Kaske fordert zusätzlich zum jüngsten Bildungskompromiss der Bundesregierung eine gesamtnationale Bildungsstrategie: „Alle brauchen ihre Chance auf bestmögliche Bildung. Vor allem muss Schluss sein damit, dass Bildung vererbt wird.“ In der gesamtnationalen Bildungsstrategie müssen weitere Schritte enthalten sein, damit kein Talent auf dem Weg zur bestmöglichen Bildung und Ausbildung verloren geht. Es sei ein Erfolg, dass jetzt das zweite Gratis-Kindergartenjahr kommen soll.
Als nächster Schritt ist dem AK-Präsidenten eine soziale Schulfinanzierung wichtig: Die Schulen sollen umso mehr Mittel bekommen, je mehr SchülerInnen sie haben, denen die Eltern selbst nicht beim Lernen helfen können.
Infos unter: tinyurl.com/powju9e
]]>Frei von Angst
Ein Leben, das möglichst frei von Angst ist und in dem ich mich durch sinnvolle Tätigkeit verwirklichen kann, ist wohl die wichtigste Basis für ein gutes Leben. Angst muss man dann nicht haben, wenn Frieden herrscht und es keinen Terror gibt.
Angst muss man dann nicht haben, wenn man selbst und die Menschen, die man liebt, darauf vertrauen können, dass man das Leben nach seinen Vorstellungen gestalten kann. Angst muss man dann nicht haben, wenn man darauf vertrauen darf, dass auch die Kinder und Enkelkinder in einer lebenswerten Welt leben werden.
Solidarisches Handeln
In Österreich gilt das immer noch für sehr viele Menschen. Dazu trägt auch unser moderner Sozialstaat bei. Dennoch macht sich auch bei uns – und das nicht nur bei den ärmsten und in prekären Verhältnissen Lebenden – eine massive Lebensangst breit. Eine Wurzel dieser Lebensangst war und ist die Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich zunehmend zu einer politischen Systemkrise auswächst. Dazu kommt, dass so viele Menschen wie schon lange nicht mehr vor Krieg und Verfolgung und auch vor den Folgen des Klimawandels flüchten.
Der Anspruch auf ein gutes Leben muss auch für die Menschen, für die Not und Angst ständige Lebensbegleiter sind, gelten.
Die Bedürfnisse und Sehnsüchte nach einem guten Leben stellen heute auch einen der wichtigsten Rohstoffe zur weiteren Profitvermehrung dar. Gerade die Digitalisierung schafft neue Möglichkeiten, in unser Privatleben einzudringen und unsere Lebensgewohnheiten für neue, gewinnbringende Geschäftsmodelle zu nutzen.
Bedürfnisse und Sehnsüchte sind aber auch der Rohstoff für solidarisches politisches Handeln, weil sehr viele Menschen sehr konkrete Vorstellungen von und Sehnsucht nach einer besseren Welt haben.
Die Krisenfolgen und die größer werdende Lebensangst sollten uns daher nicht in Agonie und Hoffnungslosigkeit treiben. Wir müssen unseren Blick auf jene Ungerechtigkeiten und Missstände lenken, auf denen man politisches Handeln aufbauen kann.
Letzten Endes geht es wie immer um Verteilung des im Übermaß vorhandenen Reichtums. Und auch die Arbeitsbelastung und damit die Arbeitszeit sind ein wichtiges Feld für politisches Handeln. Die Bedürfnisse der Menschen nach Selbstverwirklichung, nach Gesundheit und Glück stehen im Widerspruch zu einer unglaublichen Arbeitsverdichtung. Gleichzeitig haben Hunderttausende keine Arbeit. Es geht also auch um die Verteilung bezahlter Arbeit – und daher um Arbeitszeitverkürzung.
Gerechte Verteilung
Letztendlich ist der Kampf um ein gutes Leben immer ein Kampf um die gerechtere Verteilung der Ressourcen und damit Lebenschancen.
Denn eines ist sicher: Mit dem derzeit angehäuften Reichtum wäre ein gutes Leben für sehr viel mehr Menschen als jetzt nicht nur Utopie, sondern eine reale Möglichkeit. Dafür zu kämpfen ist eine lohnende Aufgabe.
Wir legen ihnen diese drei Beiträge besonders ans Herz:
Wunderbare Statistikwelt
Es war ein Zuwachs, der diese Bezeichnung verdient: Die AkademikerInnen-Quote schnellte in Österreich innerhalb eines Jahres von 20 auf 30 Prozent in die Höhe. Zumindest kam die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick 2015“ zu diesem erstaunlichen Ergebnis. Scheinbar ein beachtlicher Erfolg für die Akademisierung dieses Landes.
Doch wie so oft bei solch dramatischen Veränderungen der Zahlen ist Skepsis angezeigt. Schließlich können wohl kaum plötzlich um die Hälfte mehr Menschen ein Studium abgeschlossen haben als noch vor einem Jahr. Und richtig, nicht eine reale Veränderung steht dahinter, sondern eine neue Definition der Bildungsebenen (ISCED). Damit zählt nun die Matura an einer HTL oder HAK wie ein Hochschulabschluss.
Diese neue Einteilung lässt auch die soziale Durchlässigkeit an Hochschulen in einem besseren Licht erscheinen. Es besteht dabei jedoch die Gefahr, dass ISCED-Umstellungseffekte als tatsächliche Entwicklungen fehlinterpretiert werden.
Denn bei der sozialen Mobilität besteht weiterhin großer Aufholbedarf: So ist die Chance zur Aufnahme eines Universitätsstudiums für Kinder bildungsnaher Schichten (Eltern haben mindestens Matura) dreimal so hoch wie für Kinder mit Eltern ohne Matura.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/gu82vqk
Mindestlohn erlaubt
Löhne und Gehälter sind ein gewerkschaftliches Kernanliegen. Das Einhalten einer Untergrenze, sprich Mindestlohn, ist dabei unverzichtbar. Der Europäische Gerichtshof war bei diesem Anliegen nicht immer hilfreich. Noch im Jahr 2008 hat er in einer Entscheidung befunden, dass bei öffentlichen Bauaufträgen eine Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohnes nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Ein Schlag in die Magengrube der Gewerkschaftsbewegung.
Nun scheint sich der EuGH besonnen zu haben. In einer neuen Entscheidung hat er eine ähnliche Regelung als mit dem Unionsrecht vereinbar beurteilt. Argumentiert wird der Sinneswandel mit den anderen Umständen des neuen Falles, es deutet jedoch einiges auf eine grundsätzliche Kurskorrektur hin. Insofern gibt es einen sozialen Lichtschein am Horizont des EU-Himmels.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/zhnydr2
Digitale Interessenvertretung
Es ist ein Thema, das uns nicht nur auf dem Blog immer öfter beschäftigt: Online-Vermittlungsplattformen für die digitale Arbeit, mittlerweile fast besser bekannt als „Crowdwork“.
Amazon Mechanical Turk (AMT) ist eine der weltweit größten dieser Art. Laut Angaben von Amazon sind derzeit ca. 500.000 ArbeiterInnen – sogenannte „TurkerInnen“ – aus 190 Ländern registriert. Dabei ist AMT so konstruiert, dass sich wesentliche Informations- und Machtungleichgewichte zulasten der dort Beschäftigten ergeben.
Arbeitsrechtlich ist die Problematik äußerst schwer zu fassen, nicht nur wegen der riesigen Zahl der betroffenen Staaten, sondern auch wegen des unklaren Status der Beschäftigten. Aber jetzt setzen die TurkerInnen dazu an, das Ungleichgewicht mit digitalen „Waffen“ zu bekämpfen.
Mittels Turkopticon, einem simplen Web-Tool, nehmen die digitalen ArbeiterInnen kollektiv Einfluss auf die Plattformfunktionen. Durch ein Bewertungssystem setzen sie sich gemeinsam für mehr Fairness und Gerechtigkeit ein. Dieses Beispiel zeigt, dass es auch in der virtuellen Welt Anknüpfungspunkte für Solidarität und das Einstehen für gemeinsame Interessen gibt.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/hpm48ts
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Falls Sie sich gerade wundern, was Sie da lesen, und bevor Sie noch Google nach der Hoizhittn GmbH befragen, weil Sie von dieser noch nie etwas gehört und gelesen haben: Die Hoizhittn GmbH exisitiert ebensowenig wie deren Mutterkonzern Wutpecka AG. Es handelt sich um fiktive Unternehmen und Personen, die diesen Herbst trotzdem eine große Rolle spielten – und zwar an der Sozialakademie Wien.
Zusammenhänge erkennen
Die Aufgabe der Sozialakademie ist es, ihren TeilnehmerInnen jene Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, die für eine kompetente und effiziente Vertretung von den Interessen der ArbeitnehmerInnen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene erforderlich sind. Die Sozialakademie dient als höchste Stufe der gewerkschaftlichen Bildung der Ausbildung von Führungskräften der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen.
Absolventen und Absolventinnen der SOZAK finden sich in der Rolle einer Schnittstelle und eines Übersetzers/einer Übersetzerin wieder. In der Sozialakademie lernen und vertiefen sie ihr Wissen über die verschiedensten Themengebiete, die BelegschaftsvertreterInnen kennen müssen: Arbeitsrecht, Betriebswirtschaftslehre, Kommunikation und der Umgang mit Medien, aber auch Krisenmanagement. Die Herausforderung ist es jedoch, die komplexen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Themengebieten zu verstehen, anzuwenden und vor allem auch kommunizieren zu können.
