein generelles Motto, den passenden menschengerechten Rhythmus von Zeit und Geschwindigkeit zu finden.
Organisationsmodelle mit ihren Arbeitsnormen haben darauf zu achten, dass es in optimalem Ausmaß Handlungsspielräume und genügend Ressourcen gibt. Die verpflichtende Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen kann Rhythmus und Tempo ein gesundes Maß geben.
Für gesunde Arbeit lassen sich zentrale Stellgrößen in der Arbeitswissenschaft finden. Gesunde Arbeit, verstanden als Investition statt Kostenfaktor, bringt Produktivität, Arbeitsqualität und Lebensqualität.
Wenn Sie mehr wissen wollen, finden Sie in der Lösungswelt www.gesundearbeit.at Antworten.
Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich
Norman Wagner zeigt anhand der neuesten Arbeitsmarktdaten einen Trend: Die Anzahl der Beschäftigten steigt, diese Steigerung war jedoch nicht von einem vergleichbaren Anstieg der Arbeitsstunden begleitet. Gleichzeitig wird die vorhandene Arbeit auf mehr Personen aufgeteilt und in der Folge sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit. Zwar ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten konstant geblieben.
Aber: Da immer mehr Menschen in Teilzeit arbeiten (aktuell fast 27 Prozent), ist auch die durchschnittliche Arbeitsstundenzahl der Beschäftigten insgesamt entsprechend gesunken, und zwar von 39,8 auf 37,3 Stunden pro Woche. Das bedeutet, dass im letzten Jahrzehnt die Beschäftigung in Österreich gestiegen, das durchschnittliche Beschäftigungsausmaß aber gesunken ist.
Statistisch ergibt sich daraus zwar die oft geforderte Verkürzung der Arbeits-zeit – jedoch ohne den von der ArbeitnehmerInnenvertretung geforderten Lohnausgleich. Stattdessen wird die vorhandene Arbeit auf immer mehr Köpfe verteilt. Vielfach mit unerwünschten Folgeerscheinungen wie prekären Verhältnissen und einer Zunahme der Working Poor.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/pvk4qtj
Gesund dank Dr. Hartz?
Die deutschen Arbeitsmarktreformen, die unter dem Namen „Hartz“ bekannt sind, werden oft als gelungenes Beispiel gepriesen.
Matthias Knuth hält dagegen und zeigt, dass die tatsächlichen Wirkungen der radikalen Reformen wenig rosig sind. So wird in der Debatte oft verschwiegen, dass ein Teil des „deutschen Beschäftigungswunders“ auf demografische Entwicklungen zurückzuführen ist, die von den Reformen völlig unabhängig sind. Außerdem führt der Autor Zweifel daran an, dass sich die im internationalen Vergleich besonders niedrigen Lohnkosten im Dienstleistungsbereich tatsächlich in exporttreibenden Wettbewerbsvorteilen niederschlagen.
Im Gegenteil: Modellrechnungen zeigen, dass eine expansivere Lohnentwicklung eine Stärkung der Binnennachfrage und damit unterm Strich mehr Beschäftigung bewirkt hätte. Insgesamt sei der Arbeitsmarkt in Deutschland durch die Reformen nicht dynamischer geworden, vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Durch das erhöhte Risiko, das Arbeitslosigkeit in Zeiten von niedrigen Arbeitslosenleistungen mit sich bringt, und die seit 2000 gesunkenen Einstiegslöhne ist die Gesamtfluktuation der Arbeitskräfte nach den Reformen deutlich niedriger als vorher, so Knuth.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/laebrw7
From Russia with love
Infolge des bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der Ukraine hat die EU wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängt. Russland reagierte mit Handelsbeschränkungen. Die WKÖ warnt vor den wirtschaftlichen Folgen und fordert ein Krisenpaket für die Wirtschaft.
Silvia Angelo argumentiert, dass Wirtschaftssanktionen gegen einen so mächtigen Partner vor dem Hintergrund einer allgemeinen Wachstumsschwäche freilich nicht ohne Auswirkungen bleiben.
Aber: Die Folgen müssten realistisch bewertet und Prioritäten sinnvoll gesetzt werden. So wären die direkten Handelseffekte zwar spürbar, aber überschaubar. Nicht zu unterschätzen seien dagegen die Effekte im Finanzbereich. Denn österreichische Kreditinstitute haben sich in Osteuropa besonders stark engagiert und halten in Russland und der Ukraine ein hohes Exposure.
Ein Risiko, aus dem man Lehren ziehen sollte. Und, so Angelo, man müsse das Augenmerk auf die gesamtwirtschaftliche Krise lenken. Denn 80 Prozent der in der EU erzeugten Güter und Dienstleistungen werden im Binnenmarkt der EU verbraucht.
Die wichtigste Ursache für die lahme Konjunktur liegt also in der Binnennachfrage. Und hier stellen die Folgen der Finanzkrise und die Austeritätspolitik die Hauptprobleme dar. Gegenmaßnahmen zu dieser Wachstumsschwäche müssen Priorität haben, z. B. durch Investitionsprogramme, die späteren Generationen zugutekommen, oder die Stärkung der Kaufkraft.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/k48rrco
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„Oh my God!“
Wenn man in London jemanden auf das Thema „Privatisierung“ anspricht, erntet man Kopfschütteln, ein abschätziges Zungenschnalzen und die eine oder der andere presst schon einmal ein frustriertes „Oh my God“ hervor. Die Leute sind müde geworden, müde der Konsequenzen des Privatisierungswahnsinns, den Margaret Thatcher Ende der 1970er-Jahre gestartet hat. Seit damals wurden nahezu alle Bereiche des öffentlichen Dienstes wie Verkehr, Energie, Trinkwasser, Kommunikation und das Gesundheitssystem privatisiert.
Die in London lebende ORF-Korrespondentin Bettina Madlener sieht die Folgen differenziert. „Während es in manchen Bereichen, wie zum Beispiel in der Wasserversorgung, finanziell durchaus Sinn macht, private Firmen mit dem Service zu betrauen, muss man auch betrachten, dass insgesamt bestimmt weniger Geld hereingekommen ist, als ausgegeben wurde.“ Vor allem die Privatisierung der Eisenbahn habe sich als Desaster herausgestellt: „Die Infrastruktur hinkt anderen europäischen Ländern wie Deutschland und Frankreich gewaltig hinterher, gleichzeitig ist Bahnfahren nirgendwo in Europa teurer als in Großbritannien.“
Das propagierte Ziel, die Höhe staatlicher Zuschüsse zu verringern, wurde jedenfalls im Eisenbahnbereich aus heutiger Sicht nicht erreicht. Seit Anfang der 1990er-Jahre stagnieren die Gewinne, während die staatlichen Zuschüsse de facto gestiegen sind. Die verschiedenen privaten Betreiber erleiden jedes Jahr erhebliche Verluste, welche der Staat wieder ausgleichen muss. Die Kosten von 4,3 Milliarden britische Pfund (ca. 5,2 Milliarden Euro) sind auch prozentuell gesehen weitaus höher als die Zuschüsse, welche die Bahn vor der Privatisierung erhielt.
McNulty-Report und die Reaktion
Der im Mai 2011 von Wirtschaftsexperten erarbeitete und von Sir Roy McNulty unter dem Titel „Rail Value for Money“ veröffentlichte Report löste kontroverse Debatten aus. Zwar sind viele der darin enthaltenen Zahlen und Informationen durchaus korrekt – die darin angeführten Ursachen sowie die Vorschläge zur Beseitigung der Missstände sind es aus gewerkschaftlicher Sicht nicht. McNultys Schuldzuweisung liest sich fast wie ein schlechter Witz. Von einer „zu starken Einmischung der Regierung“ ist darin die Rede sowie von einer daraus resultierenden „unternehmerischen Einengung“, die den Firmen „zu wenig unternehmerische Freiheit lasse“.
Die richtige Medizin
Die Antwort der Gewerkschaft kam prompt. Bob Crow, damals amtierender General Secretary der Transportgewerkschaft RMT und inzwischen leider verstorben, konterte in seinem „RMT briefing on the McNulty Report“ mit einem trockenen: „Right diagnosis, wrong medicine.“ Darin heißt es: „Die RMT stimmt zu – unsere Eisenbahnen sind teurer als die Eisenbahnen in Europa – und das genau wegen der Zersplitterung und Privatisierung der British Railways.“ Das verursache jährlich Fremdkapitalkosten in der Höhe von fast einer Milliarde Pfund, die der Staat den Privatgesellschaften zuschießt.
INTERVIEW
Zur Person - Bob Crow
Alter: 53
Wohnort: London
Beruf: Nach der Schule mit 16 Jahren zu London Transport
Firma: Rail Maritime and Transport Union
Gewerkschaft: Rail Maritime and Transport Union
Seit wann im (Euro-)BR?: Gewerkschaftsvorsitzender seit 2002
Wie ist das Verhältnis der Gewerkschaften zur Regierung?
Das Verhältnis ist immer schlecht, das hat sich auch nach dem Regierungswechsel nicht verbessert.
Wäre es sehr teuer, wenn die Regierung die Eisenbahnen wieder in die eigene Verantwortung nehmen würde?
Nein, gar nicht. Die Verwaltung der Infrastruktur liegt zwar in der Hand einer Privatfirma, diese ist aber non-profit-orientiert und wird so oder so vom Staat über Zuschüsse finanziert. Die Verträge mit den verschiedenen privaten Gesellschaften enden unterschiedlich – in etwa zwischen 2014 und 2017. Danach könnten die Eisenbahnen vom Staat wieder übernommen werden.
Warum eine private Gesellschaft?
Um die Schulden wegen der Vorgaben der EU aus den Staatsschulden herauszuhalten.
Worin liegt der Unterschied zwischen den Transportgewerkschaften?
Die RMT ist für Arbeiter der gesamten Eisenbahnen zuständig, die ASLEF für Zugführer, die TSSA für Ange-stellte und Management und die UNITE für Ingenieure und technisches Personal.
Wie sieht es mit dem Organisationsgrad im Bereich der Eisenbahnen aus?
Die Mitgliederzahlen schrumpfen. Zurzeit sind ca. 85 Prozent organisiert. Früher waren es 94 Prozent.
Werden auch muttersprachliche Beratungen für MigrantInnen angeboten?
Ja, die gibt es. Zurzeit bieten wir Unterstützung in Rumänisch, Bulgarisch und verschiedenen afrikanischen Sprachen an. Schon allein deswegen, weil wir aus diesen Ländern eine Menge Arbeiterinnen und Arbeiter haben. Und bald unterstützen wir auch Leute, die Polnisch und Ungarisch sprechen.
Gibt es eigene Betriebsratsschulungen?
Das ist sehr wichtig. Wir betreiben eine Ausbildungsschule in Doncaster. Dort halten wir unterschiedliche Schulungen für Betriebsräte, Sekretäre und Aktivisten ab. Auch für die Angestellten unserer Bank.
Die RMT besitzt eine Bank?
Ja, tatsächlich. Das ist die RMT Credit Union (fast alle Unions besitzen eine Bank).
Wie viele Branchen haben einen Kollektivvertrag?
Es gibt Vereinbarungen für rund 230 Branchen, für die Bahn sind es rund 30.
Ist Gewalt am Arbeitsplatz ein großes Problem?
Ja, da haben wir viele Fälle. Am meisten allerdings sind es Passagiere, welche die MitarbeiterInnen angreifen. Es kommt auch vor, dass sie sich wehren müssen und sie sogar dafür bestraft werden.
Wie ist die Altersstruktur bei der British Rail und was folgt daraus für die Personalentwicklung?
Dafür haben wir eine eigene Sektion. Die Mitglieder werden Ehrenmitglieder, wenn sie in Pension gehen, und haben ihre eigenen Sitzungen.
Gibt es von Arbeitgeberseite spezielle Arbeitsbedingungen für ältere ArbeitnehmerInnen?
Nein, das kümmert sie nicht. Jeder hat seine Arbeit zu leisten, egal ob er fit ist oder nicht.
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Zum Mittagessen traf sie sich mit Florian Huhle. Eigentlich wollte sie mit dem Schauspieler bei Pasta und Salat weiter über den Dokumentationsfilm sprechen, in dem er Sabrinas Großvater, einen Widerstandskämpfer, darstellen sollte. Doch nun war Zorans Geschichte so präsent, dass Sabrina gleich damit herausplatzte.
„Ich möchte wirklich wissen, was da dahintersteckt“, sagte sie, als sie das Gespräch mit den Zanaidovic zusammengefasst hatte.
Sie suchten im Internet nach dem Firmennamen, es kam nicht viel. Eine Webseite, auf der der Name und eine Adresse in der Wiener Innenstadt angegeben waren.
„Soll ich vielleicht einen Arbeitssuchenden spielen?“, schlug Florian vor.
„Um zu sehen, was die in der Agentur wirklich sagen? Wäre eine Idee.“ Sie grinste.
„Ich wäre fast selbst einmal auf so was Ähnliches hereingefallen.“
„Du?“
„Ich kam frisch von der Schauspielschule. Es ging um eine Datenbank für angebliche lukrative Engagements beim Film. Mit dem Schönheitsfehler, dass ich vorab Geld hätte zahlen sollen, um aufgenommen zu werden – ohne zu erfahren, welche Jobs es dort gab. Ich hatte das Geld nicht, erst später habe ich erfahren, dass das Betrüger waren, es sind ein paar Kollegen drauf reingefallen.“
„Klingt ganz wie bei Zoran Zanaidovic. Also, dann ist dein neues Engagement gebongt.“ Sie zwinkerte und Florian zwinkerte zurück.
„Dafür gehst du einmal privat mit mir aus.“
„Okay, aber dann als echter Florian, ohne Schauspielerei.“
Florian trug einen falschen dunklen Bart und eine schwarze Perücke, als er das Penthouse der Agentur betrat. Eine klischeehafte, langbeinige Blondine grüßte ihn fragend.
„Gute Tag“, radebrechte Florian absichtlich, „ist das hier Firma, was sucht Leute für Russland?“
„Grundsätzlich ja.“
„Hat meine Freund Zoran mir Tipp gegeben“, wagte sich Florian vor.
„Ich weiß nicht über alle Bewerbungen Bescheid“, antwortete die Empfangsdame.
Der Geschäftsführer steckte seinen Kopf aus einer Tür hinter ihr und winkte Florian in ein riesiges Büro. „Wir suchen Leute, die anpacken können. Was können Sie denn?“
„Na, kann ich anpacken bei Bau, kann ich alles bauen. Ist gute Business, oder?“
Der Geschäftsführer nickte. „Die Vermittlung kostet 300 Euro, wegen Russland, Papiere und so weiter. Verfügen Sie über diese Summe?“
Florian nickte. „Kann ich das zusammenkratzen“, sagte er wie vorher abgemacht.
„Dann bringen Sie das Geld morgen vorbei. In bar, bitte.“ Er tippte klackernd über eine schwarze Tastatur. „Hier habe ich eine Liste interessierter Arbeitgeber, sehen Sie.“ Er drehte den Bildschirm in Florians Richtung, doch die Buchstaben waren zu klein, um sie zu entziffern. „Sie haben gute Chancen, das sehe ich hier. Gutes Verdienst. Das macht die 300 Euro tausendmal wett. Wenn Sie die Vermittlungsgebühr bringen, geben wir Ihre persönlichen Daten und Kenntnisse ein. Wie heißen Sie eigentlich?“
„Pavel“, sagte Florian.
Am Abend traf Sabrina ihn wieder. „Da stinkt etwas zum Himmel, er konnte nicht einmal sagen, um welche Arbeiten es gehen soll. Und die angebliche Vermittlung kostet 300 Euro.“
„Wie bei Zoran“, nickte sie. „Wir machen weiter. Ich gebe dir die 300 Euro.“
„Hier ist meine Geld.“ Florian war wieder als arbeitssuchender Pavel verkleidet.
„Sehr schön.“ Mollard griff gierig nach den Scheinen und steckte sie in einen Tresor. „Dann werden wir Ihre Informationen eingeben. Bitte setzen Sie sich.“
Mollard ließ sich Florians vermeintlichen Namen buchstabieren, und fragte Informationen wie Alter, Staatsbürgerschaft und Fähigkeiten ab.
Anschließend druckte ihm Mollard eine Liste in ziemlich kleiner Schrift aus. „Hier sind verschiedene Angebote. Wenn Ihnen was gefällt, melden Sie sich bei uns.“
Florian nickte und steckte die Papiere ein.
Bei einem Tee in Sabrinas Büro gingen sie und Florian die Liste durch. Es waren äußerst allgemein gehaltene Angaben zu Jobs – kein Einsatzort, kein Firmenname, auch die erforderlichen Kenntnisse nur schwammig umschrieben. Sie entschieden, dass Florian alias „Pavel“ zum Schein auf die Jobangebote eingehen sollte. Und falls er keinen Job bekäme, solle er die 300 Euro zurückfordern.
Gesagt, getan.
Drei Wochen später hatte Florian keinen einzigen der Jobs bekommen, ja, er wurde nicht einmal zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Mollard war nicht mehr ans Telefon zu bekommen. Als Sabrina und er gemeinsam das Büro der Agentur erneut aufsuchten, hörten sie schon auf dem Gang Schreie aus der Tür des Penthouse. Sie rannten hinein, die Blondine von neulich war an ihren Stuhl gefesselt, drinnen im Chefbüro stand ein muskulöser Zwei-Meter-Mann über den Schreibtisch gebeugt, Mollards Gestalt lugte seitlich hervor.
„Nicht, lassen Sie mich leben, bitte!“, keuchte er, „ich gestehe alles.“
Sabrina hetzte näher, erkannte, dass Mollard gewürgt wurde.
„Ich habe die Arbeitssuchenden betrogen, ich gebe alles zu.“
Sabrina tastete nach ihrer Waffe und zog sie langsam. „Lassen Sie den Mann los!“, rief sie dem unbekannten Riesen zu.
„Er hat mich betrogen. Ich will meine 300 Euro wieder.“
„Lassen Sie ihn los. Tot kann er Ihnen gar nichts zurückerstatten.“
Die breiten, rauen Pranken des Riesen rutschten langsam von Mollards Hals.
„Kommen Sie, lassen Sie ihn. Wie heißen Sie?“
„Karim.“
Endlich war Mollard frei.
„Setzen Sie sich, Karim. So, und jetzt zu Ihnen, Herr Mollard.“ Sabrina steckte ihre Waffe ein. „Sie gestehen, an den Jobsuchenden mit Betrug verdient zu haben? Ohne dass es Jobs gab?“
„Aber es gab anfangs Jobs.“ Mollard klang weinerlich. „Nur dann blieben sie aus und die Bank saß mir im Nacken, wegen des Porsches und …“
Der Riese Karim fuhr auf.
„Ruhig, bitte. Gestehen Sie, Herr Mollard?“
„Ja.“
„Gut. Und Sie werden das alles zurückzahlen und danach auch Jobs für alle Betrogenen suchen?“
„Aber das ist …“
Ein Blick zu Karim. Der trat gleich wieder näher an Mollard heran.
„Okay, okay, ich werde mein Bestes geben.“
„Na also.“
„Wir haben alles dokumentiert, ich werde auf jeden Fall weiter dranblei-ben. Die Polizei ist schnell informiert. Möchten Sie eine Anzeige machen, Herr Karim?“
Anni Bürkl ist Journalistin, (Krimi-)Autorin und Lektorin.
Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Göttinnensturz“ und ist Teil einer Krimireihe rund um Teelady Berenike Roither, die Fortsetzung erscheint 2015 wieder im Gmeiner Verlag.
www.annibuerkl.at
Fehlende Studien
Psychische Erkrankungen sind inzwischen allgegenwärtiges Thema politischer Diskussionen. Wer sich aber im Bundesministerium für Gesundheit viele Studien und Zahlen dazu erwartet, irrt. So verwunderlich dies erscheinen mag: Es gibt dafür auch einige handfeste Ursachen. So ist allein schon schwer zu fassen, wie viele ÖsterreicherInnen tatsächlich erkrankt sind. Dass Betroffene zu niedergelassenen Ärzten gehen, ist dafür nur eine Ursache. Auch bei den Zahlen aus Spitälern ist Vorsicht angebracht: Dort werden etwa mehrere Konsultationen eines einzigen Patienten mehrfach gezählt.
Einen kleinen Einblick bietet die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage über psychische Erkrankungen bei ArbeitnehmerInnen vom Jänner 2013. Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger erhob: Im Jahr 2009 waren 78.028 Versicherte der Gebietskrankenkassen aufgrund einer psychischen Diagnose arbeitsunfähig, darunter 46.539 Frauen. Am meisten betroffen sind Personen zwischen 31 und 50 Jahren, sie stellen etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen. Kosten für das Jahr 2011 laut Hauptverband: 250 Millionen Euro für Psychopharmaka, 67 Millionen Euro für Psychotherapie, 31 Millionen Euro für die Behandlung bei niedergelassenen PsychiaterInnen.
Die meisten psychisch Erkrankten schaffen ohne Tabletten keinen geregelten Tagesablauf. Dass es hilft, über psychische Schmerzen und Hoffnungslosigkeit zu reden, ist bekannt, doch im Job soll es niemand wissen. „Viele Menschen sagen nichts, weil sie Angst haben, die Arbeit zu verlieren. Psychische Erkrankungen sind heute noch immer ein Tabuthema“, erklärt der Klinische Psychologe Peter Hoffmann von der AK Wien. „Es sollte eine Kampagne geben, denn viele Menschen reagieren panisch, erklären Kranke für verrückt. Sie wissen nicht, was sie mit ihren ArbeitnehmerInnen machen sollen, glauben, dass sie ihnen dauerhaft ausfallen, und halten sie für unberechenbar. Die Chefs müssten mehr gecoacht und aufgeklärt werden, dass dieser Zustand vorübergehend sein kann.“
Verschweigen und Vertuschen
Was es heißt, die Krankheit im Betrieb zu verschweigen und zu vertuschen, weiß Iris K. nur allzu gut. War sie im Krankenstand, schrieb ihr Hausarzt auf die Krankmeldung natürlich eine andere Diagnose. „Zu Hause zu bleiben ist in einer solchen Situation natürlich keine gute Idee. Zum Glück ließ sich mein Vater nicht beirren und entführte mich zu einem kleinen Ausflug in die Sonne“, erzählt sie. Doch dann kam die Angst: „Was, wenn mich ein Kollege oder eine Kollegin sieht?“ Nach ihrem Zusammenbruch schlug die Personalabteilung Iris K. in einem klärenden Gespräch ein Coaching vor. Das vertrauliche Coaching durch eine externe Expertin hat Iris K. auf ihrem Weg geholfen. Statt sich weiter dem täglichen Druck auszusetzen, hat sie gekündigt und arbeitet heute selbstständig.
Eine ganz entscheidende Rolle fällt den BetriebsrätInnen zu, denn sie sind zumeist erster/erste AnsprechpartnerIn. „Auch mein Betriebsrat war natürlich überfordert. Er hat sich alles geduldig angehört und auch meine Weinkrämpfe ertragen, aber angenehm war das natürlich für uns beide nicht.“ In Zukunft werden BetriebsrätInnen eine stärkere Funktion in der Beratung betroffener ArbeitnehmerInnen übernehmen müssen. Zum einen sollten sie KooperationspartnerInnen in der Prävention für alle Personen sein, die sich psychisch zu stark belastet fühlen. Bei betrieblichen Veränderungsprozessen müssen sie beteiligt sein. Dabei sind auch Fortbildungen zur Gesprächsführung und sozialen Kompetenz enorm wichtig – das Erlernte sollte regelmäßig aufgefrischt und vertieft werden. Wenn ein Betriebsrat oder eine Betriebsrätin merkt, dass ein/e ArbeitnehmerIn psychische Probleme hat, kann er oder sie allerdings nur sehr dezent Hilfe anbieten – dieses Angebot dürfe auf keinen Fall aufdringlich wirken.
Sensible Kommunikation
Peter Hoffmann macht deutlich, dass betroffene ArbeitnehmerInnen bestimmte Aufgaben – über einen gewissen Zeitraum hinweg – nicht mehr übernehmen können. „Das muss in der Abteilung geklärt werden, denn oft wird die Arbeit, die der Kranke nicht mehr machen kann, aufgeteilt. Doch auch mit den Betroffenen muss gesprochen werden, damit sich diese nicht zurückgesetzt fühlen“, weiß Hoffmann. „Das erfordert eine sensible Kommunikation zwischen Vorgesetzten und MitarbeiterInnen. Wenn die Leute nicht rechtzeitig über ihre Erkrankung sprechen, geraten sie in eine Spirale, aus der sie nur schwer herauskommen. Wenn sie es zeitgerecht sagen und man sie im Betrieb halten kann, dann wirkt das stabilisierend.“ Der falsche Weg: ArbeitnehmerInnen, die nicht mehr können, aber auch nichts sagen, nehmen oft noch mehr Arbeitsaufwand auf sich, um ihren Rückstand aufzuholen – der Zusammenbruch wird damit geradezu unausweichlich. Gesundheitspsychologe Hoffmann: „Dabei sollten sie eine Auszeit zum Selbstschutz fordern.“
Das hat Martina F. für sich entschieden. Die 34-Jährige ist in der Bildungsarbeit tätig. Vor rund vier Jahren hat es mit starkem Herzklopfen begonnen. Selbst Ruhepausen auf dem Land halfen nichts mehr, das starke Pochen wurde nicht weniger, dazu kamen massive Schlafstörungen. „Auf dem Höhepunkt hat es sich angefühlt, als hätte ich ein paar Wochen gar nicht geschlafen“, erzählt Martina F. Die Nerven lagen blank, keine Spur von Ruhe und Erholung. Dass sie schlecht schläft, haben auch ihre KollegInnen mitbekommen. In ihrem vierwöchigen Urlaub stellte sich keine Besserung ein und die Angestellte entschied sich für eine psychosomatische Klinik: „Mit den Begriffen für die Krankheit wird flexibel umgegangen. Ich würde sagen, dass ich eine Erschöpfungsdepression hatte.“ Erst wollte Martina F. kündigen, weil sie nicht wusste, wann sie wieder arbeiten kann – einen langen Krankenstand schloss sie für sich aus. Die Situation hatte sie vorab mit ihrer Chefin besprochen, allerdings verbindet die beiden ein besonders gutes kollegiales Verhältnis. Entschieden hat sich Martina F. für ein Jahr Bildungskarenz. „Ich würde nicht empfehlen, es allen zu erzählen. Eine Depression ist immer noch eine Stigmatisierung – eine Krankheit von Schwächlingen. Jemand, der es nie hatte, kann es sich auch nicht vorstellen.“ Was Martina F. geholfen hat, waren anfangs Medikamente: „Ich war glücklich, dass ich schlafen konnte.“ Später Psychotherapie, viel Sport und Shiatsu. „Und ich habe mich sehr dahintergeklemmt, dass es mir gut geht. Wenn du wieder ins Arbeitsleben kommst, sind die Medikamente eine Stütze, um deinen Platz zu erkämpfen.“ Heute muss Martina F. keine Psychopharmaka mehr einnehmen und geht in eine Gruppentherapie. Wenn sie heute wieder Herzklopfen, einen Druck auf der Brust und Erschöpfung spürt, nutzt sie ihr Notfallprogramm: „Das kann einfach Ruhe geben und nicht so viel machen sein – oder fortgehen und tanzen, denn das ist eine sehr gute Therapie.“
So wichtig wie andere Krankheiten
Doch ArbeitnehmerInnen müssen nicht allein auf sich achten – sie dürfen auch nicht zur Belastung für ihre Kolleginnen und Kollegen oder die ihnen unterstellten MitarbeiterInnen werden, denn der Faktor Mensch ist eine häufige psychische Fehlbelastung im Betrieb. Peter Hoffmann: „Die Herausforderung ist: Wie kann eine Firma signalisieren, dass psychische Erkrankungen für sie genauso wichtig sind wie andere Krankheiten auch?“
Internet:
Hilfe für Menschen in Krisen und bei Suizidgefahr bzw. für Freunde und Helfer:
www.hilfe-in-der-krise.at
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM):
tinyurl.com/n782ssq
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Wie gesund sind Jugendliche?
2014 hat die Gesundheit Österreich GmbH die Gesundheit von 17-jährigen Lehrlingen mit gleichaltrigen SchülerInnen verglichen, basierend auf dem Österreichischen Arbeitsklima Index für 2012/2013 und einer lehrlingsspezifischen Auswertung des Österreichischen Arbeitsgesundheitsmonitors durch die Arbeiterkammer Oberösterreich. Die Ergebnisse: Im Großen und Ganzen bewerten Lehrlinge ihre Gesundheit als sehr gut. Dennoch äußern sie bereits vermehrt und häufiger als SchülerInnen körperliche Beschwerden wie Kopf-, Kreuz- oder Rückenschmerzen sowie Erschöpfung und Mattigkeit, die oftmals auf die Arbeit zurückgeführt werden. Im Gesundheitsverhalten unterscheiden sich Lehrlinge stärker von gleichaltrigen SchülerInnen. Mehr als die Hälfte der Lehrlinge raucht täglich, der Alkoholkonsum ist ausgeprägter und die Leberkäsesemmel mit Cola ist schmackhafter als ein Vollkornriegel und ein Glas Wasser. Übergewicht kommt daher bei Lehrlingen häufiger vor.
„Schwierig ist es, wenn jungen Menschen erst ein Purzelbaum beigebracht werden muss, damit wir Fallübungen durchführen können“, erzählt AUVA-Geschäftsführer Georg Effenberger. Körperlich sind Jugendliche heute nicht so fit wie noch vor zehn, zwanzig Jahren. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) steuert mit spezifischen Kampagnen dem höheren Unfallrisiko von Jugendlichen und Lehrlingen am Arbeitsplatz entgegen. „Lehrlinge haben ein um 50 Prozent höheres Unfallrisiko als ältere ArbeitnehmerInnen. Sie sind im Umgang mit Betriebsmitteln weniger erfahren, körperlich nicht voll entwickelt, risikofreudiger und sie überschätzen sich auch gerne mal“, beschreibt Effenberger das besondere Schutzbedürfnis von Lehrlingen.
Die Unfallrisiken sind von Branche zu Branche unterschiedlich. Rund 27.000 Verletzungen verzeichnet die AUVA jährlich bei 15- bis 25-jährigen unselbstständig Erwerbstätigen. Die Hälfte davon sind Handverletzungen, zwei Drittel der Verunfallten sind männlich. „Das geht sehr schnell. Ein Lehrling schneidet zum Beispiel Kartons mit einem billigen Stanleymesser auf, rutscht ab, und schon hat er eine Schnittwunde“, berichtet Michael Trinko, Bundessekretär der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ). „Hier sparen etliche Betriebe leider an der falschen Stelle und schneiden sich damit ins eigene Fleisch. Denn der Ausfall eines Lehrlings kostet mehr als gutes Arbeitsmaterial.“
Erstaunlich selten
„Gesundheitsprävention beginnt bei den Jungen“ lautet der Ansatz fast aller betrieblichen Gesundheitsprogramme und -kampagnen. Klares Statement, unzureichende Umsetzung. Gerade auf Betriebsebene, wo Gesundheitsschutz am meisten Sinn macht, ist Gesundheitsförderung speziell für junge Menschen erstaunlich selten. Die Lehrwerkstätte der Siemens AG in Graz ist eine von wenigen Ausnahmen. Seit den 1990er-Jahren bietet sie ihren Lehrlingen Outdoor-Teamtrainings, Seminare zu Ernährung, Jugendschutz oder Drogenprävention an. Lehrlinge haben tägliche Bewegungspausen und können aus einem breiten Angebot an Betriebssport auswählen. Für diese Maßnahmen wurde die Lehrwerkstätte der Siemens AG in Graz heuer mit dem Staatspreis für betriebliche Gesundheitsförderung für „Young Professionals“ ausgezeichnet.
Um auf Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz von Lehrlingen aufmerksam zu machen, veranstaltete die ÖGJ Anfang Oktober eine Konferenz gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium. Die rund 150 JugendvertrauensrätInnen sollten in Workshops zu Suchtprävention, zu Verhütung und Ernährung ihre Erfahrungen austauschen und ihr Wissen in die Betriebe tragen. 2014 hat auch der Fonds Gesundes Österreich einen Schwerpunkt auf die Lehrlingsgesundheitsförderung gelegt, „da Lehrlinge eine Zielgruppe darstellen, die bislang noch kaum mit Gesundheitsförderungsmaßnahmen erreicht wurde“.
Lehre im Gesundheitscheck
Würde man die Berufsausbildung einem Gesundheitscheck unterziehen, wären die Ergebnisse zum Teil unerfreulich: übergewichtige Arbeitszeiten und wenig fit im fachgerechten Anlernen und Ausbilden der Lehrlinge. Wiederkehrende Überstunden, berufsfremde Tätigkeiten und eine Ausbildung, die nicht alle Aspekte des Berufsbildes umfasst, sind die häufigsten Beschwerden von Lehrlingen bei der ÖGJ und in der AK. Nach einer Lehrlingsumfrage der AK Wien von 2010 lernt nur die Hälfte der Befragten, was im jeweiligen Berufsbild vorgesehen ist. Die Hälfte bis drei Viertel der Lehrlinge leisten Überstunden – zum Teil auch unter 18-Jährige, die gar keine Überstunden machen dürfen. Jugendliche befinden sich noch im Wachstum und sind weniger belastbar als Erwachsene. Gerade zu Beginn des Berufseinstieges können schon wenige Stunden Arbeit ermüden. Jugendliche sind dadurch weniger leistungsfähig, unkonzentrierter und anfälliger für Fehler.
Peter Schlögl, Geschäftsführer des Österreichischen Instituts für Bildungsforschung (ÖIBF), sieht die wahren Krankmacher im System: in der Qualität der Ausbildung. Nur gibt es derzeit keine Qualitätssicherung, kein Qualitätslabel. Das einzige Qualitätskriterium in der Lehre ist die Lehrabschlussprüfung, bei der Lehrlinge am Ende ihrer Ausbildung beweisen müssen, dass sie entsprechend dem Berufsbild ausgebildet sind. Die Verantwortung liegt damit bei ihnen – und auch das Risiko, wenn sie die Lehrabschlussprüfung nicht schaffen. Das betrifft immerhin ein Fünftel aller österreichischen Lehrlinge beim ersten Prüfungsantritt. „Für den Erfolg der Ausbildung dürfen nicht nur Jugendliche verantwortlich gemacht werden, sondern auch der Betrieb. Das fehlt in Österreich“, so Schlögl.
Qualitätslabel für Lehre
Gesundheitsförderung ist noch viel mehr als „an apple a day“ oder ein paar Stunden pro Woche auf dem Sportplatz. Gesundheitsförderung junger Menschen heißt, eine gesunde Arbeitssituation zu schaffen, ein Umfeld, in dem Lehrlinge sich entwickeln und vor allem lernen können. „Es wird immer unterschätzt, dass die Phase der Sozialisation das ganze Erwerbsleben mitprägt“, so Peter Schlögl. Die Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstständigkeit und Konfliktfähigkeit werde von den Erfahrungen der Lehre geprägt. Zum Teil sind junge Menschen auf die bedeutenden Veränderungen im Übergang von Schule in die Arbeitswelt nicht vorbereitet. Die Produktionsbedingungen üben zunehmenden Druck aus und lassen immer weniger Raum zum Erproben oder um Routinen zu entwickeln. Das kann bei Jugendlichen zu Überforderung führen und den positiven Bezug zur Arbeit beeinträchtigen. Irgendwann schlagen diese Bedingungen auf den Magen und die Gesundheit.
In Österreich fehle es laut Schlögl vielerorts am professionellen Umgangston mit Lehrlingen. „Wennst einen Führerschein hast, kannst auch Palatschinken machen“, wie ein Ausbildner zu einem Lehrling sagte, machen das Problem deutlich. Schlögl: „Wenn wir wollen, dass Menschen länger in Beschäftigung bleiben, dann müssen Betriebe umdenken. Der erste Schritt ist ein Qualitätslabel für die Berufsbildung. Das ist die nachhaltigste Gesundheitsförderung.“
Internet:
Gesundheit von Lehrlingen in Österreich (Factsheet vom Fonds Gesundes Österreich, 2014)
tinyurl.com/olzotrb
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Erste Anlaufstelle Familie
Irina Jäger ist 34 Jahre alt und seit ihrer Geburt körperlich und geistig schwerstbehindert. Sie sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen, man weiß nicht, ob sie sehen kann oder ob sie taub ist. Sie gehört zu den PatientInnen des Allgemeinmediziners Christian Euler. Er betreibt eine Ordination im burgenländischen Rust und zählt viele intellektuell und körperlich behinderte Personen zu seinen PatientInnen. Irina kennt er seit ihrer Geburt, sie begleitet ihn bereits sein ganzes Berufsleben. Wenn Irina Beschwerden hat, ist sie auf ihre Eltern und ihren Hausarzt angewiesen. Menschen mit schweren Behinderungen zeigen teils atypische Schmerzreaktionen und können sich nicht mitteilen. Dadurch wird Ärzten die richtige Diagnose und somit die adäquate medizinische Behandlung erschwert, Krankheiten werden oft spät erkannt. Umso mehr sind ÄrztInnen auf detaillierte Informationen von Familienangehörigen, Betreuungspersonen oder bestehende Befunde angewiesen. In Irinas Fall erkennt Euler meist relativ schnell, was ihr fehlt. „Jemand, der Irina das erste Mal sieht, ist höchstwahrscheinlich erst einmal überfordert. Denn die Beschwerden sind auf den ersten Blick nicht erkennbar. Wenn man den Patienten lange kennt, kann man auf seine Erfahrung zurückgreifen und fühlt sich sicherer – in der Diagnose und in der Behandlung.“ Je genauer und detaillierter die Beschwerden der PatientInnen von den Betreuungspersonen geschildert werden, desto präziser kann die Diagnose gestellt und eine zielführende Behandlung eingeleitet werden. „An betreuenden Personen kommt man nicht vorbei. Die Eltern sind die kompetentesten Behandler“, sagt Euler.