Um den TeilnehmerInnen einen „Vorgeschmack“ auf ihre künftigen Herausforderungen zu geben und ihre Fertigkeiten zu trainieren, schufen Brigitte Daumen und Georg Sever von der SOZAK-Lehrgangsleitung ein eigenes Modul, den sogenannten SOZAK-Praxisfall. Dieser findet am Ende des Lehrgangs statt, in einer Woche sind die TeilnehmerInnen herausgefordert, ihr erworbenes Wissen laufend und oft spontan abzurufen und im Rahmen der Übung korrekt anzuwenden. „Die Sozialakademie ist quasi ein Versuchslabor, in dem die Teilnehmerinnen Handlungsweisen austesten und trainieren können, damit sie diese dann im echten Leben in den Betrieben auch gut anwenden können“, sagt Georg Sever von der SOZAK-Lehrgangsleitung. Gerald Mjka, Betriebsratsvorsitzender des Wiener Krankenhauses Zum Göttlichen Heiland, erinnert sich gerne an die stressige, aber sehr lehrreiche Zeit zurück. „Die Zeit während des Praxisfalls war sehr intensiv. Wir erhielten die Aufgaben am Ende unserer Ausbildung, in einer Phase, in der wir alle schon recht müde waren. Der Praxisfall war sehr fordernd und verlangte unsere gesamte Konzentration, vor allem, wenn es um Organisation und Kommunikation ging.“
Interviews und Bilanzanalysen
Im Rahmen des Praxisfalles wurden die TeilnehmerInnen in verschiedenste Gruppen eingeteilt, die jeweils Betriebsratskörperschaften des fiktiven Betriebs Hoizhittn GmbH darstellen. In diesem konkreten Fall sollte die Hoizhittn GmbH als Unternehmensstandort in der strukturschwachen Region Retz trotz guter Umsätze und Gewinne geschlossen werden.
Die Belegschaft, dargestellt von Brigitte Daumen, Georg Sever, Brigitte Hons von der GPA-djp-Bundesrechtsabteilung sowie Markus Oberrauter von der Abteilung Betriebswirtschaft der Arbeiterkammer Wien, stellte konkrete Anfragen, auf die die BetriebsrätInnen augenblicklich reagieren mussten. Bei den Anfragen ging es um Entlassungen, Kündigungen, Anfragen von Karenzierten, Bilanzanalysen oder um die korrekte Abhaltung von Betriebsratssitzungen sowie Betriebsversammlungen. Auch mussten die TeilnehmerInnen Interviews simulieren, die sie verschiedensten Medien geben mussten. Hier wurden sie von Barbara Trautendorfer von der PRO-GE-Medienabteilung und Cornelia Breuß von der Abteilung Service und Information der Arbeiterkammer Wien trainiert.
Daneben mussten sie auch mit der Personalchefin, die von Helga Fichtinger aus der GPA-djp dargestellt wurde, sowie mit der Geschäftsführung, gespielt von Heinz Leitsmüller, Leiter der Betriebswirtschafts-Abteilung der AK Wien, Sozialplanverhandlungen führen. Die Geschäftsführung wurde zudem noch von einem Rechtsanwalt (aka Silvia Hruska-Frank von der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien) unterstützt, sodass auch noch das Rechtswissen der SOZAK-TeilnehmerInnen abgeprüft wurde.
Gerald Mjka und seine KollegInnen sahen sich plötzlich mehreren Herausforderungen gegenüber, die sie bewältigen mussten. So mussten sie innerhalb kürzester Zeit eine Team- und Kommunikationsstruktur aufbauen. „Wir wussten nicht, wie lange das dauert und welche Ausmaße der Fall annimmt, daher war es sehr schwer für uns“, sagt Mjka. „Es war die größte Herausforderung, ein Team und eine Struktur aufzubauen, damit alles reibungslos funktioniert. Zudem mussten wir Entscheidungsprozesse festlegen und durchhalten.“
Um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen, wurden auch spezielle Situationen mit MitarbeiterInnen simuliert – was passiert mit Mitarbeiterinnen, die in Karenz sind? Eine Herausforderung war der Fall von „Rolli Wiel“, einem Mitarbeiter mit einer Behinderung und verminderten Erwerbsfähigkeit von 80 Prozent. Er hätte nur noch zwei Jahre bis zur Pension und wäre bereit, bei einer eventuellen Weiterbeschäftigung auf Teile seiner Abfertigung zu verzichten … „Es war eine Herausforderung, auch die individuellen Sorgen der Arbeitnehmer genauso ernst zu nehmen und nicht untergehen zu lassen“, sagt Mjka.
Strategien entwickeln
Georg Sever erklärt die Schwierigkeiten der Übung so: „Neben der Beantwortung inhaltlicher Fragestellungen mussten in vielen Bereichen Strategien entwickelt werden. Was kann zum Beispiel von einzelnen Themenverantwortlichen alleine entschieden, aber was in der Gruppe rückbesprochen werden? Welche Vorgangsweise wählt man bei der Beschaffung von Informationen? Wie legt man die Kommunikation mit den Medien an? Welche Strategie verfolgt die Körperschaft bei der Verhandlung mit der Personalchefin? Wie gehe ich strategisch beim Gespräch mit dem Geschäftsführer vor?“
Nach jeder Übungs- bzw. Verhandlungssequenz sowie den jeweiligen Medieninterviews wurde eine Feedbackrunde eingelegt, in denen die FachexpertInnen mit den TeilnehmerInnen deren Vorgangsweisen besprachen. Sie hoben ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen hervor und gaben Ratschläge, wie sie die Schwächen ausgleichen konnten.
Zudem wurden Praxistipps und Tricks für Verhandlungen und Interviews vermittelt. „Außerdem wurde immer darauf hingewiesen, wo BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen in der Praxis mit derartigen Situation konfrontiert sind“, ergänzt Georg Sever. Gerald Mjka ist froh und dankbar, die Möglichkeit gehabt zu haben, ein Worst-Case-Szenario durchspielen zu können. „Der ganze Prozess war hervorragend aufgebaut. Wir wuchsen in unsere Rollen hinein und konnten uns letztendlich mit ihnen sogar voll und ganz identifizieren. Herzlichen Dank an die Organisatoren, die so etwas Großartiges auf die Beine gestellt haben.“ Vielleicht geht Mjkas Wunsch noch in Erfüllung: dass der Praxisfall nicht nur fix in den SOZAK-Lehrplan integriert, sondern auch separat gelehrt wird.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin maja.nizamov@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Individuelles Erleben
Für das Buch „Arbeit ist das halbe Leben“ wurden ArbeitnehmerInnen gebeten, über den von ihnen subjektiv erlebten Wandel der Arbeitswelt seit 1945 zu erzählen. In diesen Erinnerungstexten erzählen ArbeiterInnen und Angestellte, Beschäftigte in Dienstleistungs- und Pflegeberufen und LehrerInnen über ihre Berufslaufbahn. Der Zeitraum der Erzählungen erstreckt sich vom Beginn der Lehrzeit über den Beruf bis hin zum Pensionsantritt. Es stehen nicht allein Fakten im Vordergrund, sondern vor allem das individuelle und persönliche Erleben, also auch jener Handlungsspielraum, in dem Hoffnungen/Enttäuschungen, Erfolge/Frustrationen, Glücksmomente/Ängste, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, aber oft auch der Zufall einen breiten Raum einnehmen. Die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen zeigen deutlich, dass die Art der beruflichen Tätigkeit und der damit einhergehende Rhythmus neben familiären, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen die Lebensrealität und die Lebensqualität nachhaltig bestimmen: Arbeitsbeginn, Arbeitszeit, Arbeitsumfeld, Arbeitsgestaltung, Arbeitsende und Arbeitswege sind dabei ebenso entscheidende Faktoren. Dabei wird auch immer direkt oder indirekt auf die durch die Gewerkschaften erkämpften sozialpolitischen Erfolge hingewiesen, die in der retrospektiven Lebensbetrachtung eine deutliche Veränderung im Arbeits- und Alltagsleben der Erzählenden bewirkten.
Konnte noch für die 1950er-Jahre festgestellt werden, dass die Arbeitseinkommen „in diesen Jahren noch in hohem Maße für die Deckung der elementarsten Lebensbedürfnisse“ aufgingen, so schrieb ein Handelsangestellter über die beginnenden 1960er-Jahre: „Die Verhältnisse hatten sich geändert, die ökonomischen Bedingungen waren andere geworden. Urlaubsreisen, meist nach Italien, lösten die sogenannte Sommerfrische ab. Mehr Menschen – das zeigte sich am Abend bei den täglichen Kassenkontrollen – gaben für Lebensmittel mehr Geld aus.“ Der damit verbundene Aufschwung schlug sich in der Lebensrealität des jungen Angestellten nieder: „Auch ich konnte mir mein erstes Moped, ein aus dem Fuhrpark der Firma ausgeschiedenes kaminrotes Moped der Marke Puch leisten.“ Allerdings war damals das Zeitbudget durch längere Arbeitszeiten und noch gering ausgebaute Infrastruktur beschränkt: „Natürlich hatte sich auch meine Freizeit so ziemlich eingeengt, waren doch die Öffnungszeiten der Geschäfte und die Wochenarbeitszeiten in den 1960er-Jahre andere, als wir sie aus der Gegenwart kennen. Noch dazu waren die öffentlichen Verkehrsmittel nicht so ausgebaut, und man musste oft, wie es so schön heißt, ‚mit der Kirche ums Kreuz‘ fahren.“ Dieser Rückblick in die Sechziger relativiert jenes oft nur auf Beatles, Studentenrevolte und Minirock reduzierte Bild der 1960er-Jahre.