Ein langjähriges und enges Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Arzt führt oft dazu, dass der Mediziner die ganze Familie mitbetreut und so Einblicke in den Familienverband gewinnt. „Ich konnte zum Beispiel erleben, wie ein junger, schwer behinderter Mann seine ganze Familie zusammenhielt“, erzählt Euler. „Er wurde von allen liebevoll gepflegt und jedes Familienmitglied hatte seinen Alltag rund um ihn organisiert. Wenn es dem Jungen gut ging, ging es allen gut.“
Barrieren im Kopf
Während viele ÄrztInnen wie Euler über langjährige Erfahrung mit behinderten PatientInnen verfügen, gibt es andererseits immer noch MedizinerInnen, die von der Behinderung ihrer PatientInnen überfordert sind. „Bedingt durch mangelnde Erfahrung bei den Auswirkungen von Behinderungen, wie zum Beispiel nicht frei stehen zu können, oder wenn der Arzt über keine Kenntnisse der Gebärdensprache verfügt, kommt es manchmal zu Unsicherheiten bei Ärzten und medizinischem Personal“, sagt Annemarie Srb-Rössler vom Behindertenberatungszentrum BIZEPS, Zentrum für Selbstbestimmtes Leben. „Im Medizinstudium und der weiteren Ausbildung der Ärzte wird das Thema ‚Behinderung‘ kaum erwähnt. Daher gibt es oft nur mangelndes Wissen zu dem Gebiet.“ Srb-Rössler ist selbst Rollstuhlfahrerin und war lange Zeit im Vorstand von BIZEPS tätig.
Der Verein betreibt in Wien eine Beratungsstelle für behinderte Menschen und deren Angehörige, die sich an den Prinzipien der „Selbstbestimmt Leben“-Bewegung orientiert: Selbstbestimmung, Gleichstellung, Nicht-Diskriminierung und Barrierefreiheit. All diese Kriterien sollen auch in der ärztlichen Betreuung gegeben sein. „Das Wichtigste ist, dem Patienten Respekt entgegenzubringen und ihn als vollwertig zu behandeln“, sagt auch der burgenländische Arzt Euler. Wenn es beispielsweise um den Kinderwunsch von behinderten Frauen geht, kommt es durchaus noch vor, dass Patientinnen nicht ernst genommen werden. Ihr Recht, Kinder zu bekommen, wird ihnen von vornherein abgesprochen. Daher ist gerade in diesen Fällen eine gute und ausreichende Beratung unbedingt erforderlich.
Beschwerliche Routine
Bei intellektuell und körperlich behinderten PatientInnen spielt vor allem die soziale Komponente eine wesentliche Rolle. Denn der Arzt muss sich für die PatientInnen Zeit nehmen, um individuell auf sie eingehen zu können. Dazu gehört auch die Wahl der richtigen Kommunikation, beispielsweise in kurzen Sätzen zu sprechen und Fremdwörter zu vermeiden. Selbst Routineuntersuchungen bei FrauenärztInnen erweisen sich als beschwerlich, denn bei „einfachen“ Tätigkeiten wie dem An- und Ausziehen oder dem Setzen auf den Untersuchungsstuhl (und dem Verlassen desselben) sind behinderte Patientinnen oft auf die Hilfe des Arztes oder ihrer Betreuungsperson angewiesen und nehmen oft mehr Zeit in Anspruch. Auch zahnärztliche Behandlungen sind bei behinderten Menschen häufig nicht ohne Weiteres möglich. PatientInnen mit geistiger Behinderung verstehen oft nicht, warum sie sich einer schmerzhaften Zahnbehandlung aussetzen müssen, und weigern sich, den Mund zu öffnen. In diesem Fall ist viel Einfühlungsvermögen und Geduld vonseiten des medizinischen Personals gefragt. In Österreich gibt es allerdings kaum ZahnärztInnen, die auf die Behandlung von behinderten oder „schwierigen“ PatientInnen spezialisiert sind.
Während es für nicht behinderte Menschen selbstverständlich ist, sich seinen Arzt aussuchen zu können, müssen Menschen mit Behinderung danach entscheiden, welche Praxis für sie einigermaßen erreichbar und zugänglich ist. „Die Patienten und Patientinnen haben ein Recht auf einen Arzt, aber sie haben kein Recht auf denselben Arzt“, sagt Euler.
Genau dagegen kämpft Annemarie Srb-Rössler. Seit 2001 leitet sie das Projekt „Behinderte Menschen in Gesundheitseinrichtungen“. „BIZEPS arbeitet seit vielen Jahren daran, Rahmenbedingungen zu schaffen, um die freie Arztwahl für Menschen mit Behinderungen zu verbessern“, sagt Annemarie Srb-Rössler. „Um die Bedürfnisse unserer Personengruppe zu erfragen und kennenzulernen, wurde Anfang 2001 unser Gesundheitsprojekt gestartet“, so Srb-Rössler. Im Rahmen dieses Projekts wurde eine behinderungsübergreifende Arbeitsgruppe gegründet und ein gemeinsamer Fragebogen erarbeitet. Dabei wurden an Wiener Arztordinationen Fragen über Praxiseinrichtungen gestellt, die für PatientInnen ohne Behinderung selbstverständlich sind. Ist die Ordination stufenlos erreichbar bzw. wie viele Stufen sind zu überwinden? In welcher Höhe befindet sich der Türöffner? Welche Abmessungen hat die Aufzugskabine? Darf ein Blindenführhund zum Arztbesuch mitgebracht werden? Verfügt der Arzt bzw. die Ärztin über Gebärdensprachkenntnisse? Ist in der Ordination ein behindertengerechtes WC vorhanden? Wie hoch ist die Behandlungsliege und wie weit ist sie absenkbar?
Alltäglich?
Über 700 Arztpraxen in Wien wurden kontaktiert und die Ordinationsräumlichkeiten vermessen. Die Ergebnisse sind im Internet über den Praxisplan der Ärztekammer für Wien (www.praxisplan.at) abrufbar und werden laufend erweitert und aktualisiert. Wie für Srb-Rössler eine ideale ärztliche Betreuung aussieht? „Von einer ‚idealen ärztlichen Betreuung‘ kann man im besten Fall dann sprechen, wenn es keiner Auflistung barrierefreier Ordinationen mehr bedarf und die Behinderung in der Diagnosefindung Berücksichtigung findet.“
Internet:
Mehr Infos unter:
www.bizeps.or.at/broschueren/krank
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Primat Kostensenkung
Innerhalb der durch die Troika formulierten Konsolidierungsziele wurden und werden wichtige politische Entscheidungen auch hinsichtlich der Gesundheitssysteme getroffen. Wohin das Primat der Kostensenkung führen kann, wird an diesen Ländern deutlich: Schließungen von Krankenhäusern, Privatisierungspläne für (die noch vorhandenen) Krankenhäuser, Ausschluss einzelner Bevölkerungsgruppen aus dem Zugang zur Gesundheitsversorgung, große Erhöhung der privaten Zuzahlungen, ein Drittel Lohnkürzungen für Krankenhausbeschäftigte, Reduzierung von Nachtdiensten per Regierungsdekret etc.
Zweifellos ist die derzeitige Lage des Gesundheitswesens in den Krisenländern nicht mit der Situation in Österreich oder auch in Deutschland vergleichbar. Doch dies liegt nicht daran, dass nicht auch in Österreich und Deutschland die Kostendämpfung im Gesundheitswesen hoch auf der politischen Prioritätenliste rangiert oder dass sich die Kostensenkungsstrategien inhaltlich beziehungsweise in ihrer Ausrichtung wesentlich unterscheiden, sondern an der Radikalität ihrer Umsetzung.
Aber auch zwischen Österreich und Deutschland finden sich Differenzen hinsichtlich der Umsetzung von Kostensenkungsstrategien. So ist Deutschland das Land in Europa, in dem der Verkauf von öffentlichen Krankenhäusern systematisch und im groß angelegten Stil erfolgte. Während laut Krankenhausexperten Nils Böhlke noch 2002 lediglich 28,3 Prozent der öffentlichen Krankenhäuser in privater Rechtsform geführt wurden, waren es 2011 56,8 Prozent. In Österreich hingegen haben Voll- oder Teilprivatisierungen nur in sehr geringem Ausmaß stattgefunden: Teilprivatisiert wurden in den vergangenen Jahren beispielsweise vier Rehabilitationszentren (Sonderkrankenanstalten) der Sozialversicherung der Bauern (SVB). Eine zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens und Privatisierungstendenzen können jedoch auch hierorts beobachtet werden. Insbesondere der Krankenhaussektor wurde in den vergangenen Jahren durch Reformen wesentlich marktnäher gestaltet. Ökonomische Kalküle haben Einzug in das Handeln im Krankenhaus gehalten und die Vermeidung wirtschaftlicher Verluste wurde zu einer verbindlichen Verhaltenserwartung für alle AkteurInnen im Gesundheitswesen. Wenig überraschend übernehmen Krankenhäuser dabei Strategien der Kostensenkung wie beispielsweise Auslagerungen, die aus der Privatwirtschaft bekannt sind. Auslagerung (Outsourcing) von bestimmten Teilen oder Funktionen an private Unternehmen ist mittlerweile im betrieblichen Alltag von österreichischen Krankenhäusern verankert. Diese Entwicklung verläuft unabhängig von der Eigentümerstruktur der Krankenhäuser. Beliebt ist in Österreich auch eine spezifische Form der Auslagerung, sogenannte Public-Private-Partnerships (PPP). PPPs sind auf Dauer angelegte Kooperationen von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft bei der Planung, der Erstellung, der Finanzierung, dem Betreiben oder der Verwertung von (bislang) öffentlichen Aufgaben. Eine in Österreich häufig angewandte PPP-Variante ist die Übernahme der Betriebsführung von Krankenanstalten durch private Firmen, die sich auf Krankenhausmanagement spezialisiert haben. Innerhalb eines PPPs wurden Private in den vergangenen Jahren auch immer mehr zur Finanzierung von Investitionen geholt. Gleichzeitig finden sich Versuche von Lohnkostensenkungen durch Kürzung von Überzahlungen und sonstigen Zuschlägen, aber auch durch Personalabbau meist in Form von Verzicht auf Nachbesetzungen nach Pensionierungen.
Arbeitsverdichtung und Intensivierung
Hauptbetroffene dieser Entwicklung sind die Beschäftigten in den Krankenhäusern.2 Eine Vielzahl von Studien der vergangenen Jahre zeigt denn auch ein kontinuierliches Anwachsen der Belastungen der Beschäftigten im Krankenhaussektor, vor allem durch Arbeitsverdichtung und Intensivierung. Arbeitsorganisatorische Veränderungen und Personalabbau (meist in Form von fehlenden Nachbesetzungen) erweisen sich dabei als wichtigste Ursachen. Für die zunehmenden Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben sind kaum zusätzliche Zeitressourcen vorgesehen, daher nimmt die Zeit für die „eigentlichen“ Aufgaben ab. Dazu kommt ein hohes Ausmaß an Überstunden, Mehrarbeit, die überdurchschnittliche Verbreitung von Wochenend- und Nachtarbeit etc. Die körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen des Berufs werden, so ebenfalls das Ergebnis vieler Studien, von den Beschäftigten als „immer unerträglicher“ wahrgenommen. Für Österreich liegen keine repräsentativen Daten über einen Vergleich der Arbeitsbedingungen von im Krankenhaus Beschäftigten nach Trägerstruktur vor. Für Deutschland lässt sich aber zeigen, dass zwar die Arbeitsbelastung in den Kliniken trägerübergreifend zunimmt, aber die Belastung in den privaten Häusern durchschnittlich noch höher ist als in den öffentlichen Häusern. Die in Vollerhebungen ermittelten Daten des Statistischen Bundesamtes machen deutlich, dass sowohl ÄrztInnen als auch Pflegekräfte in privaten und auch in gemeinnützigen Häusern wesentlich mehr Belegstage zu behandeln haben als ihre KollegInnen in öffentlichen Häusern. Neben der stärkeren Arbeitsbelastung ist in Deutschland auch bei den Tarifen der Beschäftigten ein deutlicher Unterschied zwischen den tariflichen Entlohnungen der Beschäftigten bei den unterschiedlichen Trägern zu verzeichnen.
In Österreich sind die Beschäftigten in privaten gemeinnützigen und privaten gewinnorientierten Krankenanstalten hinsichtlich der kollektivvertraglich festgelegten Einkommenshöhe seit jeher schlechtergestellt. Im vergangenen Jahrzehnt wurden aber Annäherungen erreicht. Gleichzeitig nehmen aber in allen Krankenhäusern – insbesondere aber in den privaten gemeinnützigen und privaten gewinnorientierten – die Bemühungen zu, Personalkosten durch Kürzungen von Zuschlägen und Überzahlungen zu reduzieren. Eine Gruppe von Krankenhausbeschäftigten, die gesondert erwähnt werden muss, sind von Auslagerung Betroffene. Sie erfahren in der Regel Verschlechterungen auf allen Ebenen der Beschäftigungssituation: Einkommensverlust aufgrund eines ungünstigeren (niedrigeren) Kollektivvertrags, Verlust von betrieblichen Sozialleistungen, die den Beschäftigten vor der Auslagerung zustanden, geringerer Kündigungsschutz, eine Zunahme von Arbeitsbelastungen durch Kürzung der Arbeitsstunden etc.
Kämpfe
Seit Jahren wird von Krankenhausbeschäftigten wiederholt auf die immer unzumutbarere Situation hingewiesen, bislang ohne Wirkung. Mittlerweile beginnen sich die Beschäftigten zu wehren: Kundgebungen, erste Warnstreiks in oberösterreichischen Ordensspitälern (nach dem Vorbild der Berliner Charité), Aktionen gegen weitere Auslagerungen. Die Kämpfe der Krankenhausbeschäftigten brauchen mehr Unterstützung auch seitens der Zivilgesellschaft. Schließlich geht es ebenso um Interessen von PatientInnen wie von Beschäftigten. Eine gute und qualitätsvolle Gesundheitsversorgung ist schließlich unser aller Anliegen.
Internet:
Die Broschüre „Ausgelagert? Umstrukturierung in Krankenhäusern“ können Sie hier downloaden:
tinyurl.com/ptgnqob
tinyurl.com/pdcez53
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1 Unter Privatisierung wird der Transfer von Unternehmensanteilen von einem öffentlichen zu einem privaten Eigentümer verstanden. Ökonomisierung meint die Beteiligung von privatem Kapital, die Einführung von Marktmechanismen und die Adaptierung von privaten Management- und Effizienzprinzipien (Effizienz wird mit Profitabilität gleichgesetzt).
2 Es ist anzunehmen, dass eine solche zunehmende Arbeitsbelastung auch Auswirkungen auf die Behandlungsqualität hat. Allerdings liegen aber bis dato kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Zusammenhang vor.
Drastisches Beispiel
Ein drastisches Beispiel bietet „Sovaldi“, ein Medikament, das gegen Hepatitis C eingesetzt wird – eine einzige Tablette kostet an die 1.000 Euro, die rund zwölfwöchige Therapie kommt somit auf 84.000 Euro. Nicht jede Arznei ist so teuer, dennoch müssen die EndverbraucherInnen dafür aufkommen – oder wie im Falle Österreichs die Krankenkassen. Im Jahr 2012 gab die soziale Krankenversicherung rund drei Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Die Gesamtausgaben lagen bei rund 15,2 Milliarden Euro, Medikamente machen somit ein Fünftel der Gesamtausgaben aus. Zugleich sind sie der drittgrößte Posten. Die erste und zweite Stelle nahmen 2011 Spitalsbehandlungen mit rund 4,5 Milliarden (29 Prozent) und ärztliche Hilfe mit etwa 3,7 Milliarden (24 Prozent) ein. 2008 lagen die Ausgaben für Medikamente noch bei 2,53 Milliarden Euro oder 400 Euro pro VersicherungsnehmerIn, bis 2012 stiegen sie auf 411 Euro pro Kopf an. Ein Mehraufwand von 500 Millionen Euro innerhalb von vier Jahren ist keine Kleinigkeit, wobei Jutta Piessnegger vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger zu bedenken gibt, dass die Kosten durch den vermehrten Einsatz von Generika noch gebremst wurden. Die Abteilungsleiterin für den Bereich „Vetragspartner Medikamente“ bestätigt, dass „signifikant mehr“ teure Medikamente auf den Markt kommen und somit mit einer stärker steigenden Kostenbelastung für die Krankenkassen zu rechnen ist.
Wie groß der Anteil des medizinisch-technischen Fortschritts nun an der Gesamtbelastung für das heimische Gesundheitssystem ist, kann laut der Health-Care-Expertin Maria M. Hofmarcher-Holzhacker nicht befriedigend beantwortet werden – es fehlen detaillierte Studien zu dem Thema. Unterschiedlichen Schätzungen und Berechnungsweisen für Wohlfahrtsstaaten zufolge trägt die medizinische Weiterentwicklung aber 40 bis sogar über 65 Prozent zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen bei.
Wie lässt sich nun gegensteuern, ohne die Versorgungsqualität zu gefährden? Experten meinen: Es gilt, schon bei der Diagnose anzusetzen. So gibt es PatientInnen, die unter somatoformen Störungen leiden, das heißt, sie weisen körperliche Beschwerden auf, die sich nicht oder nicht hinreichend mit einer organischen Erkrankung erklären lassen. Das führt dazu, dass sich diese Menschen immer wieder hochtechnisierten (und teuren) Untersuchungen unterziehen, um der scheinbar unerfindlichen Ursache auf den Grund zu kommen. Dabei wird an der falschen Stelle gesucht, nämlich nach organischen und nicht nach psychischen Beeinträchtigungen. Krankenhaus-Ärzte berichten in diesem Zusammenhang, dass es immer wieder vorkommt, dass PatientInnen brandaktuelle Befunde verbergen, um sich erneut der gleichen Untersuchung zu unterziehen, die bereits wenige Tage zuvor in einem anderen Spital vorgenommen worden war. Hier tut eine ausführliche Beratung not, die auch nicht gratis ist, aber solche Mehrfachkosten verhindern kann.
Eine Frage der Ethik
Thomas Sycha, Facharzt für Neurologie, hat sich intensiv mit dem Thema Health-Care-Management auseinandergesetzt. Der Experte sieht einen weiteren springenden Punkt: „Die Frage ist, inwiefern der Kostenaufwand zum Nutzen in Relation steht. Das heißt, wie stark profitiert der Patient oder die Patientin wirklich von teuren Behandlungsmethoden? Wird die Lebensspanne deutlich gesteigert und wird dabei auch die Lebensqualität verbessert?“ Nehmen wir zum Beispiel ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die es durch Aktionen zahlreicher Prominenter aktuell zu einiger Popularität gebracht hat. ALS-PatientInnen müssen über viele Monate hinweg das Medikament Rilutek einnehmen, das Kosten und Nebenwirkungen verursacht, um eine Lebensverlängerung von wenigen Wochen zu erreichen – wobei hier die Fragen der Lebensqualität und der PatientInnenwünsche noch gar nicht berücksichtigt sind. Wäre es also nicht sinnvoller, das Geld in andere Bereiche zu transferieren, die in Summe mehr Nutzen bringen können? „Natürlich befinden wir uns hier in einer ethischen Diskussion, die aber erlaubt sein sollte. So fehlt es an Mitteln für präventive Maßnahmen wie die Förderung von Sport und Aufklärungsarbeit im Gesundheitsbereich. Mehr Wissen erleichtert die sogenannte Lifestyle-Modifikation, also Gesundheitsvorsorge durch eine gezielte Abstimmung bzw. Änderung des Lebensstils“, meint Sycha.
Limitierte Mittel
Der Mediziner fordert deshalb eine ehrliche Diskussion: „Österreich verfügt über ein hervorragendes, aber teures Gesundheitssystem. Die Politik definiert Gesundheit gerne als ,höchstes Gut‘ – auch aus Angst, Wahlen zu verlieren. Die Wahrheit ist aber: Selbst wenn Gesundheit das höchste Gut ist, sind die Mittel auch in diesem Bereich limitiert.“ Sycha spricht sich deshalb für einen breiten Diskurs aus, in dem eruiert wird, wie viel die Gesellschaft bereit ist, für die Gesundheit auszugeben, welche Mittel vorhanden sind und in welchen Bereichen sie sinnvoll eingesetzt werden sollen. „Diese Diskussion sollte nicht nur zwischen Ärzten und Ökonomen ablaufen, sondern die gesamte Gesellschaft miteinbeziehen. Natürlich vor allem die PatientInnen“, so der Mediziner. Er selbst plädiert dabei klar für den Ausbau der Gesundheitsvorsorge, die seiner Meinung nach derzeit zu wenig gefördert wird: „PolitikerInnen denken kurzfristig und in Legislaturperioden, präventive Maßnahmen zeigen aber erst nach vielen Jahren oder Jahrzehnten Auswirkungen, deshalb wird dieser Bereich vernachlässigt.“
Wie Sycha gehen viele ExpertInnen davon aus, dass ohne explizite Beteiligung der Betroffenen, also der PatientInnen, eine Eindämmung der Kosten von Apparatemedizin und aufwendiger Medikamentation nicht möglich ist. Außerdem geht die Behandlung nicht selten am Wohl der PatientInnen vorbei. Ein anschauliches Beispiel: MedizinerInnen definieren den Erfolg einer antiepileptischen Therapie über die Anfallsfreiheit der PatientInnen.
Umfragen der Cochrane Collaboration bei betroffenen PatientInnen und Angehörigen haben aber ergeben, dass sie natürlich die Anzahl der Anfälle reduzieren wollen. Noch wichtiger ist ihnen allerdings, aktiv am Alltag teilnehmen zu können. Das wird aber durch Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Schwindel etc., die durch alle Antiepileptika hervorgerufen werden können, massiv erschwert. Schlussfolgerung: Wenn nicht nach den Präferenzen der PatientInnen gefragt wird, führt auch die teuerste Behandlung nicht zum Ziel.
Das bringt uns zu einem – vielleicht brutal anmutenden – Gedankenexperiment: Die Krebs-Therapie für eine Patientin/einen Patienten im fortgeschrittenen Stadium ohne Heilungsaussicht kostet um die 100.000 Euro – mit dem Effekt, dass die Lebenserwartung um einige Wochen bis Monate steigt. Wie würde sich der/die PatientIn entscheiden, wenn ihm/ihr statt der Behandlung ein Großteil der Summe zur freien Verfügung gestellt würde? Der/die Erkrankte könnte sie zum Beispiel an Angehörige vererben, spenden oder einen letzten Lebenstraum verwirklichen. Der Differenzbetrag auf 100.000 Euro könnte wiederum an anderer Stelle verwendet werden, zum Beispiel für begleitende Maßnahmen wie Physiotherapie, Ergotherapie, soziale Dienste, Pflege. Wie gesagt, es handelt sich hier nur um ein Gedankenspiel und vielleicht sogar um ein „unmoralisches Angebot“. Kann man Geld mit Gesundheit aufwiegen? In der Realität herrscht hier jedenfalls ein direkter Zusammenhang, auch wenn wir diese „bittere Pille“ nicht so gerne schlucken wollen.
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Best-Practice-Beispiele
Es gibt aber auch die andere Seite: Unternehmen, die zumindest in Teilbereichen eine valide und konsistente Nachhaltigkeitsbilanz erstellen. Die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) integriert beispielsweise in ihren Geschäftsbericht 2013 eine Wissensbilanz, die darüber informiert,
Stellt man diese Daten jenen der Oesterreichische Kontrollbank Group (OeKB) laut integriertem Geschäftsbericht 2013 gegenüber, so zeigt sich,
Schon dieser eine Vergleich macht klar, wie wichtig möglichst einheitliche Standards für die verschiedenen Indikatoren sind: Wie wird Fluktuation gemessen? Wie eine Führungsposition abgegrenzt? Nach welchen Kriterien wird Aus- und Weiterbildung erfasst? Valide und vergleichbare Daten sind die Voraussetzung, damit derartige Statistiken für eine zielgerichtete Interessenpolitik genutzt werden können.
Möglichkeiten
BetriebsrätInnen können unter Berufung auf § 91 (1) ArbVG das Gesetz des Handelns selbst in die Hand nehmen und Gesundheits- und Sozialstatistiken zu ihrer internen Orientierung erstellen. Das „gesellschaftspolitische Diskussionsforum“ (GEDIFO), eine Plattform von Gewerkschaften und der Wiener Arbeiterkammer, hat gemeinsam mit ArbeitnehmervertreterInnen ein erstes Grundgerüst relevanter Indikatoren entwickelt und an zwei ausgewählten Unternehmen erprobt. Kernindikatoren sind unter anderem
Schon erste kleine Praxistests zeigen, was sich aus diesen Daten ableiten lässt. Angewendet auf einen großen Handelsbetrieb fördert die nüchterne Betrachtung der betrieblichen Altersstruktur dessen Rekrutierungsprobleme zutage: Junge MitarbeiterInnen sind im Vergleich zur Gesamtbranche weit unterrepräsentiert, auch weil viele EinsteigerInnen das Unternehmen in den ersten Jahren wieder verlassen. Immerhin 15 Prozent der Beschäftigten haben einen Urlaubsrückstand von mehr als 50 Tagen, was auf einen übermäßigen Workload hindeutet. Demgegenüber hatten in dem zweiten Pilotunternehmen nur acht Prozent der ArbeitnehmerInnen mehr als zwei Jahresurlaube nicht verbraucht. Teilweise kann diese Differenz auf die jüngere Belegschaftsstruktur zurückgeführt werden. Wenig überraschend, aber nichtsdestoweniger erwähnenswert: In beiden Unternehmen sind Frauen gegenüber Männern in der Gehaltseinstufung benachteiligt. Unterstützung für eine einheitliche Nachhaltigkeitsberichterstattung kommt von eher ungewöhnlicher Seite: von BlackRock, dem weltgrößten Vermögensverwalter, der als weltgrößte Schattenbank gilt. Gemeinsam mit anderen institutionellen Investoren ist BlackRock in CERES (Coalition for Environmentally Responsible Economies), einem Interessenverband zur Förderung der Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten, organisiert. „Die Zeit ist reif für eine Norm zum Nachhaltigkeitsausweis auf breiter Basis, die über freiwillige Initiativen hinausgeht“, wie Mindy Lubber, die Präsidentin von CERES, meint. Investoren hätten es nämlich satt, sich mühsam in den Nachhaltigkeitsberichten die Informationen zusammensuchen zu müssen. Als erster Schritt wird eine einfache Methode vorgeschlagen: Nachhaltigkeitsberichte, die sich mittels Hyperlinks des GRI-Rasters bedienen.
Ein erster Anfang
Selbst wenn sich die praktischen Auswirkungen der EU- und CERES-Initiativen noch nicht abschätzen lassen – es tut sich zumindest etwas bei den sogenannten „nichtfinanziellen Leistungsindikatoren“. Auch BetriebsrätInnen können etwas beitragen, indem sie zur eigenen Orientierung eine Gesundheits- und Sozialbilanz erstellen lassen. Zwar dürfen sie die Daten nach § 115 ArbVG weder publizieren noch an MitarbeiterInnen weitergeben, liegen diese jedoch einmal vor, dann ist der Schritt zur Publikation in einem Nachhaltigkeitsbericht oder integrierten Geschäftsbericht gar nicht mehr so weit.
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Disziplin
Noch bis weit ins 20. Jahrhundert verlangte die industrielle Massenfertigung einen maschinentauglichen Arbeitstypus, der mittels Zwang und Überwachung diszipliniert wurde. Der amerikanische Ingenieur Frederick W. Taylor entwickelte die Blaupause der wissenschaftlich basierten Unternehmensführung.
Die ergonomisch effizienteste Arbeitsweise misst die Stoppuhr, ein Vorarbeiter gibt das Arbeitspensum vor, die Stechuhr kontrolliert die Arbeitszeit, und ein Akkordlohn sorgt für die nötige Motivation, die monotone Arbeit zu ertragen. Gesundheit als Produktivitätsfaktor erkannte bereits Henry Ford. Bei unangekündigten Hausbesuchen überprüfte das Sociology Department das moralische Verhalten der Familie und die Hygiene im Haushalt.
Die allgemeine Demokratisierungswelle der 1970er-Jahre zeigte sich auch in der Unternehmensführung: Arbeitshierarchien wurden flacher, MitarbeiterInnen als wichtige GestalterInnen des Arbeitsprozesses entdeckt. Beginnend mit der Marktdynamik der 1980er-Jahre wird Flexibilität zur neuen Allzwecktugend.
SklavInnen des Terminkalenders
Der flexible Mensch (Richard Sennett) arbeitet in Projekt- und Teamarbeit mit verschiedenen KollegInnen, er wechselt den Wohnort, wenn es der Job verlangt, und wechselt den Job, wenn es die Karriere erfordert. Flexibilitätsmotor ist das als „Lean Management“ bekannt gewordene „Schlankmachen“ von Unternehmen. Outsourcing, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge geben Unternehmen die Möglichkeit, beweglich auf Auslastungsschwankungen zu reagieren, MitarbeiterInnen erleben dies als Instabilität, Unplanbarkeit und Veränderungsdruck.
„MitarbeiterInnen als größtes Unternehmenskapital“ zu sehen kann auch eine beklemmende Umarmung sein. So zeigt der Ansatz „Führen durch Zielvereinbarung“ die ambivalente Qualität dieser Arbeitsverhältnisse. Im persönlichen Gespräch zwischen Führungskraft und dem/der einzelnen MitarbeiterIn werden Ziele festgelegt, deren Erfüllung meist an das Einkommen gekoppelt ist.
Eva Angerler von der GPA-djp benennt die Auswirkungen: „Einerseits wird durch das Vorgeben und Verbindlichmachen von Zielen der Leistungsdruck verstärkt, andererseits kann sich der Einzelne durch die Klarheit der Aufgaben und die Besprechbarkeit des ‚Wie‘ mit seiner Arbeit stärker identifizieren.“
„ArbeitskraftunternehmerIn“ nennen die Industriesoziologen Voß/Pongratz den neuen Idealtypus: hoch motiviert, erhöhte Selbstkontrolle, sich flexibel an die zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Berufsanforderungen anpassend, wird die gesamte Lebensführung den Unternehmensansprüchen untergeordnet. Umgekehrt rückt das ganze Leben des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin ins Blickfeld betrieblicher Strategien. Dies problematisieren Debatten um Dauererreichbarkeit, als Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, und Work-Life-Balance.
Neue Belastungen
Die erhöhte Selbstständigkeit in der Arbeitsorganisation bringt neue Belastungen mit sich: starker Zeit-, Termin- und Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung und knappe Personalstände. Auch die neu geforderten Arbeitstugenden (Soft Skills), allen voran Kommunikations- und Teamfähigkeit, können Quellen komplexer Arbeitsbelastungen sein.
Nicht ohne Grund buchstabieren manche TEAM auch als „Toll, ein anderer macht’s“. Teamfähigkeit als Technik indirekter Selbstführung verlagert die Verantwortung des Vorgesetzten auf das Team und damit teilweise auch Konflikte. Auch Kommunikationsfähigkeit bringt nicht jede/r mit. Ungeschult bietet sie im Arbeitsalltag einen guten Nährboden für Konflikte und Mobbing. Versteckt hinter „Masken der Kooperation“ kann ein Betriebsklima entstehen, das mittels aktiver Informationskontrolle und gezielter Desinformation KollegInnen ausschließt.
Der flexible Mensch bringt sich beruflich als Ganzer ein, zugleich werden Berufswege wie Anerkennung unsicher, ein Einfallstor für psychische Erkrankungen (siehe auch „Wenn der Geist leidet“, S. 36–37).
Betriebliches Gesundheitsmanagement
Die Forderung, länger und gesund im Erwerbsleben zu bleiben, rückt eine Randfrage ins Zentrum: Gesundheit. Oft wird mit betriebswirtschaftlichen (Fehlzeiten, Personalfluktuation) oder volkswirtschaftlichen Kosten (chroni-sche Erkrankungen, Invaliditätspension) argumentiert, um zu zeigen, dass sich Investitionen in Gesundheit rechnen.
Friedrich Schneider von der Johannes Kepler Universität Linz kalkulierte die Kosten für ein rechtzeitig erkanntes Burn-out mit 1.000 Euro, das sich bei einer Zeitverzögerung von nur zwei Jahren bereits um das Zehnfache erhöhe.
Die Luxemburger EU-Deklaration definiert Betriebliche Gesundheitsförderung als „alle Maßnahmen zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz“ mit Betonung auf der aktiven MitarbeiterInnen-Beteilung und der Stärkung persönlicher Kompetenz. Unterschieden wird zwischen verhaltensbezogenen, individuellen Maßnahmen (z. B. Raucherentwöhnung, Stressprävention) und verhältnisorientierten Kultur- und Organisationsentwicklungsmaßnahmen, wie Job-Rotation, welche die persönliche Entfaltung des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin fördern.
So vielfältig die Einsatzbereiche betrieblicher Gesundheitsförderung wären, in der Unternehmenspraxis kommen meist nur wenige Einzelmaßnahmen zum Einsatz. Deshalb zählen BetriebsrätInnen zu den ganz wichtigen AkteurInnen, damit Gesundheitsförderung nicht auf symbolische Politik beschränkt bleibt, wie etwa den obligaten Obstkorb.
Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky entwickelte mit der Salutogenese einen ganzheitlichen Ansatz, der mit dem dualen Denken von Krank-/Gesund-Sein bricht. Gesundheit begreift er als Prozess, für den er folgendes Bild wählt: Manchmal fühlt man sich „richtig gut im Fluss“, gleitet souverän auf den Stromschnellen dahin, ein anderes Mal kämpft man gegen Strömungen, um den „Kopf über Wasser zu halten“, braucht Pausen und Unterstützung. Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit sind zentrale Kategorien des Gesundseins, auch um Widerstandfähigkeit (Resilienz) bei extremen Belastungen zu entwickeln.
Gesundes Führen
„Gesundes Führen“ heißt transparente Arbeitszusammenhänge und Entscheidungsprozesse schaffen (die Gerüchte und stille Post unnötig machen), eine bewältigbare Aufgabenzuteilung und jede/r MitarbeiterIn kennt den Wert und Sinn ihrer/seiner Arbeit für die gemeinsame Leistung. Die Broschüre „Gute Arbeit“ der GPA-djp bietet einen praktischen Leitfaden konkreter Forderungen.
Wer einer Bäuerin, selbst im hohen Alter, bei der Arbeit zusieht, erkennt, dass auch schwere Arbeit gesund hält. Menschen können starke Arbeitsbelastungen gut ertragen, getragen von dem Gefühl der Sinnhaftigkeit und Bewältigbarkeit. Burn-out ist genau ein Ausbrennen an diesen Dimensionen von Arbeit. „Arbeit trägt gesundheitlichen Doppelcharakter: Sie kann verausgaben und erschöpfen oder bereichern und erfüllen – je nachdem, wie gut die Balance gelingt“, so Rudolf Karazman vom Institut für Innovatives Betriebliches Gesundheitsmanagement (IBG). Will das Management das Schlagwort von „Gesunden Menschen in gesunden Organisationen“ ernst nehmen, braucht es die Bereitschaft, alle Unternehmensvorgänge auf ihre gesundheitsförderlichen bzw. -belastenden Wirkungen zu analysieren (z. B. von All-in-Verträgen) und gegebenenfalls zu modifizieren.
Internet:
Informationen zu betrieblicher Gesundheitsförderung:
www.netzwerk-bgf.at
Praxisangewandtes „BGF Know-how“ bietet die gleichnamige Broschüre des Fonds Gesundes Österreich:
fgoe.org
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Chronischer Stress
Psychische Krankheiten haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen, bereits jeder 16. Krankenstandstag in Österreich ist darauf zurückzuführen. Das ist fast dreimal so viel wie vor 20 Jahren. So kommt es denn auch immer wieder vor, dass sich KollegInnen an ihre BelegschaftsvertreterInnen wenden und über Gelenksschmerzen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und erste Anzeichen von Burn-out klagen. Burn-out wird als ein Resultat von chronischem Stress definiert und bezeichnet einen besonderen Fall zumeist berufsbezogener chronischer Erschöpfung. Ein übervoller Terminkalender, schlechte Arbeitsaufteilung, höchster Zeitdruck, monotone Takt-, Fließ- und Bandarbeit sind nur einige Stressauslöser, die zu Unmut und Unzufriedenheit beitragen und die Gesundheit der Beschäftigten beeinträchtigen.
Offenes Ohr für KollegInnen haben
Die Arbeitswelt hat sich verändert. Aufgaben müssen mit weniger Mitteln und einer höheren Geschwindigkeit von einer kleineren Anzahl an MitarbeiterInnen erledigt werden. Stress ist nur eine Antwort des Körpers auf den Wandel der Arbeit. Wenn sich ein/e Burn-out-Betroffene/r an den Betriebsrat oder die Betriebsrätin wendet, sollte gut zugehört werden und der/die Betroffene ermutigt werden, offen über seine/ihre Probleme zu sprechen. Das ist ein erster Schritt, um zu einer Verbesserung der belastenden Situation zu kommen. Ein weiterer Schritt kann sein, die dieKollegin/den Kollegen davon zu überzeugen, eine/n ExpertIn aufzusuchen. Denn in vielen Fällen wird auch eine medizinische Behandlung oder auch eine psychosoziale Beratung notwendig sein. Auf jeden Fall sollen die Betroffenen alle Schritte selbst erledigen und nicht die Belegschaftsvertretung stellvertretend für sie. Der ÖGB hat eine Broschüre zum Thema Burn-out herausgebracht. „Burn-out an der Wurzel packen“ soll Betroffe-nen und BetriebsrätInnen, aber auch Arbeitgebern helfen, Symptome frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern, um Burn-out gar nicht erst entstehen zu lassen.
Menschen, die gesund sind und sich am Arbeitsplatz und im Betrieb wohlfühlen, sind leistungsbereiter und motivierter: Mit diesem Satz eröffnen wohl viele BelegschaftsvertreterInnen Gespräche mit der Geschäftsführung, um erfolgreich die Interessen der KollegInnen zu vertreten. Denn oft sind Maßnahmen die Gesundheit betreffend mit Kosten verbunden, schließlich gibt es keine „genormten ArbeitnehmerInnen“. Sehr wohl aber gibt es große und kleine, junge und alte Beschäftigte. Aus diesem Grund sollten Arbeitsflächen, Tische und Sitze an die individuellen Körpermaße des Menschen und die Art der Arbeit angepasst werden, um gesundheitliche Probleme zu vermeiden. Zu hohe Arbeitsflächen können zu schmerzhaften Verkrampfungen der Nacken- und Schultermuskulatur führen. Im Gegenteil dazu sorgen zu niedrige Arbeitsflächen für Rückenschmerzen. Eine ungünstige Körperhaltung führt zu vorzeitiger Ermüdung. Auch ein falscher Arbeitsstuhl ist ein Risiko für die Gesundheit, unter anderem kann es zu Herz- und Atembeschwerden, Rückenschmerzen, Magenschmerzen und Krampfadernbildung kommen. Der richtige Sessel muss standfest, höhenverstellbar und drehbar sein und er darf nicht aus einem schweißfördernden Material bestehen.