Zentrales Thema Arbeitszeit
Die Arbeitszeit bzw. ihre Veränderungen nehmen in den Lebenserinnerungen von ArbeitnehmerInnen einen zentralen Stellenwert ein. Arbeiteten die Menschen in der Anfangszeit der Zweiten Republik oft mehr als 48 Stunden pro Woche, so konnte die Arbeitszeit im Februar 1959 auf 45 Stunden gesenkt werden. Durch den vom ÖGB erkämpften und 1970 vereinbarten Generalkollektivvertrag wurde sie etappenweise auf 40 Stunden reduziert. Später wurde die Arbeitszeit in vielen Branchen durch Kollektivverträge von 40 auf 38 bzw. 38,5 Stunden verkürzt. In einer der Lebensgeschichten heißt es dazu: „Das bedeutete eine enorme Steigerung der Lebensqualität (…) Dies nahm ich so in Anspruch, dass die Freizeit hauptsächlich zur Regeneration benutzt wurde und dazu, die persönlichen Kontakte aufrechtzuerhalten. Im Urlaub unternahmen wir schöne Reisen, zumeist mit Freundinnen und Freunden in einer Gruppe.“
Steigender Druck
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hatten sich jedoch im Laufe der 1980er und 1990er dramatisch verändert: „Der Stellenwechsel war inzwischen erheblich schwerer geworden und der Ton unglaublich ruppig. Dazu kam, dass man ab vierzig eigentlich zum alten Eisen gehörte. Dann kamen die unzähligen Rationalisierungen, Umorganisierungen, Sparmaßnahmen, fast jeden Monat war alles wieder neu umzustellen. Das Klima war total verpestet, der Druck unerträglich.“ Zeiten der Arbeitslosigkeit wurden Teil von Biografien: „Die Situation hatte sich nun aber verändert. Es gab Arbeit nicht mehr in Hülle und Fülle, wie ich es bisher gewohnt war. Ich brauchte etwas über ein halbes Jahr, um Arbeit zu finden. (…) Die Zeit der Arbeitslosigkeit habe ich als sehr unangenehm in Erinnerung. Es kratzte sehr am Selbstbewusstsein, immer wieder Absagen zu bekommen.“
Ein Problem, mit dem sich bis in die Gegenwart GewerkschafterInnen auseinandersetzen, wird von einer Angestellten, die als Direktionsassistentin, Privatsekretärin und als Sachbearbeiterin gearbeitet hat, angesprochen. Nach einem Jobwechsel stellte sie zwar fest, dass an ihrem neuen Arbeitsplatz der Lohn zumindest einigermaßen stimmte, meinte dann aber doch einschränkend: „Einigermaßen wohlgemerkt, denn Männer in der gleichen Position bekamen automatisch um ein Drittel mehr – ohne die diversen Nebenaufgaben! So ist das heute noch.“
Der technologische Fortschritt in der Arbeitswelt, verbunden mit einer steten Produktivitätssteigerung, forderte von den ArbeitnehmerInnen einen hohen Preis, wie in einem Beitrag resümiert wird: „Das Arbeitsleben hat sich ebenso sehr verändert. Die Maschinen brachten zwar einiges an Erleichterung für mühsame Arbeitsvorgänge, allerdings muss nun alles viel schneller gehen, um Personal einzusparen, und Zeit für ein Gespräch mit den Arbeitskolleginnen und -kollegen bleibt kaum noch“.
Zuversicht stärken
Die hier nur kursorisch erwähnten kleinen Einblicke in erzählte Lebensgeschichten verdeutlichen, dass die individuelle Lebensrealität abseits von persönlichen Schicksalsschlägen in einem großen Maß von der Gestaltung gesellschaftspolitischer und ökonomischer Rahmenbedingungen und eng verbunden damit von Arbeitswelt, Gesundheit, Einkommen, sozialer Sicherheit und Freizeit abhängig ist. Wenn etwa das Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2009 eine Umfrage der IG Metall mit den Worten kritisierte, dass ihr Fragenkatalog nach dem „guten Leben“ „stets im mittel- und unmittelbaren Zusammenhang allein mit der Arbeit stünde“ und „ebenfalls relevante Faktoren wie soziale Kontakte oder eine sinnvolle Freizeitgestaltung“ außen vor blieben, so wird damit das politische Ziel verfolgt, die gewerkschaftliche Forderung nach einem „Kurswechsel für gutes Leben“ zu diskreditieren.
Die biografischen Erinnerungen von ArbeitnehmerInnen unterstreichen jedoch die Relevanz des von den Vertretungen von ArbeitnehmerInnen geforderten Ausbruchs aus dem neoliberal geschaffenen Dilemma in eine bessere, gerechtere und sicherere Zukunft.
Hoffnungen stärken
Was Bruno Kreisky 1970 in Salzburg vor Gewerkschaften sagte, gilt heute mehr denn je: „Jetzt müssen wir die Zuversicht und die Hoffnungen der Menschen auf eine neue, gerechtere Politik stärken! Wir selbst haben es in der Hand, dass sich die Herzen der Menschen öffnen, wie bei einem Sonnenaufgang! Aber der Sonnenaufgang allein ist uns zu wenig, wir wollen den klaren Sonnenschein!“
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor klaus.mulley@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Enorme Kosten bei Untätigkeit
In den letzten Jahrzehnten war Wirtschaftswachstum eng an steigenden Ressourcenverbrauch gekoppelt – und damit einhergehend mit Umweltzerstörung. Innovative, umweltfreundliche Technologien konnten dieser Entwicklung zwar entgegenwirken, aber Wachstum nicht absolut von Umweltzerstörung entkoppeln.
Manchen Ländern oder Sektoren gelang eine absolute Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung, die Hauptursache dafür ist allerdings, dass die umweltschädlichsten Teile des Produktionsprozesses in Länder des Südens verlagert wurden. Ordnet man die daraus resultierenden Emissionen den Ländern zu, in denen die Endprodukte konsumiert werden, gehen Wachstum und Umweltzerstörung in den Industrieländern weiterhin Hand in Hand.
Weltweit führende Umwelt- und KlimawissenschafterInnen warnen davor, dass das Ausmaß und die Intensität aktueller wirtschaftlicher Aktivität bereits zu irreversiblen ökologischen Schäden geführt haben. Dabei wurden einige sogenannte „planetarische Grenzen“ bereits überschritten, andere planetarische Grenzen werden ohne eine grundlegende ökonomische und soziale Transformation in naher Zukunft erreicht. Die wohl bekannteste der neun diskutierten planetarischen Grenzen ist die steigende Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre, die zu Klimawandel führt.
In den Umwelt- und Klimawissenschaften steht außer Frage, dass schon eine moderate globale Erwärmung, wie sie gegenwärtig bereits stattfindet, ohne dass man noch gegensteuern könnte, zu einer Zunahme von Unwettern und Naturkatastrophen führen wird – mit drastischen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen.
Umweltschäden verlagert
Ein stärkerer Anstieg, der ohne substanzielle Klimapolitik als wahrscheinlich gilt, könnte mit noch viel größeren Risiken und irreversiblen Umweltschäden verbunden sein. Aufgrund gravierender sozialer Folgen des Klimawandels insbesondere in bevölkerungsstarken Küstenregionen in Ländern des Südens sind zudem Klimaflüchtlinge und verstärkte politische Konflikte zu erwarten.
Eine weitere Untätigkeit würde enorme ökonomische, soziale, und ökologische Kosten nach sich ziehen. Von daher braucht es sowohl einen Wandel der wirtschaftlichen Aktivität und als auch eine Abkehr vom fortschreitenden Verbrauch fossiler Energieträger.
Umweltungleichheit
Ein weiteres Umwelt- und Gesundheitsproblem, das unmittelbare und lokale negative Auswirkungen hat, ist Luftverschmutzung, die weiterhin im Anstieg begriffen ist. Einer Studie der Weltgesundheitsorganisation zufolge wurden die gesundheitlichen Gefahren von Luftverschmutzung in der Vergangenheit grob unterschätzt. Inzwischen wird sie für einen von acht Todesfällen weltweit verantwortlich gemacht. Die Folgen sind allerdings nicht nur auf globaler Ebene, sondern auch innerhalb der Industrieländer sehr ungleich verteilt. Diese Tatsache wird zunehmend unter dem Begriff Umweltungleichheit thematisiert. In Österreich ist es auf Basis der bisherigen Datenlage schwer möglich, das Ausmaß von Umweltungleichheit in Zahlen zu fassen. Für viele andere Länder hingegen belegen wissenschaftliche Ergebnisse klar, dass insbesondere arme und sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen Umweltgefahren überproportional ausgesetzt sind. Auch auf europäischer Ebene zeigen Ergebnisse des Europäischen Umweltbundesamts, dass Umweltgefahren räumlich sehr ungleich verteilt und in manchen Gegenden stark konzentriert vorkommen. So wird die Hälfte der ökologischen und gesundheitlichen Kosten industrieller Luftverschmutzung in der EU von nur einem Prozent aller industriellen Produktionsstandorte verursacht.
Dazu kommt, dass Umweltungleichheit und Einkommensungleichheit bzw. soziale Ungleichheit eng miteinander zusammenhängen: Vor allem reichere Bevölkerungsgruppen können sich individuell vor Umweltgefahren schützen, indem sie in Gegenden mit hoher Umweltqualität ziehen. Ärmere Bevölkerungsgruppen sind von dieser Möglichkeit ausgeschlossen.
Die steigende Einkommensungleichheit sorgt dafür, dass die Gruppe jener immer kleiner wird, die sich ein Leben in gesunder Umgebung leisten können. Es gibt aber auch zahlreiche Hinweise, dass Umweltungleichheit (zukünftige) Einkommens- und soziale Ungleichheit verschärft. So wird zum Beispiel der Lernerfolg von SchülerInnen oder die Arbeitsproduktivität von Beschäftigten stark von lokalen Umweltbelastungen beeinträchtigt, wodurch Chancengleichheit und Jobperspektiven drastisch reduziert werden. Außerdem steigen in Gegenden hoher Umweltqualität die Immobilienpreise und sinken in jenen mit niedriger Umweltqualität, was wiederum ökonomische Ungleichheit verstärkt.
Weitere Dimensionen
Der enge Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen, sozialen, und ökologischen Faktoren, welche die Lebensqualität beeinflussen, verdeutlicht, dass Wohlstand nicht nur auf wirtschaftliche Faktoren reduziert werden kann. Ein breiteres Verständnis von Wohlstand wird auch zunehmend von einflussreichen ÖkonomInnen und internationalen Institutionen eingemahnt, insbesondere seit der großen internationalen „Beyond GDP“-Konferenz in 2007.
Ein wichtiges Ergebnis der Konferenz war, dass Wirtschaftswachstum nicht mehr als der zentrale Erfolgsindikator einer Volkswirtschaft betrachtet werden soll, sondern nur noch als einer von vielen. Ergänzt werden sollte er um weitere Dimensionen: soziale Indikatoren wie Lebenserwartung, Armut, Arbeitslosigkeit, verfügbares Einkommen, und Bildungsstandards; ökologische Indikatoren wie Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung und deren gesundheitliche Folgen; Indikatoren für Lebensqualität wie Lebenszufriedenheit, Jobzufriedenheit, Familienleben, Gesundheit und Lebensstandards.
Innovative Politikempfehlungen
Ein breiteres Verständnis von Wohlstand führt zu innovativen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Politikempfehlungen. Dabei werden soziale und ökologische Ziele nicht mehr als Gegensätze betrachtet. Und auch bei schwachem Wirtschaftswachstum kann hohe Beschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit erreicht werden. So könnte etwa eine gleichere Verteilung von Arbeitsstunden durch Arbeitszeitverkürzungen neben positiven Beschäftigungseffekten auch die Lebensqualität durch mehr Zeit für Familie und Freizeitaktivitäten erhöhen und geschlechtsspezifische Arbeitsmarktunterschiede verringern. Ein Ausbau öffentlicher Infrastruktur für Mobilität, nachhaltiger Energieversorgung, Wohnraum, Bildung und Gesundheit würde neben positiven Beschäftigungseffekten und einer Reduktion sozialer Ungleichheit auch zu einer Verringerung von individuellem Ressourcenverbrauch und einer höheren Umwelt- und Lebensqualität führen. Die ökologischen und sozialen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte erfordern eine verstärkte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Maßnahmen und eine Abkehr vom Bruttoinlandsprodukt als Hauptindikator für Wohlstand.
Nachlese:
EEA, 2014. Costs of air pollution from European industrial facilities 2008–2012 – an updated assessment, Copenhagen, DK:
tinyurl.com/j48yteq
Jackson, Tim. 2009. Prosperity Without Growth. Economics for a Finite Planet. London: Earthscan:
tinyurl.com/zetjytn
Rockström, J. et al., 2009. Planetary Boundaries. Exploring the safe operating space for humanity. Nature, 461, pp.472–475:
tinyurl.com/hynqhpo
WHO, 2014. 7 million premature deaths annually linked to air pollution:
tinyurl.com/pqgdd5q
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin klara.zwickl@wu.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Wohlstandsinsel Europa
Stellt schon das Management der internen Probleme für Europa heute eine massive Herausforderung dar, so schärfen die interkontinentalen Fluchtbewegungen der letzten Zeit zunehmend das Bewusstsein dafür, dass die Wohlstandsinsel Europa neue und stärker international vernetzte Lösungen zur Krisenbearbeitung suchen muss. Unterschiedliche inter- und supranationale Organisationen wie die OECD, die Vereinten Nationen oder die Europäische Kommission versuchen auch angesichts dieser Herausforderungen, Strategien für ein neues Wirtschafts- und Wachstumsmodell zu entwerfen. Schlagworte wie Green Growth, Green Economy oder Circular Economy prägen in den letzten Jahren die öffentliche Diskussion über zukunftsfähige Wirtschaftssysteme. „Better life Indices“ oder Überlegungen zu „GDP and beyond“ sollen die Wohlstandsmessung auf eine umfassendere und aussagekräftigere Basis stellen (siehe auch „Die Glücksmessung“).
Die Diskussionen des politischen Mainstreams gehen vielen nicht weit genug. Die ökologische Ökonomie warnt schon lange davor, dass die hochentwickelten Gesellschaften ihren Ressourcen- und Energieverbrauch längst reduzieren müssten, wenn die Klimakatastrophe verhindert werden und der globale Süden weiter Wachstumschancen haben soll. Diese Mahnungen nimmt man nun anscheinend auf breiter Front ernst. Vielerorts bestehen Zweifel, dass die angestrebten Wege der Steigerung von Ressourcen- und Energieeffizienz und der Reduktion von Treibhausgasemissionen (im Inland) ausreichen, um die westlichen Gesellschaften auf langfristig tragfähige Entwicklungspfade zu bringen.
Nicht nur zeigen Untersuchungen, dass sogenannte Rebound-Effekte oftmals dazu führen, dass Effizienzgewinne durch den Erwerb größerer Geräte oder intensiveres Nutzungsverhalten kompensiert werden. Berechnungen zum Export von Umweltbelastungen bzw. zum ökologischen Fußabdruck verdeutlichen auch, dass ein Teil der vermeintlich eingesparten CO2-Emissionen der europäischen Gesellschaften lediglich gemeinsam mit der Güterproduktion ins Ausland verlagert wurden und eigentlich weiterhin dem europäischen Konsum zugerechnet werden müssten. Und dank der „Deregulierungserfolge“ wächst in Europa kein Verkehrssektor so stark wie der Luftverkehr – im Zeitraum 1995 bis 2011 immerhin um mehr als 66 Prozent.
Vor diesem Hintergrund möchte sich eine wachsende Gruppe von VertreterInnen aus Wissenschaft, NGOs, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften nicht mehr mit dem Status quo abfinden. Sie fordern einen fundamentalen Kurswechsel in Europa. Mit dem Ziel, gemeinsam neue Lösungen zur Bearbeitung der multiplen Krise zu finden, bilden sie neue Allianzen, in denen sie auch bereit sind, die Grenzen der eingespielten institutionellen Handlungs- und Themenfelder zumindest punktuell zu überschreiten. Unter dem Motto „Gutes Leben für alle“ werden in diesem Sinne nicht nur Fragen der Verteilung von Arbeit, Einkommen, Vermögen bzw. Selbstverwirklichungschancen und Teilhabemöglichkeiten an Gesellschaft und Demokratie, sondern auch der Ernährungssouveränität, der internationalen Solidarität und des Lebens in Einklang mit Natur und Umwelt gemeinsam problematisiert.
Kleinräumige bzw. regional verankerte Initiativen und Projekte einer solidarischen Ökonomie und Gesellschaft – wie Food Coops oder alternative Wohnprojekte – sind damit genauso angesprochen wie politische Bewegungen für eine Re-Regulierung der Finanzmärkte oder des internationalen Handels. Zentral ist die Bekämpfung der politischen und ökonomischen Machtungleichgewichte, nicht zuletzt im Sinne der Interessen von armen und benachteiligten sozialen Gruppen im globalen Süden gleichermaßen wie im hochentwickelten Norden.
Kurswechsel
Dabei ergreifen durchaus unterschiedliche AkteurInnen die Initiative. Schon im Dezember 2012 organisierte die IG Metall in Berlin einen großen Kongress mit dem Titel „Kurswechsel für ein gutes Leben“, auf dem man sich auf die Suche nach einem neuen Fortschrittsbegriff für Industriegesellschaften und alternative Entwicklungspfade machte. 2014 verwendete eine Kooperation aus AK Wien, Attac Österreich, Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM), Grüner Bildungswerkstatt u. a. den gleichen Titel für eine Veranstaltungsreihe und eine Ausgabe der Zeitschrift „Kurswechsel“. Im Februar 2015 fand an der Wirtschaftsuniversität der erste große österreichische Kongress mit dem Titel „Gutes Leben für alle“ statt, auf Initiative der Allianz „Wege aus der Krise“ und des Obmanns der Grünen Bildungswerkstatt Österreich. „Wege aus der Krise“ ist dabei bereits selbst eine themenübergreifende zivilgesellschaftliche Allianz, an der österreichische Fachgewerkschaften und Umweltorganisationen ebenso beteiligt sind wie die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch, das Netzwerk Armutskonferenz, die österreichische HochschülerInnenschaft und Attac Österreich. Schon in diesem Netzwerk wurden in den letzten Jahren themenübergreifende politische Allianzen erprobt und das Ergebnis der internen Abstimmung in Form eines jährlich erscheinenden Zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudgets als Forderungen an die Politik herangetragen. Der Kongress wurde von der AK, Entwicklungsorganisationen, Forschungsinstitutionen und politischen Bildungseinrichtungen mitgetragen. Zusätzlich haben sich zahlreiche Initiativen an einer Messe beteiligt, die im Rahmen des Kongresses stattgefunden hat.
Der Vorteil der Utopie des guten Lebens für alle ist, dass sich im Unterschied zum „verwandten“ Postwachstumskonzept – in dem sehr viel Gewicht auf Verzicht und individuelle Verantwortung gelegt wird – auch gesellschaftliche AkteurInnen darauf einigen können, die stärker mit der bestehenden Wachstumslogik verbunden sind. Schließlich bleiben die konkreten Schritte und Zwischenziele zur Transformation unserer Gesellschaften vorerst relativ offen.
In der akademischen Diskussion wurde die Idee des guten Lebens vor allem unter Berufung auf Aristoteles ausformuliert, am prominentesten von der US-amerikanischen Sozialphilosophin Martha Nussbaum. Ihr geht es im Sinne der Entwicklung menschlicher Grundfähigkeiten nicht nur um die Sicherung von grundlegenden Daseinsvoraussetzungen, sondern auch um die Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, die allen gleichermaßen die Entdeckung und Nutzung des eigenen schöpferischen Potenzials und den Aufbau von bedeutenden Beziehungen zu Mitmenschen und der Natur ermöglichen. In ähnlicher Weise entwerfen der Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky und sein Sohn Edward eine Ökonomie des guten Lebens, die im Unterschied zum wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream konkrete menschliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Sicherheit, Persönlichkeit und Harmonie mit der Natur in den Fokus nimmt sowie die politisch-ökonomischen Möglichkeiten für deren Erfüllung.
Mehr Schlagkraft als Allianz
Offensichtlich ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem guten Leben für alle und gewerkschaftlichen Forderungen nach belastungsarmen und entwicklungsförderlichen Arbeitsplätzen, geregelten Arbeitszeiten, gerechter Einkommens- und Vermögensverteilung, umfassender demokratischer Mitbestimmung und guten Bildungschancen besteht. In diesem Sinne werden die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen auch weiterhin wichtige Bündnispartnerinnen im Kampf für ein gutes Leben für alle sein. Durch neue Allianzen erhalten zentrale Anliegen im besten Fall noch mehr Schlagkraft.