Gefahren von Licht und Lärm
Mit zunehmendem Alter verändert sich bei den meisten Menschen die Sehfähigkeit, ebenso erhöht sich der Lichtbedarf, der zur Ausführung bestimmter Tätigkeiten erforderlich ist. Reicht die natürliche Belichtung des Arbeitsraumes nicht aus, muss dafür Sorge getragen werden, dass eine künstliche Beleuchtung installiert wird. Schlechte Beleuchtung beeinträchtigt die Qualität der Arbeit und führt unter anderem zu Augenschmerzen und Augenschäden und erhöht zusätzlich die Unfallgefahr. Ähnlich verhält es sich bei Lärm am Arbeitsplatz. Während manche Geräusche wie Musik von einigen Beschäftigten als angenehm empfunden werden, sind sie für andere lästig und störend, wenn sie eine bestimmte Lautstärke überschreiten. Lärm löst bei Menschen je nach Intensität, Frequenzbereich und Dauer der Einwirkung unterschiedliche Reaktionen aus, von bloßer Belästigung und Störung bis hin zu schweren Beeinträchtigungen körperlicher Funktionen und unheilbaren Schäden.
Die Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier kritisiert immer wieder Handelsunternehmen, die zu laute Musik in ihren Filialen abspielen. Lärm mit einem Schallpegel von 65 bis 80 Dezibel bewirkt Arbeitsunlust und Reizbarkeit. Ein Schallpegel über 80 Dezibel kann sogar zu Gehörschäden führen. Lärm soll grundsätzlich an der Quelle seines Entstehens bekämpft werden. Wenn das nicht möglich ist, dann sollten Lärmschutzmittel, wie Gehörschutzwatte oder Kapselgehörschützer, verwendet werden.
Klima am Arbeitsplatz
Wenn darüber nachgedacht wird, was beim Thema Gesundheit und Wohlbefinden in der Arbeit verbessert werden kann, muss dem Klima am Arbeitsplatz besondere Beachtung geschenkt werden. Besonders die Hitzearbeit stellt ein großes Problem dar. Um Hautrötungen, Hitzschlag, Kollapszustände durch Austrocknung und Salzverlust des Körpers zu vermeiden, muss der Körper bei Hitzearbeit mit ausreichend Flüssigkeit versorgt werden und müssen Vorkehrungen vor Verbrennungsschäden, zum Beispiel Sonnencreme, getroffen und Schutzkleidung und wirksamer Augenschutz zur Verfügung gestellt werden. Besonders Bauarbeiter sind der starken Sonneneinstrahlung, aber auch verschiedensten gesundheitsschädlichen Arbeitsstoffen wie Gas, Staub oder Rauch ausgesetzt. Derzeit werden weltweit jährlich ungefähr 60.000 Stoffe produziert. Jährlich kommen neue Stoffe dazu, deren schädigende Wirkung nicht immer in vollem Umfang bekannt ist. Aus medizinischer Sicht wird genau hier empfohlen, die Schutzvorschriften genauestens zu beachten, mit den KollegInnen Gespräche zu führen und auf größte Sorgfalt mit diesen Stoffen zu plädieren.
Raus aus dem Büro
Waren es früher meist schwierige Diskussionen und Probleme mit den Vorgesetzten, treten heutzutage vermehrt Debatten zwischen KollegInnen im Unternehmen auf, obwohl sich alle im gleichen Boot befinden. Mit zunehmendem Stress vermindert sich auch das Verständnis für die Arbeit der anderen und man nimmt immer weniger Rücksicht aufeinander. In persönlichen Gesprächen mit den KollegInnen kann ein Betriebsrat oder eine Betriebsrätin herausfinden, wo die Ursachen der Probleme liegen und wie diese gelöst werden können. Gemeinsam mit dem Arbeitgeber können etwa Sportangebote für die Beschäftigten ausgearbeitet werden, die für ein besseres Wohlbefinden, für mehr Bewegung und somit auch für Ausgeglichenheit sorgen.
Aktivitäten und Angebote, die Firmen anbieten können, sind unter anderem: Massage, Tanzkurse, aber auch Fußball- oder Volleyballturniere. Letzteres würde besonders den jugendlichen ArbeitnehmerInnen viel Spaß bereiten. Der Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB) organisiert regelmäßig kulturelle Events und zeigt Ausstellungen von Berufs- und HobbykünstlerInnen. Das wäre neben Jubiläumsfeiern, Betriebsausflügen und Sportturnieren eine gute Möglichkeit, für Abwechslung zu sorgen, KollegInnen aus ihrem Arbeitsalltag herauszuholen, sich außerhalb des Betriebes zu treffen und über persönliche Gemeinsamkeiten und Hobbys zu sprechen. Ein paar Stunden an der frischen Luft mit den KollegInnen schaden dem Arbeitsklima nicht.
Internet:
Weitere Infos finden Sie unter:
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Die Burn-out-Broschüre können Sie hier downloaden:
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Zwicken und Kneifen
Rund 16 Dienste hat Zimmel pro Monat. Der Arbeitsalltag reicht von der Inkontinenzversorgung, Körperpflege, dem Mobilisieren bis hin zum Verbandswechsel, der Essenseingabe, der Unterstützung oder der Lagerung und Verabreichung von Medikamenten. „Schwester Hanni“, wie sie die BewohnerInnen nennen, wird wie ihre KollegInnen ständig von Notrufen, Telefonanrufen von Angehörigen oder BewohnerInnen, die Fragen haben oder auf die Toilette wollen, in ihrer Tätigkeit unterbrochen. Zimmels Job ist körperlich wie psychisch schwer belastend. Allzu viele Jahre hat sie auf ihren Körper, insbesondere den Rücken, wenig Rücksicht genommen. Sie hat gehoben, wo es ging: wenn jemand gefallen ist, Hilfe brauchte, wenn andere zu schwach waren. Jetzt zwickt und kneift es auch bei ihr und schmerzt in der Wirbelsäule. Nicht nur die Lasten drücken auf den Rücken, auch der psychische Stress wiegt schwer.
In den „Häusern zum Leben“ arbeiten rund 3.800 Beschäftigte – knapp 1.300 sind in der Pflege und Betreuung der etwa 8.000 KlientInnen tätig. Im Haus Atzgersdorf sind nur fünf Männer in der Pflege beschäftigt, der Pflegeberuf wird immer noch überwiegend von Frauen ausgeübt, in den letzten Jahren mit einer großen Tendenz zur Teilzeit. Eine Vielzahl der KlientInnen leidet an seniler Demenz – Menschen, die auch 24 Stunden durchgehend Aufmerksamkeit fordern, sind nicht selten. Zimmel: „Man muss gleich bleibend professionell agieren, denn so will ich auch einmal betreut werden. Du gehst nach Hause und es bleibt dir im Kopf – wir betreuen unsere BewohnerInnen nicht zwei Wochen, wie im Spital, sondern wir leben mit ihnen mehrere Jahre zusammen.“
Problem Personalstand
Zwar sollen die 12-Stunden-Dienste auf acht bzw. zehn Stunden verkürzt werden, „doch das kann mit diesem Personalstand mathematisch nicht einfach funktionieren“, denkt Zimmel. Außerdem sei es für die BewohnerInnen meist angenehmer, wenn eine Bezugsperson ganze zwölf Stunden für sie da ist: „Vor allem bei Dementen ist eine Bezugspflege sehr wichtig. Gespräche sind die beliebteste Form der Zuwendung und werden sehr genossen.“ Als Entlastung würde sie sich wünschen, dass es zwei Schwestern pro Gruppe gibt: „Aber das ist eine Utopie, die nie finanziert werden kann.“ Der Arbeitsdruck ist in den letzten Jahren enorm gestiegen und macht der Belegschaft zu schaffen – ArbeitnehmerInnen erkranken. Allzu häufig müsse sie ihre Gespräche mit den BewohnerInnen kurz halten, da die Zeit fehlt, bedauert Zimmel. Den größten zusätzlichen Aufwand bringe die stetig anwachsende Dokumentation: „Die Absicherung vor dem Gesetz wird immer mehr – es ist stets mehr zu schreiben, als man tatsächlich beim Bewohner sein kann.“ Alles nicht Dokumentierte ist praktisch nicht gemacht und wäre aber umso notwendiger, meint sie. „Diese Zeit geht auf Kosten der Betreuung“, weiß Silvia Weber-Tauss, 55. Sie arbeitet seit 20 Jahren im KWP und ist Zentralbetriebsrätin. Die gelernte Pflegehelferin hat ebenfalls lange im Krankenhaus gearbeitet. Für sie gehört zum Erfolgserlebnis in der Geriatrie, „die Ressourcen, die der Mensch hat, zu verbessern oder so lange wie möglich zu erhalten“. Die älteste Bewohnerin war 104 Jahre alt ‒ „eine Bereicherung“, wie Weber-Tauss betont.
Stets im Hinterkopf zu haben, dass noch so viel tun ist, stresst Körper wie Geist. Auch die Frage, ob Rettung oder Arzt gerufen werden müssen, birgt eine immense Verantwortung. Zur Gesundheitsförderung wird im Unternehmen derzeit die Ausbildung von Ergonomie-LotsInnen unterstützt. Aus allen Bereichen – etwa Küche, Büro, Pflege, Hausbetreuung – wurden ZirkelteilnehmerInnen nominiert. „Ergonomie-Lotsen und Zirkelteilnehmer setzen sich zusammen, besprechen, was haben wir Tolles, welche Ressourcen, und wo hakt es. Danach werden mögliche Lösungen überlegt und anschließend in einem Maßnahmenkatalog präsentiert“, erzählt Zimmel. Schwerpunkte sind: Arbeiten bei Hitze; Heben, Schieben, Tragen; Zeit für Zuwendung. Für Entlastung der MitarbeiterInnen soll zudem „Sara 3000“ sorgen, ein Hebelifter. Weber-Tauss: „Eine tolle Geschichte, aber auch ein großer Zeitaufwand. Viele holen sich das Gerät aus Zeitdruck gar nicht, weil diese Zeit für die Bewohner genutzt werden kann.“
Gewinnmaximierung?
Den irrsinnigen Druck, der etwa auf dem Pflegepersonal lastet, kann Sonia Raviola, Gesundheitsexpertin der AK Niederösterreich und Supervisorin, gut nachempfinden: „Durch diesen Evaluierungswahn ersticken sie in ständiger Dokumentation. Und das oft innerhalb der eigentlichen Betreuungszeit.“ Die Expertin: „12-Stunden-Schichten haben schon ihren Vorteil, wenn es danach genügend Freizeit gibt. Voraussetzung ist: Man muss in diesem Job genug verdienen und nicht in eine zweite Arbeit hineingedrängt werden.“ Gerade im Krankenhaus- oder im Pflegebereich sind die Dienste oft so eng gestaltet, dass es ganz wenige Möglichkeiten für Team und Gruppe gibt, sich auszutauschen – etwa durch eine Team-Supervision oder ein Coaching. „Oft ist das nicht nur eine zeitliche Frage, sondern im Spital eine räumliche. Es gibt wenige Pausenräume. Besonders betroffen sind die mobilen Dienste.“
Raviola rät auch zur Vorbildwirkung: „Wenn BetriebsrätInnen selbst wie ein Schlot rauchen, zu viel Alkohol trinken und sich stark übergewichtig durch die Welt bewegen, dann ist es einfach ein schlechtes Vorbild. Es führt kein Weg daran vorbei, dass BetriebsrätInnen an ihrer eigenen Gesundheit arbeiten. Das gilt auch für Führungskräfte.“ Dass Führungskräfte, die selbst wissen, wie Energie durch Bewegung, gute Ernährung und Achtsamkeit erzeugt wird, „besser für ihre Mitarbeiter sorgen“, davon ist die AK-NÖ-Gesundheitsexpertin überzeugt.
Wenige Pausenräume
„Bei sozialen und Gesundheitsberufen darf es keine Maßstäbe von Produktivität und Gewinnmaximierung geben. Nur kostenmäßig gedacht, scheint es zwar billiger, wenn eine Krankenpflegerin möglichst viele Patienten versorgt. Doch das System kollabiert, man sieht es an den zunehmenden Burn-out-Fällen. Junge Menschen können diesen Stress vielleicht noch ein Stück weit regeln, doch je älter der Mensch, desto schwieriger wird es.“
Ob Pflegepersonal, VerkäuferIn, KellnerIn oder ein ähnlich belastender Beruf – der Körper fordert seinen Tribut. „Wenn ich eine gute Muskulatur habe, dann halten diese Muskeln auch die Knochen – etwa durch Gymnastik oder Krafttraining. Dafür brauche ich Zeit und den richtigen Ort“, erklärt Raviola. „Gelenke und Gelenksflüssigkeit haben stark mit der Ernährung zu tun. Ein Killer ist die Übersäuerung durch Kaffee, Alkohol und Fleisch. Die Aktivierung der Lymphknoten und auch der Gelenksflüssigkeit erfolgt stark über sanfte Bewegung und Massage. Für StahlarbeiterInnen, PflegerInnen oder etwa KellnerInnen ist genau das gesundheitlich wertvoll.“
Internet:
Studie „fit2work Arbeits-Fitness-Barometer“ (2012):
tinyurl.com/l9kryhr
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Bausteine guter Arbeit
Mit der Aktion „Gute Arbeit“ fordern Arbeiterkammer OÖ, ÖGB und katholische Kirche menschenwürdige Arbeitsbedingungen und angemessene Entlohnung trotz Krise und steigender Arbeitslosigkeit. Dabei geht es auch um die Sinnfrage im Arbeitsleben, um Gesundheitsschutz und Planbarkeit, um den Abbau von Leistungsdruck und Entgrenzung, um Würde und Respekt. In einer gemeinsamen Deklaration wurden die Bausteine guter Arbeit definiert:
Was erhält gesund?
Psychisch bedingte Erkrankungen sind in Österreich die häufigste Ursache von Frühpensionierungen bei Angestellten. Mit der Anfang 2013 in Kraft getretenen Novelle des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes wurde die Wichtigkeit der psychischen Gesundheit und der Prävention arbeitsbedingter psychischer Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen, stärker betont. Die daraus resultierende Evaluierung psychischer Belastungen wird von manchen Unternehmen mit viel Engagement angegangen. Etliche sehen sie allerdings zuerst als Hürde. Ferdinand Loidl, Arbeitsinspektorat Salzburg, im Interview mit „Gesunde Arbeit“: „Unsere Beratung zielt hier besonders auch auf das Aufzeigen der Chancen für die Betriebe ab, wenn die Tätigkeiten, Aufgabenanforderungen, das Sozial- und Organisationsklima, die Arbeitsumgebung, die Arbeitsabläufe und die Arbeitsorganisation näher unter die Lupe genommen werden. Sehr bald sehen die Unternehmerinnen und Unternehmer, dass dies sehr viel für die Beschäftigten und daher auch sehr viel für das Unternehmen bringen kann.“
Ignoranz bringt uns nicht weiter
Schärfer formuliert es AK-Experte Roland Spreitzer in seinem A&W-Blogbeitrag „Psychische Gesundheit im Betrieb – Ignoranz bringt uns nicht weiter“: „Das Ignorieren psychischer Fehlbeanspruchungen im Betrieb verursacht menschliches Leid und schadet den Betrieben. Eine umfassende Evaluierung kann die Situation deutlich verbessern. Dabei sollte es nicht darum gehen‚ schuldige Chefs im Unternehmen zu identifizieren, sondern systemimmanente Belastungsfakto-ren auszuschalten. Das Anpacken von ‚heißen Eisen‘ wird vielen Betrieben dabei nicht erspart bleiben: Personalbemessung, Arbeitszeitgestaltung und Führungskultur sind nicht die einzigen, aber wesentliche Ansatzpunkte. Wer sich bei der Maßnahmenableitung auf Stressmanagement-Seminare und Supervisionsangebote beschränkt, wird arbeitsbedingte psychische Erkrankungen nicht nachhaltig in den Griff bekommen. Es gibt bereits einige mutige Unternehmen, die dies erkannt haben und in vorbildlicher Weise die richtigen Schritte setzen.“
Von der Evaluierung psychischer Belastungen können Kleinunternehmen besonders profitieren, denn sie spüren durch Stress und Burn-out verursachte Einbußen besonders. Hier können die Burn-out-Gesamtkosten bei später Diagnose (= lange Behandlungsdauer) bis zu 8,8 Prozent der Personalkosten ausmachen, so die 2013 veröffentlichte „Volkswirtschaftliche Analyse eines rechtzeitigen Erkennens von Burn-out“ der Johannes Kepler Universität Linz. Je nach Zeitpunkt der Diagnose verursacht eine/ein Burn-out-Betroffene/r Gesamtkosten zwischen 1.500 und 131.000 Euro.
BGF bringt’s
Die Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) umfasst zwar durchwegs freiwillige Maßnahmen wie Nikotinentwöhnung oder Bewegungsprogramme, aber ihr ökonomischer Nutzen ist gut dokumentiert. Helmut Ivansits, Leiter der Abteilung Sozialversicherung der AK Wien: „Internationale Studien zeigen, dass die Investition eines Euros bis zu sechs Euro an betriebswirtschaftlichen Einsparungen bringt. Die Produktivität in den Betrieben steigt um 20 Prozent.“
Die deutsche „Initiative Gesundheit und Arbeit“ (iga) hat 2009 in ihrem Report „Wirksamkeit und Nutzen betrieblicher Gesundheitsförderung und Prävention“2 zahlreiche wissenschaftliche Übersichtsarbeiten und Studien evaluiert und ortete weiteren Forschungsbedarf. Denn bis dato gab es erstaunlich wenig gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, welche Maßnahmen etwa zur Stressreduktion und gegen Rückenschmerzen am wirkungsvollsten sind. Werden die richtigen Maßnahmen gesetzt, dann wirkt sich das durchaus positiv aus. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis etwa bei den Fehlzeiten bewegt sich zwischen 1:2,5 bis 1:10. Die Schwankungsbreite entsteht auch dadurch, dass für jedes Problem sehr unterschiedliche Lösungsansätze möglich sind. So mindern etwa Stressinterventionen, die auf der individuellen Ebene ansetzen, zwar die Symptome, aber sie wirken sich nicht auf die Stressursachen aus. Dafür wären in der Regel auch organisatorische Maßnahmen nötig, in der Praxis bevorzugen Unternehmen aber die individuelle Ebene. Psychische Probleme und (psychosomatische) Erkrankungen hauptsächlich als individuelle Charakterschwäche der Betroffenen zu interpretieren mag zwar be-quem sein, ist aber letztendlich kontraproduktiv.
Mittleres Management
Wichtig ist außerdem, dass nicht nur die betroffenen Beschäftigten von Anfang an eingebunden werden, sondern auch das mittlere Management. Dieser Personenkreis stehe, so Bernhard Badura, Experte für Betriebliches Gesundheitsmanagement an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, durch seine Sandwichposition im Unternehmen ohnehin schon stark unter Druck.3 BGF-Projekte sollten keinesfalls als belastende Zusatzaufgaben angesehen werden, sondern als vielversprechende Herausforderung und Investition in die Zukunft. Dann machen sich auch bald die positiven Nebenwirkungen der Projekte bemerkbar. Denn durch die Förderung der Kommunikationsstrukturen und -prozesse im Laufe von BGF-Maßnahmen entwickeln die verschiedenen Arbeitsbereiche mehr Verständnis füreinander. Das führt zu weniger innerbetrieblichen „Reibungen“ und verbessert das Betriebsklima. Die Beschäftigten sind motivierter, die Produktivität steigt und die Fluktuation sinkt.
Internet:
Evaluierungswebsite der Sozialpartner:
www.eval.at
Österreichisches Netzwerk Betriebliche Gesundheitsförderung:
www.netzwerk-bgf.at
gute-arbeit.at
www.gesundearbeit.at
EU-Kampagne Healthy Workplaces:
www.healthy-workplaces.eu
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1 Österreichischer Arbeitsgesundheitsmonitor, 2012.
2 Initiative Gesundheit und Arbeit: iga-Report 13 – Wirksamkeit und Nutzen betrieblicher Gesundheitsförderung und Prävention, Zusammenstellung der wissenschaftlichen Evidenz 2000–2006.
3 Fonds Gesundes Österreich: BGF in Österreich – Beispiele guter Praxis 2014.
Die Klinik der Solidarität im Norden Griechenlands wird von Ärztinnen und Ärzten ehrenamtlich geführt, die kostenlose Gesundheitsdienstleistungen für alle anbieten und für eine staatliche Gesundheitsversorgung kämpfen, die für alle Menschen zugänglich ist. Dass die Situation nicht einfach ist und der Andrang auf die Solidaritätsklinik immer größer wird, erzählten die AktivistInnen bei der Diskussionsveranstaltung. Sie kritisierten vor allem, dass die humanitäre Katastrophe in Griechenland verschwiegen wird. Und Diskussionsteilnehmerin Ulrike Neuhauser, Vize-Generalsekretärin vom Dachverband der Arbeitgeber der öffentlichen Krankenanstalten (HOSPEEM), betonte, dass die EU finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, diese jedoch nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Mehr Infos unter:
www.oegb-eu.at
www.weltumspannend-arbeiten.at
Richtige Ernährung war eine entscheidende Voraussetzung für die Heilung, aber genau diese konnten sich die Arbeiterinnen nicht leisten. Deshalb nahmen Wilhelmine Moik von der Frauensektion des Bundes der Freien Gewerkschaften, nach 1945 ÖGB-Frauenvorsitzende, und Rosa Jochmann vom Chemiearbeiterverband, beide nach 1945 Nationalratsabgeordnete, die Sache in die Hand. Sie starteten eine Spendenkampagne, über die das sozialdemokratische „Kleine Blatt“ berichtete: Die Hilfsbereitschaft der arbeitenden Bevölkerung kennt fast keine Grenzen. Überall wird für die Opfer gesammelt … Zehngroschenstücke, halbe und ganze Schillinge werden zusammengelegt und der Erfolg ist wirklich großartig. Für drei Wochen etwa ist … die Ausspeisung sichergestellt.
Die Kranken erhielten so – entsprechend der ärztlichen Empfehlung – viermal am Tag eine nahrhafte Mahlzeit. Das Jugendamt stellte eine erprobte Köchin bei, der Speisezettel wurde entworfen, und nun brodelt das Essen in den großen kupfernen Kesseln und die Tische sind gedeckt für die Gummiarbeiterinnen.
Die besonders stark Betroffenen kamen nach dem Krankenhausaufenthalt noch zur Kur in Erholungsheime der Krankenkasse und der Gewerkschaft.
Die Industrielle Bezirkskommission Wiener Neustadt, das damalige Arbeitsamt, beschrieb die Arbeitsbedingungen, die zur Vergiftung geführt hatten, und die Motive, warum sie die Arbeiterinnen hinnahmen, ungeschminkt: Frauen stehen an den Benzoltrögen, in die die Formen für die Gummipräservative getaucht werden. Aus den offenen Trögen steigen die Benzoldämpfe, an der Oberfläche der Präservative verdunstet Benzol, keine Ventilation, keine Abzugsvorrichtung sorgt für frische Luft … Die Frauen leiden an Übelkeit, an Erbrechen, – aber … die Arbeitslosigkeit schreckt.
Parallel zur Hilfsaktion ergriffen die Gewerkschaftsfrauen auch im Parlament und in der Arbeiterkammer die Initiative. Sie forderten von der Regierung eine Benzolverordnung und die Bestellung weiterer entsprechend geschulter Gewerbeärzte, außerdem den Einsatz von mehr Frauen in der Gewerbeinspektion. Die beiden letzten Forderungen hatten angesichts der Sparpolitik in der Weltwirtschaftskrise keine Chance auf Verwirklichung, aber eine Schutzverordnung, die auch andere Industriegifte berücksichtigte, wurde 1932 erreicht. „Arbeit und Wirtschaft“ kommentierte: Ob sie allen Wünschen entspricht, wird sich noch zeigen. Aber dass sie nun doch erlassen ist, … ist jedenfalls ein Erfolg der gewerkschaftlichen Frauenbewegung.
Ausgewählt und zusammengestellt von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Zitate aus: Broessler, Agnes (2006): Wilhelmine Moik. Ein Leben für die gewerkschaftliche Frauenpolitik, Wien, 41–47.
]]>Im Zehnjahresvergleich werden die Veränderungen sichtbar: 2004 arbeiteten die Frauen genau 100 Tage gratis und der bundesweite Equal Pay Day lag am 23.September. 2014 sind es „nur“ noch 83 Tage, somit gibt es eine Verbesserung um 17 Tage. Anderl fordert „konkrete Maßnahmen wie den Ausbau ganztägiger und flächendeckender Kinderbetreuungs- und Kinderbildungseinrichtungen oder eine gesetzliche Verpflichtung zur Anrechnung aller Elternkarenzzeiten“.
Auch wenn es noch genug Grund für Ungeduld gibt, gibt Anderl zu bedenken; „Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Tag in Richtung Jahresende ein Gewinn ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit und harte Arbeit. Erst wenn allen bewusst ist, dass dieses Thema nicht allein die Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft angeht, können wir Gerechtigkeit auch beim Einkommen erreichen.“
Die ÖGB-Frauen machen heuer mit einem Kreuzworträtsel auf ihre Arbeit aufmerksam. Unter dem Motto „Gewinn mit uns“ zeigen die Gewerkschafterinnen auf, dass die jährliche Verbesserung der Lohnsituation von Frauen nicht dem Zufall zugeschrieben werden kann.
Ganz klar ist für Anderl: „Jedes Jahr zwei Tage zu gewinnen ist uns zu langsam. Solange der Equal Pay Day nicht am 31.12. ist, werden wir weiter hartnäckig bleiben, weiter sensibilisieren und Druck machen.“ Denn jeder Euro, der Frauen weniger bezahlt wird, hat nicht nur individuelle, sondern auch gesamtwirtschaftliche Folgen. Die ÖGB-Frauen fordern vor diesem Hintergrund einen kollektivvertraglichen Mindestlohn bzw. ein Mindestgehalt in der Höhe von 1.500 Euro. Auch Karenzzeiten müssen auf alle dienstzeitabhängigen Ansprüche angerechnet werden. Zudem braucht es höhere Gehälter für Beschäftigte in frauendominierten Branchen. Nicht zuletzt regen die ÖGB-Frauen die Weiterentwicklung der Einkommensberichte an.
Mehr Infos unter:
tinyurl.com/le5sz7t
Bis zur Selbstaufgabe
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr fühlte ich mich an Belastungen vieler ArbeitnehmerInnen erinnert: Man soll sich mit dem Betrieb identifizieren, bisweilen sogar bis zur Selbstaufgabe, und alle Energien in die Firma investieren. Die Zeiten sind schlecht, deshalb müssen wir noch mehr geben, auf dass wir alle überleben. Immer weniger Menschen sollen immer mehr Aufgaben in immer weniger Zeit erfüllen. Immer mehr Menschen gehen auch dann in die Arbeit, wenn sie krank sind und eigentlich ins Bett gehören – die Arbeit muss schließlich getan werden und die KollegInnen sind ohnehin schon überlastet. Dass sie damit die Krankheiten in den Betrieb mitbringen und andere anstecken, wird in Kauf genommen, zu groß ist bei vielen zusätzlich die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz.
Fortschritte
Die Folgen, wenn ArbeitnehmerInnen am Rande ihrer Kapazitäten arbeiten und bisweilen auch darüber hinausgehen, sind inzwischen unübersehbar. Wie so oft ist es eine ambivalente Entwicklung. Denn während auf der einen Seite der Druck enorm gestiegen ist, werden psychische Erkrankungen immer mehr als Krankheiten wie jede andere wahrgenommen. Auch das ist ein Fortschritt, ist es doch auch ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft die Auswirkungen der gestiegenen Belastungen anerkennt. Immerhin galt auch früher das Pflichtbewusstsein als Maß aller Dinge, weshalb ArbeitnehmerInnen zu wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit nahmen. Heute wird offener darüber gesprochen, Betriebe setzen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und auch außerhalb der Betriebe gibt es Unterstützung. Zweifellos muss hier noch deutlich mehr geschehen.
Ambivalenzen, wo man hinsieht: Immer stärker wird auf die Selbstverantwortung der MitarbeiterInnen gesetzt. Neue technische Hilfsmittel machen es möglich, dass ArbeitnehmerInnen ihren Arbeitsalltag stärker selbst gestalten können, ja manchmal sogar entscheiden können, wo sie arbeiten möchten. Zumindest in der Theorie würde das die besten Voraussetzungen für die persönliche Entfaltung bieten. Wäre da nicht dieser Sparzwang. Und wäre da nicht die paradoxe Eigenschaft des Menschen, sich von der Technik unterwerfen statt sich von ihr entlasten zu lassen.
Anregungen
Es gibt viel zu tun, damit der Arbeitsplatz nicht zu einer großen Gesundheitsgefahr wird. Insbesondere sollten alle Beteiligten noch stärker darüber nachdenken, wo sie ansetzen können, bevor es zu spät ist. Wir haben in diesem Heft einige Bei-spiele zusammengetragen, wo dies be-reits geschieht. Außerdem finden Sie Anregungen, wie gemeinsam gesündere Arbeitsplätze erreicht werden könnten. Nicht zuletzt weisen wir auch auf Problemfelder hin.
Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.
Umfassendes Konzept
Es muss nicht ausgeführt werden, dass Rauchen, Alkohol und ungesunde Ernährung gerade für jüngere Jahrgänge besonders schädlich sind. Deshalb fordern ExpertInnen mehr Aufklärungsarbeit, denn Gesundheitsprävention ist mehr als die – zweifellos wichtige – jährliche Vorsorgeuntersuchung. Angestrebt wird ein umfassendes Konzept, das unter der Bezeichnung Health Literacy oder Gesundheitskompetenz zusammengefasst wird.
Darunter versteht man Fähigkeiten, Wissen und Motivation, um im Alltag relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu begreifen und anzuwenden. Gesundheitskompetenz ist somit entscheidend, um in den Bereichen Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung die richtigen Entscheidungen zu treffen und das professionelle Krankenbehandlungssystem zielführend zu nutzen. Das beginnt bereits damit, das Gespräch mit MedizinerInnen richtig zu deuten oder einen Befund zu verstehen. Alles in allem geht es bei Health Literacy um eine Förderung des Gesundheitsbewusstseins, die sich in einem gesünderen Lebensstil und Bereitschaft zur Prävention auswirkt.
In Österreich besteht auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf, wie die Studie „Health Literacy Survey Europe“ (HLS-EU) aus dem Jahr 2011 vor Augen führt. Für diese Untersuchung wurden jeweils 1.000 EU-BürgerInnen in Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Irland, den Niederlanden, in Österreich, Polen und Spanien zu ihrer Gesundheitskompetenz befragt. Ernüchternde „Diagnose“: In Österreich hatten 18,2 Prozent der Befragten inadäquate, 38,2 Prozent problematische, 33,7 Prozent ausreichende und nur 9,9 Prozent exzellente Gesundheitskompetenz. Somit wiesen etwas mehr als jeder/jede zweite ÖsterreicherIn begrenzte Gesundheitskompetenzen auf. In den Niederlanden war die Quote der begrenzten Gesundheitskompetenz mit 28,7 Prozent am geringsten. Der Durchschnitt aller Länder lag bei 47,6 Prozent, wobei Österreich hinter Bulgarien den zweitschlechtesten Wert erreichte.
Dieser Befund hat die heimische Politik wachgerüttelt: In den sogenannten Rahmengesundheitszielen wurde die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung als ein zentrales Element offiziell festgehalten. Diese Rahmengesundheitsziele wurden vom Gesundheitsministerium in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Ministerien und Interessenvertretungen wie ÖGB, WKÖ oder Ärztekammer gesteckt. Angestrebt wird die Verbesserung der Gesundheit aller in Österreich lebenden Menschen.
Rosemarie Felder-Puig, Forscherin am Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research, lobt diese Bestrebungen: „Österreich war vielleicht nicht bei den Ersten, die in Gesundheitsförderung und Prävention investiert haben, aber in den letzten Jahren ist viel passiert. Mit der Steigerung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhofft man sich auch eine Senkung der Kosten für das Krankenbehandlungssystem, und dieses Geld könnte man dann verstärkt in Gesundheitsförderung und Prävention investieren.“
Niederlande als Vorreiter
Wie die „Alphabetisierung“ in Gesundheitsfragen vorangetrieben werden kann, haben bereits andere Länder vorgezeigt. Sabine Haas, stellvertretende Abteilungsleiterin für Gesundheit und Gesellschaft bei der Gesundheit Österreich GmbH, kommentiert: „Wenn man Gesundheitsförderung sehr breit versteht, so sind Länder wie Neuseeland, Kanada, Finnland, Schweden und die Niederlande gute Vorbilder eines weiten und sehr gut abgestimmten Zugangs zu Gesundheitsförderung und Prävention.“ Speziell im Hinblick auf Maßnahmen der Gesundheitskompetenz gelten die Niederlande als Vorreiter, da sie seit 20 Jahren in systematische Patientenbeteiligung und Partizipation investieren. Das Land hat auch in der erwähnten HLS-EU-Studie am besten abgeschnitten. Dort verfügen gleich 25 Prozent der Bevölkerung über exzellente und nur 1,6 Prozent über mangelhafte Gesundheitskompetenz. Abgesehen vom allgemein hohen Bildungsstandard weisen die Niederlande eine Besonderheit im Gesundheitssystem auf: PatientInnen müssen sich bei einem praktischen Arzt ihrer Wahl registrieren lassen, ein einfacher Wechsel ist nicht möglich. Weiters findet die fachärztliche Behandlung fast ausschließlich in Krankenhäusern statt, niedergelassene UrologInnen, PulmologInnen etc. können also nicht nach Gutdünken aufgesucht werden. Dadurch ist die freie Arztwahl eingeschränkt und der praktische Arzt fungiert als Lotse durch das Gesundheitssystem.
Steigende Ausgaben
Erfreulich ist, dass in Österreich die Ausgaben für Prävention kontinuierlich steigen: Zur Jahrtausendwende waren es 248 Millionen, zuletzt 474 Millionen Euro (letztverfügbare Zahlen aus 2012). Dennoch wird weniger für Präventionsmaßnahmen ausgegeben als im EU-Schnitt, der bei 2,9 Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets liegt. Beim Musterschüler Niederlande sind es sogar 4,9 Prozent, hierzulande nur 1,8 Prozent (die letzten Daten der OECD zu diesem Thema stammen aus 2008). Es ist aber zu erwarten, dass sich der Anstieg der Ausgaben in Österreich fortsetzt, da neue Vorsorgemaßnahmen breit etabliert werden (z. B. Mammografie-Screening) bzw. bestehende Maßnahmen (bspw. Jugendlichenuntersuchungen) weiterentwickelt werden.
Zu Tode untersucht?
Die Frage der richtigen Prävention hat aber auch kritische Stimmen laut werden lassen. Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems, meint dazu: „Das Problem in Österreich ist, dass wir manche Bevölkerungsschichten mit Vorsorgeprogrammen überhaupt nicht erreichen, bei anderen wird zu viel gemacht. Mit der Konsequenz, dass es viele unnotwendige Behandlungen gibt.“ Das bedeutet, gesunde Personen werden zu PatientInnen gestempelt, ohne dass irgendein gesundheitlicher Nutzen daraus resultiert. „Dazu kommt, dass ärztliche Interessengruppen wie zum Beispiel die Ärztekammer bei Empfehlungen wirtschaftliche Anliegen in den Vordergrund stel-len und nicht die bestmögliche Versorgung der PatientInnen, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen“, so der Experte.
Gartlehner verweist dabei auf eine Analyse der Donau-Universität Krems, die Krebsscreening-Empfehlungen der Wiener Ärztekammer mit internationalen, wissenschaftsbasierten Empfehlungen vergleicht. Resultat: „Es werden von der Ärztekammer Untersuchungen empfohlen, die internationale Institutionen eindeutig ablehnen, weil sie mehr Schaden als Nutzen verursachen. Eigentlich sinnvolle Untersuchungen werden wiederum zu häufig empfohlen, mit der Konsequenz, dass es viele falsch positive Ergebnisse gibt – mit zum Teil sehr unangenehmen Konsequenzen für PatientInnen, wie zum Beispiel nicht notwendigen Krebsbehandlungen“, so Gartlehner.
Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer Wien, wehrt sich vehement gegen diese Kritik und meint, dass manche Empfehlungen der Wiener Ärztekammer zur Vorsorge von Gartlehner nicht korrekt und verkürzt wiedergegeben wurden: „Die Wiener Ärztekammer ist vom Nutzen regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen mit Beachtung des Gender-Aspekts überzeugt und weist den Vorwurf, unnötige Untersuchungen aus wirtschaftlichen Interessen zu empfehlen, scharf zurück.“ Der Experte ergänzt: „Grundsätzlich gilt natürlich in jedem Fall, dass eine individuelle fachärztliche Beratung über die Vor- und Nachteile unverzichtbarer Bestandteil jeder medizinischen Gesundheitsvorsorge ist.“ Dafür ist wiederum solide Gesundheitskompetenz hilfreich – in diesem Punkt sind sich alle Experten einig.
Internet:
Weitere Infos zu Gesundheitszielen und Gesundheitsvorsorge finden Sie hier:
www.gesundheitsziele-oesterreich.at
www.gesagt-getan-vorgesorgt.at
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Balance
In seiner Dissertation befasst sich Lothaller mit der Balance zwischen Lebensbereichen und der besonderen Bedeutung der Familienarbeit in dieser gedrängten Phase des Lebens. Und die ist oft Stress pur, wie ihn etwa die 37-jährige Rechtsanwältin Gisela B., seit zwei Jahren Mutter eines Sohnes, erlebt. Sie wollte alles auf einmal schaffen: eine gute Mutter sein, ihre Karriere in einer Anwaltskanzlei, ihre Partnerschaft mit dem Juristen Max und die Pflege ihres Freundeskreises. Reine Utopie, wie sich herausgestellt hat. Zuerst blieb die Freizeit auf der Strecke, damit die Freunde und dann ihre berufliche Karriere. Sie zog schließlich Teilzeit vor, „einstweilen“, wie sie sagt, bis Max Junior größer ist.