Linktipp:
Dialogreihe „Gutes Leben für alle“:
www.guteslebenfueralle.org
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor florian.wukovitsch@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Werbung für Zeitarbeit
Die geschilderte Szene stammt aus der deutschen Seifenoper „Marienhof“, die immerhin fünf Jahre über deutsche Fernsehbildschirme flimmerte. Die von Jenny begeistert als „feste Anstellung“ gepriesene Stelle ist in Wahrheit nichts anderes als Zeitarbeit, und es gibt einen guten Grund, warum diese in der Soap so positiv dargestellt wird: Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hatte eigene Dialoge in die Serie einfließen lassen. Sie ließ sich diesen „Spaß“ 58.670 Euro kosten. In den von INSM ergänzten Dialogen wurde für die angeblichen Vorzüge von Zeitarbeit geworben sowie für die Notwendigkeit zur Eigeninitiative. Und es wurden Klagelieder auf angeblich zu hohe Steuerbelastungen und Lohnnebenkosten für UnternehmerInnen gesungen. Auch der oben angeführte Dialog war gekauft.
Neue Dimension
Auch wenn die Serie im Jahr 2011 eingestellt wurde, so ist das dahinterliegende Problem weiterhin brennend aktuell. Versprechungen über das gute Leben, das man eben nur dann führe, wenn man ein bestimmtes Produkt sein Eigen nennt oder konsumiert, sind aus der Werbung altbekannt. Dass aber dafür bezahlt wird, in einer TV-Serie ganz bestimmte Vorstellungen des guten Lebens oder Arbeitens zu propagieren, ist immerhin eine neue Dimension.
Man muss den „Marienhof“ in den Kontext der damaligen politischen Situation setzen: Im Jahr 2002 wurde die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland von der rot-grünen Regierung neu ausgerichtet. Die INSM war an vorderster Front dabei. In einer Einschätzung der NGO „Lobby Control“ heißt es: „Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft drängte 2002 massiv auf eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts.“
Der Kauf von Dialogtexten in einer Seifenoper des deutschen Fernsehens war also Teil einer politischen Strategie, marktradikale und neoliberale Positionen innerhalb der Gesellschaft mehrheitsfähig zu machen. Selbst vor der Beschönigung von Schwarzarbeit wurde nicht zurückgeschreckt. So legte die INSM in Folge 1.962 vom 29. Juli 2002 der Verkäuferin Toni diese an ihren Chef gerichteten Worte in den Mund: „Ich könnte auch schwarz für Sie arbeiten! Sie würden eine Menge Geld sparen! Wie z. B. die ganzen Sozialabgaben und das Urlaubsgeld und ich weiß nicht was noch alles!“
Die INSM hatte sich in insgesamt sieben Folgen der Serie eingekauft, ohne dass dies von den Sendeverantwortlichen jemals offengelegt worden wäre. Dass wir davon heute überhaupt wissen, haben wir dem Investigativjournalisten Volker Lilienthal zu verdanken, der sich auch durch Strafandrohungen von 250.000 Euro nicht von seinen Recherchen abhalten ließ.
Herausforderung Social Media
Seitdem hat sich vieles geändert. Steckten soziale Netzwerke 2005 noch in den Kinderschuhen, sind sie heute ein wesentliches Kommunikationsinstrument. Für die PR-Branche sind sie vor allem deshalb interessant, weil sich damit völlig neue Möglichkeiten zur Verbreitung unterschwelliger Botschaften ergeben haben.
Diese Möglichkeiten wurden etwa von der Wiener PR-Agentur mhoch3 genutzt. Die Agentur hat sich ganz auf das Internet und soziale Netzwerke in allen Ausprägungen spezialisiert. Neben „Social Media Marketing“ und „Blog Marketing“ ist auch „Online Reputation Management“ im Angebot: „Machen Sie sich nicht erst Gedanken, wenn ein Shitstorm aufkommt“, heißt es in einem Werbetext der Firma.
Im „Online Reputation Management“-Paket von mhoch3 enthaltene Dienstleistungen sind unter anderem „aktives und reaktives Agieren“, „gezieltes Auslösen von Kommunikation“ und die „Ansprache von Multiplikatoren“. Neben Konzernen und Banken haben auch Parteien dieses Angebot genutzt.
Vor allem die ÖVP Wien war eine gute Kundin der Agentur, wie die JournalistInnen Stefan Apfl und Sarah Kleiner im November 2014 im Magazin „Datum“ aufdeckten. Hier schließt sich der Kreis zu „Marienhof“. Denn ähnlich wie in der Fernsehserie versuchte mhoch3 über Beiträge in sozialen Medien und Onlinekanälen politische Meinungen zu gestalten und zu beeinflussen. So wurde beispielsweise der ehemalige Wissenschaftsminister Johannes Hahn in gefälschten Postings vor protestierenden Studierenden in Schutz genommen und den Studierendenprotesten so die Legitimation entzogen.
Planmäßige Täuschung
Der PR-Ethikrat, ein freiwilliges Selbstregulierungsorgan der österreichischen PR-Branche, hat im September einen Bericht über die Aktivitäten von mhoch3 vorgelegt und die Firma sowie sieben ihrer KundInnen öffentlich „wegen planmäßiger Täuschung von Userinnen und Usern in großem Stil“ gerügt. Die Verwendung von falschen Identitäten zu Zwecken der PR auf Onlineforen hält der Ethikrat für „ethisch nicht vertretbar“. Ein anderes Medium, das sich die Agentur zunutze machte, sind Blogs – und auch hier wurden unlautere Mittel eingesetzt. Denn anders als bei den BloggerInnen handelt es sich auch nicht – wie von mhoch3 argumentiert – um „Online-JournalistInnen“. Vielmehr wurden die Beiträge von bezahlten AuftragnehmerInnen der Agentur erstellt. Diese stehen „damit in einem Abhängigkeitsverhältnis zu mhoch3 (und in weiterer Folge zu den Kunden der Agentur)“, wie der Ethikrat festhielt. Für die AuftragnehmerInnen war dieses Abhängigkeitsverhältnis ein prekäres, wie Brigitte Mühlbauer vom PR-Ethikrat erzählt: „Diese MitarbeiterInnen waren freie DienstnehmerInnen. Eine einzelne Mitarbeiterin hat rund 40 verschiedene Online-Identitäten gehabt. Die sind pro Posting bezahlt worden.“
Für solche schwindligen Methoden gibt es durchaus wirtschaftliche Gründe, wie Mühlbauer erläutert: „Alle Unternehmen stehen unter dem Druck, möglichst große Wirkung mit möglichst wenig Geld zu erzielen. Bei vielen Unternehmen sind die Werbebudgets drastisch gekürzt worden. Dadurch werden neue, günstigere Werbeformen wie etwa Blogs interessant. Diese Digitalkommunikation wird von vielen als rechtsfreier Raum wahrgenommen. Da gibt es oft kein Unrechtsbewusstsein.“ Von Praktiken wie denen von mhoch3 oder beim „Marienhof“ hält sie nichts. „Durch so etwas wird das Vertrauen in die Medien zunehmend ausgehöhlt. Und wenn so etwas wie beim ‚Marienhof‘ oder mhoch3 passiert, reagiert die Öffentlichkeit immer negativ. Es bringt also nichts für die Werbung.“
Man könnte hinzufügen, es bringt auch nichts bei der Meinungsbildung. Denn auch die Verbreitung gefälschter politischer Meinungen schlägt letztendlich auf die Verursacherin zurück. Für das öffentlich-rechtliche Fernsehen bedeutete der „Marienhof“-Skandal einen Vertrauensverlust.
Nie kritisch genug
Menschen lassen sich nicht gerne manipulieren, schon gar nicht von hinten herum. Das sollten auch Parteien und Lobbygruppen wissen, die sich durch solche Methoden einen politischen Marktgewinn versprechen. Andererseits können solche Methoden nur funktionieren, weil es Menschen gibt, die bereit sind, diese umzusetzen. Das hat auch etwas mit den bei Agenturen wie mhoch3 vorherrschenden und von Lobbygruppen wie der INSM geforderten prekären Arbeitsbedingungen zu tun. Und die Moral der Geschichte für KonsumentInnen? Man kann nie kritisch genug sein, wenn es darum geht, was ein gutes Leben ausmacht – oder eben nicht.
Linktipp:
Zehn Jahre „Marienhof“-Skandal: Neoliberalismus in deutschen Fernsehserien
www.nachdenkseiten.de/?p=27588
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian@bunke.info oder die Redaktion aw@oegb.at
Glückliche RaunzerInnen
Österreich belegt laut dem World Happiness Report 2015 einen Top-Platz, wenn es um das Glück geht. Von 158 Ländern schafft es Österreich auf Rang 13 auf die von der UNO in Auftrag gegebene Studie der Columbia-Universität (USA). Klingt lustig, so eine Happiness-Studie, die Ziele sind aber durchaus ernsthaft und ambitioniert. Die Erkenntnisse sollen zu einer Verbesserung nachhaltiger Entwicklung beitragen und die Grundlage schaffen, um Menschen glücklicher zu machen. Denn „wenn Länder BIP-Ziele auf Kosten von sozialen und ökologischen Zielen zu stark gewichten, beeinträchtigt dies häufig das menschliche Wohlbefinden“, so die AutorInnen der Studie. Für den Glücks-Index wurden die Länder auf Faktoren wie Einkommen, Lebenserwartung, soziales Netz und gefühlte Freiheit untersucht. Laut der Studie hängt das gesellschaftliche Wohlbefinden auch stark vom prosozialen Verhalten der Gesellschaftsmitglieder ab. Damit gehen Aufrichtigkeit, Wohlwollen, Kooperation und Vertrauenswürdigkeit einher. Im Grunde bedeutet prosozial zu handeln, Entscheidungen für das Allgemeinwohl zu treffen und egoistischen Anreizen zu widerstehen. Förderliche Voraussetzung hierfür ist das soziale Kapital einer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist damit generalisiertes Vertrauen, Good Governance und Solidarität gemeint. Die dringende politische Frage ist laut den AutorInnen daher, wie in gespaltene Gesellschaften mit niedrigem sozialem Kapital in diesen Bereich investiert werden kann. Die internationale Happiness-Studie macht deutlich, dass sich diese besonders mit gesellschaftspolitischen Zusammenhängen beschäftigt. Dazu drängt sich die Frage auf, was Glück auf der individuellen Ebene bedeutet?