Tradition Paar
Experte Harald Lothaller ortet „ein häufiges Traditionalisierungsphänomen auf Paar-Ebene“. Das heißt, die Aufteilung zwischen den PartnerInnen wird in den beiden Lebensbereichen Beruf und Familie wieder traditioneller, auch wenn sich das Paar ursprünglich anderes vorgenommen hat. Auch Nicolle (38) und Alexander (40) hatten alles realisiert, was man sich in relativ jungen Jahren erträumt. Eine Hochschulausbildung, einen interessanten Beruf, eine kleine Eigentumswohnung am Stadtrand und – endlich – ihre Tochter Lena (5). Doch eines hatten auch sie nicht: gemeinsame Zeit. Nicolle und Alexander ist der Beruf geblieben, die Ehe ist mittlerweile geschieden. Nicht immer gelingt es der „Generation Rushhour“, alles zu vereinbaren, was sie sich ursprünglich erhofft hat.
Es kann natürlich auch schlimmer kommen. Für Petra (37) ist der Traum vom Kind weit von der Realität entfernt. Die studierte Ethnologin arbeitete lange Zeit auf der Basis von Werkverträgen, heute hat sie zwar eine relativ fixe Anstellung, doch ihr Partner Herbert gehört mit seinen 35 Jahren immer noch der „Generation Praktikum“ an. In dieser Situation ein Kind zu bekommen findet Petra einerseits verantwortungslos, andererseits fühlt sie sich auch fast schon zu alt.
Ängste als Ursache
„Studien zeigen, dass der häufigste Grund für Kinderlosigkeit die Angst um die berufliche Zukunft bzw. den Arbeitsplatz ist“, erklärt Sozialpsychologe Lothaller. Auch die Art und Weise, wie Paare ihre Familienarbeit aufteilen, spiele eine Rolle für die Wahrscheinlichkeit, (weitere) Kinder zu bekommen. Beiden Lebensbereichen – Beruf und Familie – gemeinsam ist die zeitliche Befristung, das Gefühl des Gedrängtseins. Einerseits sollte spätestens in der zweiten Hälfte des vierten Lebensjahrzehnts die berufliche Stabilität geschaffen sein. Andererseits „tickt die biologische Uhr“, vor allem für Frauen. Die „rush-hour of life“, das Leben auf der Überholspur – oder das Leben im Stau, je nachdem –, ist eigentlich ein Paradoxon. Denn unsere Lebenserwartung steigt stetig an, doch haben wir, vor allem in der genannten Lebensphase, immer weniger Zeit. ExpertInnen orten zwei Hauptursachen: höheres Bildungsniveau und Aufschub der Geburt des ersten Kindes. So hat sich der Anteil der Personen mit tertiärer Ausbildung zwischen 1981 und 2006 verdreifacht, wobei der Anstieg bei den Frauen deutlich größer war als bei den Männern. Das geht in der Regel mit einer längeren Ausbildungszeit einher. Noch um 1970 ließen sich die Menschen mehr Zeit für den Nachwuchs. Die meisten Frauen bekamen das erste Kind mit 24, 25 Jahren, ihr letztes bzw. drittes Kind mit 30 bis 32 Jahren. Im Jahr 2009 wurden Frauen, so sie sich überhaupt für Familie entschieden haben, mit durchschnittlich 29 Jahren erstmals Mutter. „Die Zeit im Lebenslauf, in der sich Frauen für Kinder entscheiden, ist auf ein ‚Fenster‘ zwischen dem 29. und 34. Lebensjahr reduziert worden“, konstatiert Soziologe Hans Bertram.
Internalisiertes Scheitern
Nicht gänzlich unbekannt ist, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zentrale Rolle im Funktionieren von Familie und somit der Gesellschaft spielt. „Vor diesem Hintergrund orten ForscherInnen eine potenzielle Überlastung der Familie“, heißt es im „Familienbericht 1999–2009 auf einen Blick“. Dazu kommt, dass Teile dieser Anforderungen, insbesondere von Müttern, stark als Teil der eigenen Identität internalisiert sind. Ein Scheitern an diesen hohen Ansprüchen werde eigenen Defiziten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der Erziehung der Kinder zugeschrieben, statt dies als mangelnde Anerkennung familiärer Leistungen zu verstehen.
Die Folgen des „alles auf einmal, und das sofort“ sind gravierend und unübersehbar. „Die aktuelle Situation ist noch weit entfernt von dem, was für eine tatsächliche Vereinbarkeit von Lebensbereichen nötig wäre“, schlussfolgert der Sozialpsychologe Harald Lothaller. „Wenn diese aus der Balance geraten, betreffen die negativen Auswirkungen nicht nur einzelne Personen: Geringe Fertilitätsrate, steigende Scheidungsziffern, geringere Produktivität und vermehrte psychische und körperliche Probleme sind die Folgen.“ Insgesamt zeigten Analysen, dass „subjektives“ Erleben und „subjektive“ Bewertungen bedeutsamer für Vereinbarkeitsschwierigkeiten sind als „objektive“ Aspekte wie das Vorhandensein betrieblicher Unterstützungsmaßnahmen. So gibt es zwar eine Väterkarenz, doch scheuen sich viele Väter, diese in Anspruch zu nehmen.
Oft führt der Weg in der Rushhour in eine Art Kreisverkehr. In Österreich leidet bereits jede dritte Person unter Schlafstörungen, eine Million Menschen gelten als Burn-out-gefährdet. „Wenn die Mehrfachbelastungen aus verschiedenen Lebensbereichen überhandnehmen, werden zuerst Abstriche bei der Freizeit gemacht, danach folgen Hausarbeit und Partnerschaft“, erklärt Lothaller. Der Psychologe rät Paaren, ehe sie die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht haben, Prioritäten zu setzen, auch sogenannte Einschränkungen in Kauf zu nehmen und vor allem: die Ressourcen Partnerschaft und Freizeit zu pflegen. Auf politischer Ebene ginge es um breite unterstützende Maßnahmen der Vereinbarkeit wie Lebensarbeitszeitmodelle und umfassende Kinderbetreuungsmöglichkeiten wie etwa in Frankreich.
Wechselnde Phasen
Ein „Auszeitmanagement“ für Männer und Frauen fordert die Unternehmensberatung A. T. Kearney. Bildungssystem und Unternehmen müssten so funktionieren, dass Eltern sich ohne Verlust von Karrierechancen zeitweilig aus dem Berufsleben zurückziehen können. Soziologe Hans Bertram hält eine Auflösung der „rush-hour of life“ nur dann für möglich, wenn an die Stelle einer Normalbiografie, die alle in einer Gesellschaft durchlaufen müssen, jene der individuellen Biografie rückt, in der sich unterschiedliche Lebensphasen abwechseln können.
Internet:
„Rushhour des Lebens“:
tinyurl.com/lvxca79
Hans Bertram: Aufsatz „Keine Zeit für die Liebe“:
tinyurl.com/lo8lkaz
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Anstrengender Alltag
Was sich für manche möglicherweise lustig anhört, ist für Bernadette bisweilen anstrengender Arbeitsalltag. Nach der Visite um 11.30 Uhr fühlt sie sich bereits müde, hungrig und ein wenig ausgelaugt. „Um 13.00 Uhr kam eine Aufnahme mit Polizei und Rettung. Eine 64-jährige Dame wurde im tobenden Zustand auf der Mariahilfer Straße aufgegriffen. Sie bedrohte Passanten mit ihrem Gehstock.“ Nach einem Fluchtversuch von Frau A. und mehreren Patientinnen-/Patientengesprächen findet um 19 Uhr die Dienstübergabe statt. „Nach diesem Tag fühle ich mich sehr müde und erschöpft. Es war nicht einfach, mich die ganzen zwölf Stunden durchgehend zu konzentrieren. Pausen blieben – außer einer kurzen Trinkpause – keine.“
Es sei sehr wichtig, sich abgrenzen zu können, Krankengeschichten dürfe man nicht mit nach Hause nehmen. Trotz der langen Dienstzeit möchte sie aber nichts daran ändern: „Der große Vorteil von langen Diensten ist die viele Freizeit. Ein ganzer freier Tag ist für mich wertvoller als ein halber.“
Burn-out-Gefahr
Der Job im Spital ist fordernd – für manche sogar überfordernd. Lange Schicht- und Nachtarbeitszeiten, unterbesetzte Stationen und belastende Krankengeschichten zehren an den Nerven. Auf einer Aufnahmestation weiß man nie, was eine/n am nächsten Tag erwartet. Sich auf einen ruhigen Dienst freuen oder vor einem stressigen fürchten: Das gibt es nicht. Laut Arbeitsklima Index für Gesundheitsberufe der Arbeiterkammer Österreich aus dem Jahr 2006 fühlt sich jeder vierte Befragte Burn-out-gefährdet. Eine Ursache dafür: die Arbeitszeit.
Während in der Verwaltung oder im technischen Dienst Tätige mit ihren Arbeitszeiten zufrieden sind, ist sie in der Pflege bzw. bei ÄrztInnen ein großes Problem. Die Leidtragenden sind die PatientInnen, ihre Betreuung leidet darunter. „Ein Arzt hat nicht die Möglichkeit, sich ausreichend Zeit für PatientInnengespräche zu nehmen“, sagt Edgar Martin, Hauptgruppe II der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten – Kunst, Medien, Sport, freie Berufe (GdG-KMSfB). Die Idealvorstellung von Pflege sei unerfüllbar, man müsse sich meist auf die Grundbedürfnisse wie Nahrungsaufnahme und Medikamentenausgabe etc. beschränken. Pflege würde aber viel mehr bedeuten: einmal durch das Haar fahren, Zeit nehmen, vorlesen – die Kleinigkeiten eben.
Besonders von ÄrztInnen und dem Pflegepersonal werden viele Überstunden geleistet – oftmals auf Kosten des Privatlebens. „Die vielen Nachtdienste gehen an die Substanz“, meint Martin. In jungen Jahren sei der Wechsel zwischen Nacht- und Tagdiensten gut verkraftbar, ältere Spitalsbedienstete würden darunter leiden.
Viele MitarbeiterInnen gehen auch krank arbeiten, um die KollegInnen nicht noch zusätzlich zu belasten. Man will für andere da sein, vergisst dabei aber auf sich selbst. Durchschnittlich 40 Prozent aller ArbeitnehmerInnen in Gesundheitsberufen machen häufig Überstunden, Mehrarbeit gehört zum selbstverständlichen Arbeitsalltag.
Änderung
ÄrztInnen haben im Durchschnitt eine Wochenarbeitszeit von 56,4 Stunden. 30 Prozent arbeiten 60 Stunden, 11 Prozent 70 Stunden und 5,1 Prozent gar 80 Stunden pro Woche. Laut Arbeitsklima Index würden Überstunden dem Arbeitgeber billiger kommen, als neue Vollzeitarbeitsplätze zu schaffen. Das soll sich jetzt ändern.
Das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz erlaubt es derzeit, dass Ärzte bis zu 72 Stunden pro Woche und bis zu maxi-mal 49 Stunden durchgehend Dienst schieben.
Die maximale Tagesarbeitszeit liegt zwar grundsätzlich bei 13 Stunden. Jedoch kann ein sogenannter „verlängerter Dienst“ zur Anwendung kommen – vorausgesetzt, der Dienstnehmer wird während der Arbeitszeit „nicht durchgehend in Anspruch genommen“. Dann kann der durchgehende Dienst 32 Stunden betragen.
Beginnt jener „verlängerte Dienst“ am Vormittag eines Samstags oder vor einem Feiertag, darf dieser sogar bis zu 49 Stunden dauern. Zwar darf die Wochenarbeitszeit im Schnitt 48 Stunden nicht übersteigen, aber auch hier gibt es Ausnahmen. Bei einem „verlängerten Dienst“ kann die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bis zu 72 Stunden betragen. Pro Monat sind maximal acht „verlängerte Dienste“ zulässig.
EU-Rüge
Von der EU setzte es für die langen Arbeitszeiten eine Rüge. Sie schickte ein Mahnschreiben und drohte mit Strafzahlungen. Die Wochenarbeitszeit für ÄrztInnen dürfe maximal 48 Stunden betragen, der längste Dienst am Stück 25 Stunden.
Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) verhandelte daraufhin mit Ländern und Ärztekammer, im September wurde ein entsprechender Initiativantrag im Nationalrat eingebracht, der Ende Oktober beschlossen werden soll.
Den Ländern bereiten befürchtete Mehrkosten Kopfzerbrechen, die wegen anfallender Überstunden auf sie zukommen. Den Wunsch der Länder nach Ausnahmeregelungen für län-gere Arbeitszeiten will Hundstorfer nicht mittragen. Er setzt sich für eine stufenweise Reduzierung der Stunden ein.
Stufenplan
„Über die Neugestaltung der Ärztearbeitszeit gab es zahlreiche intensive Verhandlungen mit Ärztekammer und Ländern“, heißt es aus dem Sozialministerium. „Der Gesetzesentwurf sieht eine etappenweise Verkürzung der verlängerten Dienste für ÄrztInnen vor.“ Ab nächstem Jahr sind überlange Dienste nur mehr mit schriftlicher Zustimmung der betroffenen ÄrztInnen möglich.
Ab 2015 und bis 2018 soll der Stufenplan eine wöchentliche Arbeitszeit von durchschnittlich 60 Stunden ermöglichen, bis 2021 nur mehr 55 Stunden. Ab Mitte 2021 würde dann das 48-Stunden-Limit gelten. Auch bei Wochenenddiensten wird stufenweise reduziert: Ab 2018 sollen nur mehr 29 Stunden am Stück möglich sein, ab 2021 maximal 25-Stunden-Dienste. „Niemand will, dass sich sein behandelnder Arzt vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann“, sagt Arbeitsminister Hundstorfer. ÄrztInnen würden wesentlich „bessere Bedingungen“ vorfinden.
Das Problem bei der Umsetzung: Selbst viele ÄrztInnen sind gegen neue Arbeitszeit-Regelungen. „Es ist besser, zwölf Stunden durchzuarbeiten und dann heimzugehen, als 25 Stunden mit Rufbereitschaft. Aber viele wollen das nicht, weil sie noch eine eigene Praxis haben“, sagt Edgar Martin.
Klarheit durch Studie
Dass mehr ÄrztInnen benötigt werden, glaubt Martin nicht. „Die Arbeit lässt sich gut über Tag und Nacht verteilen.“ Man müsse einfach die Arbeitszeit anpassen.
Bei der Erstversorgung seien oft am Vormittag fünf Personen im Einsatz, am Nachmittag nur mehr zwei, obwohl dieselbe Arbeit anfalle. Eine Arbeitszeitstudie könnte Klarheit bringen. Ein weiteres Problem ist, dass ÄrztInnen Gehaltseinbußen befürchten würden. „Das Gehalt sollte nicht davon abhängig sein, ob ich in der Nacht schlafe“, bringt es Martin auf den Punkt.
Internet:
Arbeitsklima Index der Arbeiterkammer Oberösterreich:
tinyurl.com/kcuff2s
Aktuelle Infos zu den Ärztearbeitszeiten:
www.aerztekammer.at
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Arbeit&Wirtschaft: Was ist für Sie gesunde Arbeit?
Sabine Oberhauser: Arbeit, die sich an den Grundressourcen der Menschen orientiert; das heißt, sie muss zeitlich begrenzt und planbar sein, und wenn sie körperlich schwer ist, müssen technische Hilfsmittel da sein, wenn es geistige Arbeit ist, muss es genügend Ruhepausen geben.
Beim Thema Schwerarbeit wird in der politischen Diskussion meistens von Männerberufen gesprochen. Wie ließe sich besser für Belastungen von Frauen sensibilisieren, wie sie etwa für Pflegerinnen zum Alltag gehören?
PflegerInnen sind da immer wieder ein Thema. Aber man kann auch die Frage stellen, wie viele Kilotonnen eine Lebensmittelverkäuferin jährlich über die Registrierkassa zieht.
Man muss also noch viel mehr dafür sensibilisieren, dass Schwerarbeit nicht nur am Bau oder auch im Pflegebereich geleistet wird, sondern durchaus auch in anderen Berufen, zum Beispiel auch von einer Kindergärtnerin, die täglich Kinder hebt.
Von Maßnahmen zur Entlastung von Frauen profitieren auch Männer, ein klassisches Beispiel sind kleinere Gebinde oder Paletten. Gibt es in dieser Hinsicht mehr Initiativen?
Es gibt auch ähnliche Maßnahmen, um Männer zu entlasten, zum Beispiel am Bau. Im Prinzip geht das über die betriebliche Gesundheitsförderung, auch beim Fonds Gesundes Österreich laufen eine Menge Projekte.
Oft kommen solche Initiativen auch aus der Berufsgruppe selbst, und gute Projekte werden durchaus über den FGÖ gefördert. Mit dem Gütesiegel „Betriebliche Gesundheitsförderung“ zeichnen wir beispielsweise Betriebe aus, die sich um die Gesundheitsförderung ihrer MitarbeiterInnen besonders kümmern.
Apropos Frauen und Männer: Braucht es mehr geschlechtssensible Gesundheitspolitik?
Wir brauchen insgesamt gendersensible Vorsorge. Das betrifft, glaube ich, beide Geschlechter. Wir haben bei den Männern einen Vorteil: dass das männliche Geschlecht schon länger beforscht und auch diagnostiziert wird.
Bei Herzinfarkten zum Beispiel ist es so, dass bei Männern in der Erstanamnese viel häufiger Herzinfarkt steht, während das bei Frauen nicht so ist. Genderspezifizierte und gendersensible Projekte sind aber für beide Geschlechter notwendig.
Inzwischen ist die Annahme überholt, wonach Herzkrankheiten Männerkrankheiten sind. Braucht es auch hier mehr Geschlechtersensibilität?
Dass Doppel- oder Mehrfachbelastungen nicht gesund sind, ist klar. Viele Symptome sind bei Frauen anders als bei Männern. Das heißt, dass man genau drauf schauen muss.
Gesundheitsförderung und Prävention in der Lehre scheinen nur eine Nebenrolle zu spielen. Dabei gibt es gerade bei Lehrlingen Handlungsbedarf. Was könnten oder sollten Betriebe oder die Politik tun?
Der Lehrplan in den Berufsschulen ist nicht sehr sportfreundlich. Das hat damit zu tun, dass die Betriebe natürlich schauen, dass sie die Lehrlinge möglichst rasch wieder zurückbekommen.
Schon lange wird versucht, Turnstunden auch in den Berufsschulen zu etablieren. In der Schule fehlt aber insgesamt der Gesundheitsaspekt, nicht nur was Lehrlinge betrifft. Auch dort wird versucht werden, das stärker zu berücksichtigen. Aber auch die Betriebe selbst machen einiges. Oder auch der Fonds Gesundes Österreich hat eine Strategie zur betrieblichen Gesundheitsförderung in den Lehrbetrieben – auch in Klein- und Mittelunternehmen ...
… denen oft die Ressourcen fehlen ...
... denen nicht nur die Ressourcen fehlen, sondern oft auch das Know-how. Die Betriebe können auch um viele Förderungen ansuchen, wenn es eine wirklich gute Idee gibt. Wichtig wäre, dass Gesundheit im Betrieb thematisiert wird, so klein er auch sein mag und auch egal, ob es um Lehrlinge geht oder um andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Als Betrieb muss ich schauen: Was muss ich machen? Sind beispielsweise die Arbeitsflächen in der Höhe richtig eingestellt? Es geht also auch um Kleinigkeiten. Oder wird wirklich geschaut, dass einer gescheit hebt; dass ausreichend Pausen gemacht werden; dass man die Möglichkeit hat, sich zurückzuziehen? Da muss jeder Betrieb sensibilisiert werden und natürlich auch selbst drauf schauen. Stichwort Ernährung: Das gesunde Buffet gibt es schon für Schulen. Derzeit laufen Bemühungen, dieses Projekt auf Betriebskantinen auszuweiten.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Betriebsrätinnen und Betriebsräte?
Betriebsrätinnen und Betriebsräte sind, was die betriebliche Gesundheitsförderung betrifft, oft Projektnehmer. Sie haben also oft eine Idee für ein Projekt, das dann auch von ihnen getragen wird. Betriebsrätinnen und Betriebsräte – meistens in größeren Betrieben – sind da auch treibende Kraft, und das ist gut so.
Der Druck auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist enorm gestiegen. Dennoch scheinen psychische Erkrankungen immer noch ein Tabuthema zu sein. Wie ließe sich das ändern?
Das ist kein Tabuthema mehr. Es ist vor allem kein Tabuthema mehr, seitdem die klassische Depression zum Burn-out geworden ist, also sich die Terminologie verändert hat.
Wogegen ich mich immer wehre ist, dass die psychische Belastung eine Frauenkrankheit sei. So wird das nämlich oft dargestellt, und zwar aus dem einfachen Grund: Frauen geben oft auch leichter zu, dass sie es psychisch nicht mehr schaffen – leichter, als es Männer tun. Wir wissen, dass bei den Ansuchen um Invaliditätspension psychische Erkrankungen bei Weitem den Stützapparat überholt haben. Menschen geben das also auch zu.
Ich glaube, dass auf die psychische Gesundheit auch ein Fokus zu legen ist. Enttabuisiert sind psychische Krankheiten zum größten Teil. Wenn Leute wirklich stark belastet sind, sprechen sie darüber und holen sich auch Hilfe.
Eine Frage, die sicherlich immer wichtiger wird, ist aber: Wie gehe ich mit elektronischen Hilfsmitteln um, zum Beispiel mit dem Handy, und der Tatsache, dass man ständig erreichbar sein muss?
Dazu kommt, dass sich das klassische Acht-Stunden-Arbeitsmodell längst aufgeweicht hat. Auch darauf muss man den Fokus legen, möglicherweise in Projekten.
Wie hält man sich unter den stressigen Bedingungen als Ministerin fit?
Mit viel Disziplin, mit Spazierengehen zu nachtschlafender Zeit, also um fünf in der Früh, halb sechs.
Wann schläft man?
Jede Minute Schlaf, die man kriegt, nutzen. Was in meiner Position völlig leidet, ist Fernsehen – außer Nachrichtensendungen – oder Zeitung lesen, denn das habe ich sonst in der Früh gemacht. Das geht sich jetzt nur mehr rudimentär aus und der Genuss dabei fehlt. Um sich fit zu halten, ist natürlich auch wichtig, sich gesund zu ernähren, viel zu trinken und immer wieder zu versuchen, Pausen zu machen.
Was sollten Führungskräfte beachten, um ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen gesunden Arbeitsplatz zu ermöglichen?
Der Arbeitsplatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollte mindestens so ausschauen wie der von einem selbst, abgezogen von dem, was man als Führungskraft nicht kann, nämlich das Handy abdrehen. Und man sollte sich vielleicht auch überlegen, ob man möchte, dass die eigenen Kinder so arbeiten, wie man es von den MitarbeiterInnen verlangt.
Wo finden Sie selbst Ausgleich?
Spazieren gehen, laufen gehen, nichts tun. Wobei, beim Spazierengehen mache ich in der Früh auch meine Mails und Facebook (lacht).
Ich glaube, jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er oder sie den Kopf frei kriegt. Ich nutze oft auch Autofahrten, wenn niemand mit mir fährt, um einfach wirklich nichts zu reden, nur zu denken.
Ist Disziplin ein Preis, den wir angesichts einer noch rationalisierteren Gesellschaft zahlen müssen?
Na ja, ich würde von niemandem Disziplin verlangen. Ich weiß auch nicht, ob sich viele Leute für diszipliniert halten, möglicherweise eher für pflichtbewusst.
Es ist mein Weg, mir mein Leben mit einem gewissen Maß an Disziplin zu organisieren. Ich stehe beispielsweise nicht gerne um fünf auf. Aber der Wecker schaltet sich einfach jeden Tag um fünf ein und ich stehe auf, ohne lange zu überlegen.
Das ist aber mein Weg. Ich glaube aber schon, dass viele gar nicht überlegen können, sondern funktionieren müssen, weil es anders nicht geht.
Gute Arbeit hat auch etwas mit Ressourcen zu tun. In der wirtschaftlichen Realität aber steigt der Druck weiterhin enorm an. Wie ließe sich gegensteuern?
In Krisenzeiten, wird der Druck auf die MitarbeiterInnen natürlich größer. Ich glaube, man muss irgendwann einmal die Reißleine ziehen und sich fragen, wie es besser weitergehen kann.
Nur wie soll das Reißleine-Ziehen aussehen?
Gerade im öffentlichen Bereich redet man viel von der Verwaltungsreform, die angeblich Milliarden einsparen könnte. Wenn Verwaltungsreform aber heißt, wir bauen noch mehr Köpfe ab und belasten die verbleibenden Köpfe noch mehr, bin ich dagegen. Das sollte man sich also gut überlegen.
Im privaten Sektor ist es so, dass sich die Arbeit natürlich verdichtet, wenn die Belegschaft beispielsweise in Krisenzeiten dünner wird. Das führt wiederum zu mehr Ausfallszeiten und dazu, dass Menschen früher nicht mehr arbeitsfähig sind.
Wenn man sich dann anschaut, was das volkswirtschaftlich heißt, sieht man: Es wäre gescheiter, man würde während des aktiven Arbeitslebens mehr auf die Ressourcenschonung achten, als die Ressourcen vorzeitig an die Pension oder den Krankenstand zu verlieren.
Ressourcen sind auch im Gesundheitssystem selbst ein Thema, allein schon wegen teurer Instrumente und Medikamente. Muss man sich als Gesellschaft vielleicht eingestehen, dass Gesundheit einfach immer teurer wird?
Gesundheit ist dann zu teuer, wenn das Geld nicht effektiv dort ankommt, wo es hingehört, nämlich bei den Menschen. Daran arbeiten wir sehr stark, einerseits mit der Gesundheitsreform, andererseits auch über die Sozialversicherungsträger, die unser aller Geld verwalten und das sehr gut und sehr effizient tun. Gesundheit ist das höchste Gut und muss uns daher auch etwas wert sein. Man muss allerdings schauen, dass das Geld wirklich dorthin kommt, wo es hingehört.
Manche ExpertInnen wenden ein, man würde sich etwas vormachen, wenn man meint, dass sich bei der Gesundheit sparen lasse.
Natürlich wird alles teurer, auch im Gesundheitswesen. Da heißt es halt verantwortungsvoll damit umgehen und gut planen. Wir haben uns daher einen Finanzpfad gegeben, der die Ausgabensteigerung dämpft. Mittelfristig wollen wir hier eine Steigerung von maximal 3,6 Prozent jährlich erreichen. Außerdem muss man gut verhandeln. Gerade bei den Medikamenten gibt es wirklich gute Kooperationen und Verhandlungen mit der Pharmaindustrie. Es gibt einen Pharmarahmenvertrag, wo die Sozialversicherungen und alle anderen Akteure gemeinsam schauen, wie sich dieses System verträglich finanzieren lässt, aber gleichzeitig so, dass jeder auch damit leben kann.
Was ist Ihr wichtigstes Vorhaben in der Gesundheitspolitik?
Ein solidarisches Gesundheitssystem zu erhalten und den Wert eines solchen Systems den Menschen, den Jugendlichen zu erklären. Wenn ich gesund bin, zahle ich für die Kranken – dieses System müssen wir auf jeden Fall beibehalten. Unter diesem Dach des Erhalts des solidarischen Gesundheitssystems stehen viele weitere Vorhaben: einerseits, das System finanzierbar halten, indem wir die Gesundheitsreform umsetzen; andererseits, das System besser erreichbar machen, also versuchen, möglichst niedrigschwellige Hausarztmodelle oder Primärversorgungmodelle zu bauen. Darüber hinaus ist mir wichtig, dass die Menschen, die im System arbeiten, zufrieden sind. Ich versuche deshalb, genug Zeit für die Beschäftigten im Gesundheitssystem, aber auch für die Patientinnen und Patienten herauszuspielen.
Als Gesundheitsministerin hat man bei alldem mehr die moderierende Funktion zwischen Sozialversicherungen und den Ländern und den verschiedenen Akteuren im System. Aber als Gewerkschafterin weiß man, wie das ist, Menschen am Tisch zu halten, und das versuche ich auch.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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]]>Rahmenbedingungen
Als Folge der Krise hat in Europa die Industriepolitik ein Revival, während gleichzeitig die klima- und energiepolitischen Ziele neu festgelegt wurden und Änderungen im Emissionshandel anstehen. Zudem wurden die USA über die Förderung von Schiefergas günstiger in der Produktion. Tatsache ist, dass die Gaspreise in Europa deutlich höher sind als in den USA, allerdings schwächt sich auch hier der Hype ab. Aufgrund großzügiger Ausnahmeregelungen gilt dies für Strom nur bedingt. „Für Unternehmen gibt es kaum Unterschiede zwischen Österreich bzw. Deutschland und vergleichbaren Regionen (Bundesstaaten) in den USA.“ Tatsache ist aber auch, dass einige Länder Europas eine hohe Importabhängigkeit von Energie aufweisen. Zum überwiegenden Teil sind Ölimporte und damit auch der Verkehr für diese Entwicklung verantwortlich. All das spricht dafür, dass Europa sich intensiver mit dem Thema „Energieeffizienz“ auseinandersetzt – und zwar in allen Sektoren mit einem verbindlichen Ziel.
Das richtige Förderregime?
Gerade aufgrund klimapolitischer Zielvorgaben hat die Förderung erneuerbarer Energien in den letzten zehn Jahren europaweit extrem zugenommen. Viele Energieversorger machen mittlerweile die hohen Förderungen von Ökostrom für die Preisentwicklung auf dem Strommarkt mitverantwortlich. Diese habe zu einem Überangebot an Strom und damit zu sinkenden Großhandelspreisen geführt. In Kombination mit den niedrigen CO2-Preisen führt dies zu massiven Wettbewerbsverzerrungen, die auch klimapolitisch kontraproduktiv sind: Moderne Gaskraftwerke mit geringem CO2-Ausstoß werden von alten Kohlekraftwerken aus dem Markt gedrängt. Damit geraten jene Stromproduzenten unter Druck, die die Versorgungssicherheit garantieren, wenn weder der Wind weht, noch die Sonne scheint. Also wollen auch diese ihre Kosten abgedeckt wissen – eine Strategie, die wahrscheinlich wohl eher wieder die Haushalte und nicht die Unternehmen belastet.
Die Energiewirtschaft ist weltweit in einer Umbruchphase. Das ist an sich eine nicht unübliche Entwicklung, allerdings stellt sich die Frage, wer die Kosten dafür tragen wird?
Neoliberalismus und Hegemonie der öffentlichen Meinung
Der bekannte Journalist Armin Thurnher widmet sich in seinem Beitrag dem zentralen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt den Übergang vom „embedded liberalism“ keynesianischer Prägung bis Anfang der 1970er-Jahre hin zum entgrenzten Neoliberalismus, der die Welt in die tiefste Krise der Nachkriegszeit geführt hat.
Er zeigt dabei sehr anschaulich und informativ, wie aus einer „Sekte“ die dominante und (noch) unangefochtene Interpretation wirtschaftlicher Zusammenhänge werden konnte. Zentral aus Thurnhers Sicht ist dabei der Einfluss, der seit Beginn der 1970er-Jahre von Befürwortern einer freien, uneingeschränkten Marktwirtschaft auf die öffentliche Meinung ausgeübt wird. Er argumentiert, dass die Wirtschaft gelernt hat, sich als politische Klasse zu positionieren und mit ihren großen (finanziellen) Möglichkeiten die Politik in ihrem Sinn zu beeinflussen. Den entscheidenden Impuls lieferte der Anwalt Lewis Powell, als er ein vertrauliches Memo an die amerikanische Wirtschaftskammer richtete, so Thurnher „Die Chamber of Commerce steigerte ihre Mitgliederzahl innerhalb weniger Jahre von 60.000 auf eine Viertelmillion Firmen. Damit stieg ihre Finanzkraft. Bereits 1972 gab sie für ihre Propagandazwecke 900 Millionen Dollar im Jahr aus (...). Sie gründete Think-Tanks, publizierte Bücher und beeinflusste Medien, Institutionen und Debatten in einem Ausmaß, das der europäischen Öffentlichkeit lange Zeit entging.“ Dabei zeigt sich klar, dass es nicht um einen hehren Wettstreit von Argumenten geht, sondern vielmehr um eine Frage von Macht und Einfluss. Dadurch kann Öffentlichkeit letztlich so gestaltet werden, dass die große Mehrheit gerade jenen ihre Gunst spendet, die entgegen den Mehrheitsinteressen handeln.
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http://blog.arbeit-wirtschaft.at/thurnher-wie-der-neoliberalismus-die-hegemonie-erlangte/
Wenn alle sparen, werden auch alle ärmer
Sepp Zuckerstätter zeigt in seinem Beitrag auf, wie sich das Verhalten der fünf großen volkswirtschaftlichen Sektoren – Haushalte, Finanzsektor, Unternehmenssektor, Staat und Ausland – seit Beginn der Finanzkrise negativ auf die Gesamtwirtschaft auswirkt. Er argumentiert, dass – anders als vor der Krise – die Ersparnisse der privaten Haushalte von den Unternehmen nicht mehr für Investitionen genutzt werden. Stattdessen erwirtschaftet dieser Bereich seit 2009 regelmäßig Überschüsse, wodurch die Investitionsnachfrage und in der Folge die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgeht. Das senkt wiederum die Nachfrage der privaten Haushalte und damit die gesamtwirtschaftliche Dynamik.
Um diese Nachfragelücke zu füllen, wäre es entweder notwendig, dass der Staat bzw. die EU aktive Maßnahmen wie Investitionsprogramme durchführt oder sich der öffentliche Sektor (stärker) verschuldet – oder aber die Wirtschaft stabilisiert sich durch Außenhandelsüberschüsse. Letzteres wird derzeit in Europa als einzige Lösung angesehen, kann allerdings nur funktionieren, wenn die Handelspartner nicht genauso agieren. Genau das ist jedoch derzeit der Fall: Hoch verschuldete Länder wie Griechenland, Spanien oder Irland werden von der Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission unter Druck gesetzt, ihre Außenhandelsdefizite abzubauen. Somit sparen alle, zum Schaden aller.
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http://blog.arbeit-wirtschaft.at/das-sparparadoxon/
Plädoyer für eine andere Budgetpolitik
Markus Marterbauer skizziert in seinem Beitrag Möglichkeiten, die vorhandenen Spielräume in der Verteilungs- und Beschäftigungspolitik so zu nutzen, dass die negativen Auswirkungen der derzeitigen Wirtschaftspolitik und der Finanzkrise überwunden oder zumindest abgemildert werden können. Gewohnt fundiert zeigt Marterbauer die Gründe auf, an denen sich das Scheitern der neoklassischen Wirtschafts- und Budgetpolitik ausmachen lässt – die Schwäche der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die unterschätzte Bedeutung gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen für den Budgetsaldo sowie die Instrumentalisierung der Theorie für die Interessen der Kapitalseite. Er folgert daraus unter anderem, dass bewährte budgetpolitische Instrumente (wie die automatischen Stabilisatoren) adjustiert und neue (z. B. Regulierungen im Energiebereich) eingeführt werden müssen beziehungsweise alte ersetzen sollten. Sein Plädoyer umfasst auch und vor allem die Berücksichtigung des Zusammenspiels der Budgetpolitik mit anderen Instrumenten der Wirtschaftspolitik im Rahmen des „magischen Vielecks der Wirtschaftspolitik“.
Lesen Sie mehr:
http://blog.arbeit-wirtschaft.at/oekonomisch-vernuenftige-budgetpolitik/
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KV auf Holländisch
Vorbereitungs- bzw. Verhandlungsschritte gleichen grundsätzlich jenen in Österreich. Der wesentliche Unterschied bei Firmen-CAOs besteht darin, dass nach Verhandlungserfolg die Ergebnisse den Mitgliedern verlautbart werden. Diese können dann abstimmen, ob sie mit dem Vorschlag einverstanden sind oder nicht. Falls die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder das Ergebnis für unzureichend befindet, wird neu verhandelt. Zudem ist eine automatische jährliche Inflationsanpassung der Entgelte festgeschrieben, die somit unabhängig von Verhandlungen durchgeführt wird.
INTERVIEW:
Zur Person - Peter Guijt
Alter: 53
Wohnort: Rotterdam
Beruf: Personalmanagement
Firma: EMO, Hafen Rotterdam
Gewerkschaft: FNV, http://www.fnv.nl/english
Seit wann im (Euro-)BR? 1981–1993, erneut seit 2013
Wie ist dein Familienstand?
Ich bin seit 30 Jahren verheiratet, meine Frau Lilly ist Assistenzärztin. Wir haben eine Tochter im Alter von 26 Jahren, die in Ausbildung ist.
Was bedeutet dir Arbeit?
Arbeit bedeutet mir eine Menge! Kurz gesagt: Ich muss Geld verdienen und meine Arbeit muss mir Spaß machen. Damit ich in meinem Job zufrieden bin, ist am wichtigsten, dass ich von Menschen umgeben bin.
Deine Meinung über die Wirtschaft in den Niederlanden?
Wir stecken immer noch in der Krise. Ich hoffe, dass sich das bald erholt.
Wenn du den Begriff „Gewerkschaft“ hörst, woran denkst du?
Sie verhandeln für uns die Kollektivverträge und setzen sich für unsere Grundrechte ein. Ich bin ein überzeugter sozialdemokratischer Gewerkschafter.
Was bedeutet dir die EU?
Derzeit kann ich dem EU-Gedanken nicht so viel abgewinnen. Ich glaube, wir sind mittlerweile zu viele Staaten. Was mich stört, ist, dass wir Europa sein wollen, es aber nicht sein können, weil wir zu unterschiedliche Konditionen, Vereinbarungen und Regelwerke haben.
Dein Lieblingsland in Europa? Warum?
Holland, es ist klein und grün.
Was bringt der europäische Betriebsrat?
Eine Menge Arbeit. Betriebsrat zu sein ist mir wichtig. Ich kann zur Entwicklung des Unternehmens beitragen und mich für meine KollegInnen einsetzen.