Vice-versa-Effekt
Interessante Effekte stellte das ForscherInnenteam um die US-amerikanische Psychologin Lara B. Aknin fest: Wenn Menschen für andere Geld ausgeben, löst das mehr positive Gefühle bei ihnen aus, als wenn sie es für sich selbst verwenden. Bei der Studie wurde das Spendeverhalten (prosoziales Verhalten) in 136 Ländern von 200.000 Menschen untersucht. 88 Prozent erlebten im Folgemonant mehr Lebenszufriedenheit. Die positiven Gefühle waren in armen wie reichen Ländern gleichermaßen vorhanden. Dies wird damit erklärt, dass in der Evolution zwischenmenschliche Kooperation indirekt das Überleben sicherte. Es ist daher in uns tief verankert und wird folglich mit positiven Gefühlen belohnt. So zeigten wissenschaftliche Beobachtungen, dass dieses Phänomen bereits bei 2-jährigen Kleinkindern vorhanden ist: Sie zeigten freudige Reaktionen, wenn sie Süßigkeiten bekamen – noch mehr freuten sie sich, wenn sie diese teilen konnten.
Trotz internationaler Studien scheint der Glücksbegriff nicht so leicht zu fassen zu sein. „Da hast du aber Glück gehabt“ – damit sind in der Regel Ereignisse gemeint, die auch als „Zufallsglück“ bezeichnet werden können. Im Zentrum der Glücksforschung steht aber weniger dieses „Zufallsglück“ sondern mehr das, was man unter „glücklich sein“ versteht. Obwohl das „Zufallsglück“ darauf natürlich Einfluss haben kann. Historisch gibt es auch noch ein Glückskonzept, wo Glück mit Freiheit von Leid und Mangel (Epikur, Schopenhauer) verbunden wird. Gemeinhin wird heute aber etwas anderes darunter verstanden. Mit „froher Zufriedenheit“ erklärt der Duden Glück und beschreibt vermutlich gut, was meist alltagssprachlich darunter verstanden wird.
Rein körperlich sind die sogenannten Glückshormone für das Glücksempfinden verantwortlich. Damit sind meist Endorphine (körpereigene Opiate, die schmerzstillend wirken), Oxytocin (auch „Bindungs- oder Kuschelhormon“ genannt) und die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin gemeint. In einem komplexen Zusammenspiel setzt das Gehirn diese und weitere Botenstoffe frei, wenn Glücksgefühle entstehen. Bei den meisten Menschen passiert das bei Aktivitäten wie Sport, Nahrungsaufnahme oder Sex.
Reich und schön = glücklich?
Der Körper spielt noch in anderer Hinsicht eine Rolle betreffend Glück. Die Glücksforscherin Sonja Lyubomirsky interpretiert verschiedene Studien so, dass körperliche Schönheit keinen Einfluss auf das Glücksempfinden hat. So etwa zeigt sich nach Schönheitsoperationen meist nur ein kurzer positiver Effekt auf das Wohlbefinden. Sich selbst jedoch für schöner zu halten bzw. ein positives Selbstbild zu haben dürfte jedoch sehr wohl ein Glücksfaktor sein. Das bedeutet, entscheidend ist weniger ein „objektiv“ gutes Aussehen, sondern vielmehr der subjektive positive Blick für die eigene Schönheit. Unterstützt wird das auch durch Psychotherapie-Studien, die zeigen, dass viele psychische Störungen – wo sich Betroffene unglücklich erleben – mit einem niedrigen Selbstwert einhergehen.
Reichtum ist ebenfalls nur ein relativer Glücksfaktor: Bis zum Erreichen eines bestimmten Lebensstandards wirkt sich ein niedriges Einkommen laut dem Nobelpreisträger Angus Deaton stark auf das Befinden aus. Durch belastende Lebensumstände (z. B. Scheidung, Krankheit) hervorgerufener Stress vervielfältigt sich dabei. Allerdings fand das Forscherteam der US-Universität Princeton auch heraus: Ab umgerechnet etwa 5.000 Euro Haushaltseinkommen empfinden zwar viele Menschen jede weitere Einkommenssteigerung positiv, es hat jedoch keinen Einfluss mehr auf ihr Stress- oder Glücksempfinden. Ein bisschen macht Geld also schon glücklich und selbst empfundene Schönheit auch.
Abseits äußerer Faktoren gibt es viele Ideen dazu, wie das Glück quasi wie ein Muskel trainiert werden kann. Neurobiologische Basis ist, dass das Gehirn durch Nervenzellenverbindungen strukturiert ist. Stark vereinfacht erklärt: Man geht davon aus, dass, je öfter ein Impuls verschickt wird, umso robuster auch die Schnittstelle für diesen Impuls wird. Vergleichbar mit dem Bild, dass wenn eine Nervenbahn für das Glücksempfinden ganz schmal ist, die Freude-Impulse dort nicht besonders bequem durchmarschieren können. Beim Training wird ein Impuls „Freude“ bzw. „Glück“ durch den schmalen Pfad geschickt. Anfangs muss man ihn vielleicht mit viel Aufwand auf den Weg schicken und sozusagen durchpressen. Durch viele Impulse wird mit der Zeit die enge Nervenbahn immer breiter. Die Impulse „Freude“ kommen besser durch. Schließlich wird daraus ein breiter Weg, und so können die Freudeimpulse wie auf einer Nervenzellen-Autobahn mit Leichtigkeit hin und her flitzen. Es reichen dann bereits kleine Impulse für die Anfeuerung dieser Empfindung. Dabei scheint es effizienter zu sein, sich häufiger an kleinen Dingen zu erfreuen als selten an Großen.
In der vom US-Psychologen Martin Seligman geprägten „positiven Psychologie“ wurden verschiedene Übungen entwickelt und erforscht, die diesem Prinzip folgen. Beispiel: Täglich sollen drei positive Ereignisse mit einer Begründung notiert werden, also z. B.: „Heute morgen hat mich mein Lebensgefährte mit einem Kaffee ans Bett serviert überrascht. Der herrliche Geruch und die liebevolle Geste haben mir den Tag versüßt.“ Diese Übung zeigte nach sechs Wochen eine deutliche Steigerung des Wohlbefindens bei den StudienteilnehmerInnen.
Die schönen Dinge
In der Glücksforschung gibt es also Hinweise darauf, dass zwar äußere Rahmenbedingungen einen Einfluss auf unser Erleben haben. Darüber hinaus gibt es aber auch individuelle Möglichkeiten, das eigene Glücksgefühl zu steigern: sei es durch das Ankurbeln von sogenannten Glückshormonen durch Sport, Sex, gutes Essen – oder auch gedankliche Auseinandersetzung mit den schönen Dingen des Lebens.
Linktipps:
World Happiness Report 2015:
worldhappiness.report
Studie „Spending Money on Others Promotes Happiness“:
tinyurl.com/oqw2hpj
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin kontakt@elkeradhuber.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Aristoteles
„Wir haben viele ethisch-moralische Argumente, Ideen der Gerechtigkeit, Tugend, des rechten Maßes, des guten Lebens, des Glücks, die alle Zentralbegriffe einer nicht christlichen Philosophie sind, nicht zuletzt der Begriff der ‚Ethik‘ selbst“, verweist der Philosoph Konrad Paul Liessmann auf eine Denktradition, die in der Antike, vorwiegend der aristotelischen Philosophie, wurzelt.
Ein gutes Leben, so bestimmte es der im 4. Jahrhundert vor Christus geborene Aristoteles, ist ein aktives, für das der Mensch selbst die Verantwortung trägt. Sein Handeln orientiert er an einer bestimmten Zielhierarchie: Niedere, aber dennoch legitime Ziele sind etwa das Streben nach Reichtum und Besitz, die nur als Mittel zu einem höheren Zweck gelten. Ehre, Lust und Vernunft stehen darüber, wobei das höchste Ziel, die Glückseligkeit (Eudaimonia), ein von einem guten Geist beseeltes Leben ist. Das oberste Ziel erreicht jener (niemals jene), der die ihm eigenen Fähigkeiten voll entfaltet. Dazu gehört nicht nur die Übung des Geistes, sondern auch die Teilnahme am politischen Geschehen. Die politische Gemeinschaft wiederum zeichnet sich durch ihr gemeinsames Interesse an Recht und Gerechtigkeit aus, die wesentlich zu einem guten Leben gehören.
Privileg weniger
Diese Lehre war sozusagen ganzheitlich, blieb allerdings das Privileg weniger. Die angestrebte „vollkommene Gemeinschaft“ basierte auf strenger Hierarchisierung, die dem freien Mann und Bürger mehr Rechte einräumte als Frauen, Kindern, SklavInnen und allen Nicht-GriechInnen.
Ende des 20. Jahrhunderts verzeichneten die einschlägigen Überlegungen eine Art Renaissance. In enger Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Moralphilosophin Martha C. Nussbaum entwickelte der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen Konzepte zum guten Leben jenseits von westlicher Fixierung auf materiellen Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Zwar mündete die philosophische Kooperation der beiden zunächst in dem (1993) gemeinsam herausgegebenen Buch „The Quality of Life“, doch trennten sich die intellektuellen Wege anschließend in zwei Ansätze, die gerne verwechselt werden. Schließlich haben beide die gleiche sperrige Bezeichnung, nämlich „capability approach“ (Befähigungsansatz oder auch Fähigkeiten-Ansatz). Der westlich gebildete Inder Sen geht von der Vorstellung eines autonomen Individuums aus, das seine Chancen wahrnimmt und so ein selbstgewähltes, freies Leben verwirklicht. Ein (finanzielles) Einkommen ist zwar kein hinreichendes, aber notwendiges Mittel, um die eigenen Wahlmöglichkeiten zu erweitern. Wirtschaftswachstum ist in seinem Fähigkeiten-Ansatz nur ein Mittel, um das höhere Ziel, die Erweiterung der Freiheit zu erreichen.