Wie oft machst du Urlaub?
3-mal im Jahr.
Deine Wünsche für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert und damit unsere Arbeitsplätze gesichert sind. Für mich persönlich wünsche ich mir, dass ich gesund bleibe, glücklich und mit viel Liebe sehr alt werden darf.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin nina.abraham@logserv.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Angstmacherei
Genauso wie soziale Standards geraten ökologische Ziele angesichts einer an neoliberalen Paradigmen ausgerichteten Wirtschaftspolitik stark unter Druck. Eingebettet in wiederkehrende Verlagerungsdrohungen und Angstmacherei durch große Konzerne und die Interessenvertretungen der Wirtschaft, sollen soziale und ökologische Ansprüche klein gehalten werden, um vermeintliche „Standortvorteile“ zu erzielen und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu steigern (siehe auch „Übertriebene Energiepreise“). Es ist daher verständlich, dass die ArbeitnehmerInnen sehr verunsichert sind, immerhin stehen sie unter dem Druck zunehmender Weltmarktkonkurrenz. Zugleich werden jene, die auf eine gerechte Verteilung der anfallenden Kosten achten, immer wieder ins umweltverschmutzende Eck gestellt. Dabei ist klar, dass sowohl der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien als auch die Bekämpfung des Klimawandels im Interesse der Beschäftigten sind. Die Energiewende ist aber auch mit beträchtlichen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden, die Investition in die Zukunft muss vorfinanziert werden (siehe auch „Energiewende in den Kinderschuhen“).
Obwohl die soziale Frage eng mit der ökologischen Frage zusammenhängt, funktioniert dieses Gegeneinander-Ausspielen erstaunlich gut. Die Ausbeutung von Mensch und Natur hat in der kapitalistisch-industriellen Produktions- und Lebensweise dieselbe Ursache. Umweltfragen dürfen aus ArbeitnehmerInnensicht genausowenig „dem Markt“ überlassen werden wie Lohn-, Arbeitszeit- oder Verteilungsfragen. Ökologische Fragen sind soziale Fragen, die für die Beschäftigten von großer Bedeutung sind. Hoher Arbeitsdruck, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung sind Folgen eines brutaler werdenden Kapitalismus, sie können nur gemeinsam bekämpft werden.
Strukturwandel
Angesichts der aktuellen Krise, die sich aus ökologischen Gesichtspunkten unter anderem darin zeigt, dass sich fossile Energieträger (Erdöl, Kohle, Gas) tendenziell erschöpfen und der Schadstoffausstoß zu hoch ist, wird ein Strukturwandel notwendig sein und auch geschehen. Dieser Umbau kann und darf aber nicht an den ArbeitnehmerInnen vorbei erfolgen. Die Gestaltung dieses Wandels ist daher eine große Herausforderung, bietet aber auch die Chance, ein besseres, sozial- und umweltverträglicheres Produzieren, Arbeiten und Leben zu erreichen. Dies zeigt sich besonders bei der Gestaltung der Energiewende.
Sackgassen
Unter sozialen und ökologischen Aspekten betrachtet, hält die derzeitige Diskussion einige Herausforderungen und Sackgassen bereit, die eine gerechte Gestaltung der Energiewende verhindern. Erstens werden ökologische Ziele wie die Verringerung der Treibhausgase, die Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien oder Energieeinsparungen von manchen Unternehmen als „Gegenpol“ zu Löhnen und Preisen positioniert. So soll die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, dass eine finanzielle Beteiligung der Unternehmen an den Kosten der Energiewende gar nicht beziehungsweise nur bei gleichzeitig stagnierenden Löhnen oder steigenden Preisen möglich ist. Die Aufgabe von AK und Gewerkschaften muss es sein, diesen Widerspruch zu entkräften und auf die Schieflage bei der Ertrags- und Kostenverteilung insbesondere zwischen Haushalten und Industrie hinzuweisen. Alle energiepolitischen Maßnahmen ‒ beispielsweise Förderungen für erneuerbare Energien ‒ müssen auf ihre Verteilungswirkung analysiert und gegebenenfalls angepasst werden. In bestimmten Fällen machen Ausnahmeregelungen für die energieintensive Industrie natürlich Sinn ‒ es hilft weder den ArbeitnehmerInnen noch der Umwelt, wenn die energieintensive Industrie ihre Produktionsstandorte in Regionen verlagert, in denen es niedrigere Sozial- und Umweltstandards gibt. Ausnahmen sollten aber nur dann gemacht werden, wenn diese Unternehmen sonst nachweislich Wettbewerbsnachteile erleiden würden und trotz einer Produktion nach „Stand der Technik“ technologiebedingt überdurchschnittlich energieintensiv produzieren müssten.
Zweitens ist eine einseitige, profit-orientierte „Green Economy“, die auf „Freiwilligkeit“ und Anreizwirkungen statt verbindlicher Regeln setzt, problematisch. Unser derzeitiges Wirtschaftssystem einfach „grün anzustreichen“ löst keines der existierenden Probleme (hohe Arbeitslosigkeit, Verteilungsschieflage, Klimawandel). Vielmehr schafft es sogar neue Probleme, weil es Verteilungswirkungen ignoriert. So wird das Konzept beispielsweise von AtomkraftwerksbetreiberInnen und Agro-sprit-ProduzentInnen genutzt, um die eigenen Aktivitäten als umweltfreundlich und grün zu vermarkten, obwohl die Umwelteffekte tatsächlich negativ zu beurteilen sind1. Auch beim Europäischen Emissionshandel ist die Idee, den Schadstoffausstoß durch ein marktbasiertes Instrument in den Griff zu bekommen, gescheitert (siehe auch „Vertreibt Klimaschutz die Industrie?“). Gleichzeitig belastet die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung des Emissionspreises Investitionsentscheidungen.
Drittens ist die politische Verantwortung der Gestaltung der Energiewende nicht auf einzelne KonsumentInnen übertragbar. Immer wieder werden aus umwelt- und klimapolitischer Sicht höhere Energiepreise gefordert, um den Anreiz für KonsumentInnen zu erhöhen, Energie einzusparen. Neben höheren Energiepreisen werden auch „bewusstseinsbildende Maßnahmen“ wie Energieberatungen gefordert. Auch hier werden Verteilungswirkungen ignoriert. Für viele ArbeitnehmerInnen sind Handlungsoptionen, die zu substanziellen Energieeinsparungen führen, aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht leistbar. Während Haushalte mit hohem Einkommen und Vermögen bei steigenden Energiepreisen in Energieeffizienzmaßnahmen (thermische Sanierung, Heizungstausch oder sogar Eigenproduktion durch erneuerbare Energien) investieren können, müssen Haushalte mit wenig Einkommen und Vermögen ihr Verhalten ändern. Sie können beispielweise die Wohnräume nicht mehr ausreichend beheizen – sie werden energiearm (siehe auch „Essen oder heizen?“).
Zynische Moralisierung
Die Moralisierung des Energiesparens ist angesichts dieser Tatsachen schlicht zynisch. Auch unabhängig davon, dass die viel beschworene Macht der KonsumentInnen für Haushalte mit geringem Einkommen/Vermögen sicher nicht gilt, ist auch für Reiche(re) strategischer Konsum eine hochkomplexe Angelegenheit, da sich KonsumentInnen oftmals nur für ein Kriterium entscheiden können und damit andere ausschließen2. So kann zwar aus ökologischen Gesichtspunkten ein Zeichen gesetzt werden, wenn von einem Anbieter hundert Prozent erneuerbarer Strom bezogen wird, möglicherweise aber sind dort die Arbeitsbedingungen schlechter als bei konkurrierenden Energieunternehmen.
Die Transformation des Energiesystems ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher müssen einerseits Kosten und Nutzen der Energiewende gerecht verteilt werden. Andererseits braucht es klare politische Vorgaben und verbindliche Regeln anstelle einer auf Freiwilligkeit und Anreizwirkung basierenden „Green Economy“ oder der Übertragung der politischen Verantwortung auf einzelne KonsumentInnen. Aufgabe der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen wird es (weiterhin) sein, dies einzufordern und energiepolitische Maßnahmen auf ihre Verteilungswirkung zu überprüfen.
Dieser Artikel basiert zu großen Teilen auf: Csoka, B./Lehner, R./Schmidt, M./Vorbach, J. (2012): AK-OÖ-Zukunftsforen „Fortschritt sozialökologisch gestalten“ – Eine Prozessbeschreibung. In: WISO 3/2012.
1 Sven Hergovich: Was taugt die Green Economy? In: Wirtschaft & Umwelt 2/2013.
2 Hartmann, K. (2009): Ende der Märchenstunde: Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt. München.
Mehr Infos im Web:
tinyurl.com/p3eu477
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin michaela.schmidt@ak-salzburg.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Relativierte Preisunterschiede
Die Energiepreise sind in Europa deutlich höher als in den USA. Laut Internationaler Energieagentur (IEA) sind etwa die Strompreise doppelt so hoch wie in Europa. Dieses Bild relativiert sich jedoch, wenn man Regionen mit ähnlichen Strukturmerkmalen miteinander vergleicht und Ausnahmeregelungen berücksichtigt. So kommt PricewaterhouseCoopers in einer Studie zu dem Schluss: „Deutsche Industrieunternehmen, welche sich im internationalen Wettbewerb befinden, haben (allerdings) Möglichkeiten, die EEG-Umlage zu reduzieren, wodurch der Strompreis auf ein ähnliches Niveau wie in den beiden Vergleichsländern (Anm.: Österreich und Massachusetts, USA) sinkt.“ Durchgeführt wurde die Studie im Übrigen im Auftrag von „Österreichs Energie“, der Interessenvertretung der E-Wirtschaft.
Bei Erdgas sind die Preisunterschiede zwischen den USA und Europa beträchtlich (in Europa sind die Preise bis zu viermal so hoch wie in den USA) und haben zuletzt auch zugenommen. Das liegt allerdings weniger daran, dass die Preise in Europa an sich so hoch wären – an Europas Börsen ist Gas billiger als etwa in Japan, China, Indien oder Brasilien. Grund ist vielmehr, dass Energie in den USA so billig geworden ist. Massive Investitionen in die Förderung von Schiefergas haben dort zu einem deutlichen Preisverfall geführt. Die Preise sind mittlerweile sogar so stark gesunken, dass die Förderung von Schiefergas häufig unwirtschaftlich wird. So sprechen einige – etwa die Ökonomin und ehemalige Investmentbankerin Deborah Rogers oder der kanadische Geologe J. David Hughes – schon von einer finanzmarktgetriebenen „Schiefergasblase“3.
Die Europäische Kommission spricht in ihrem Bericht „Energy Economic Developments in Europe“4 davon, dass die Förderkosten teilweise die Verkaufserlöse übersteigen: „Current wholesale price appears too low for many shale gas fields (on-going and envisaged) to be profitably extracted“. Johannes Mayer, Chefvolkswirt der E-Control5, meint: „Die jetzigen Gaspreise in den USA sind nicht kostendeckend und nicht nachhaltig. Sie werden deshalb mittelfristig steigen.“
Rückgang erwartet
Auch die IEA rechnet mit einem Rückgang der Preisdifferenzen bei Erdgas zwischen Europa und den USA6. Der relative Preisvorteil wird also schrumpfen. Im europäischen Vergleich liegen die Strom- und Gaspreise von Österreichs Industrie im Mittelfeld und sind damit niedriger als etwa in Deutschland. Tatsächlich spielen Energiekosten für weite Teile der Industrie ohnehin nur eine sehr untergeordnete Rolle. So stellt etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung7 fest: „Für 92 Prozent der Wertschöpfung im Industriebereich betragen sie [Anm.: die Energiekosten] im Durchschnitt 1,6 Prozent des Umsatzes.“ Für Österreich gilt Ähnliches: Für 92 Prozent der Wertschöpfung im Industriebereich betragen die Energiekosten für Strom und Gas zusammen weniger als 1,8 Prozent des Umsatzes.8
Auch die Energiestückkosten – also die Energiekosten pro Einheit Wertschöpfung – sind in Europa vergleichsweise gering. Sie weisen – mit Ausnahme der beiden Jahre 2007 und 2008 – in den USA und der EU ein sehr ähnliches Niveau und eine ähnliche Entwicklung über die Zeit auf. Die Höhe der Energiestückkosten ist von wirtschaftlichen Strukturen (energieintensive Branchen oder nicht), dem unterschiedlich effizienten Einsatz von Energie (Effizienz der eingesetzten Technologien und Auslastungsgrad), sowie den Energiepreisen abhängig.
Effizienterer Einsatz
In Sachen Energiepreise kann also zwischen der Europäischen Union und den USA kein großer Unterschied bei der Wettbewerbsfähigkeit beobachtet werden. Vielmehr lässt die Tatsache, dass sich die unterschiedlichen Energiepreise nicht in den Energiestückkosten widerspiegeln, auf einen effizienteren Einsatz des Faktors Energie in Europa schließen.
Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf prominente Beispiele zu werfen, mit denen die Industrie ihre Forderung zu untermauern versucht. Geradezu zum Paradebeispiel wird das neue voest-alpine-Werk in Texas hochgespielt. Rund 550 Mio. Euro sollen dort in den nächsten Jahren investiert werden. Dabei handelt es sich um eine Direktreduktionsanlage zur Umwandlung von Eisenerz-Schwämmen mit rund 67 Prozent Eisengehalt in sogenannte HBI-Pellets mit 91 Prozent Eisengehalt – eine sehr frühe Stufe im Produktionsprozess.
Andere Faktoren
Tatsächlich ist der Gasverbrauch hoch und die Energiekosten spielten bei der Standortentscheidung sicherlich eine wichtige Rolle. Andere Faktoren dürften aber ebenso wichtig gewesen sein, etwa die geringen CO2-Kosten, individuelle Steuererleichterungen, der Hochseezugang oder der kurze Seeweg zum reichhaltigen, brasilianischen Erz.9 Es sind Erfordernisse, die das Binnenland Österreich wohl in Zukunft nur schwer erfüllen wird können. Von Paradebeispiel kann also keine Rede sein.
Energiepreise, speziell die Gaspreise sind in Europa höher als in den USA. Nicht zuletzt aufgrund eines effizienteren Energieeinsatzes ist die durchschnittliche Kostenbelastung für Europas Industrie – trotz deutlich höherer Preise – aber ähnlich hoch wie in den USA. Generell spielen Energiepreise als Kostenfaktor also nur eine untergeordnete Rolle. Zusätzlich dazu gelten in den energieintensiven und wettbewerbsexponierten Bereichen ohnehin Sonderregelungen wie etwa in Bezug auf den CO2-Zertifikate-Handel oder die Finanzierung erneuerbarer Energie. Großzügige, pauschale Ausnahmeregelungen, die beinahe den gesamten Industriesektor erfassen, sind jedenfalls unangebracht. In Einzelfällen sind die geologischen und geografischen Vorteile wirtschaftspolitisch ohnehin schlicht nicht zu kompensieren. Für Europa erscheint es daher naheliegend, sich auf seine Stärken zu konzentrieren, das ist im Bereich der Wirtschaft wie in der Energiepolitik die Innovation. Weitere Schritte in Richtung mehr Energieeffizienz reduzieren die Rohstoffabhängigkeit und senken die Kostenbelastung nachhaltig.
1 Presseaussendung der WKÖ vom 10.12.2013.
2 Presseaussendung der voest alpine vom 13.3.2013.
3 „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 16.1.2014: „Das Fracking-Wunder bleibt aus“ – tinyurl.com/lcyjkel
4 Energy Economic Developments in Europe (1/2014).
5 Industriemagazin (12/2013), S. 12.
6 World Energy Outlook (2013), S. 272.
7 Neuhoff Karsten et al (DIW 2014): „Energie- und Klimapolitik: Europa ist nicht allein"
8 Eigene Berechnungen, Quelle: World Input-Output Database, Kosten für Gas, Elektrizität und Wasser, ohne Energiebranche.
9 „Kurier“ vom 25.4.2014: USA rollen der Industrie den roten Teppich aus.
Blogtipp:
www.blog.arbeit-wirtschaft.at/energiepreise-industrie/
Webtipps:
Online-Dossier des Time Magazine: shalebubble.org
Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: „Energie- und Klimapolitik: Europa ist nicht allein“
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren josef.thoman@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Paradoxe Wende
Bisher ist die Energiewende durch paradoxe Phänomene gekennzeichnet: Je größer der Anteil der erneuerbaren Energien wird, desto stärker fallen die Großhandelspreise an der Strombörse. Gleichzeitig steigen die Strompreise für Privathaushalte. Während Braunkohlekraftwerke rund um die Uhr laufen und Milliardeninvestitionen in Atomkraftwerke geplant sind, werden hocheffiziente Gaskraftwerke abgeschaltet.
Bei zunehmendem Anteil erneuerbarer Energien stößt das bisherige überwiegend fossil-nukleare Stromsystem an seine Grenzen. Das neue System ist gekennzeichnet durch den liberalisierten Energiebinnenmarkt einerseits und stark fluktuierende Energiequellen (vor allem Solar- und Windstrom) andererseits sowie von einer Vielfalt von meist kleinen Erzeugungsanlangen, die keine Versorgungssicherheit bieten können. Eine zentrale Aufgabe zur Stabilisierung des Stromnetzes ist es daher, Stromangebot und -nachfrage zu synchronisieren.
In den nächsten zehn Jahren sind enorme Investitionen in die Energienetze erforderlich. Notwendig ist dies vor allem deshalb, weil die Übertragungs- und Verteilernetze ursprünglich konzipiert wurden, um von Großkraftwerken in nahe gelegene Verbrauchszentren zu liefern. Heute muss nicht nur zusätzlich der Strom aus den vielen kleinen Erzeugungsanlagen ins Stromnetz integriert werden. Ein immer höherer Anteil dieses Stroms wird zudem unregelmäßig produziert und befindet sich weit entfernt von den Verbrauchszentren – wie zum Beispiel die Offshore-Windkraftanlagen in der deutschen Nord- und Ostsee.
Der Ausbau von erneuerbaren Anlagen führt zu einem höheren fluktuierenden Anteil der Energieversorgung, der durch Reservehaltung und Back-up-Erzeugung durch konventionelle Kraftwerke teuer gesichert werden muss. Hier ist ein flexibles Lastmanagement erforderlich, um Erzeugung und Verbrauch anzupassen. Dies setzt ein neues Marktdesign voraus, das die Bereitstellung von klimaverträglichem Strom entsprechend der Nachfrage fördert. Die unreflektierte Förderung sämtlicher erneuerbarer Energien hat zwar eine spektakuläre Zunahme der Produktionskapazitäten bewirkt, gleichzeitig aber zu einer Fehlallokation der Ressourcen geführt. Um die Energiewende zum Erfolg zu führen, ist es daher notwendig, die Kosten des Ausbaus zu begrenzen, ohne die Dynamik der technischen Innovation zu bremsen. Das heißt, die ProduzentInnen von Grünstrom müssen zunehmend Verantwortung und Risiko für dessen Vermarktung übernehmen. Ein System, das über 15 Jahre und mehr feste Erträge garantiert, ohne Verantwortung für die Vermarktung zu übertragen, ist ökonomisch nicht sinnvoll und bei anhaltender Staatsschuldenkrise auch nicht leistbar.
Die beihilfenpolitische Herausforderung ist es daher, den Übergang zu einem flexiblen, kosteneffizienten Strommarkt mit ausreichenden Netzen, Speichern, effizienten Lastmanagementsystemen, regenerativen-Kraftwerken und hocheffizienten Kraft-Wärme-Koppelungsanlagen (KWK) zu organisieren und gleichzeitig die Subventionierung von fossilen Energieträgern und Atomkraft zu verbieten. Es besteht dringender Reformbedarf, um Investitionen in die richtigen Kanäle zu lenken. Dies ist nur auf EU-Ebene möglich.
Die EU-Politik bietet ein zerrissenes Bild, das sich in den neuen Leitlinien zur Förderung von Umweltschutzbeihilfen und Energie1 2014 wiederfindet. Diese stellen ein Menü an Subventionsmaßnahmen für beinahe alle Energieformen zur Verfügung. Außerdem beinhalten sie eine Liste von Ausnahmen für eine Vielzahl von Industriesektoren – von der Herstellung von Lederwaren über Haushalts- und sanitäre Waren bis hin zur Bürsten- und Musikinstrumentenproduktion, die von der Abnahmepflicht für erneuerbare Energien befreit werden können. Das bedeutet: Einerseits müssen in Zukunft die HaushaltskundInnen und ein Teil der kleinen und mittleren Unternehmen weitgehend allein die erneuerbaren Energien finanzieren, während Großverbraucher weiterhin auf fossile Energien setzen können. Andererseits ist ein Subventionswettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten zu erwarten.
Keine Ambition
Die neuen Leitlinien bieten auch sonst keine ambitionierte Ergänzung zur Energiewende. Statt sich so weit wie möglich von wirtschaftlich schädlichen Betriebsbeihilfen zu verabschieden, sind diese weiterhin in großem Umfang zulässig. Dadurch werden auch in Zukunft falsche Marktanreize gesetzt, die zu Fehlinvestitionen führen. Die Zukunft einer kosteneffizienten Förderung erneuerbarer Energien kann nur in einer Anstoßfinanzierung liegen.
Die Bereithaltung von Reserveleistungen wiederum sollte nur in genau definierten Ausnahmefällen und zeitlich beschränkt subventioniert werden. Österreich hat ebenso wie die anderen EU-Mitgliedsstaaten ausreichende Kapazitäten zur Verfügung. Die Preise für Ausgleichsenergie sind 2013 auf 170 Millionen Euro gestiegen – im Vergleich zu 75 Millionen Euro im Jahr 2010. Angesichts dieser Preisstruktur erscheinen Beihilfen nicht gerechtfertigt, hier sind auch ordnungsrechtliche Vorschriften zu überlegen.
Der falsche Weg
Auch die Einbeziehung von Energie-Infrastrukturmaßnahmen – Verteilernetze, grenzüberschreitende Netzzusammenschlüsse etc. – in die neuen Leitlinien ist nicht der richtige Weg. Damit werden die privaten Strom- und Gasunternehmen im weitesten Sinn (Produzenten, Netzbetreiber) aus ihrer Verantwortung für die Schaffung und Aufrechterhaltung geeigneter Infrastrukturen für ihren Geschäftsbetrieb entlassen. Die Kosten hierfür sollen offensichtlich sozialisiert werden, während die Gewinne den Unternehmen zukommen. Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden die EU-weiten Investitionskosten für die Netzerweiterung auf bis zu 104 Milliarden Euro geschätzt. Die Finanzierung dieser Netzwerke (Strom und Gas) zum Nutzen der Stromunternehmen muss daher auch von diesen oder über den Finanzmarkt aufgebracht werden. Nur nebenbei sei bemerkt, dass die Kosten für den Netzausbau ohnehin einem regulatorischen Regime unterliegen und daher über die Netzentgelte abgegolten werden. Auch wäre wichtig gewesen, dass bei der Bewertung der ökonomisch-technischen Machbarkeit von Investitionen in Erneuerbare-Energie-Anlagen der verpflichtende Nachweis eingefordert wird, dass die notwendige Infrastruktur vorhanden ist, um die Einspeisung der gewonnenen erneuerbaren Energie sicherzustellen.
Schließlich hat auch der Emissionszertifikate-Handel bis jetzt die Erwartung nicht erfüllt, dass damit die externen Kosten der Unternehmen internalisiert werden. Im Gegenteil, das System wurde für betrügerische Machenschaften missbraucht und erwies sich als zu komplex, um geeignete Kontrollmechanismen zu etablieren. Darüber hinaus bleiben die Börsenpreise für diese Zertifikate auf derart niedrigem Niveau, dass kein Anreizeffekt von ihnen ausgeht. Skepsis ist daher angebracht, dass andere derartige Zertifikatehandelsregimes geeigneter sind, ordnungspolitische Maßnahmen zu ersetzen, um die Reduktion von CO2-Zertifikaten und das damit verbundene Ziel der CO2-Reduktion der zu erreichen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass zwar der gute Wille vorhanden ist, die Erneuerbare-Energie-Revolution voranzutreiben. Diese steckt jedoch nach mehr als einem Förderjahrzehnt immer noch in ihren Kinderschuhen. Zu groß sind die Begehrlichkeiten der Vermarkter konventioneller Energien, zu bequem ist die Beibehaltung des derzeitigen Systems der Dauersubventionierung für die ProduzentInnen von Ökostrom.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin susanne.wixforth@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Den besten Energiepreis finden
Um den Anbieter zu wechseln oder sich über günstige Energiepreise zu informieren, müssen KonsumentInnen zunächst wissen, welchen Anbieter und welches Produkt sie bisher hatten und wie hoch ihr Strom- und Gasverbrauch ist. Diese Informationen sind auf der Strom- und Gasrechnung ausgewiesen. Über den Tarifkalkulator der E-Control kann man sich das beste Angebot je nach persönlichen Bedürfnissen errechnen. So kann beispielsweise zwischen erneuerbaren und fossilen Energieträgern ausgewählt werden oder zwischen Anbietern mit Preisgarantie oder mit variablen Preisen. Der Tarifkalkulator listet alle Strom- und Gaslieferanten in Österreich auf, deren Angaben durch die E-Control kontrolliert werden. Bei einem Wechsel der Energielieferanten bieten Strom- und Gasunternehmen meist einmalige Rabatte. „Je häufiger die Anbieter gewechselt werden, desto günstiger wird es für KonsumentInnen“, so Kornherr. Wer sich lieber persönlich informiert, kann auf die Energie-Hotline oder auf persönliche Beratungen der E-Control zurückgreifen. Für Martin Graf, Vorstandsmitglied der E-Control, beruhen viele Ängste auf fehlendem Wissen über Möglichkeiten und Rechte von KonsumentInnen. Die Europäische Union hat 2011 die Rechte von EnergiekonsumentInnen durch EU-Richtlinien massiv gestärkt. Sie haben beispielsweise das Recht, bei Preiserhöhungen den Lieferanten zu wechseln oder zu erfahren, aus welchen Energieträgern ihr Strom kommt – also aus fossiler, atomarer oder erneuerbarer Energie. In Österreich werden bereits 34 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen.
Doch das Öko-Mascherl am Strom hat nicht nur Sonnenseiten für KundInnen und den Energiemarkt.„Um die Klima- und Energieziele Europas zu erreichen, ist der Ausbau erneuerbarer Energien wichtig“, betont Herzele von der AK. Gleichzeitig müsse aber das Energiesystem als Ganzes betrachtet werden. Ein nachhaltiges System bedeute auch, dass es marktfähig ist. Zahlreiche Anlagen, die erneuerbare Energie erzeugen, überleben nur dank der Förderungen. Martin Graf spricht vom „Deckmantel der Ökologie“. War das Energiesystem früher vor allem von zentralen, thermohydraulischen Großanlagen wie Wärme- oder Wasserkraftwerken geprägt, gibt es nun etliche kleine und dezentrale Anlagen.
„Prosumers“
Die Förderungen von Ökostrom haben aus KonsumentInnen „Prosumers“ (ProduzentInnen und KonsumentInnen) gemacht, vor allem bei der Gewinnung von Strom aus Sonnenkraft, also Photovoltaik. Dabei handle es sich meist um Personen mit höherem Einkommen, die sich mithilfe staatlicher Förderungen Anlagen zur Stromgewinnung leisten. Die Zusatzkosten, die dadurch entstehen, zahlen vor allem die privaten Haushalte. Denn zum Teil wird über Photovoltaikanlagen zur Mittagszeit mehr Strom erzeugt und ins öffentliche Stromnetz eingespeist, als verbraucht wird. Strom lässt sich aber nicht speichern, weshalb mit Ausgleichsenergie gegengesteuert werden muss, um das System stabil zu halten. Das kommt teuer. Eine positive Errungenschaft: Für einkommensschwache Haushalte ist der Ökoförderbeitrag mit 20 Euro jährlich gedeckelt – analog den Kriterien zur GIS-Befreiung.
Da der Energieverbrauch europäischer Haushalte entgegen der politischen Ziele stetig steigt, setzt die EU vermehrt auf Technikeinsatz. Die EU-27 haben beschlossen, bis zum Jahr 2020 80 Prozent der europäischen Haushalte mit intelligenten Messgeräten, den sogenannten „Smart Metern“, auszustatten. Österreich möchte schon 2019 95 Prozent der Haushalte mit Smart Metern ausgestattet wissen. Alle 15 Minuten sollen die Energieverbrauchsdaten gemessen und an die Versorgungsunternehmen weitergeleitet werden. Mit diesen Informationen können Stromanbieter zielgruppenspezifische Tarife anbieten, zum Beispiel günstigere Preise außerhalb der Spitzenzeiten. Doch nicht alle Menschen sind zeitvariabel und können ihren Alltag an günstigere Stromtarife anpassen. Zudem haben zahlreiche AkteurInnen datenschutzrechtliche Bedenken geäußert. Für Andreas Krisch, Mitglied des Datenschutz-Rats, sind Smart Meter schon lange Thema. Er kritisiert ebenso wie AK und VKI den Zwang zur Einführung und weist vehement auf möglichen Datenmissbrauch hin. Krisch: „Die Daten sind sehr aussagekräftig. Sie können Aufschlüsse über das Kochverhalten, die Warmwassernutzung und die Art der verwendeten Elektrogeräte geben.“ Laut Krisch ist Österreich noch nicht auf diese Umstellung vorbereitet. In Oberösterreich laufen zwar bereits Pilotprojekte, die Messgeräte sind jedoch nicht standardisiert und es fehle laut Krisch an technischen Vorgaben und entsprechender Datensicherheit. KonsumentInnen haben aufgrund der datenschutzrechtlichen Bedenken das Recht auf Opt-out, eine Ausstiegsoption, bekommen. Sie können also „Nein“ zu den Smart Metern sagen – eine für DatenschutzrechtlerInnen positive Entwicklung. Krisch wünscht sich aber noch Nachbesserungen. So ist unklar, wie sich das Opt-out tatsächlich auswirkt. Bleiben dann die herkömmlichen Messgeräte bestehen oder werden Smart Meter mit eingeschränkter Nutzung installiert? Fest steht, dass KonsumentInnen zunehmend zu aktiven und bewussten VerbraucherInnen werden, die den Wettbewerb ankurbeln und günstigere Strompreise erzielen können. Derzeit wird an vielen Schrauben gleichzeitig gedreht, um Energiekonsum und EnergiekonsumentInnen anzunähern. Welche Entwicklungen dadurch in Gang gesetzt werden, ist schwer prognostizierbar.
Mehr Infos im Web:
AK Energiepreismonitoring (Juli 2014)
tinyurl.com/pt9qr8e
Aktion „Energiekosten-Stop“ des VKI
www.energiekosten-stop.at
Tarifkalkulator der E-Control
www.e-control.at/haushalts-tarifkalkulator
Zertifizierter Strom aus 100 % erneuerbaren Energieträgern
tinyurl.com/nqjrnvl
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin steindlirene@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Sicher und störungsfrei
Grundsätzlich gilt, dass die Strom- und Gasversorgung rund um die Uhr nur dann sicher und störungsfrei ist, wenn stets ausreichende und angemessene Kapazitäten für die Erzeugung und Verteilung zur Verfügung stehen. Eine kurzfristig wie langfristig zuverlässige und stabile Strom- und Gasversorgung zeichnet sich durch zwei Elemente aus: Einerseits müssen genug wetterunabhängige Kraftwerkskapazitäten zur Verfügung stehen, andererseits braucht es ein leistungsstarkes und „intelligentes“ Strom- und Gasnetz. Eine sinnvolle Strategie muss zudem berücksichtigen, dass konventionelle Kraftwerke bei der Stabilität des Stromnetzes weiterhin eine wichtige Rolle spielen können. Diese können nämlich jederzeit zuverlässig und flexibel Strom erzeugen.
Was die Sicherheit der Strom- und Gasversorgung betrifft, steht Österreich im internationalen Vergleich gut da. Um die Versorgungssicherheit auch in Zukunft gewährleisten und noch weiter steigern zu können, wird diese kontinuierlich von der Energie-Control (E-Control) überwacht. Sie beobachtet das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Strom und Gas auf dem heimischen Markt, die in Planung und Bau befindlichen Kapazitäten sowie die Maßnahmen zur Abfederung von Nachfragespitzen, die etwa ein kalter Wintertag auslösen kann. Sie erstellt Prognosen zur Entwicklung der Nachfrage und setzt diese in Verhältnis zum verfügbaren Angebot an Kraftwerksleistung. Und sie erhebt die Qualität und Wartung der heimischen Strom- und Gasnetze sowie die geplanten Netzausbau- und Modernisierungsmaßnahmen in einem regelmäßig aktualisierten Netzentwicklungsplan.
Diese Erhebungen zeigen, dass Österreich gut versorgt ist und allfällige, kurzfristig auftretende Stromausfälle vor allem durch das Wetter verursacht werden, sei es Regen, Schnee, Sturm oder Gewitter. Auch langfristig ist der heimische Strom- und Gasmarkt gut aufgestellt: Obwohl zuletzt mehrere unrentable, fossile Kraftwerke stillgelegt wurden, sind in Österreich bis zum Jahr 2025 keine Versorgungsprobleme zu erwarten – eine Einschätzung, die im Übrigen auch von der Vereinigung der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E geteilt wird.
Förderung für Kapazitäten?
Kapazitätsmärkte: So heißt ein anderes Schlagwort, das vor allem von Energieunternehmen vorangetrieben wird. Ihr Wunsch ist es, für die bloße Bereitstellung von Kraftwerksleistung vergütet zu werden – und zwar unabhängig davon, ob der Bau eines neuen Kraftwerks überhaupt wirtschaftlich sinnvoll gewesen wäre … Schon seit der Liberalisierung der Strommärkte in Europa wird darüber diskutiert, ob Stromerzeuger allein durch den Verkauf von Strom am Großhandelsmarkt (dem sogenannten Spotmarkt) ihre Investitionskosten decken können (wie derzeit in Österreich üblich) oder ob nicht zusätzliche Zahlungen für die Bereitstellung von Kapazitäten benötigt werden.
Eine solche zusätzliche Vergütung würde allerdings einen erheblichen Eingriff in das derzeit gültige Marktdesign bedeuten und den Markt somit grundlegend verändern. Vielfach steckt hinter der Forderung lediglich der Wunsch nach Refinanzierung von entstandenen Investitionskosten für unrentable Kraftwerke. Dies ist aus mehreren Gründen abzulehnen: Die faktische Irreversibilität, die Vergütung hätte tendenziell negative Auswirkungen auf Kosten, Investitionen und Flexibilitätsoptionen; nicht zuletzt würden damit etablierte, effiziente und länderübergreifende Marktmechanismen zur Vermeidung von regionalen Engpässen außer Kraft gesetzt. Zudem erscheint es angesichts der Anstrengungen zur Schaffung eines gemeinsamen EU-Binnenmarktes kontraproduktiv, einzelstaatliche Erzeugungsmärkte zu schaffen.
Sinnvoll erscheint vielmehr eine andere Strategie, und zwar eine kurzfristige Absicherung der Versorgungssicherheit zu schaffen. Als Vorbild könnte die deutsche Reservekraftwerksverordnung dienen. Diese verpflichtet Kraftwerksbetreiber dazu, eine geplante Stilllegung von Kraftwerken bestimmten Behörden anzuzeigen, in Österreich könnten diese Funktion die Energie-Control und der Übertragungsnetzbetreiber, Austrian Power Grid AG, übernehmen. Um regionale Engpässe zu vermeiden, sollte bei systemrelevanten Kraftwerken die Möglichkeit geschaffen werden, diese gegen eine angemessene Kostenerstattung in Betrieb zu halten.
Auch im Gasbereich ist Österreich in einer komfortablen Position. Es hat im internationalen Vergleich sehr große Speicherkapazitäten, die sogar mehr als den Jahresverbrauch decken. Aus den Gaskrisen 2006 und 2009 wurden sowohl auf heimischer als auch europäischer Ebene zahlreiche Lehren gezogen und entsprechende Verbesserungen durchgeführt. So wurden beispielsweise grenzüberschreitende Krisenvorsorgemechanismen weiterentwickelt, zusätzliche Speicherkapazitäten aufgebaut und Transportnetze flexibilisiert. Aufgrund dieser Maßnahmen sowie der aktuellen Preisentwicklung von Gas auf internationalen Handelsplätzen, die auch trotz des derzeitigen Konfliktes in der Ukraine keine Knappheitssignale zeigen, ist weiterhin eine gewohnt zuverlässig hohe Versorgungssicherheit im Gasbereich gegeben.
Dennoch gilt es, auch in Zukunft Maßnahmen zur stärkeren Vernetzung des europäischen Strom- und Gasnetzes voranzutreiben und Back-up-Mechanismen zur Sicherung der heimischen Energieversorgung aufzubauen. Auf europäischer Ebene wurden dazu 248 sogenannte transeuropäische Projekte gemeinsamen Interesses (PCI) identifiziert, die in weiterer Folge von speziellen Förderungen und schnelleren Genehmigungsverfahren profitieren. Zudem stehen mit günstigen großvolumigen und langfristigen Investitionsdarlehen der Europäischen Investitionsbank (EIB) auch zusätzliche Finanzierungsmittel zur Verfügung, um dringend notwendige Aus- und Neubaumaßnahmen in der Energieinfrastruktur umzusetzen. Angesichts eines Investitionsvolumens von knapp 8,7 Milliarden Euro in Österreich bis zum Jahr 2020 gilt es – wie auch im aktuellen Regierungsprogramm vorgesehen –, günstige europäische Finanzierungsmittel zu nutzen und so die Kostenbelastungen für heimische Strom- und GaskundInnen zu minimieren. Denn je niedriger die Kosten für den Finanzierungsaufwand, desto geringer sind auch die Netztarife, die von jedem/jeder VerbraucherIn zu bezahlen sind. Ein günstiger Netzausbau schont mit einem Wort die Geldbörse der EnergiekonsumentInnen.
Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Situation gilt es auch, die konjunkturstimulierende Wirkung von Investitionen in die Energieinfrastruktur hervorzuheben. So wurden in der Steiermark und im Burgenland durch den 150 Millionen Euro teuren Bau der 380-kV-Steiermark-Leitung zusätzliche regionale Wertschöpfungseffekte von 55 Millionen Euro erzielt. Durch das Vorziehen von in den nächsten Jahren ohnehin notwendigen Erneuerungs- und Ausbaumaßnahmen könnten nach Berechnungen der Energie-Control rund 65.000 Vollzeitarbeitsplätze vor allem in der Elektronikbranche und der Bauwirtschaft geschaffen werden. Zusätzlich geschaffene Wertschöpfungseffekte würden knapp 5,4 Milliarden Euro betragen und zu einem Großteil den jeweiligen Regionen zugutekommen.
Mehr Infos im Web:
www.e-control.at/de/home
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor martin.graf@e-control.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Österreichischer Nachkriegskonsens
In Österreich einigte sich die Politik daher bereits im Jahr 1947 darauf, dass die Stromversorgung – de facto auch die Gasversorgung – im öffentlichen Eigentum liegen soll. Damals wurde das öffentliche Eigentum am Verbund und den neun Landesstromversorgern verfassungsrechtlich abgesichert (2. Verstaatlichungsgesetz). Gleichzeitig wurde auch die Struktur der österreichischen Stromwirtschaft mit dem Gesetz festgeschrieben: die Verbundgesellschaft mit bundesweiten Aufgaben und neun Landesgesellschaften für die Versorgung der Bundesländer. Diese Struktur besteht im Wesentlichen bis heute.
In den 1980er-Jahren begann in den Industriestaaten eine Phase der Privatisierung und Liberalisierung des Energiesektors. So erfolgte auch in Österreich die bisher größte Zäsur des verfassungsrechtlichen Nachkriegskonsenses der öffentlichen Stromwirtschaft. Der politische Wunsch nach einer Teilprivatisierung des Verbunds wurde zum Anlassfall für die Novelle des 2. Verstaatlichungsgesetzes im Jahr 1987. Seitdem ist nur noch ein Mehrheitseigentum an Verbund und Co verfassungsrechtlich verankert: Mindestens 51 Prozent des Verbunds müssen im Eigentum des Bundes stehen, bei den Landesgesellschaften müssen mindestens 51 Prozent direkt oder indirekt von Gebietskörperschaften gehalten werden.
Stromversorger heute
Bereits im Jahr 1988 wurde der Verbund im Zuge eines Börsengangs zu 49 Prozent „privatisiert“. Dieser privatisierte Anteil befindet sich derzeit im Eigentum der EVN und Wien Energie (gemeinsam 25 Prozent), Tiwag (ca. 5 Prozent) und in Streubesitz (ca. 20 Prozent). Von den Landes-Energieversorgern stehen nur noch die Wien Energie und die Tiroler Tiwag zu hundert Prozent im öffentlichen Eigentum. Bei den anderen Landes-Energieversorgern wurden Teilprivatisierungen in mehr oder weniger großem Umfang und mit unterschiedlichen Beteiligungsstrukturen durchgeführt. Stark ausgeprägt sind dabei Querbeteiligungen der Landesversorger untereinander. Das heißt, die sogenannten Privatisierungen waren zum Großteil lediglich Veräußerungen an andere öffentliche Energieversorger.
Die größten „echten“ Privatbeteiligungen bei Landesversorgern gibt es derzeit in Oberösterreich, Niederösterreich, in der Steiermark und in Kärnten. Bei der oberösterreichischen Energie AG hält die Raiffeisenlandesbank Oberösterreich rund 14 Prozent der Anteile, rund 10 Prozent befinden sich in Streubesitz. Bei der niederösterreichischen EVN sind 16,5 Prozent in privatem Streubesitz, rund ein Drittel der Anteile hält der deutsche Energieriese EnBW. Dieser befindet sich zwar im öffentlichen Eigentum, ist aber wohl eher an Renditen als an einem „Stakeholder-Value“ der EVN interessiert. Ebenso verhält es sich bei der Beteiligung (25 Prozent plus eine Aktie) des französischen Staatskonzerns EdF an der Energie Steiermark. Und auch bei der Kärntner Kelag hat sich ein europäischer Energieriese eingekauft: die mehrheitlich in Privateigentum stehende deutsche RWE, die circa 13 Prozent der Kelag-Anteile direkt hält und auch noch mit 49 Prozent an der Kärntner Energieholding beteiligt ist, die wiederum 51 Prozent der Kelag-Anteile hält.
Dass auch der Verbund zu einem kleinen Teil (ca. 20 Prozent) in privater Hand ist, scheint für den Verbund-CEO Wolfgang Anzengruber Grund genug zu sein, um eine öffentliche Verantwortung seines Unternehmens in Abrede zu stellen: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Versorgungssicherheit in ganz Österreich zu garantieren. Der Verbund wird betriebswirtschaftlich geführt und ist keine Non-Profit-Organisation“ („Wirtschaftsblatt“ vom 12. August 2014). Dies ist eine bemerkenswerte Aussage für ein Unternehmen, das zu 51 Prozent im Eigentum der Republik steht und gleichzeitig das österreichische Übertragungsnetz sein Eigen nennt.
Energiewende wohin?
Die Rücksichtnahme der öffentlichen Stromversorger auf das gesamtgesellschaftliche Interesse wird nicht allein durch das unternehmerische Selbstverständnis von Vorständen untergraben. Auch wenn der Ökostrom-Anteil in Österreich verhältnismäßig klein ist, ändern sich durch seinen forcierten Ausbau die Strukturen in der Stromerzeugung. Die großen öffentlichen Unternehmen verlieren Stromerzeugungs-Anteile an eine Vielzahl neuer ÖkostromproduzentInnen. BefürworterInnen dieser Entwicklung sprechen hier gerne von einer „Energiewende von unten“ oder einem „Siegeszug der Bürgerenergie“. Dabei gehen sie davon aus, dass durch die dezentralen Erzeugungsstrukturen eine ebenso dezentrale EigentümerInnenstruktur entsteht. Geprägt ist die EigentümerInnenstruktur demnach von einer Vielzahl an Privatpersonen und -initiativen.
Stimmt dieses Bild tatsächlich? Eins gleich vorweg: Belastbares Zahlenmaterial dazu gibt es in Österreich nicht. Bei der Photovoltaik sagt der Hausverstand, dass es in erster Linie BesitzerInnen von Einfamilienhäusern, die Landwirtschaft und Gewerbebetriebe sind, die am Ausbau-Boom teilnehmen. Und auch jene Menschen, die sich an einer BürgerInnen-Solaranlage beteiligen. Bei Biogas- und Biomasseanlagen sowie Kleinwasserkraftwerken liegt der Verdacht nahe, dass primär land- und forstwirtschaftliche Betriebe die Anlagen betreiben. Einzig bei der Windkraft liegen Daten zur EigentümerInnen-Struktur vor. Laut IG Wind – der Interessengemeinschaft der Windkraftbetreiber – finden sich lediglich die Energie Burgenland, die EVN und der Verbund als öffentliche Stromversorger unter den zehn größten Anlagenbetreibern. Diese drei Stromversorger verfügen über knapp 37 Prozent der gesamten Windkraftleistung in Österreich. Die sieben übrigen großen Betreiber sind private Windkraftunternehmen. Sie verfügen über rund 53 Prozent der installierten Windkraftleistung in Österreich.
Im Gegensatz zu Österreich liegen aus Deutschland Zahlen zur EigentümerInnenstruktur von Ökostrom-Anlagen vor. Laut Analyse von Trendresearch – einem deutschen Marktforschungsunternehmen – standen im Jahr 2012 rund 35 Prozent der Ökostrom-Anlagen im Besitz von Privatpersonen (gemessen an der gesamten installierten Leistung). Das Gewerbe hatte einen Anteil von rund 14 Prozent, Landwirte 11 Prozent, Fonds/Banken knapp 13 Prozent. Die absolute Überraschung bei diesen Zahlen: Energieversorgungsunternehmen haben laut Trendresearch-Auswertung nur einen Anteil von knapp 12 Prozent. Interessant ist, dass bei den Anlagen, die im Jahr 2012 neu gebaut wurden, der Anteil der Privatpersonen auf 17 Prozent schrumpft. Der Anteil des Gewerbes bei den Neuanlagen steigt hingegen deutlich, nämlich auf knapp ein Drittel. Und auch Fonds/Banken mischen bei Neuanlagen mit 16 Prozent stärker mit.
Aufgrund der (privaten) EigentümerInnenstruktur bei Ökostrom-Anlagen muss davon ausgegangen werden, dass primär erwerbswirtschaftliche Interessen – also Renditeerwartungen – die Unternehmensstrategien prägen. Diese These bestätigte denn auch Andreas Dangl, Chef eines der größten privaten Windkraftunternehmen in Österreich (WEB). Im Wirtschaftsmagazin „Trend“ (März 2013) erklärte er: „Es ist eine angenehme Art, Geld zu verdienen. Immerhin sind unsere Umsätze staatlich garantiert.“
Mehr Infos im Web:
Studie von Barbara Hauenschild, Susanne Halmer: Rekommunalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU, ÖGPP, Wien; März 2014
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor dominik.pezenka@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
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]]>Riskantes Unterfangen
Angesichts dieser aktuellen technologischen Revolution erscheint es riskant, sich den Alltag in mehr als dreißig Jahren vorzustellen. Für einen prägenden Bereich unseres Lebens, nämlich den Umgang mit Energie, sind die Konturen dieser Zukunft aber immer deutlicher zu sehen. Diese Zukunft in 2050 lässt den aktuellen Zustand unseres Energiesystems von 2014 genauso unzureichend erscheinen, wie wir heute Mobiltelefone der frühen 1980er-Jahre empfinden. Überraschenderweise ist die sichtbare Praxis beim Umgang mit Energie aber, dass Lieferanten von Energie im Blick auf die Vergangenheit eine erwünschte Zukunft sehen. Gerade im Energiebereich werden Verantwortungen auch in der Politik gerne abgewälzt, beispielsweise auf die EU oder gar Russland. Deshalb hier eine Einladung, der Energiezukunft mit einem Blick nach vorne entgegenzusehen.
Aus der Sicht des Jahres 2050 wird das derzeitige Mobilitätssystem unverständlich sein. Vier von fünf Energieeinheiten gehen in den Verbrennungsmotoren durch Abfallwärme verloren. Ein privat genutztes Auto mit 12.000 gefahrenen Jahreskilometern ist nur zu zwei Prozent der 8.760 Jahresstunden in Bewegung. Somit sollte man vielleicht besser von Stehzeugen oder bewegten Öfen reden.
Mit hoher Sicherheit wird die Zukunft der Mobilität vollelektrisch sein. Die Rennfahrzeuge der Formel E loten mit Leichtbauweise und vollelektrischem Antrieb die technischen Potenziale aus. Unterstützt wird diese technische Entwicklung durch eine neue Generation von elektrischen Speichern, die ähnliche Qualitätsverbesserungen und Kostenreduktionen wie die Photovoltaik erwarten lassen.
Der nächste Technologiesprung wird in den nächsten zehn Jahren bei der Selbststeuerung der Straßenfahrzeuge sichtbar werden. Was schon jetzt die Roboterrasenmäher gut demonstrieren, die man inzwischen sogar bei Lebensmitteldiskontern gelegentlich kaufen kann, hat Google mit seiner Testflotte an selbststeuernden Autos über Hunderttausende von Kilometern überzeugend bewiesen: nämlich die Fähigkeit, Straßenfahrzeuge wirklich „auto“ im Sinne von „selbstständig“ mobil zu machen. Damit ist die absehbare Evolution des jetzigen Verkehrs zu Mobilität noch nicht ausreichend beschrieben. Schon jetzt werden Geschäftsmodelle sichtbar, die Autos nicht mehr verkaufen, sondern nur deren Dienstleistungen, nämlich den Transport von A nach B, anbieten. Damit werden aus den Stehzeugen wieder Fahrzeuge im eigentlichen Sinn.
Mit diesen schon jetzt gut abschätzbaren Technologiesprüngen sollten bis 2050 alle nur vorstellbaren Mobilitätsdienstleistungen für Personen und Güter leicht mit einem Zehntel des derzeitigen Energieaufwandes bewältigbar sein.
2226-Haus
Ein prominentes Architekturbüro in Vorarlberg hat sich mit einem sechsstöckigen Bürogebäude eine Orientierung für die Zukunft des Bauens gesetzt. Das sogenannte 2226-Haus schafft ohne ein Heiz- oder Kühlsystem durchgehend über das Jahr eine behagliche Raumtemperatur zwischen 22 und 26 Grad Celsius. Den Temperaturausgleich schaffen die massiven Böden und die doppelschaligen Ziegelwände. Durch den Entfall von aufwendiger Gebäudetechnik sind die Investitionskosten dieses Gebäudes niedriger als bei konventionellen Bürobauten.
Gebäude werden im nächsten Technologieschritt als Infrastruktur für aktive Energiesysteme entdeckt, vor allem durch die Integration von Photovoltaik in die Gebäudehülle. Somit schaffen diese neuen Bautechnologien die Evolution von Niedrig- zu Null- und schließlich zu Plusenergiehäusern.
Wohnen und Arbeiten
In traditionellen Wohngebäuden werden wir in den nächsten Jahren immer mehr jene Tätigkeiten ausüben, die wir jetzt unter Berufsarbeit einstufen. Die Veränderungen in der Arbeitswelt werden immer weniger gemeinsame Anwesenheit in sogenannten Firmenräumen erfordern. Schon jetzt offerieren namhafte österreichische Unternehmungen ihren MitarbeiterInnen „Teleworking“, also die Möglichkeit, tageweise zu Hause zu arbeiten.
Die genannten Optionen für ein innovatives Bauen können gar nicht schnell genug wahrgenommen werden, weil sie Folgen über viele Jahrzehnte haben. Auch bei den in Gebäuden zu erbringenden Energiediensten ist mit einem Produktivitätspotenzial um den Faktor zehn zu rechnen.
Aus mehreren Gründen wird in der Sachgüterproduktion eine dritte industrielle Revolution erwartet. Eine neue Generation von Produktionsmaschinen wird fast alle mechanischen Arbeitsvorgänge übernehmen können. Der Einsatz dieser Maschinen reicht von der Montage von Autos bis zur Montage von Smartphones und macht es möglich, Produktionsvorgänge aus den einstigen Billiglohnländern wieder in die alten Industriegebiete zurückzubringen.
3-D-Printing im Alltag
Radikal neue Produktionstechniken öffnen sich unter der Bezeichnung von 3-D-Printing oder additiver Produktion, weil damit – ähnlich einem Tintenstrahldrucker – dreidimensionale Strukturen entstehen. Diese Technologien produzieren schon heute Ersatzteile für Armeen in Kriegsgebieten, ganze Gebäude, aber auch Implantate für den menschlichen Körper. Es gibt Überlegungen, dass diese Technologie künftig Produktionsvorgänge in Haushalten genauso selbstverständlich macht wie heute das Erstellen von schriftlichen Dokumenten mit Tintenstrahldruckern. Diese neuen Produktionstechnologien werden ergänzt durch neue Werkstoffe, beispielsweise Kunststoffe, die auf der Basis von biogenen Rohstoffen erstellt werden. Diese neuen Werkstoffe könnten deutlich den Bedarf an Stahl und Aluminium reduzieren.
Überlegungen über die Zukunft der Sachgüterproduktion sind noch relativ ungesichert. Eine dritte industrielle Revolution könnte aber auch in diesem Bereich Technologiebrüche auslösen.
Nach diesen im besten Sinne aufregenden Perspektiven stellen sich folgende Fragen: Wie viel Energie wird in dieser skizzierten Zukunft erforderlich sein? Und woher soll diese kommen? Die Antwort darauf ist in der Kürze sicher unbefriedigend, aber durch vielfältige Technologieabschätzungen fundiert: Mit weniger als der Hälfte der jetzigen Energiemengen sollte eine gute Zukunft in einem Land wie Österreich leicht bewältigbar sein. Schon die jetzigen Mengen an erneuerbaren Energien würden dann mehr als zwei Drittel des Energiebedarfs abdecken. Elektrizität wird zum wichtigsten Energieträger und sollte weitgehend aus erneuerbaren Quellen erzeugbar sein.
Was diese großen Veränderungen im Umgang mit Energie für unseren Wirtschafts- und Lebensstil noch an Überlegungen braucht, erfordert ein gemeinsames Nachdenken von jedem und jeder von uns bis zu den Spitzen der Unternehmungen und der Politik. Hilfreich erscheint folgendes Zitat von Albert Einstein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Und für alle, die die vorliegenden Überlegungen für utopisch halten, nochmals Einstein: „Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorneherein ausgeschlossen erscheint.“
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor stefan.schleicher@uni-graz.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Krisen
Zwei Vorgänge machen allerdings deutlich, dass diese Entwicklung nicht für immer so weitergehen kann. Zum einen zeigte die Ölkrise 1973, dass die wachsende Abhängigkeit von Erdöl zu geopolitischen Gefahren führen und ein sparsamer Umgang mit der Ressource Erdöl Vorteile haben kann. Zum anderen verdichteten sich in den 1980er-Jahren die Hinweise, dass die steigenden CO2-Emissionen eine Erwärmung des Klimas bewirken und damit eine Gefahr für Landwirtschaft, Wetter und Meeresspiegel darstellen. Letzteres wird derzeit als drängendere Gefahr angesehen, was die EU dazu veranlasst hat, ein ambitioniertes System der Beschränkung des Ausstoßes von Treibhausgasemissionen aus großen Industrieanlagen und Kraftwerken ins Leben zu rufen: den EU-Emissionshandel, nach dem englischen Begriff „Emission Trading System“ häufig als ETS abgekürzt.
„Cap and Trade“
Jedes Emissionshandelssystem weist zwei zentrale Bestandteile auf: Erstens wird ein zulässiger Schadstoffausstoß für jedes teilnehmende Unternehmen festgelegt; zweitens erhalten die teilnehmenden Unternehmen die Möglichkeit, das Emissionsrecht bei Unterschreitung dieser Menge an andere zu verkaufen bzw. es bei Überschreitung von anderen zu kaufen. Ein solches System wird mit den englischen Begriffen kurz „Cap and Trade“-System genannt. Im optimalen Fall, so die ökonomische Theorie, führt dies dazu, dass die Reduktion der Treibhausgasemissionen mit dem geringstmöglichen Kostenaufwand geschieht.
Die EU war im Jahr 2005 der erste Wirtschaftsraum weltweit, der ein System des Emissionshandels für Treibhausgase einführte. Die Teilnahme ist für große Industrieanlagen und für kalorische Kraftwerke verpflichtend. Bis 2012 legten die Mitgliedsstaaten die Gesamtmenge an zulässigen Emissionen fest, seit 2013 erfolgt dies auf EU-Ebene. Im Rahmen des Klima- und Energiepakets für 2020 wurde vereinbart, dass die Emissionen der ETS-Betriebe im Jahr 2020 um 20 Prozent geringer sein sollen als 2005. Die Reduktion soll schrittweise erfolgen: In der Periode zwischen 2013 und 2020 soll die Menge der gesamten Emissionen jedes Jahr um 1,74 Prozent verringert werden. Als die EU-Kommission dies 2008 vorschlug, rechnete sie mit einem Anstieg des Preises für eine Tonne CO2 auf 30 bis 40 Euro bis 2020. Inzwischen hat die Wirtschaftskrise zu einem Überangebot an Zertifikaten geführt. Ihr Preis ist folglich verfallen und liegt derzeit bei etwa sechs Euro pro Tonne CO2, ohne Aussicht auf Erholung bis 2020. Dadurch lohnen sich weder Forschung und Entwicklung noch Investitionen in Maßnahmen zur Verringerung der CO2-Emissionen.
Die Kostenbelastung durch den Emissionshandel kann grundsätzlich für jene Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil darstellen, die mit Produzenten aus Drittstaaten konkurrieren, die keine derartige Kostenbelastung tragen müssen. Der Schlüsselbegriff lautet hier „Carbon Leakage“. Dies bezeichnet die Verlagerung von Produktionsbetrieben aus einem Staat, in dem CO2-Emissionen mit Kosten verbunden sind, in einen Staat, in dem keine oder geringere CO2-Kosten anfallen. UnternehmensvertreterInnen argumentieren, dass die zu erwartenden hohen CO2-Kosten in der EU die Industrie aus Europa vertreiben würden. Sie haben erreicht, dass den Betrieben die Grundausstattung mit Zertifikaten in fast allen Produktionssparten kostenlos zugeteilt wird.
Allerdings ist umstritten, ob „Carbon Leakage“ tatsächlich eine Gefahr darstellt. Die Gründe für Unternehmensverlagerungen systematisch zu identifizieren ist schwierig. Grundsätzlich siedeln sich private Unternehmen dort an, wo die Profiterwartung am höchsten ist. Produktionsunternehmen, die umfangreiche Teile ihrer Assets in Anlageninvestitionen gebunden haben, können freilich nicht rasch auf veränderte Profiterwartungen reagieren. Wesentlichste Faktoren für Unternehmensverlagerungen auf der Kostenseite sind Arbeitskosten, Energiekosten und Steuern. Daneben spielen die physische Nähe zu Rohstoffen bzw. Vorprodukten sowie die Nähe zum Absatzmarkt eine Rolle, aber auch die Qualität der Infrastruktur, beispielsweise für Energie oder Transport. Weiters spielt für die Profiterwartung auch ein stabiles regulatorisches Umfeld eine wichtige Rolle. Alle diese Faktoren sind schon seit Langem wirksam und führen zu strukturellen Veränderungen im Wirtschaftsgefüge in den letzten Jahrzehnten: So wächst etwa in Österreich der tertiäre Sektor stärker als der primäre und teilweise auch als der sekundäre; die Produktion verlagert sich von der Grundstoffindustrie hin zur weiterverarbeitenden Industrie; die wissensbasierte Produktion gewinnt an Bedeutung. Die Kostenbelastung durch CO2-Zertifikate kommt also zu diesen Veränderungen noch dazu.
In den meisten Fällen werden sich die Kosten für die Zertifikate wie ein Zuschlag auf die Energiekosten auswirken. Je wichtiger Energie als Produktionsfaktor und je höher damit auch die Zertifikatskosten für ein Unternehmen sind, desto größer ist ihre Bedeutung als Standortfaktor. Eine Untersuchung für Deutschland hat gezeigt, dass jene Sektoren, deren Energiekosten mehr als sechs Prozent ihres Umsatzes ausmachen, einen Anteil von 1,5 Prozent an der gesamten Wertschöpfung haben. Bezogen auf die Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes ist das ein Anteil von acht Prozent. Auch wenn ihr Anteil also nicht sehr groß ist, wäre eine Abwanderung dieser Unternehmen für die Wirtschaft tatsächlich eine Gefahr – und das in Zeiten, in denen mit den Industrialisierungszielen der EU wieder eine Besinnung auf die Bedeutung der Realwirtschaft zu beobachten ist.
Sonderposition
Anders ist die Situation bei den Energieversorgern. Während Produktionsunternehmen ihren Standort grundsätzlich verlagern können, gilt dies für Energieversorger wegen ihrer nötigen Nähe zu den EndverbraucherInnen nicht. Sie müssen daher nicht vor „Carbon Leakage“ geschützt werden. Die Politik hat darauf reagiert, seit 2013 werden Energieversorgern keine Zertifikate mehr gratis zugeteilt. Da diese Unternehmen ihre Zertifikatskosten großteils auf die EnergieverbraucherInnen überwälzen können, ist für sie der Anreiz, auf erneuerbare Energieträger umzustellen, recht gering.
Ob im produzierenden Bereich „Carbon Leakage“ wirklich stattfindet, ist Gegenstand einiger wissenschaftlicher Untersuchungen. Sie haben alle gezeigt, dass bislang kein Unternehmen aufgrund der unterschiedlichen CO2-Preise seinen Standort verlagert hat. Eine Schlussfolgerung kann sein, dass die Gratiszuteilung der Zertifikate einen wirksamen Schutz dagegen darstellt. Es kann aber auch sein, dass die Gefahr übertrieben wurde. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Für energieintensive Produktionsunternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, dürfte bei einem wesentlichen Anstieg des CO2-Preises – der wohl erst deutlich nach 2020 zu erwarten ist – ein Schutz vor „Carbon Leakage“ zweckmäßig sein, wenn andere Wirtschaftsräume keine vergleichbaren Maßnahmen zum Klimaschutz setzen. Dies ist einer der Gründe, warum die EU mit Nachdruck auf einen internationalen Klimaschutzvertrag drängt, der bei der Klimakonferenz in Paris 2015 abgeschlossen werden soll.
Mehr Infos im Web:
Karsten Neuhoff, William Acworth, Antoine Dechezleprêtre, Oliver Sartor, Misato Sato und Anne Schopp: Energie- und Klimapolitik: Europa ist nicht allein. DIW Wochenbericht 6/2014. Berlin 2014
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christoph.streissler@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Europa zentral für Gazprom
Der Anteil von Erdöl am Primärenergieaufkommen der EU ist seit Jahren rückläufig. Der Gasanteil bewegt sich im Vergleich der letzten Jahre zwischen 23 und 25 Prozent. Der Anteil der Kohle wiederum ist durch den Einsatz billiger Kohle aus den USA in den letzten Jahren wieder leicht gestiegen.
Die EU hat 2013 431,8 Milliarden m3 Erdgas konsumiert – noch immer deutlich weniger als vor der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008. Die eigene Gasproduktion ist seit vielen Jahren stark rückläufig, vor allem wegen der seit 2000 stark zurückgehenden britischen Gasförderung. Bei Gas ist die EU zu 70 Prozent auf Importe angewiesen. Diese Importabhängigkeit steigt schon seit vielen Jahren und wird sich in den kommenden Jahrzehnten weiter deutlich erhöhen.
Russland ist der wichtigste Gaslieferant der Europäischen Union. Im Jahr 2013 stammten rund 40 Prozent des importierten Gases in der EU aus Russland. An zweiter Stelle lag Norwegen, an dritter Stelle Algerien. Umgekehrt gehen fast 30 Prozent aller Gasexporte aus Russland in die EU.
In Russland hält das staatlich kontrollierte Unternehmen Gazprom noch immer das gesetzliche Exportmonopol für leitungsgebundenes Erdgas. Die europäischen Erdgasimporte aus Russland beruhen aber ausschließlich auf diesem Erdgas. Aufgrund der Ausrichtung der Gasexporte führen die Gasexportleitungen Russlands ausschließlich nach Europa – in die EU, die Türkei und auf den westlichen Balkan.
Ins Stocken geraten
Auch Gazprom exportiert in erster Linie in Richtung Europa: 73,1 Prozent wurden in die EU, die Türkei und auf den westlichen Balkan (Bosnien, Serbien, Mazedonien) exportiert. Daran wird deutlich, wie zentral der europäische Absatzmarkt für Gazprom ist. Auf Deutschland etwa – den wichtigsten Abnehmer von russischem Erdgas – entfielen 2013 18,6 Prozent der russischen Gasexporte. Ein weiterer wichtiger Absatzmarkt für Russland sind Länder der ehemaligen UdSSR. Dorthin wurde 2013 mehr als ein Viertel der russischen Gasexporte verkauft. Wichtigster Abnehmer war die Ukraine, gefolgt von Belarus. Die Ukraine war bislang nicht nur ein wichtiger Abnehmer von russischem Erdgas, sondern ist noch immer das wichtigste Transitland für russisches Erdgas in die EU und die Türkei. 2013 wurden 52 Prozent der russischen Erdgasexporte in diese Staaten über die Ukraine transportiert. Bis 1999 hatte die Ukraine überhaupt das Monopol auf den Transit russischer Erdgasexporte. Es war daher das strategische Ziel Russlands, Umgehungsleitungen zu bauen. 1999 wurde die Jamal-Leitung eröffnet, die über Belarus und Polen nach Deutschland führt. 2003 folgte die Leitung Blue Stream, die Russland und die Türkei über das Schwarze Meer verbindet. 2011 schließlich wurde mit der Nord-Stream-Gasleitung eine direkte Leitungsverbindung zwischen Russland und seinem wichtigsten Absatzmarkt Deutschland eingerichtet.
Einigung mit Russland nötig
Als Schlussstein dieser russischen Diversifizierungspolitik ist die Leitung South Stream vorgesehen, die Russland mit Bulgarien verbinden und das Gas über Serbien und Ungarn nach Österreich transportieren soll. Trotz bestehender zwischenstaatlicher Verträge dieser Länder mit Russland ist dieses Vorhaben aber ins Stocken geraten. Die Europäische Kommission sieht in den rechtlichen Vereinbarungen Verstöße gegen das Dritte Energiepaket der EU, in dem die Entflechtung von Produktion und Transport von Energieträgern vorgesehen ist. Gazprom darf demnach nicht gleichzeitig Lieferant des Erdgases und Eigentümer der Transportleitung sein. Überdies müsste Gazprom auch dritten Anbietern Zugang zu South Stream einräumen und die Transporttarife durch einen unabhängigen Regulator festsetzen lassen. Eine Ausnahme von diesen Auflagen für South Stream liegt nicht vor, Gazprom hat nicht einmal einen Antrag dafür gestellt.
Der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk hat Ende August 2014 davor gewarnt, dass Russland im kommenden Winter die Gasversorgung Europas einstellen würde. Ein Abbruch der Gaslieferungen Russlands an die EU ist aber sehr unwahrscheinlich. Russland würde damit die Einnahmen der Verkäufe auf dem lukrativsten Markt von Gazprom verlieren. Aus der Gaswirtschaft stammen immerhin sieben Prozent der budgetären Einnahmen. Zudem wäre Gazprom bei Lieferunterbrechungen zu hohen Pönalezahlungen an die europäischen Abnehmer verpflichtet. Überdies würde dadurch mittelfristig der Marktanteil Gazproms auf dem europäischen Gasmarkt erheblich sinken – weil die EU Erdgas durch andere Energieträger zu substituieren versuchen und neue Gasanbieter suchen würde.
Jazenjuks Äußerungen sind daher eher als Versuch der ukrainischen Regierung anzusehen, den bilateralen Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine zu internationalisieren und die Rolle Russlands als Energieversorger der EU zu diskreditieren.
Im Juni 2014 hat Russland die Gaslieferungen an die Ukraine eingestellt. Auslöser des Streits sind Differenzen über den Preis, den Russland von der Ukraine für seine Gaslieferungen fordert. In den von der EU vermittelten Gesprächen hatte Russland zuletzt einen Gaspreis auf Rabattbasis von 386 USD/1.000 m3 angeboten. Die Ukraine beharrte aber auf einem Fixpreis von maximal 326 USD/1.000 m3. Ausgehend von der Uneinigkeit über den zumutbaren Preis bestehen auch eklatante Differenzen über die ausstehenden Schulden der Ukraine für bereits erfolgte Gaslieferungen.
Symmetrische Abhängigkeit
Bislang konnte die Ukraine ihren Gasbedarf seit Juni durch die eigene Produktion und den Rückgriff auf Gas in den großen Lagerstätten in der westlichen Ukraine decken. Dies wird in den Wintermonaten aber nicht ausreichen, um alle Privathaushalte und die Industrie zu versorgen. Die Ukraine versucht zwar, die ausbleibenden Gaslieferungen durch den Import von Erdgas über Polen, Ungarn und die Slowakei partiell auszugleichen. Diese Mengen sind aber zu gering, um den ausbleibenden Import von russischem Gas zu substituieren. Eine Einigung mit Russland über Gaspreis und Schulden ist daher unabdingbar, um eine Versorgungskrise zu vermeiden.
Russland warnt daher die Europäische Union davor, dass die Ukraine im Winter Gas aus den Transitleitungen entnehmen könnte. Selbst wenn Russland seinen Lieferverpflichtungen nachkommt, würden dann weniger als die vertraglich vereinbarten Mengen in der EU zur Verfügung stehen. Angesichts der gut gefüllten Gasspeicher und der vorhandenen Leitungs-Interkonnektoren könnte eine solche Versorgungskrise aber für einige Zeit abgewehrt werden.
Innerhalb der EU zeichnet sich eine Verringerung der Abhängigkeit von Russland im Gassektor ab. Die beiden Hauptstoßrichtungen sind dabei die Nutzung von Schiefergasvorräten in der EU (trotz aller ökologischen Bedenken) und der Import von flüssigem Schiefergas aus den USA. Nach optimistischsten Schätzungen könnten in vier bis sechs Jahren bis zu 40 Milliarden m3 Erdgas aus den USA importiert werden. Offen ist, ob US-Produzenten exportberechtigtes Flüssiggas (LNG) nicht lieber auf asiatischen Märkten absetzen werden, wo die Preise für LNG deutlich höher sind als in der EU.
Im Hinblick auf Diversifizierungsbemühungen gilt es zu bedenken, dass die Gasbeziehungen zwischen Russland und der EU eine symmetrische Abhängigkeit darstellen. Die EU ist von Russland als einem wichtigen Versorger abhängig, Russland von einem lukrativen Absatzmarkt in der EU, zu dem derzeit alle Gasexportleitungen führen und wo die höchsten Gaspreise zu erzielen sind. Es wäre daher trotz der belasteten Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union ratsam, an dieser Interdependenz festzuhalten.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor gerhard.mangott@uibk.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Abhängigkeit
Lösungen sind mittelfristig und wohl auch langfristig nicht in Sicht: Die Importabhängigkeit der EU und Österreichs von Erdöl und Erdgas wird hoch bleiben. Eng verbunden mit der Frage der Versorgungssicherheit ist die Frage der Leistbarkeit von Energie, sowohl für die Wirtschaft als auch für die KonsumentInnen. Aber nicht nur hohe Importpreise – wie derzeit vor allem für Erdgas –, sondern auch die Gewährleistung von sicheren und ausreichenden Erzeugungs- und Verteilungskapazitäten erhöhen die Kosten des Energiesystems.
Energiearmut ist nicht nur ein Phänomen in wirtschaftlich unterentwickelten Ländern, sie findet sich auch in der EU (siehe „Essen oder heizen?“). Die Zahl der Betroffenen nimmt dramatisch zu. Allein in Österreich können sich rund 200.000 Menschen den ausreichenden Bezug von Strom, Gas oder Fernwärme nicht leisten. Auf der anderen Seite stehen die Wirtschaft und vor allem die energieintensive Industrie, die die Höhe der Energiekosten als Messlatte für ihre Wettbewerbsfähigkeit heranzieht (siehe „Übertriebene Energiepreise“). In den letzten Jahren hat das Interesse an einer umweltfreundlichen Erzeugung und Nutzung von Energie zugenommen. In klimapolitischen Fragen nimmt die Europäische Union schon seit der Klimakonferenz 1997 in Kyoto eine Vorreiterrolle ein. Unabhängig von anderen Staaten hat sich die EU auch zur Weiterführung ihrer ambitionierten Ziele im Rahmen der Energie- und Klimapolitik bis 2020 und darüber hinaus entschlossen. Im Mittelpunkt stehen die Verringerung der klimaschädigenden Treibhausgasemissionen, der Ausbau erneuerbarer Energien und die Steigerung der Energieeffizienz und damit die Reduktion des Energieverbrauchs.
Die Rahmenbedingungen für die Energiepolitik haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten massiv verändert, und zwar sowohl durch energie- und klimapolitische als auch durch gesamtwirtschaftliche Entwicklungen. Die wohl nachhaltigste Veränderung erfuhren die Energieversorgungsunternehmen durch die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte, die mit dem EU-Beitritt auch in Österreich ihren Anfang nahm. Ursprünglich wiesen die Energieunternehmen einfache vertikal integrierte Strukturen auf: Erzeugung, Verteilung und Vertrieb waren unter einem Dach vereint. Zugleich standen sie mehrheitlich im Eigentum der öffentlichen Hand. Sowohl die Organisationsstrukturen als auch die Eigentumsverhältnisse mit den EU-Wettbewerbsbelebungspaketen haben sich wesentlich geändert. Energieerzeugung und Energiehandel unterliegen nun den Regeln des freien Wettbewerbs. Gesellschaftsrechtlich bzw. eigentumsrechtlich sind diese Bereiche vom Netzbereich, der als „natürliches Monopol“ einer staatlichen Regulierung unterliegt, getrennt. Der Anteil der öffentlichen Hand an den Energieversorgungsunternehmen geht sukzessive zurück, die Befriedigung von Aktionärsinteressen rückt bei Unternehmensentscheidungen in den Vordergrund (siehe auch „Mehr privat als Staat im Strom“). Gerade die Stromversorgung ist immer weniger eine öffentliche Dienstleistung, sondern folgt zunehmend den Regeln des Marktes: Strom wird nicht mehr vom Produzenten an die VerbraucherInnen verkauft, sondern wird mit diesem – analog zu den Finanzmärkten – zwischen Brokern gehandelt und spekuliert. Eingriffe bzw. Marktlenkung durch Regulierungs- bzw. Aufsichtsbehörden gestalten sich angesichts der immer komplexeren Ausgestaltung der Energiemärkte und Preisbildungsmechanismen zunehmend schwierig. Gleichzeitig fehlen bislang ausreichende Analysen zu den volkswirtschaftlichen Kosten für Regulierungsarbitrage, Insiderhandel und Marktmissbrauch im Energiebereich.
Fehlentwicklungen
Neben den neuen Vorschriften im Gefolge der Liberalisierung der europäischen Strom- und Gasmärkte ändert auch die ambitionierte Energie- und Klimapolitik der Europäischen Union die Strukturen der Energiewirtschaft: Mit den drei „20-20-20“-Kernzielen (siehe „Vertreibt Klimaschutz die Industrie?“) sollen die schädlichen Folgen des Klimawandels bekämpft werden. Auf europäischer Ebene werden bereits die EU-Ziele bis 2030 und darüber hinaus vorbereitet. Während die Energie- und Klimaziele notwendig und zu unterstützen sind, führen die derzeitigen Maßnahmen und Politiken zur Umsetzung dieser Ziele zu Fehlentwicklungen. Eine der wesentlichen Ursachen dürfte darin bestehen, dass bei der Umsetzung gesamtwirtschaftliche Auswirkungen, Kosteneffizienz und Verteilungsgerechtigkeit kaum oder nur mangelhaft berücksichtigt werden.