Eigenständige Theorie
Martha Nussbaum entwickelte eine eigenständige Theorie, die universelle Aussagen über ein gutes und gerechtes Leben ermöglichen soll. „Man fange mit dem Menschen an“, heißt es in ihrem Buch „Gerechtigkeit oder das gute Leben“, „mit den Fähigkeiten und Bedürfnissen, die allen jenseits der Schranken von Geschlecht und Klasse, Rasse und Nation gemeinsam sind.“ Sie erstellte eine Art Kriterienkatalog auf zwei Ebenen, der von der Grundstruktur des Menschen zu seinen Grundfähigkeiten führt. So legen es unsere kognitiven Fähigkeiten („erste Schwelle“) nahe, diese auch zu verwenden. Etwa dazu, Sinne und Fantasie zu gebrauchen, zu urteilen oder eine angemessene Erziehung zu erfahren („zweite Schwelle“).
Unsere Grundstruktur der praktischen Vernunft ermöglicht es uns, eine Vorstellung des Guten zu entwickeln und kritische Überlegungen zur eigenen Lebensplanung anzustellen. Diese beinhaltet laut Nussbaum die politische Teilhabe und die berufliche Tätigkeit außer Haus. Das stellt die Philosophin Martina Schmidhuber in ihrem Aufsatz „Ist Nussbaums Konzeption des guten Lebens interkulturell brauchbar?“ infrage: „Ist nicht davon auszugehen, dass gutes Leben für jeden Menschen anders aussieht?“ Eine Kritik, die für Nussbaum nicht neu ist. Sie konstatiert, dass viele Benachteiligte sich mit ihrer Situation abfinden würden. Deshalb gehe es auch darum, den Menschen zu vermitteln, was zu einem guten Leben gehört bzw. sei es Aufgabe des Staates, die erforderlichen Mittel dafür bereitzustellen.
Buen vivir
Auch in den indianischen Traditionen Lateinamerikas gibt es Konzepte des guten Lebens, die in der aktuellen Auseinandersetzung mit den Folgen von Neokolonialismus und Neoliberalismus neu aufgegriffen wurden. 2008 wurde der indigene Begriff „sumak kawsay“ (Leben in Fülle) als Staatsziel in der ecuadorianischen Verfassung verankert. 2009 fand das „suma qamaña“ (gut leben) Eingang in die Magna Carta von Bolivien. Indigene Intellektuelle verweisen darauf, dass ihre Weltanschauung zunächst eine Lebenspraxis ist, ein Konzept, das ständig an neue Lebenszusammenhänge angepasst wird.
Das gute Leben, so Fernando Huanacuni, Philosoph der bolivianischen Aymara, definiere sich durch das Wissen um ein Leben in Harmonie im Gleichklang mit der Natur, wo alles mit allem verbunden und alles Teil des Ganzen ist. Trotz einiger Kritik – schließlich sind die Bodenschätze der beiden südamerikanischen Staaten wichtige Devisenbringer – gilt die Hinwendung zu indigener Kosmovision vielen doch als radikale Alternative zum herrschenden Verständnis von Entwicklung und als Antwort auf die Krise des Westens mit seinem Glauben an Wachstum und Fortschritt.
Gutes Leben für alle
„Als politischen Slogan finden wir das ‚gute Leben‘ bei so unterschiedlichen Gruppen wie Attac, der Grünen Bildungswerkstatt, der IG Metall oder feministischen Gruppen“, schreibt der Ökonom Andreas Novy in seinem Aufsatz „Ein gutes Leben für alle – ein europäisches Entwicklungsmodell“. Des Weiteren: „Ist er bloß Mode oder eröffnet dieses Konzept Raum für eine Suchbewegung, die nicht nur Alternativen zum Neoliberalismus, sondern langfristig den Weg in eine andere Gesellschaft weist?“ Die Idee, so beantwortet er die Frage selbst, „kann handlungsanleitend für ein europäisches Wohlfahrtsmodell im 21. Jahrhundert sein, wenn es um eine ökologisch sensible Transformation des europäischen Wohlfahrtskapitalismus geht“.
Unbeeindruckter Mainstream
Die Bewegung der Weltsozialforen, die 2001 in Brasilien ihren Ausgang nahm, hat sich zur größten globalen zivilgesellschaftlichen Initiative für ein gutes Leben für alle entwickelt. Mit dem Slogan „Wir wollen nicht besser leben, wir wollen gut leben“ wurde beim Treffen in Belém 2009 der Ideologie des Wachstums erneut eine Absage erteilt.
„Seit Jahren gibt es eine blühende Avantgarde, die Wirtschaft und Gesellschaft neu denkt und lebt“, heißt es auf der Website des Kongresses 2015 und der Dialogreihe „Gutes Leben für alle“. Trotz Klimawandel und besorgniserregenden Sozialberichten blieben der politische und gesellschaftliche Mainstream davon weitgehend unbeeindruckt. „Es geht um die Politisierung der Frage nach dem gelungenen Leben und seinen Voraussetzungen.“
Linktipp:
Dialogreihe „Gutes Leben für alle“:
www.guteslebenfueralle.org
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gabriele.mueller@utanet.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Offengelegt
Den LeserInnen präsentierte sich ein buntes Magazin mit vielen plakativen Storys wie: „Die an ihre Grenzen gingen: MitarbeiterInnen stellen bei einem Staffellauf einen Weltrekord auf“. Unter dem Titel „So grün ist die gelbe Post“ beschäftigte sich ein Artikel mit Postprojekten für die Umwelt. Handfeste Zahlen, Vergleiche, Entwicklungen über relevante Indikatoren wie Aus- und Weiterbildung, Arbeitsunfälle, Diversität, Einkommensverteilung oder Umwelt hingegen suchten die LeserInnen vergeblich. So weit, so oberflächlich. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, würde man der Post AG unterstellen, mit Informationen zu ihren Aktivitäten in Sachen Nachhaltigkeit hinterm Berg zu halten. Auf ihrer Homepage veröffentlicht sie – im Unterschied zu vielen anderen Unternehmen – einen echten Nachhaltigkeitsbericht mit zahlreichen Indikatoren, mehr oder minder exakt dargestellt.
Marketingthema
Nachhaltigkeit ist für die meisten Unternehmen mittlerweile ein unverzichtbares Marketingthema geworden. Das zeigt auch die Strategie der Post deutlich. Ernsthafte Berichterstattung setzt jedenfalls voraus, dass nicht bunte Bilder und gute Storys, sondern harte Zahlen, Daten und Fakten über soziale oder ökologische Belange dargestellt werden. Diesen Anspruch wiederum erfüllen nur wenige Unternehmen. Einer Studie von Ernst&Young zufolge veröffentlicht nur etwa jedes vierte der 100 umsatzstärksten Unternehmen in Österreich einen Nachhaltigkeitsbericht. Damit hinkt Österreich weit hinter anderen Ländern nach. In Frankreich, Dänemark und Großbritannien beispielsweise publizieren die größten Unternehmen mittlerweile fast lückenlos entsprechende Berichte.
Die EU hat nun eine Richtlinie erlassen, die bis Ende 2016 in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden muss. Diese schreibt für große börsennotierte Unternehmen und Finanzinstitute eine Sozial- und Umweltberichterstattung („nichtfinanzielle Leistungsindikatoren“) vor. Dabei gibt es jedoch einen Wermutstropfen: Anders als bei der übrigen Finanzberichterstattung üblich, hat die EU keine exakten Vorgaben gemacht, wie eine derartige Umweltberichterstattung inhaltlich gestaltet sein muss. Festgelegt wurden lediglich sehr allgemein gehaltene Themengebiete wie etwa Umwelt-, Sozial-, und ArbeitnehmerInnenbelange, Menschenrechte oder die Bekämpfung von Korruption. Was darunter jeweils zu verstehen ist, ist der Interpretation der Mitgliedstaaten überlassen. Nicht festgelegt wurde auch, ob die Berichterstattung von externen PrüferInnen geprüft werden muss, um die Zuverlässigkeit der Zahlen und Daten zu gewährleisten. Damit ist auch zu befürchten, dass diese Berichte nicht auf gleicher Augenhöhe mit den Finanzberichten im Aufsichtsrat und der Hauptversammlung behandelt werden und damit wirkungslos bleiben.
Freiwilligkeit
Seit dem EU-Grünbuch 2001 war eine gesellschaftlich verantwortliche Unternehmensführung (Corporate Social Responsibility – CSR) untrennbar mit dem Prinzip der Freiwilligkeit verbunden. Die Unternehmen sollten aus freien Stücken mehr für die Gesellschaft leisten, als ihnen von Gesetzes wegen vorgeschrieben war. Der Markt, so die Annahme, würde diese gute Unternehmensführung auch entsprechend belohnen. Dem war allerdings nicht so. ArbeitnehmervertreterInnen waren seit jeher äußerst skeptisch und ordneten das eher als PR-Gag ein denn als fundamentale Neuausrichtung der Unternehmensführung. Immerhin konnten sie täglich eher eine Verschärfung denn eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erleben. Und auch die EU glaubt mittlerweile nicht mehr so recht an die Selbstheilung durch den Markt: Wenn gerade einmal zehn Prozent der großen Unternehmen in der EU Informationen zu Umwelt und Sozialem offenlegen, dann ist die Zeit für verpflichtende Regeln gekommen. Die neue EU-Richtlinie schafft dafür die Voraussetzungen.