Zu wenig beachtet werden auch die Folgen der EU-weiten Liberalisierung der Energiemärkte, ebenso wie die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Konsequenzen zeigen sich auf dem Strommarkt am deutlichsten: Unterstützt durch hohe öffentliche Förderungen wird die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen wie Wind- und Sonnenkraft EU-weit massiv ausgebaut, vor allem in Deutschland. Flankierende Maßnahmen zur kosten-effizienten Integration der erneuerbaren Elektrizität in das konventionelle Energiesystem wie der parallele Ausbau von Netzen fehlen oder werden nur mangelhaft umgesetzt. Konventionelle Kraftwerke kämpfen aufgrund massiv gefallener Stromerlöse mit sinkenden Renditen. Gleichzeitig stehen die Interessen von Aktionären und Eigentümern in der Energiewirtschaft immer stärker vor dem Allgemeininteresse der Versorgungssicherheit.
Fehlentwicklungen treten aber auch bei der Politik zur Senkung der Treibhausgasemissionen auf, wo auf marktwirtschaftliche Instrumente gesetzt wird. Der Preis für Emissionszertifikate ist infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise und des Fehlens adäquater Maßnahmen zur Preisstabilisierung massiv gefallen. Damit wird natürlich auch die bezweckte Internalisierung der durch den Ausstoß von Treibhausgasemissionen verursachten externen Kosten verfehlt und Energieträger mit hohem CO2-Ausstoß wie Kohle bleiben weiter konkurrenzfähig. Hingegen wird der Steigerung der Energieeffizienz in den Politiken der EU und der Mitgliedsländer weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet – und das, obwohl die Senkung des Energieverbrauchs als zentrale Voraussetzung für die Erreichung der klima- und energiepolitischen Ziele gilt. Die Steigerung der Energieeffizienz spielt aber auch im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und der Versorgungssicherheit eine unterstützende Rolle. Gerade für Unternehmen bedeutet ein höherer Grad an Energieeffizienz einen langfristig geringeren Energieeinsatz bei gleichbleibendem Output. Darüber hinaus ist die Energieeffizienz auch die zentrale, treibende Kraft für Innovation und technologische Entwicklung. Schließlich ist die Verringerung des Energieverbrauchs ein nachhaltiges Instrument zur Senkung der Energiekostenbelastung für KonsumentInnen (siehe „Smarte KonsumentInnen“) im Allgemeinen und zur Bekämpfung von Energiearmut im Speziellen.
Die Lehren aus den letzten Jahren haben gezeigt: Die Gestaltung des zukünftigen energie- und klimapolitischen Rahmens hat auf einer systemischen, gesamthaften Betrachtung der Volkswirtschaft im Allgemeinen und der Energiewirtschaft im Speziellen zu beruhen.
Mehr Infos im Web: www.e-control.at/de/konsumenten
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin dorothea.herzele@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Über den Sommer haben ÖGB- und AK-ExpertInnen ein Entlastungsmodell für ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen ausgearbeitet – ohne VerliererInnen. Das Modell sieht niedrigere Steuersätze für alle vor, die Lohnsteuer zahlen, und eine Negativsteuer für diejenigen, die zu wenig verdienen, um lohnsteuerpflichtig zu sein. Außerdem notwendig ist: eine dauerhafte Absicherung der Entlastung, ohne dass die kalte Progression den Vorteil gleich wieder auffrisst. Und eines muss klar sein: Die ArbeitnehmerInnen sollen sich die Entlastung nicht selbst bezahlen: Streichungen der Steuerbegünstigungen – etwa bei Urlaubs- und Weihnachtsgeld oder Nachtzulagen – kommen daher nicht in Frage.
Neuer Steuertarif als Kernstück
Kernstück der Lohnsteuersenkung soll ein neuer Steuertarif sein, mit sechs Progressionsstufen statt derzeit nur drei. Der Eingangssteuersatz soll von derzeit 36,5 Prozent auf 25 Prozent gesenkt werden. Davon profitieren alle lohnsteuerpflichtigen ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen, denn mit diesem Steuersatz werden Jahreseinkommen zwischen 11.000 und 20.000 Euro besteuert. Und auch der entsprechende Teil höherer Einkommen fällt unter den Eingangssteuersatz, demgemäß würde sich die Entlastung im unteren Bereich auch auf Menschen mit höheren Löhnen oder Gehältern positiv auswirken. Ein niedriger Eingangssteuersatz hätte einen weiteren Vorteil: Für Teilzeitbeschäftigte mit geringerem Verdienst ist er ein Anreiz, die Arbeitszeit zu erhöhen. Sie kommen zwar durch das dadurch höhere Einkommen ebenfalls in die Steuerpflicht, werden aber nicht mehr gleich mit 36,5 Prozent besteuert.
Die weiteren Steuerstufen im ÖGB/AK-Modell sind 34 Prozent auf steuerpflichtige Jahreseinkommen zwischen 20.000 und 30.000 Euro, 38 Prozent auf Einkommen zwischen 30.000 und 45.000 Euro, 43 Prozent auf Einkommen zwischen 45.000 und 60.000 Euro und 47 Prozent auf Einkommen zwischen 60.000 und 80.000 Euro. Der Höchststeuersatz bleibt unverändert bei 50 Prozent, wäre aber erst ab einem Jahreseinkommen von 80.000 fällig. Derzeit liegt die Grenze bei 60.000 Euro. Jemand, der 1.500 Euro brutto verdient, würde somit nur mehr die Hälfte der bisherigen Lohnsteuer zahlen, genauer: um 47,21 Prozent weniger und somit 597,72 Euro im Jahr statt 1.132,29 Euro. Wer 2.600 Euro brutto im Monat verdient, würde um ein Viertel weniger Lohnsteuer als bisher zahlen. Entlastung im Jahr: 1.299,11 Euro.
Höhere Absetzbeträge
Auch Absetzbeträge (die direkt von der Steuer abgezogen werden) sollen erhöht werden – von derzeit 345 auf 450 Euro (Arbeitnehmerabsetzbetrag und Verkehrsabsetzbetrag). Und sie sollen mit Negativsteuerwirkung ausgestattet werden, das heißt, Menschen, die zu wenig verdienen, um überhaupt Lohnsteuer zahlen zu müssen, würden den entsprechenden Betrag automatisch als Steuergutschrift am Jahresende ausbezahlt bekommen. Derzeit gibt es so eine Negativsteuer nur in Höhe von 110 Euro. Dadurch wäre gewährleistet, dass auch die ArbeitnehmerInnen mit den niedrigsten Einkommen etwas von der Reform haben. Und auch die Negativsteuer wäre ein Aktivierungsimpuls, also ein Anreiz, durch mehr Arbeit mehr zu verdienen. Denn es würde sich eher auszahlen, statt geringfügig zu arbeiten, die Arbeitszeit auszuweiten. Bei der Geringfügigkeitsgrenze beginnt zwar die Sozialversicherungspflicht, doch die Beiträge würden den Betroffenen zum Teil durch die Negativsteuer quasi zurückgezahlt.
Eine Negativsteuer soll es erstmals auch für PensionistInnen geben, und zwar in Höhe von 110 Euro. Dieser Satz ist deswegen niedriger als bei den ArbeitnehmerInnen, weil PensionistInnen niedrigere Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen haben (keine Pensions- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge).
Auf Dauer absichern
Damit die Lohnsteuersenkung für die ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen nachhaltig wirkt und nicht nach ein paar Jahren wieder aufgefressen wird, sind Maßnahmen zur Begrenzung der kalten Progression notwendig. Denn durch die Erhöhung des kollektivvertraglichen bzw. tatsächlichen Lohns oder Gehalts gleiten ArbeitnehmerInnen oft in die nächsthöhere Steuerstufe. Sie zahlen für das zusätzliche Einkommen also einen höheren Steuersatz, auch wenn sich die Kaufkraft ihres Einkommens nicht erhöht hat. Das betrifft Menschen mit hohen Einkommen nicht so stark, weil deren Einkommen durch die Erhöhung in keine höhere Steuerstufe mehr hineinwachsen.
Auch die Wirkung der Steuersenkung im Jahr 2009 ist durch die kalte Progression sehr schnell wieder verblasst. Die Unternehmen haben bei den vergangenen Steuerreformen hingegen eine dauerhaft wirkende Entlastung bekommen: Sie zahlen fix nur mehr 25 Prozent Körperschaftsteuer (KSt), und weil es keine Progressionsstufen gibt, gibt es auch keine kalte Progression.
Das ÖGB/AK-Modell sieht daher vor, dass die Regierung regelmäßig etwas tun muss, um die Einkommen der ArbeitnehmerInnen vor den Auswirkungen der kalten Progression zu beschützen. Konkret soll sie tätig werden müssen, sobald die Teuerung seit der letzten Steuertarifänderung fünf Prozent erreicht hat.
Das ÖGB/AK-Modell sieht Entlastungen von insgesamt knapp unter sechs Milliarden Euro vor. Diese Lohnsteuersenkung ist auch wirtschaftlich sinnvoll: Den Menschen bleibt mehr Geld im Börsel. Gerade die Erhöhungen kleinerer Einkommen fließen zum größten Teil direkt in den Konsum. Das stärkt die Kaufkraft, kurbelt die Wirtschaft an, stützt die Konjunktur und schafft Arbeitsplätze. Das alles ist mit zusätzlichen Einnahmen für den Staat verbunden. Bei einem Volumen von knapp unter sechs Milliarden Euro fließt fast eine Milliarde Euro wieder an den Staat zurück.
Abgesehen von dieser teilweisen Selbstfinanzierung gehen ÖGB und AK davon aus, dass Maßnahmen zur Gegenfinanzierung notwendig sein werden. Das könnte zum Beispiel so funktionieren: eine Milliarde durch Konsum- und Konjunkturbelebung (Selbstfinanzierung); eine Milliarde Euro mit wirksamen Maßnahmen gegen Steuerbetrug; zwei Milliarden Euro mit mehr Verteilungsgerechtigkeit ‒ große Vermögen, Erbschaften, Schenkungen und Stiftungen usw. besteuern – und zwei Milliarden Euro durch Reformen – wie Ausnahmen im Steuersystem beseitigen, Effizienzsteigerungen, Kompetenzbereinigungen, Beteiligung der Länder, Doppelförderungen vermeiden.
Schwerpunkt der Entlastung
Der Schwerpunkt des ÖGB/AK-Entlastungsmodells liegt aber, wie der Name schon sagt, auf der Entlastung der ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen. Ihnen darf die Lohnsteuerentlastung daher nicht über die Gegenfinanzierung wieder weggenommen werden. Die Steuerbegünstigung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Aufwandsentschädigungen, Zulagen, Zuschläge etc. müssen unverändert bleiben. Rudi Kaske bekräftigt: „Die ArbeitnehmerInnen sind nicht die Lastesel der Nation. Sie haben sich eine Entlastung mehr als redlich verdient. Die Politik ist gefordert, unser Modell in die Tat umzusetzen.“
Wenn auch Sie für die Senkung der Lohnsteuer unterschreiben möchten:
www.lohnsteuer-runter.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor florian.kraeftner@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>… das Verhältnis zwischen der Entwicklung der Einkommen- und Körperschaftsteuer einerseits und der Lohnsteuer andererseits lässt den Schluss zu, dass die Praxis der öffentlichen Finanzwirtschaft einen immer weniger sozialen Charakter annimmt. Trotz der gegenüber 1950 weitaus verstärkten Arbeitslosigkeit ist das Lohnsteueraufkommen um 88 Prozent gestiegen, während die Beträge aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer nur um 28 Prozent gestiegen sind.
Klenner schließt daraus:
Die wirtschaftliche Einflussnahme, die Durchsetzung von Wirtschaftsgesetzen ist heute ebenso Interessenkampf, wie es früher der Kampf um das Wahlrecht, die Anerkennung der Gewerkschaften und die Einrichtung der Betriebsräte und die Erreichung des Achtstundentags waren. ... Der Reallohn ist sicher heute noch nieder, aber die Lebensverhältnisse waren auch in der Ersten Republik für die Arbeiterschaft nicht zufriedenstellend. Ja, die Entlohnung der Frauen und der Hilfsarbeiter war weit schlechter als heute. Durch die Stärke des Gewerkschaftsbundes sind die organisatorischen Voraussetzungen dafür gegeben, durch die Steigerung der Produktivität und durch die Beeinflussung der Politik die Hebung des Lebensstandards der Arbeiter und Angestellten zu erreichen.
Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar,
brigitte.pellar@aon.at
Vor 50 Jahren hätten wohl die wenigsten daran gedacht, dass aus den sogenannten Gastarbeitern – und es waren eigentlich nur Männer – Zuwanderer würden, die ihre Familien nachgeholt haben – auch sie selbst nicht. „Inzwischen leben in unserer Stadt Menschen mit Migrationshintergrund bereits in der zweiten und dritten Generation. Dem müssen wir gerecht werden: Nach 1945 haben wir aus der gewalttätigen Geschichte unseres Landes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest die Lehre gezogen, dass der soziale Zusammenhalt ein unverzichtbares Kapital einer Gesellschaft darstellt.“
Als AK-Präsident sieht es Kaske als seinen persönlichen Auftrag, „dafür einzutreten, dass der soziale Zusammenhalt und der Dialog weiterhin zur tragenden Kultur in Österreich gehören“. Ein Schritt zu einer Kultur des Miteinanders sei „die bewusste Auseinandersetzung auch mit der Zuwanderungsgeschichte und dem Wandel Österreichs zum Einwanderungsland“. Diskriminierungen müssten abgebaut werden: „Als Vertreter aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht es mir darum, dass alle gerecht behandelt werden, egal, wo sie herkommen.“
]]>Die Studie zum Download:
http://media.arbeiterkammer.at/PDF/Arbeitsmarkt_im_Fokus_1_2014.pdf
Lidl Österreich hat das Angebot der Gewerkschaften, einen Betriebsrat zu gründen, aktiv mitgetragen, berichtet Gerald Forcher von der GPA-djp Salzburg: „Nach ersten konstruktiven Gesprächen gab es ein gemeinsames Schreiben von Lidl Österreich, der Gewerkschaft vida und der GPA-djp, in dem die Belegschaft über die geplante Betriebsratswahl informiert wurde. Die Resonanz war sehr erfreulich, es haben sich viele Interessierte mit der Bereitschaft gemeldet, die Interessen ihrer Kolleginnen und Kollegen als Mitglied im Betriebsrat zu vertreten. Das Ergebnis der Betriebsratswahl sind zwei gut aufgestellte Teams, die alle Regionen abdecken.“ „Ich bin sehr kommunikativ und kenne das Unternehmen auch von mehreren verschiedenen Seiten“, beschreibt Betriebsrat Michael Wörthner seine Ambitionen. Er ist gelernter Tapezierer, musste diesen Beruf aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Inzwischen hat er eine Abendschule absolviert und die Matura nachgeholt. Ende 2007 wurde er Lidl-Filialleiter und wechselte danach in die Unternehmenszentrale.
Eine besondere Herausforderung für die frisch gewählten BetriebsrätInnen: Sie waren allesamt bis dato noch nicht in einem Betriebsrat tätig. „Wir sind alle neu. Deshalb wollen wir den Betriebsrat aufbauen und sattelfest machen“, erklärt Doris Migsch, ebenfalls Mitglied des Betriebsrats. Ihre Tätigkeit bei Lidl startete Migsch 1999 als Kassiererin im 21. Bezirk in Wien, 2008 wurde sie Filialleiterin. „Ich bin schon sehr lange im Unternehmen und habe viel Auf- und Umbau miterlebt.“ Migsch hat eine Lehre als Schuhverkäuferin hinter sich und war danach einige Jahre bei Hofer tätig. Wir wünschen dem Team viel Erfolg.
Weitere Infos finden Sie unter: www.gpa-djp.at
]]>Seit Beginn der Kampagne Anfang Juli haben also rund 700.000 Menschen im ganzen Land die Forderung nach niedrigeren Lohnsteuern unterstützt. „Diese beeindruckende Unterstützung haben tausende BelegschaftsvertreterInnen möglich gemacht, die über den Sommer für unsere Kampagne in Betrieben und an Dienststellen sowie im privaten Umfeld geworben haben. Dafür gebührt euch allen unser ganz besonderer Dank“, sagte ÖGB-Präsident Erich Foglar. „Vor allem aber auch jenen, die unsere Forderung bisher unterschrieben haben. Und eines ist auch klar: Eine Reform, bei der den ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen das Geld aus der linken Tasche gezogen wird, nur um es ihnen in die rechte wieder hineinzustecken, werden wir vehement ablehnen“, hielt Foglar fest.
Jetzt eigenen Vorteil ausrechnen: www.mehrnetto.arbeiterkammer.at
]]>Österreich stärker betroffen
An diesem kleinen Beispiel offenbart sich ein Zusammenhang, der inzwischen unumgänglich ist, nämlich jener zwischen Energieverbrauch und Klimawandel. Ein aktueller Bericht von KlimaforscherInnen bestätigt einmal mehr, dass dieser nicht geleugnet werden kann. Nicht nur das: Der Klimwawandel schreitet in Österreich schneller voran, als man vielleicht denken würde. Um es zu illustrieren: Seit 1880 ist die Temperatur hierzulande um fast zwei Grad Celsius gestiegen – global waren es „nur“ 0,85 Grad. Wie sehr sich diese Entwicklung beschleunigt hat, beweist die Tatsache, dass es seit den 1980ern in Österreich um ein Grad wärmer wurde.
Verteilungsfrage
Dabei leben wir in einer sehr spannenden Zeit, die uns viele nützliche oder unterhaltsame neue Technologien beschert. Von der Wohnzimmercouch aus kann man an der Welt teilhaben wie noch nie zuvor. Zugleich steigt auch das allgemeine Bewusstsein für Energieeffizienz. Besser gesagt: Angesichts der zur Neige gehenden Reserven an fossilen Brennstoffen ist dies auch bitter nötig. Energie ist auch eine Verteilungsfrage. So dringt immer stärker ins öffentliche Bewusstsein, dass es Menschen gibt, die von all diesen neuen Technologien nur träumen können, denn sie können sich nicht einmal das Heizen leisten. Das Schlagwort lautet „Energiearmut“, davon betroffen sind in Österreich immerhin mehr als eine Viertelmillion Menschen. Auch global betrachtet gibt es ein grobes Ungleichgewicht. So ist laut Internationaler Energieagentur ein Fünftel der Weltbevölkerung nicht mit elektrischer Energie versorgt, 95 Prozent dieser Menschen leben in Asien und in den südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Ländern. Zugleich nimmt der Energiebedarf enorm zu, die höchsten Zuwächse gab es in den letzten Jahrzehnten – wenig überraschend – in den Ländern des Mittleren Ostens, China und Indien. Immer noch führen die Liste der größten Energieverbraucher aber die USA und Europa an: Sie verbrauchen mehr als die Hälfte der Energie weltweit. Nachhaltigkeit ist also angesagt, nicht nur im Sinne der Umwelt. So manches alte Stromsparrezept mag schon etwas ausgeleiert klingen, aber nach wie vor kann man mit einfachen Maßnahmen einiges erreichen, und zwar nicht nur im privaten Umfeld: Auch für Unternehmen schlummert hier noch einiges an Potenzial.
„Öko“ und „Sozial“ gehören zusammen
Es ist fast genau ein Jahr her, dass ich mit einem spannenden Wirtschaftsberater ein Interview führen durfte, der unter anderem für einen großen deutschen Autokonzern arbeitet. Die häufigsten Sparmaßnahmen, die dieser etwas andere „Rationalisierer“ empfiehlt, gehen nicht zulasten der ArbeitnehmerInnen oder gar der Arbeitsplätze. Vielmehr sind es Energiesparmaßnahmen, von denen einige in der Tat sehr einfach sind. So lassen sich Energie und Geld sparen. Damit schließt sich ein weiterer Kreis: „Öko“ und „Sozial“ lassen sich nicht voneinander trennen, vielmehr hängen die beiden Themen eng miteinander zusammen.
Mängel bei der Energieeffizienz
Steigende Haushaltskosten bei gleichbleibend niedrigem Einkommen, Einkommensausfälle, Arbeitslosigkeit, psychosoziale Probleme, chronische Krankheiten: Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Energiekosten plötzlich über den Kopf wachsen. Oft treiben nicht oder ungenügend sanierte Wohnungen die Heizkosten in die Höhe. Aber Energieeffizienzmängel sind nur zum Teil die Ursache für Energiearmut. Wer ein sehr geringes Einkommen hat, ist oft arbeitslos, in Pension oder krank und daher den größten Teil des Tages zu Hause. Dadurch können die Energiekosten im Vergleich zur restlichen Bevölkerung deutlich ansteigen.
Rückstände, Mahngebühren, Energieabschaltung etc. bedeuten Stress und können für schlaflose Nächte sorgen. Aber Energiearmut hat noch weitere negative Auswirkungen: Durch nicht ausreichend beheizte Räume kommt es häufiger zu Erkrankungen, ja sogar zu Todesfällen. Chronische Krankheiten wie Asthma können sich – nicht zuletzt durch in ungenügend geheizten Räumen häufig auftretende Schimmelbildung – verschlimmern. Knapp ein Viertel der von Energiearmut Betroffenen sind Minderjährige.
Sofortmaßnahmen helfen
Vor Kurzem präsentierte der Klima- und Energiefonds (KLI.EN) die Ergebnisse seines österreich-weiten Pilotprojekts gegen Energiearmut. Das Österreichische Institut für Nachhaltige Entwicklung hat gemeinsam mit Caritas, der Österreichischen Energieagentur sowie dem Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung an der WU Wien eine fundierte Analyse zu den Lebens- und Belastungssituationen betroffener Haushalte erstellt. In Kooperation mit den Caritas-Initiativen „Grätzeleltern“, „Stromspar-Check“ und „VERBUND-Stromhilfefonds“ wurden 400 einkommensschwache Haushalte persönlich befragt. Über ein Drittel der Befragten wohnen in Wohnungen mit undichten Fenstern, bei fast 50 Prozent war die Eingangstür undicht. In den Haushalten gab es durchschnittlich elf Leuchtmittel, das ist rund ein Viertel der landesüblichen Menge (Österreich-Durchschnitt 40,9 Leuchtmittel/Haushalt). Die Hälfte der Befragten klagte über kalte Wände und Böden, 42 Prozent können weniger Räume heizen, als sie möchten. 83 Prozent macht die Bezahlung der Energierechnung Sorgen, 13 Prozent waren in den vergangenen zwei Jahren von Energieabschaltungen betroffen. Fast die Hälfte der im Projekt befragten Haushalte geben mehr als zehn Prozent ihres Einkommens für Energie aus. In den befragten Haushalten wurden anschließend Energiesparmaßnahmen durchgeführt und evaluiert.
„Nach der Auswertung der Ergebnisse und nach intensiven Gesprächen mit den Stakeholdern haben wir jetzt Empfehlungen für Maßnahmen zur Verringerung von Energiearmut ausgearbeitet“, berichtet ÖIN-Projektleiterin Dr. Anja Christanell.
Empfohlene Maßnahmen
Nachhaltige Maßnahme
„Die thermische Sanierung von Gebäuden ist neben einfacheren Dingen wie dem Wechsel zu energiesparenden Geräten die nachhaltigste Energieeffizienzmaßnahme“, so AK-Energieexperte Dominik Pezenka. „Es werden nicht nur Energieverbrauch und Emissionen reduziert, sondern auch das Raumklima verbessert sich – Stichwort Schimmel. Die thermische Sanierung hat außerdem positive Beschäftigungseffekte. Die derzeitigen Heizkostenzuschüsse sind Symptombekämpfung und machen Betroffene zu Bittstellern.“
Mit 1. Jänner 2015 tritt das neue Energieeffizienzgesetz in Kraft, durch das der Energieverbrauch in Österreich nachhaltig reduziert bzw. ab 2020 stabilisiert werden soll. Die dafür nötigen Einsparungen sollen auch den KonsumentInnen zugutekommen, denn Energielieferanten müssen 40 Prozent ihrer vom Gesetz vorgesehenen Energieeffizienzmaßnahmen so setzen, dass die Haushalte davon profitieren und nicht nur zur Kasse gebeten werden. Zur gezielten Verringerung von Energiearmut werden Maßnahmen bei Einkommensschwachen höher bewertet. Eine weitere Neuerung für große Energieanbieter ist die verpflichtende Einrichtung einer Beratungsstelle zu den Themen „Stromkennzeichnung, Lieferantenwechsel, Energieeffizienz, Stromkosten und Energiearmut“. Die Wiener Stadtwerke haben als Erste und bisher Einzige in Österreich bereits Anfang 2011 die Wien Energie Ombudsstelle für soziale Härtefälle eingerichtet. Sie betreut in Kooperation mit anderen (sozialen) Einrichtungen rund 4.000 Betroffene pro Jahr. Auch für Frau M. wurde ein Lösungsmodell ausgearbeitet, mit dem die Energieversorgung verbessert und die Gehaltspfändung vermieden werden konnte.
1 Wr. Stadtwerke Holding AG: Materialien der Wr. Stadtwerke zur nachhaltigen Entwicklung Nr. 8 – Herausforderung Energiearmut und der Beitrag der Wiener Stadtwerke, Wien 2013.
2 Stellungnahme des EWSA: Für ein koordiniertes europäisches Vorgehen zur Prävention und Bekämpfung von Energiearmut, Brüssel 2013.
Mehr Infos im Web:
www.energiearmut.com
Pilotprojekt gegen Energiearmut: www.oin.at/?page_id=855
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Spielerische Kritik
Kommende Weihnachten wird es zum dritten Mal auf dem Karlsplatz seine Runden drehen, gemeinsam mit dem „Draisinen-Express“. Er ist ebenso stromlos und läuft auf Schienen ‒ vier Fahrrad- und zwei Pump-Draisinen werden den Kleinen zur Verfügung stehen.
Ein Signal für Nachhaltigkeit, eine „spielerische Kritik“ an der Wegwerfgesellschaft, wie der Künstler Stefan Novak vom Theaterverein Mowetz (www.mowetz.at) sagt. Die Idee zum einzig durch Muskelkraft betriebenen Karussell stammt von ihm. Gemeinsam mit dem Messermacher (www.messerei.at) Stefan Herzina hat er ein ganzes Jahr hindurch gearbeitet. Allein die Planung und die Statik haben viel Zeit verschlungen. „Den ganzen Aufbau aus Mist zu machen und den Sperrmüll zu kombinieren war sehr aufwendig“, berichtet der gelernte Feinmechaniker Herzina. Mittlerweile gibt es bereits Nachahmer, doch ärgern kann er sich nicht so recht: „Karussells gibt es schon so lange und geistiges Gedankengut zu schützen ist schwer.“ Die ursprüngliche Idee eines zentralen Motors, der mittels Kurbel betrieben wird, wurde verworfen. „Das hätte jeden Rahmen gesprengt“, erklärt Herzina. Dass Fahrräder eine wichtige Rolle in den Konstruktionen der beiden Sperrmüllartisten spielen, liegt auch in der Vernetzung mit dem Radl-Salon (www.radl-salon.at). Stefan Herzina: „Es ist auch der Zeitgeist, etwas stromlos zu betreiben.“
Pure Handarbeit
Kurbeln für den guten Zweck: Eine Minute drehen versorgte ab 2005 den von Nicholas Negroponte erdachten Mini-Laptop XO-1 samt Handkurbel mit zehn Minuten Strom. Geschaffen für Kinder in Entwicklungsländern, setzt das „One Laptop per Child“-Projekt (one.laptop.org) mit seinem aktuellen Modell XO-4 Touch u. a. nun auch auf Solarenergie, zum Tablet XO 3.0 gibt es als Zubehör auch ein Gerät, das Strom per Kurbel erzeugt ‒ für zwei Stunden Akku-Laufzeit muss allerdings mehr als eine Stunde gedreht werden.
Helles Licht bei Dynamo-Taschenlampen erzeugen integrierte Akkus, die mit eigener Muskelkraft aufgeladen werden und LEDs speisen. Bei Kurbel-Taschenlampen wird durch das Drehen Strom erzeugt. Zum Teil sind diese Leuchten auch in andere Geräte integriert ‒ etwa kurbelbetriebene Radios oder Handyladegeräte. Kaufen kann man sie beim Diskonter, das schwedische Möbelhaus bietet sie in leuchtendem Rot knapp unter fünf Euro an, außerdem sind sie bei Campingausstattern (z. B. www.falle.at) und im Internet zu finden. Diebisches Anschleichen ist ausgeschlossen ‒ beim Kurbeln geben die Lampen ein laut surrendes Geräusch von sich.
Strahlende Kraft
Am FH Campus 02, der Fachhochschule für Wirtschaft in Graz, hat der Obersteirer Stefan Ponsold Innovationsmanagement studiert. Dank der Problemstellung seines Lektors im Bereich Kreativitätstechniken kam der damalige Student 2008 auf eine Idee, die ihm heute international nicht bloß Anerkennung einbringt. „Es ging darum, ein typisches Alltagsproblem umweltfreundlich zu lösen“, erklärt Ponsold. Er machte die leidige Angelegenheit leerer Akkus zum Studienprojekt, tüftelte anfangs an einer iPhone-Hülle aus einer flexiblen Solarzelle, die das Mobiltelefon wieder aufladen sollte. Allein, die für eine Akku-Ladung benötigte Solarpanel-Fläche war zu klein. „Ich habe Prototypen gebaut, eine Lernkurve hingelegt, die Fläche vergrößert.“ Das war die Initialzündung für die Gründung seines Unternehmens SunnyBAG (www.sunnybag.at). Von diversen Rucksäcken über Umhängetaschen aus Leder bis hin zu Taschen aus Lkw-Planen reicht das Angebot. Alle Produkte sind mit Solarpanelen ‒ ansonsten auch auf Dachanlagen zu finden ‒ ausgestattet, die Sonnenenergie in elektrische Energie umwandeln.
Was über einen USB-Anschluss geladen werden kann ‒ etwa Handys, Tablets, Digitalkameras, GPS- und Satellitengeräte etc. ‒, wird umweltfreundlich mit Sonnenenergie betrieben. „Rückschläge gab es durchaus“, sagt der 30-Jährige, „in den letzten vier Jahren seit der Gründung betreten wir sehr viel Neuland, davor hat es so etwas nicht gegeben. Diversifikation, die Einführung eines neuen Produktes und gleichzeitig eines neuen Marktes, ist das Schwierigste. Aber solche Blue Oceans sind gleichzeitig auch das Schönste.“
Stefan Ponsold kann sich mittlerweile über mehr als 10.000 verkaufte Taschen freuen und arbeitet eng mit Hilfsorganisationen zusammen. „Wenn sich die Herstellungskosten decken, sind wir schon froh.“ Für Ärzte ohne Grenzen Österreich wurden eigene Rucksäcke und Umhängetaschen entworfen, ebenso für die UN, eine Kooperation besteht auch mit dem Projekt Lady Lomin im Südsudan (www.ladylomin.org). „In dem Dorf gibt es keinerlei Energieversorgung. Die Frauen haben mit den Taschen die Möglichkeit, ihre Mobiltelefone und ihre Notebooks zu laden und zu arbeiten.“ Allerdings bleiben die sonnigen Taschen dem zivilen Nutzen vorbehalten: „Wir beliefern keine Militärs, weil wir mit unseren Produkten etwas Positives erreichen wollen. Und Ressourcen, die von einem anderen Stern kommen ‒ in diesem Fall von der Sonne ‒, wollen wir nicht missbrauchen, um Partei für politische Auseinandersetzungen zu ergreifen.“
Solar-Radios und Straßenlampen, die sich tagsüber aufladen und nachts leuchten, oder etwa solarbetriebene Sensoren, die Waldbrände erkennen: Sie sind in Planung. Seit Anfang 2013 leitet das Institut für Sensor- und Aktuatorsysteme der TU Wien das von der EU geförderte Projekt „SolarDesign“ ‒ hier treffen technologische Forschung, Architektur und Design aufeinander. Geforscht wird nicht allein mit kristallinen Solarzellen auf Siliziumbasis, sondern vor allem mit Dünnschichtzellen aus Kupfer, Indium, Gallium und Selen – da sie leicht und biegsam sind, können sie auch auf Textilien eingesetzt werden.
Abenteuer mit Sonne
Lucy Lynn ist Bergwanderführerin und Outdoorpädagogin (www.lucylynn.com; www.facebook.com/abenteuer.mensch) – und sie liebt das Freie. Drei Jahre lang lebte sie in einem VW-Campingbus und reiste damit quer durch Europa. „Da wir um Campingplätze meist einen großen Bogen gemacht haben und das Übernachten abseits der Zivilisation bevorzugt haben, hatten wir oft keinen Strom“, berichtet die gebürtige Wienerin. Kocher und Heizung wurden mit Gas betrieben, der Strom kam teils aus der zweiten Autobatterie, die immer wieder einmal aufgeladen wurde. „Für das Laden unserer Mobiltelefone, die für uns ja wirklich wichtig waren – nicht nur, um wieder mal den Abschleppservice bei unserem alten Auto anzurufen –, haben wir zusätzlich auf Sonnenenergie vertraut.“ Heute verwendet die Outdoorpädagogin auf ihren Wanderungen und Trekkingtouren ein mobiles, zusammenfaltbares Solarpanel. „Es handelt sich um ein reines 12-V-System, das sich jedoch mittels Adapter zu einem 5-V-System umkonfigurieren lässt. Somit kann ich entweder 12-V-Batterien aufladen – im Winter etwa zur Ladeerhaltung – wie auch mein Smartphone, Powerbanks und das GPS-Gerät. Es verfügt über einen USB-Anschluss und mehrere Adapter.“ Lynns Gerät lässt sich gut transportieren und befestigen, ist mit diversen Karabinern und Bändern ausgestattet – ideal für Rucksack, Fahrrad oder Zeltdach. Tipp: „Wenn die Sonne nicht scheint, die Geräte also keine Sonnenstrahlen auffangen, bleibt nur mehr ein Zehntel der Maximalleistung zur Verfügung. Ein iPhone zu laden dauert rund 15 Stunden, also zwei ganze Tage. Deshalb rate ich zum Einsatz einer Powerbank – sie kann bei Sonnenschein ein Vielfaches der Kapazität eines Handy-Akkus speichern und bei Schlechtwetter an die angeschlossenen Geräte abgeben.“
Mehr Infos im Web:
Max-Planck-Filme: „Die Sonne: Der Stern, von dem wir leben“
www.mpg.de/7049356/sonne_grundlagen
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sophia.fielhauer@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Hydraulic Fracturing
Energiekonzerne haben eine neue Gasfördertechnik für sich entdeckt, das sogenannte „Fracking“ oder Hydraulic Fracturing. Es ist ein Verfahren, mit dem Erdgas aus undurchlässigem Gestein gelöst wird. Da es sich bei diesem Gestein um Tongestein handelt, wird das gewonnene Gas daher Schiefergas genannt.
Bei diesem Verfahren wird zunächst vertikal rund fünf Kilometer in die Erde gebohrt, um diesen Vorgang horizontal in die Gas führende Gesteinsschicht zu finalisieren. So kann ein Umkreis von mehreren Kilometern abgedeckt werden. Anschließend folgt das eigentliche Fracking: In die horizontalen Querbohrungen wird mit einem enormen Druck von bis zu 1.000 bar das sogenannte Fracfluid – ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand oder Keramikkügelchen und diversen Chemikalien – hineingepumpt. Dabei entstehen Risse (fracs) im Reservoirgestein, die aus dem Gestein Gas entweichen lassen. Die Festkörper und Chemikalien aus der eingepumpten Mischung sorgen dafür, dass die entstandenen Risse offen bleiben und sich ausweiten und so das Gas an die Oberfläche befördert werden kann.
Erdbeben und Giftcocktails
Von Beginn an war diese Verfahrenstechnik schwer umstritten. So kam es in der Nähe von einigen Bohrungen zu kleinen Erdbeben. Zudem steht der Frack-Cocktail, der unter die Erde gepumpt wird, unter Kritik. Einige Chemikalien werden wieder als sogenannter Flowback an die Erdoberfläche gepumpt, andere bleiben jedoch für immer im Erdboden.
Jene Chemikalien, die im Erdboden bleiben, stellen eine Gefahr für die darüber liegende Grundwasserschicht dar, da sie selbst nach einigen Monaten oder Jahren über Risse unkontrolliert in wasserführende Schichten eindringen können. Aber auch jene Chemikalien, die mit dem Flowback an die Erdoberfläche kommen, können gefährlich sein: Sie können nicht nur durch undichte Bohrlochummantelungen in die Grundwasserschichten gelangen, sondern auch direkt in die umherliegende Landschaft und Landwirtschaftsflächen. Selbst wenn der Flowback kontrolliert wieder an die Erdoberfläche gelangt, bleibt offen: Wohin mit dem giftigen Abfall?
Die Anzahl der verwendeten Chemikalien variiert, je nachdem welche Quelle herangezogen wird, manchmal ist von einigen Dutzend die Rede, manchmal auch von einigen hundert. Ein Bericht des „Energy & Commerce Committee“ des US-Repräsentantenhauses aus dem Jahr 2011 zählt sogar 750 verschiedene Chemikalien auf.1 Einige davon sind unbedenklich, 29 jedoch sollen giftig oder krebserregend sein. Wie viele und welche genau verwendet werden, bleibt das Geheimnis der Gasunternehmen. Denn diese Mischung unterliegt keiner Publikationspflicht. In Deutschland versuchten Gutachter des Umweltbundesamtes, die Giftigkeit der verwendeten Stoffe zu beurteilen. Dabei waren selbst sie auf die freiwillige Auskunft der Hersteller angewiesen.
Giftiges Gas
Fracking-BefürworterInnen halten UmweltschützerInnen entgegen, dass Gas klimafreundlicher sei als Kohle, da es beim Verbrennen pro Energieeinheit weniger CO2 freisetze. In einer Studie stellten Wissenschafter 2011 jedoch fest, dass der CO2-Fußabdruck von Schiefergas in einem Beobachtungszeitraum von 20 Jahren doppelt so groß ist wie jener von Kohle.2 Somit würde die Nutzung und Förderung von Schiefergas den Klimawandel beschleunigen.
Auch das aus dem Bohrloch austretende Methangas gibt UmweltschützerInnen Grund zur Sorge. Immerhin ist dieses Gas 21-mal klimaschädlicher als CO2. Beim Abbau wie bei der Förderung von Schiefergas tritt Methan ungehindert aus. Selbst wenn die Bohrlöcher längst aufgegeben sind, kann Methan aus ihnen entweichen.
KritikerInnen sind sich darüber einig, dass zu wenige Erkenntnisse über mögliche Umwelt- und Gesundheitsgefahren der Fracking-Methode vorliegen. Die Wissenschafter Michelle Bamberger und Robert E. Oswald der Veterinärmedizinischen Universität am Cornell College untersuchten in einem Bericht die negativen Auswirkungen von Fracking auf Menschen und Tiere.3 Solange nur unzureichende Informationen und Daten darüber vorliegen und keine fundierten Studien dazu durchgeführt werden können, so Bamberger und Oswald, sei der Fracking-Boom ein „gigantisches unkontrolliertes Gesundheitsexperiment“.
Kuwait auf der Prärie
Fracking wurde erstmals in den USA Mitte der 1940er-Jahre angewendet, richtig genutzt wird das Verfahren erst seit 2005. So stieg die Produktion in den US-Bundesstaaten Montana und North Dakota in den Jahren 2006 bis 2012 von 0 auf 500.000 Barrel täglich an. North Dakota hat nun als Gaslieferant sogar Alaska überholt und wird liebevoll „Kuwait auf der Prärie“ genannt. In manchen Ländern ist Fracking sogar gesetzlich verboten, wie zum Beispiel in Frankreich, Südafrika oder im US-Bundesstaat New York.
Österreich hat sich klar gegen die Zulassung von Fracking ausgesprochen, Probebohrungen in Poysdorf und Herrnbaumgarten im Bezirk Mistelbach wurden nach Bürgerprotesten verboten. Die Montanuni Leoben und die OMV starteten ein Pilotprojekt namens „Clean Fracking“, in dem sie versuchten, die bei Fracking verwendeten Giftstoffe durch Maisstärke zu ersetzen. Das Projekt wurde jedoch wegen Unwirtschaftlichkeit nicht mehr weitergeführt.
Während Österreich sich also gegen das Fracking-Verfahren sperrt, herrscht in Williston, North Dakota, Aufbruchstimmung. Das gigantische Ölvorkommen unter der Bezeichnung „Bakken and Three Forks Formation“ lockte im Jahr 2008 mehrere Energiekonzerne in die Region, die wiede-rum nach Arbeitskräften suchten und mit sechsstelligen Jahresgehältern winkten. Wer also schnell viel Geld verdienen wollte, zog in das verschlafene Städtchen Williston. In nur drei Jahren wuchs die Stadtbevölkerung um 41 Prozent, die Arbeitslosigkeit beträgt heute 2,7 Prozent, über 20.000 Arbeitsstellen sind noch offen. Am Fracking-Boom wollen alle mitnaschen: Gemeinsam mit der Stadtbevölkerung sind auch die Preise gestiegen. Für eine Zweizimmerwohnung in Williston zahlte man vor einigen Jahren noch 400 Dollar, heute verlangen MaklerInnen 2.000 Dollar.
Warnung vor der Fracking-Blase
Die Menschen, die nach Williston ziehen, sind auf der Suche nach schnellem Glück und Geld. ExpertInnen geben jedoch zu bedenken, dass der Fracking-Boom in den USA sich letztendlich zu einer Blase entwickeln könnte. Kurzfristig würden zwar für KonsumentInnen die Energiepreise fallen und die Gewinne der Ölkonzerne steigen. Sollte jedoch die Blase platzen, käme es zu Versorgungsengpässen und die Preise würden in die Höhe schießen – mit fatalen Folgen für die Weltwirtschaft.
1 „Chemicals Used in Hydraulic Fracturing“: tinyurl.com/c348mwm
2 „Methane and the Greenhouse-Gas Footprint of Natural Gas from Shale Formations“: tinyurl.com/43fdnae
3 Michelle Bamberger, Robert E. Oswald „Impact of Gas Drilling on Human and Animal Health“: tinyurl.com/ag4kzur
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin maja.nizamov@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>AK-Präsident Rudi Kaske: In Österreich gibt es eine extreme Schieflage bei den Steuern. Der Faktor Arbeit ist hoch besteuert, Vermögen kaum. Das sagen nicht nur wir, das zeigen auch Studien und Berechnungen der EU-Kommission und der OECD. Österreich zählt zudem auch europaweit zu den Ländern mit der höchsten Steuerbelastung auf Arbeit. Damit muss nun endlich Schluss sein. Deshalb braucht es eine Steuerreform, die eine spürbare Erleichterung für die arbeitende Bevölkerung in diesem Land bringt. Es geht uns um mehr Gerechtigkeit und nicht darum, das Steueraufkommen für den Staat zu kürzen. Denn schließlich sind Steuern notwendig und sinnvoll, weil mit ihnen wichtige Sozialleistungen finanziert werden. Ich sage nur einige Stichwörter wie Kinderbetreuung, sozialer Wohnbau, Pflege. Am Ende muss den arbeitenden Menschen in diesem Land mehr Netto von ihrem Einkommen im Börsel bleiben. Und unser Entlastungsmodell bringt genau das.
Warum gerade jetzt eine solche Kampagne? Die Forderung nach einer Entlastung des Faktors Arbeit ist ja nicht neu.
ÖGB-Präsident Erich Foglar: Ja, Sie haben recht, das Thema ist nicht neu. Auf Drängen der Gewerkschaften gab es bereits 2009 eine Lohnsteuerreform, die die ArbeitnehmerInnen entlastete und die Kaufkraft unterstützte. Jedoch wurden damals an der Struktur nur geringe Korrekturen vorgenommen.
Nun ist die Situation wieder an einem Punkt, an dem wir seitens der Gewerkschaft einen Ausgleich für die kalte Progression und eine Kurskorrektur verlangen. Trotz der guten Lohn- und Gehaltserhöhungen, die die Gewerkschaften Jahr für Jahr erkämpfen, bleibt den Beschäftigten netto viel zu wenig übrig. Die hohen Steuern und Lebenshaltungskosten in Verbindung mit der kalten Progression fressen die Lohnerhöhungen auf, oft wird nicht einmal die Inflation abgedeckt, woraus ein Netto-Reallohnverlust resultiert.
Viele ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen können sich neben den steigenden Preisen – von der Miete bis zum täglichen Einkauf – immer weniger leisten. Aus diesem Grund haben wir Anfang Juli die Kampagne „Lohnsteuer runter!“ gestartet, und mehr als eine halbe Million UnterstützerInnen in den ersten zwei Monaten bestätigen, dass den Menschen in Österreich die hohe Belastung unter den Nägeln brennt.
Welche Erwartungen setzen Sie in den neuen Finanzminister: Wird es nun leichter oder noch schwerer, mit Ihrem Anliegen durchzukommen?
AK-Präsident Rudi Kaske: Ich hoffe sehr, dass er ein offenes Ohr für die Anliegen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Schließlich sind es genau diese, die mit ihren Steuern den Staatshaushalt stützen. Österreich hat sich ja mittlerweile zum Lohnsteuerland entwickelt. Im heurigen Jahr überholen die Einnahmen aus der Lohnsteuer zum ersten Mal in der Geschichte Österreichs die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Auch im Vergleich zur Körperschaftsteuer steigen die Einnahmen aus der Lohnsteuer rasant an.
Die Politik ist gefordert, etwas gegen diese ungerechte Verteilung des Steueraufkommens zu tun. Wir haben jetzt ein entsprechendes Modell präsentiert. Der neue Finanzminister kann also gleich unter Beweis stellen, dass er für die hart arbeitende Bevölkerung in diesem Land etwas tut. Wir werden ihn – so wie jeden anderen Politiker auch – an seinen Taten und nicht an seinen Worten messen.
Die ÖVP wehrt sich schon lange mit Händen und Füßen gegen Vermögenssteuern. Warum sollte sie nun einlenken?
ÖGB-Präsident Erich Foglar: In Österreich gibt es 297 Haushalte, die ein Vermögen von jeweils mehr als 82 Millionen Euro haben – das entspricht mehr als 100 Millionen Dollar. Insgesamt besitzen diese Haushalte 450 Milliarden Euro in Form von Wertpapieren, Immobilien, Firmenbeteiligungen usw. Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade diese Vermögenswerte durch die Krisenrettungsinstrumente vom Staat und also von den SteuerzahlerInnen mit gesichert wurden. Es ist also höchste Zeit für einen fairen Steuerbeitrag der reichsten Haushalte – von denen übrigens viele sogar bereit wären, über Steuern einen Anteil zuzuführen. Hinzu kommt, dass das Jahr 2014 ein historisches Jahr ist – allerdings im negativen Sinn.
Wie bereits AK-Präsident Rudi Kaske erwähnt hat, erreicht die Lohnsteuer einen neuen Rekordwert und wird zum ersten Mal in der Geschichte Österreichs dem Staat mehr Geld einbringen als die Mehrwertsteuer. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Pensionistinnen und Pensionisten den größten Teil der Staatseinnahmen bezahlen. Diese Schieflage ist nicht nur unfair, sondern schadet auch der Wirtschaft: Wenn den Menschen immer weniger Geld für ihre Ausgaben bleibt, wenn ihre Kaufkraft geschwächt wird, dann gibt es auch zu wenig Wachstum für die Wirtschaft und auch immer mehr Arbeitslose.
Wie soll das angesichts leerer Kassen finanziert werden?
AK-Präsident Rudi Kaske: Eine finanzielle Entlastung der arbeitenden Menschen in diesem Land ist ohne Gegenfinanzierung nicht möglich. Diese muss aber ausgewogen sein und darf weder das Wirtschaftswachstum gefährden noch das Budgetdefizit erhöhen.
Wofür wir sicher nicht zu haben sind, ist, dass sich die Menschen die Entlastung am Ende des Tages selbst finanzieren. In unserem Modell bleiben Steuerbegünstigungen wie etwa Urlaubs- und Weihnachtsgeld unangetastet. Zu einem Teil finanziert sich die Lohnsteuersenkung selbst, da durch die Erhöhung der verfügbaren Einkommen der Konsum steigt. Im unteren Einkommensdrittel wird fast der gesamte Einkommenszuwachs wieder ausgegeben. Der Rest muss über wirksame Maßnahmen gegen den Steuerbetrug, über Reformen, etwa die Beseitigung von Ausnahmen im Steuersystem, oder durch Effizienzsteigerungen hereinkommen. Und ein großer Teil wird durch mehr Verteilungsgerechtigkeit finanziert. Hier spreche ich von der Einführung von vermögensbezogenen Steuern wie eine Erbschafts- und Schenkungssteuer und eine Millionärssteuer mit entsprechenden Freibeträgen.
Zur Erbschafts- und Schenkungssteuer möchte ich sagen: Wer erbt oder etwas geschenkt bekommt, hat dafür keine eigene Leistung erbracht. Erbschaftssteuern sind ein bewährtes Mittel, um die Startchancen für alle Menschen in einer Gesellschaft anzugleichen. Und bei unserem Vorschlag einer Millionärssteuer sind nur fünf Prozent der Haushalte in Österreich betroffen. Damit kann von der Belastung des Mittelstandes – wie es Kritiker immer wieder gerne formulieren – nun wahrlich keine Rede sein.
Ein beliebtes Argument gegen Vermögenssteuern lautet, dass Leistung doppelt belastet werde. Was sagen Sie dazu?
ÖGB-Präsident Erich Foglar: Wenn von einer Doppelbelastung die Rede ist, dann muss auch erwähnt werden, dass das auf alle österreichischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Pensionistinnen und Pensionisten zutrifft – nicht nur auf Vermögende. Für jeden Euro, der beim Einkauf ausgegeben wird, wurde zum Beispiel bereits Lohnsteuer bezahlt. Trotzdem muss auch beim Konsumieren die Umsatzsteuer bezahlt werden, an der Tankstelle kommt für den Treibstoff noch die Mineralölsteuer vor der Umsatzsteuer hinzu. Das schmerzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit niedrigeren und mittleren Einkommen mehr als Top-VerdienerInnen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir keinen Klassenkampf führen. Aber die Schieflage im österreichischen Steuersystem muss endlich beseitigt werden, dafür braucht es höhere vermögensbezogene Steuern – zumindest ein Anheben auf internationales Niveau. Jenen, die niedrige Einkommen haben, mehr Geld in die Hand zu geben, ist die beste Möglichkeit, um das Wirtschaftswachstum zu stärken und Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Denn diese Einkommensgruppe gibt den größten Teil ihres Einkommens für die alltäglichen Ausgaben sofort wieder aus. Und jeder Euro, der mehr ausgegeben wird, fließt unmittelbar wieder in die Realwirtschaft zurück.
Ein ebenso beliebtes Argument insbesondere gegen Erbschaftssteuern heißt: Die Eltern haben etwas für ihre Kinder erwirtschaftet, warum sollte man ihnen davon wieder etwas abziehen?
AK-Präsident Rudi Kaske: Nochmals: Belohnt werden soll in Österreich die Leistung. Wer arbeitet, bringt Leistung. Und diese soll und muss entlastet werden. Denn der Faktor Arbeit ist in Österreich hoch besteuert. Wer etwas vererbt oder geschenkt bekommt, hat dafür nicht arbeiten müssen, also keine Leistung erbracht. Und dafür wird er auch noch belohnt, indem er keine Steuern dafür zahlt. Ich frage Sie: Ist das gerecht? Nein! Denn Kinder mit wohlhabenden Eltern haben sowieso von Haus aus einen Startvorteil. Hier müssen wir dringend für mehr Chancengleichheit sorgen. Und Österreich würde damit bei Weitem nicht alleine dastehen beziehungsweise geht das Argument, Österreich würde hier vorpreschen, ins Leere. Denn wir haben in insgesamt 18 Ländern Europas Erbschaftssteuern, darunter Staaten wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien.
Abgesehen von dem „Mehr im Geldbörsel“ für die ArbeitnehmerInnen: Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der Lohnsteuersenkung?
ÖGB-Präsident Erich Foglar: Seit Beginn der Krise kommt die Wirtschaft trotz diverser Entlastungen und Förderprogramme nur schwer in Gang – und das weltweit. Wir wollen, dass sich die Menschen wieder mehr leisten können. Das schafft mehr Kaufkraft, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Würde gleichzeitig Steuerbetrug verschärft bekämpft und würden vermögensbezogene Steuern auf internationales Niveau angepasst, hätte Österreich die besten Chancen auf eine positive Entwicklung.
Mit welcher Entlastung können ArbeitnehmerInnen rechnen?
AK-Präsident Rudi Kaske: Das AK/ÖGB-Entlastungsmodell ist fair und gerecht und bringt eine spürbare Entlastung für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch jene Menschen, die – etwa aufgrund von Teilzeit – so wenig verdienen, dass sie keine Lohnsteuer zahlen, sollen mittels einer Erhöhung der Negativsteuer von 110 auf 450 Euro entlastet werden. Und eine solche Negativsteuer in Höhe von 110 Euro wollen wir erstmals auch für Pensionistinnen und Pensionisten als Ausgleich für die Teuerung. Unser Modell sieht auch wirksame Maßnahmen gegen die kalte Progression vor. Die Entlastungsmaßnahmen sehen einen von 36,5 auf 25 Prozent gesenkten Eingangssteuersatz vor. Um einen harmonisch gerechteren Tarifverlauf zu erreichen, soll die Zahl der Steuerstufen von bisher drei auf sechs erhöht werden. Die Grenze für den Spitzensteuersatz wird von bisher 60.000 auf 80.000 Euro erhöht. Gleichzeitig bleibt der Höchststeuersatz in unserem Modell unangetastet. Zusammengefasst bringt unser Entlastungsmodell eine spürbare Erleichterung für alle ArbeitnehmerInnen und PensionistInnen. Und durch den dadurch erhöhten Konsum wird auch die Konjunktur angekurbelt – und unser Steuersystem würde ein großes Stück gerechter gemacht.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin mail@sonja-fercher.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Lohnsteuer-Tendenz steigend
Trotz des schwachen Anstiegs der Lohneinkommen steigt das Aufkommen an Lohnsteuer kräftig, heuer beträgt es bereits mehr als 25 Milliarden Euro. Damit übersteigt es erstmals jenes der Mehrwertsteuer, das wegen der schwachen Konsumnachfrage kaum wächst. Steuern auf Vermögen machen hingegen in Österreich nur 1,4 Prozent aller Abgaben aus, während der Anteil im Durchschnitt der EU-Länder bei mehr als fünf Prozent liegt. Das ist sozial ungerecht und wirtschaftlich falsch.
Leistung honorieren
Wir brauchen ein Steuersystem, das die Leistung der ArbeitnehmerInnen honoriert und so Anreize zu Arbeitsaufnahme bietet, statt sie wegzusteuern. Wir brauchen ein Steuersystem, das die unteren und mittleren konsumfreudigen sozialen Schichten entlastet und so für Nachfrage und Beschäftigung sorgt. Wir brauchen ein Steuersystem, das den stark steigenden Reichtum an der Finanzierung des Sozialstaates gerecht beteiligt und so für soziale Stabilität sorgt. Wir brauchen ein Steuersystem, das einen Beitrag zu einer gerechten Verteilung unseres Wohlstandes leistet, aus sozialen wie wirtschaftlichen Gründen.
Gleichzeitig sind wir uns dessen bewusst, dass ein guter Sozialstaat österreichischer Qualität auf einer soliden finanziellen Basis stehen muss. Wir erteilen jenen konservativen Professoren und Wirtschaftsforschern eine klare Absage, die zunächst einer drastischen Senkung der gesamten Abgabenlast in Österreich das Wort reden, um dann „ein Zurückschrauben der Ansprüche an den Sozialstaat“, also Sozialabbau begründen zu können. Die österreichischen ArbeitnehmerInnen haben über Jahrzehnte diesen Sozialstaat aufgebaut. Wir werden ihn auch verteidigen. Der Wohlstand unserer Gesellschaft und die hohe Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft belegen, dass der Sozialstaat finanzierbar ist, wenn wir die Weichen richtig stellen.
Belastung verringern
Allerdings muss die Art seiner Finanzierung überdacht werden. Was liegt näher, als die rasch wachsenden Vermögen stärker zu beteiligen? Das schaffen auch andere Länder! Was liegt näher, als die übermäßige Belastung der ArbeitnehmerInnen zu verringern? Das gelingt auch in anderen Ländern! Deshalb fordert der ÖGB eine kräftige Senkung der Lohnsteuer, von der alle ArbeitnehmerInnen, aber auch die Pensionistinnen und Pensionisten profitieren sollen. Wir wollen daher einen fairen Beitrag von Millionenvermögen, das ist sozial gerecht und wirtschaftlich sinnvoll. Auch weil es die Ungleichheit verringert und damit Demokratie und sozialen Frieden sichert.
Wenn Sie die Kampagne unterstützen möchten, können Sie hier online unterschreiben: www.lohnsteuer-runter.at.
]]>Verhandlungen nur auf Betriebsebene
Eine schwierige Aufgabe war, die Unterschiede der Gewerkschaftssysteme zu erörtern. In Großbritannien ist die gewerkschaftliche Bildung in das staatliche Bildungssystem integriert. Hat man drei vorgeschriebene Kurse absolviert, bekommt man ein Diplom, das einer Studienberechtigung gleichzusetzen ist. Das wäre auch für Österreich eine interessante Idee.
Es ist auch nicht so leicht, die richtige Bedeutung der Begrifflichkeiten zu finden. So ist Collective Bargaining nicht mit unseren Kollektivvertragsverhandlungen gleichzusetzen. Die Lohnverhandlungen finden in Großbritannien nicht für eine ganze Branche oder das ganze Land statt. Vielmehr wird auf Betriebsebene verhandelt, allerdings auch nur, wenn in besagtem Betrieb mehr als die Hälfte der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft sind. Einzig im öffentlichen Dienst kann die Gewerkschaft landesweite Verhandlungen führen.
Sehr überrascht waren meine schottischen Kollegen von unserem Kündigungsrecht. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass es in Österreich keinen so starken Kündigungsschutz gibt wie bei ihnen. In Großbritannien können ArbeitnehmerInnen, die über ein Jahr beschäftigt sind, nicht mehr gekündigt werden, außer der Betrieb kann es wirtschaftlich begründen. Selbst dann kann er aber nicht eine bestimmte Person kündigen, sondern muss Kriterien erarbeiten, z. B. dass alle nach einem bestimmten Eintrittsdatum beschäftigten MitarbeiterInnen das Unternehmen verlassen müssen. Somit ist es nicht möglich, nur die teuren oder störenden MitarbeiterInnen loszuwerden.
Großbritannien ist in vielen Punkten gespalten, viele dieser Verwerfungen sind auf Religionen zurückzuführen und sind sehr tief verwurzelt. Das merkt man unter anderem am Geld: Wales, England, Nordirland und Schottland habe jeweils eigene Geldscheine. Das war für mich sehr überraschend. Ein oft genanntes Thema war auch immer wieder das Referendum 2014, bei dem sich entscheiden wird, ob Schottland ein Teil des Vereinten Königreichs bleibt oder eigenständig wird. Hier ist auch die Arbeiterbewegung gespalten.
Die unterschiedlichen Positionen sind vielfältig und reichen von religiösen über nationalistische bis hin zu wirtschaftlichen Gründen. Bei den Beschäftigten der Shipyards am Clyde River war die Stimmung für den Verbleib bei Großbritannien sehr stark. Denn hier werden die Kriegsschiffe der Royal Navy gebaut. Die Unabhängigkeit Schottlands wäre eine Gefahr für die Arbeitsplätze, denn die Schiffe werden nur auf britischem Boden gebaut.
Im schottischen Parlament durfte ich von einem außergewöhnlichen Projekt erfahren. Die Gewerkschaft hat gemeinsam mit den Arbeitgebern und der Regierung ein Projekt geschaffen, dessen Ziel die Bildung der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb ist. Die Arbeitgeber stellen die Räumlichkeiten und einen Teil der Arbeitszeit zur Verfügung, der Staat bezahlt die LehrerInnen, die Gewerkschaft organisiert die Leute und finanziert mit.
Breit gefächerte Lerninhalte
Die Lerninhalte sind breit gefächert und reichen vom PC-Grundkurs über Sprachkurse bis hin zu Schlüsseldienst-Kursen für HausmeisterInnen. Von diesem Projekt profitieren hauptsächlich die Gewerkschaftsmitglieder, allerdings kann auch der Arbeitgeber besser gebildete MitarbeiterInnen gut brauchen. Selbst der Staat hat einen Nutzen aus der Aktion, denn im Falle der Arbeitslosigkeit können besser gebildete Personen leichter wieder eine Beschäftigung finden. Außergewöhnlich waren auch die Uhrzeiten: Der Kurs findet statt, wenn die Mitglieder Zeit haben. So müssen die LehrerInnen oft bei Schichtwechsel beginnen, das kann um fünf Uhr in der Früh sein oder um zehn Uhr am Abend. Hier sieht man: Wenn alle ein Ziel verfolgen, dann gibt es kein Hindernis für mehr Bildung.
INTERVIEW:
Zur Person - Robert Wilson
Alter: 47
Wohnort: Schottland
Erlernter Beruf: Schlosser, Mechaniker
Firma: Mahle Engine Systems
Gewerkschaft: Unite the Union, www.unitetheunion.org
Seit wann im (Euro-)BR? 2013
Wie ist dein Familienstand?
Ich bin verheiratet, wir haben zwei Kinder im Alter von 13 und 17 Jahren
Monatliches Einkommen?
£ 1.480,00
Was bedeutet dir Arbeit?
Die Möglichkeit, die Rechnungen zu bezahlen und die eigene Lebenssituation zu verbessern.
Deine Meinung über die Wirtschaft in Schottland
Schlecht! Die Regierung scheint vergessen zu haben, dass es die arbeitenden Menschen sind, die den Unterschied machen.
Welche Bedeutung hat Gewerkschaft für dich?
Sie gibt mir die Möglichkeit, Menschen dabei zu helfen, sich Gehör zu verschaffen, und meinen Arbeitsplatz zu sichern.
Und die EU?
Bei Recht, Gesundheit und Sicherheitsstandards leistet die EU immer wieder gute Arbeit für Europa. Wenn es aber um die Wirtschaft geht, entspricht die Politik nicht meinen Erwartungen.
Dein Lieblingsland in Europa?
Griechenland.
Warum?
Die Menschen und das Wetter.
Was bringt der europäische Betriebsrat?
Man lernt, besser zu verstehen, wie die Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Ländern arbeiten und wie sie Probleme lösen.
Wie viel Urlaub hast du und wo verbringst du ihn?
35 Tage: 14 Tage fahren wir weg, den restlichen Urlaub verbringen wir zu Hause.
Deine Wünsche für die Zukunft?
Dass meine Kinder eine bessere Arbeitswelt erleben und einen besseren Lebensstandard als ich erreichen.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian.illitz@proge.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Sozialwissenschafterin Nadja Bergmann wirft die Frage auf, ob Männer neue Verbündete für eine gemeinsame Gleichstellungspolitik sein können. Anlass ist eine neue Publikation mit dem Titel „Bewegung im Geschlechterverhältnis? Zur Rolle der Männer in Österreich im europäischen Vergleich“. Darin wird die Rolle der Männer im Geschlechterverhältnis in den Bereichen Bildung, Aufteilung unbezahlter Arbeit, Erwerbsarbeit, Gesundheit, Gewalt und Politik in den letzten Jahren skizziert.
Eins gleich vorweg: Nicht alle Männer profitieren automatisch von ihrem Geschlecht. Außerdem bringen gängige Bilder von „Männlichkeiten“ viele Nachteile mit sich. Jüngere Männer suchen immer mehr nach neuen Rollenmodellen. „Hier bereichert die kritische Männerforschung den Diskus um weitere Elemente und Fragen.“ Gerade bei der Arbeitszeit zeichnet sich eine Änderung der Geschlechterverhältnisse ab: Bei Männern lasse sich eine „langsame, aber stetige Arbeitszeitverkürzung“ feststellen „bei gleichzeitiger Erhöhung der Arbeitszeit bei Frauen und damit eine schrittweise Annäherung der Arbeitszeitmuster von Frauen und Männern“. Österreich stelle dabei eine Ausnahme dar.
Das Fazit der Sozialwissenschafterin: „Besonders bereichernd ist vor allem die Frage, ob die sogenannte ‚Vollzeitnorm‘ wirklich das ist, was ‚die Männer‘ wollen? Und ob wirklich von einer ewigen ‚männlichen Verhaltensstarre‘, wie Andreas Heilmann es treffend nannte, auszugehen ist oder ob nicht vielmehr von einem immer stärkeren Interesse an neuen geschlechtergerechten Erwerbsarbeits-/Lebensmodellen von Frauen und Männern auszugehen ist, das von der politischen und sozialpartnerschaftlichen Ebene noch zu wenig unterstützt und aufgegriffen wird?“
Killing the FTT
Sie sollte ein wirkungsvolles Instrument werden, um jene Spekulationen einzubremsen, die zur jüngsten Finanzkrise geführt haben. Zugleich sollte sie dafür sorgen, dass auch SpekulantInnen ihren Beitrag zu den staatlichen Budgets leisten, in die durch die Krise große Löcher gerissen wurden. Sah es zunächst so aus, als würde zumindest eine Gruppe von EU-Ländern die Finanztransaktionssteuer einführen, erlebten die BefürworterInnen inzwischen einen schwerwiegenden Rückschlag, wie Stefan Schulmeister in seinem Artikel anklagt.
Als Antwort auf eine breite Kampagne von NGOs und SozialpartnerInnen in ganz Europa startete die Finanzlobby eine Gegenkampagne, um das Projekt zu diskreditieren. „Mit Erfolg“, wie Schulmeister festhält. „Noch nie wurde so eindrucksvoll demonstriert, wie Demokratie funktioniert in Zeiten der Finanzalchemie.“ Schulmeister fordert angesichts dessen eine „Generalmobilmachung“ der Zivilgesellschaft für die Finanztransaktionssteuer.
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http://blog.arbeit-wirtschaft.at/killing-financial-transaction-tax/
Multinationale Großkonzerne prellen die öffentliche Hand: IKEA als Paradebeispiel
In seinem Artikel macht Philipp Gerhartinger auf die Steuervermeidungspraktiken einiger Großkonzerne aufmerksam und stellt die Frage nach deren Legitimität. Multinationale Konzerne nutzen dazu ihre hochkomplexen Strukturen. Mit vielfältigen Methoden verlagern sie Gewinne in Steueroasen, um sie der Besteuerung zu entziehen, oder nutzen undurchsichtige Ausnahmebestimmungen und Lücken an den Schnittstellen nationaler Steuerjurisdiktion, um Steuern kleinzurechnen. So werden Nationalstaaten wichtige Steuerbeiträge vorenthalten, obwohl beispielsweise deren Infrastruktur Grundlage der Wirtschaftstätigkeit dieser Konzerne ist.
Zahlreiche Konzerne, wie Apple, Google, Amazon und Starbucks, sind für diese Praktiken bereits bekannt. Gerhartinger greift das Beispiel IKEA auf und stützt seine Ausführungen auf ein Papier von Attac, das sich mit den komplexen Strukturen des Möbelherstellers ausführlich auseinandersetzt. Der Beitrag bietet einen tiefen Einblick in ein scheinbar kaum durchschaubares Konglomerat. Zurück bleibt der Eindruck, dass es sich bei der Ansässigkeit in Steueroasen wie der Schweiz und Liechtenstein sicher um keinen Zufall handelt und dass die effektiven Steuersätze letztendlich erschreckend niedrig sind.
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„Der Chef? Was ist denn mit ihm? Hat er einen Herzinfarkt, weil ihm wer ein paar Hunderter zu wenig bezahlt hat für die letzte Waffenlieferung? Ein Raubüberfall? Er hat doch immer sein Bargeld im Tresor.“
„Weiß man nicht. Er wurde erschossen. An seinem Schreibtisch.“
„Dann kann er wenigstens keine Rehböcke mehr töten“, zischte eine junge Frau. Christine war die neue Praktikantin und bekennende Tierschützerin. Man würde sie vermutlich nicht länger behalten – und sie würde wohl auch nicht bleiben. Mit welchem Motiv sie sich überhaupt bei einem Waffenerzeuger beworben hatte und dass man sie genommen hatte, war undurchsichtig, so lautete die allgemeine Meinung unter Kolleginnen und Kollegen. Auch jetzt sahen die Umstehenden sie nur pikiert an. In der Kaffeeküche wurde es eng, Getuschel und Gerüchte wogten wie Meereswellen, brandeten über der Tür auf und schwappten über die Anwesenden hinweg.
„Ist die Polizei schon da?“, fragte Liane, die Chefbuchhalterin, und versuchte, sich zur Kaffeemaschine durchzudrängen. Irgendwo fiel klirrend eine Tasse zu Boden.
„Natürlich.“ Nicola hatte verweinte Augen, sie war erst seit Kurzem zu Knapps Assistentin aufgestiegen. „Vorerst darf noch niemand das Chefbüro betreten.“
„Nana“, machte Christine und drehte den Wasserhahn auf, um ein Glas damit zu befüllen, „sieht ja aus, als hätte die ein persönliches Verhältnis mit dem Chef gehabt.“
„Du hast’s nötig!“, rief Gewerkschafterin Robinia. „Beruhigt euch, Leute, bitte. Noch wissen wir gar nichts.“
Mittlerweile betraten die Polizisten das Chefbüro. Der Tote saß vornübergeneigt an seinem Schreibtisch, der Kopf auf der Marmortischplatte, die Arme auf dem Tisch. Neben ihm auf dem Boden lag die Flinte, es war tatsächlich seine eigene. Fingerabdrücke fanden sich nicht darauf. Als Todesursache wurde ein Schuss aus nächster Nähe festgestellt, Verletzungen, Projektil und Flinte passten zusammen. Als Todeszeitpunkt wurde ein Zeitraum zwischen 22 Uhr und 1 Uhr früh ermittelt.
Die Ermittler ließen sich die Aufnahmen der Überwachungskameras zeigen; doch diese waren um 20.01 Uhr ausgeschaltet worden. Der Security-Mann war selbst überrascht davon. Im Kalender des Toten fand sich ein letzter Termin am Abend seines Todes, mit Robinia Huber, Gewerkschafterin. Knapps Assistentin Nicola bestätigte diesen Besuch. Sie habe Robinia ins Büro zu Knapp geführt, da habe er natürlich noch gelebt. Dann habe der Chef sie nach Hause geschickt.
Bei der Überprüfung der Firmen-Bankkonten und von Knapps privaten Bankverbindungen wurden mehrere Zahlungen an neun Mitarbeiter entdeckt, die in der Nacht durchgeführt worden waren, nach dem vermuteten Todeszeitpunkt.
Man befragte also die Chefbuchhalterin Liane Berger.
„Einige Angestellte haben größere Zahlungen erhalten. Was wissen Sie darüber?“
„Nun, es gab einige Mitarbeiter, die extra Prämien bekommen sollten, eine Gewerkschafterin hat das so mit der Geschäftsleitung vereinbart.“
„Ich habe hier eine Liste“, sagte der Polizist, „derzufolge handelt es sich um neun Leute, die noch vor Kurzem zur Kündigung angemeldet werden sollten, laut Gewerkschafterin. Wir können jedoch keine Kündigungsschreiben finden.“
„Nun“, Liane stützte sich mit den Ellbogen auf ihrem Schreibtisch ab, „eine Weile sah es so aus, als müssten wir Mitarbeiter abbauen. Die Wirtschaftslage war nicht besonders gut. Mittlerweile hat sich aber alles wieder geändert, die wirtschaftliche Situation der Firma ist viel besser, wir haben neue Kunden gewonnen. Somit können und wollen wir nicht auf diese Mitarbeiter verzichten. Daher wurde auch nie eine Kündigung ausgesprochen. Die Details kennt vermutlich nur unsere Gewerkschafterin, Robinia Huber.“
Also wurde als Nächste Robinia befragt, was es mit den Vorgängen auf sich habe.
„Sie hatten gestern einen Termin mit dem später Verstorbenen. Vermutlich waren Sie die Letzte, die ihn lebend getroffen hat.“
Die Gewerkschafterin nickte und seufzte.
„Das ist natürlich furchtbar. Ich hatte etwas Wichtiges mit dem Chef zu besprechen. Es gab Unstimmigkeiten über gewisse Dinge, über Kündigungen und Gelder. Ich konnte schließlich in der Verhandlung mit Roman Knapp tatsächlich erreichen, dass diese neun Mitarbeiter nicht gekündigt werden und sogar eine Sonderzahlung für ihre Leistungen bekommen. Ich habe ihn dazu gebracht, es als Wiedergutmachung zu sehen für die harte langjährige Arbeit dieser Leute. Immerhin hatten sie alle jahrelang erfolgreich für das Unternehmen gearbeitet. Es geht dabei um Leute, die in besonderen Situationen stecken. Tibor Becks Haus zum Beispiel – das ist einer der Techniker – wurde beim Hochwasser letztes Jahr überflutet, ihm blieb nichts. Mit der Prämie kann er es halbwegs wiederaufbauen. Simone Haller wiederum hat fünf Kinder und ist Alleinerzieherin, zudem ist ihr Gehalt als Versandmitarbeiterin sehr niedrig. Wir haben endlich Leuten geholfen, statt sie zu feuern.“
„Verstehe. Das muss ein toller Sieg für Sie gewesen sein.“
„Schon, ja.“
Die Gewerkschafterin lächelte verhalten.
„Auf den Videoaufnahmen sehen Sie nicht so aus. Wie haben Sie Knapp zu dieser Zahlung überredet? Er gilt laut bisherigen Aussagen nicht gerade als freigiebig.“
„Die Geschäfte laufen gut, sogar besser als zuletzt. Und wir brauchen die Mitarbeiter. Wir sind auf sie angewiesen, um die Aufträge zu erfüllen und alle Bestellungen zu liefern. Ich habe Knapp klargemacht, dass Prämien helfen werden, die Produktion anzukurbeln, ganz einfach. Weil sie die Sorgen dann los sind und produktiver sein können.“
„Und das hat er so geschluckt?“
„Mit meinem Verhandlungsgeschick, ja.“
„Wie hast du ihn nur so weit gebracht, diese Zahlungen zu genehmigen, Robinia?“, fragte Simon seine Freundin Robinia am selben Abend. Simon arbeitete im selben Betrieb wie sie in der Kundenabteilung.
„Ist das nicht egal? Wichtig ist, dass er es getan hat. Freuen wir uns über unseren Erfolg.“
„So einfach lässt sich Knapp normalerweise nicht darauf ein, was von seinen Millionen rauszurücken.“
„Normalerweise nicht, aber das war eine besondere Situation.“
„Wie ist das Gespräch verlaufen? Oder muss ich es selbst rausfinden?“
Robinia und er hatten ständig solche Spiele laufen, wer etwas früher rausfände.
„Ich hatte ihn fast so weit, er hatte schon zugestimmt, dann hat er einen Rückzieher gemacht. Aber dass er ausgerechnet mit der Tierschützerin ein Verhältnis hat – das hätte er sich selbst früher überlegen müssen. Ich habe ihm klargemacht, wenn er dieser Christine Firmengeheimnisse verrät, braucht er keine Prämien mehr zahlen … dann ist die Firma am Ende. Er wäre vor dem Aufsichtsrat erledigt gewesen, und dort sitzen immerhin seine Söhne und Schwiegertöchter. Ich habe den Knapp mit Christine beim Turteln beobachtet. Mehrmals. Sie hatten ihr Stelldichein in einem kleinen Häuschen in der Nähe, wo ich jogge. Ich habe sie ein wenig belauscht. Nein, nicht absichtlich, natürlich nicht! Wo denkst du hin!“
Robinia lächelte fein.
„Nur so zufällig habe ich so einiges mitgehört, was Knapp seiner jungen Freundin verraten hat. Fast hat es sich angehört, als würde Christine den Alten für irgendwelche Aktionen zugunsten von Federvieh oder Pelzverwertungstieren rekrutieren. – Na, und das habe ich Knapp dann gesagt. Also ist er auf meine Umverteilungsidee eingestiegen. Dass sich Knapp aus Angst danach selbst erschossen hat, dafür kann ich nichts. Immerhin hat Rashid jetzt das Geld für die OP seiner Schwiegermutter in Afghanistan und Greta kann ihre Kinder zur Schulsportwoche anmelden.“
Robinia zuckte lächelnd die Achseln.
„Ist doch schön, oder?“
Anni Bürkl ist Journalistin, (Krimi-)Autorin und Lektorin. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel „Göttinnensturz“ und ist Teil einer Krimireihe rund um Teelady Berenike Roither, erschienen im Gmeiner Verlag.