Der Teufel steckt im Detail: Erst der nationale Gesetzgeber legt fest, in welcher Form diese Verpflichtung umzusetzen ist. Genügt es, dass die Unternehmen prinzipiell zum Beispiel über die Arbeitsbedingungen berichten? Nach bisherigen Erfahrungen wird dann immer das herausgegriffen, was besonders imagefördernd ist: die Lehrlingsausbildung; Teilzeitarbeit zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie; Investitionen in Aus- und Weiterbildung und Ähnliches. Vorangestellt sind diesen Informationen meist jene Standardangaben, die ohnedies schon im Lagebericht offengelegt werden müssen. Diese Beliebigkeit muss allerdings nicht sein, wie das Beispiel Frankreich zeigt. Dort müssen Unternehmen mit mehr als 300 Mitarbeiterinnen anhand von über 100 Leistungsindikatoren Auskunft über die ArbeitnehmerInnenbelange geben.
Fakten statt blumiger Berichte
Unbeeindruckt von der bisherigen Wirkungslosigkeit beharrt die Arbeitgeberseite nach wie vor auf dem Prinzip der Freiwilligkeit: Jede und jeder soll schreiben dürfen, was er oder sie will – ohne klare Vorgaben und ohne externe Überprüfung. Eine interessante Position beziehen die WirtschaftsprüferInnen, die einen derartigen „prinzipienbasierten“ Ansatz als offensichtlich unzureichend klassifizieren. Nur wenn die Kriterien zur Sozial- und Umweltberichterstattung konkretisiert werden, ist eine einheitliche Interpretation und inhaltliche Prüffähigkeit gewährleistet. Auch NGOs, AK und Gewerkschaften plädieren für harte Daten und Fakten statt blumiger Berichte. Daher verwundert es auch nicht, dass in den vom Justizministerium in einer öffentlichen Konsultation eingeholten Stellungnahmen nur noch der harte Kern der Unternehmensvertreter dem Prinzip „Freiwilligkeit“ nachhängt. Demgegenüber wollen 16 von 22 Organisationen handfeste Berichte.
Auf welcher Basis sollen diese Berichte erstellt werden? Weltweit hat sich die Global Reporting Initiative (GRI) durchgesetzt, ein Rahmenwerk, nach dem bereits jetzt weltweit 8.500 Unternehmen berichten. Auch bei den ATX-Unternehmen ist GRI der mit Abstand am häufigsten angewendete Standard. Es ist daher naheliegend, bei einer Spezifizierung der Nachhaltigkeitskriterien von den bereits vorliegenden GRI-Indikatoren auszugehen. Will man ein halbwegs umfassendes Bild über die Situation der ArbeitnehmerInnen im Betrieb erhalten, so braucht es allerdings noch zusätzliche Maßzahlen. In einer von der AK Wien durchgeführte Online-Umfrage bei BetriebsrätInnen börsennotierter Unternehmen wurden folgende Indikatoren von den allermeisten BetriebsrätInnen als besonders wichtig eingestuft: durchschnittliche Mehr- und Überstunden, Zeitaufwand für Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Verbreitung von All-in-Verträgen im Unternehmen, die innerbetriebliche Vergütungsspanne zwischen Vorständen und Belegschaft sowie Informationen zu den verschiedenen Arbeitsvertragsformen. Weiters wünschen sich die befragten BetriebsrätInnen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung neu: harte eindeutige Maßzahlen, eine Behandlung der Berichte im Aufsichtsrat und in der Hauptversammlung und eine externe Testierung durch die WirtschafsprüferInnen.
Aufholprozess
Österreich hat in der Nachhaltigkeitsberichterstattung einen gewaltigen Aufholprozess vor sich. Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert, dem Nachzüglerdasein durch klare Normen ein Ende zu setzen. Nur vergleichbare, geprüfte und relevante Zahlen, Daten und Fakten bilden eine wirkungsvolle Grundlage für Veränderungen der betrieblichen Realität. Die Arbeitswelt wird damit sichtbar gemacht, sodass über Bewegungen in der „Sozialbilanz“ diskutiert werden kann. Eine externe Überprüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung von einer unabhängigen dritten Partei ist unerlässlich und sollte in Bezug auf Form und Inhalt auf Augenhöhe mit der Finanzberichterstattung erfolgen.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren heinz.leitsmueller@akwien.at ulrich.schoenbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Prekarisierung
Bergauf ging es im letzten Jahrzehnt fast ausschließlich bei der Teilzeitbeschäftigung, der Leiharbeit, der geringfügigen Beschäftigung, der neuen Selbstständigkeit – kurzum bei atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnissen, deren Einkommen vielfach nicht zum Leben ausreichen, sodass eine immer größere Gruppe an ArbeitnehmerInnen in Unsicherheit lebt. Viele dieser Menschen haben in der derzeitigen Arbeitsmarktsituation keine andere Wahl mehr, als sich den „neuen“ Bedingungen zu beugen. Ein Rekordwert an arbeitslosen Menschen jagt den anderen, da scheint etwa das schlecht bezahlte Praktikum noch die beste Alternative zu sein, um nicht ganz den Anschluss zu verlieren. Aber auch in den traditionellen Arbeitsverhältnissen ist es bei Weitem nicht zum Besten bestellt: Unbezahlte Überstunden, steigender Arbeitsdruck und Arbeitsverdichtung stehen in den Betrieben auf der Tagesordnung.
Die Frage nach „GUTER Arbeit“ hat die ArbeitnehmerInnenbewegung immer schon begleitet, heute erscheint sie aktueller denn je. Dabei wurde bereits mit der Verankerung von arbeitsbezogenen Rechten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN-Menschenrechtscharta) im Jahr 1948 ein wesentlicher Baustein gelegt. Darin heißt es, dass jeder „das Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit“ hat. Zudem steht allen, die arbeiten, „das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung“ zu, die ihnen und ihrer Familie „eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert“. Auch haben sie „das Recht, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten“.
Auch im wohlhabenden Europa sind wir von der Erfüllung dieses Anspruchs zum Teil immer noch weit entfernt. Und die aktuellen Entwicklungen weisen in eine falsche Richtung. Längst steht nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt allen Wirtschaftens. Die Wirtschaft ist nicht primär zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet. Vielmehr ist Profitmaximierung Selbstzweck und Leitmotiv allen Wirtschaftens. Der Mensch wird auf einen Produktionsfaktor reduziert, menschenwürdige Arbeitsbedingungen erscheinen nur mehr als Kostenfaktor, den immer häufiger die Beschäftigten mit ihrer Gesundheit bezahlen müssen.
Einziges Argument im einschlägigen Diskurs ist die vielumworbene internationale Wettbewerbsfähigkeit. Doch es ist ein Wettbewerb nach unten, für die meisten zumindest. Gänzlich übersehen wird, dass es vor allem auch die sozialen Errungenschaften sind, die Europa in den vergangenen 60 Jahren zu einem vergleichsweise friedlichen Zusammenleben geführt haben und zum stärksten Wirtschaftsraum haben werden lassen. Heute ist sozialer Fortschritt wieder nötiger denn je. Marktgerechtigkeit ist nicht gleich soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit relativiert das Urteil des Marktes. Doch was ist unter „GUTER Arbeit“ eigentlich zu verstehen?
Verteilung der Arbeit
„GUTE Arbeit“ bedeutet eine faire, geschlechter- und generationengerechte Verteilung der Erwerbsarbeit auf Basis sicherer Arbeitsplätze. Es darf nicht sein, dass die einen viel zu viel und andere zu wenig oder keine Arbeit haben. Das Paradoxe an der Sache ist, dass neben dem stetig steigenden Druck und den im internationalen Vergleich langen Arbeitszeiten immer mehr Menschen in Österreich keinen Arbeitsplatz finden. Eine faire Verteilung der Erwerbsarbeit würde nicht nur Teilhabe für die einen und Entlastungen für die anderen bringen. Sie wäre auch volkswirtschaftlich sinnvoll: Arbeitslosigkeit ist eine Vergeudung der wertvollsten aller „Ressourcen“. Weniger Menschen ohne Arbeit bedeuten für den Staat weniger Ausgaben (etwa durch die Arbeitslosenversicherung) bei gleichzeitig höheren Einnahmen (etwa durch steigende Lohnsteuereinnahmen). Es entsteht neue Kaufkraft, die einen – gerade aktuell so wichtigen – Konjunkturanstoß bringen würde. Aber auch die Nicht-Erwerbsarbeit muss mehr in den Fokus rücken und nach neuen Kriterien verteilt werden.
„GUTE Arbeit“ muss eine angemessene Entlohnung und damit einen gerechten Anteil am geschaffenen Wohlstand bereitstellen. Es kann nicht sein, dass die Gewinne der Unternehmen ständig steigen und die durchschnittlichen Löhne und Gehälter kaum wachsen bzw. Niedrigeinkommen real sogar sinken.
„GUTE Arbeit“ bedeutet ein menschengerechtes Maß in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsausmaß und garantiert Arbeitsbedingungen, die physische wie psychische Gesundheit erhalten und die Vereinbarkeit von Beruf, Familien- und Privatleben gewährleisten. Gerade unter dem Deckmantel der Flexibilisierung werden viele ArbeitnehmerInnen an die Grenzen der Belastbarkeit gedrängt. Viele arbeiten nahezu rund um die Uhr, flexibel einsetzbar, jederzeit abrufbar. Ständig präsent ist die Angst all jener, die – noch – Arbeit haben, im Konkurrenzkampf um Arbeit (mit dem Rest der Welt, wie uns suggeriert wird) zu bestehen. Reine Profitabilität ist keine Garantie für den Bestand von Arbeitsplätzen mehr. Es gibt einen Konkurrenzkampf um die Gunst der Shareholder. Der Druck der Finanzmärke, mit denen man in unmittelbare Konkurrenz gesetzt wird, gelangt in alle Ebenen der Betriebe und wird bis zum/zur einzelnen MitarbeiterIn weitergereicht. Das Resultat: Menschen klappen zusammen, werden krank, körperlich und seelisch. Burn-out-Raten erreichen neue Höchststände, die AktionärInnen freuen sich über höhere Profite.
„GUTE Arbeit“ achtet die Würde der menschlichen Person, respektiert und ermöglicht das Einbringen persönlicher Fähigkeiten und sieht die Menschen als UrheberInnen, Mittelpunkt und Ziel allen Wirtschaftens. Menschen sind soziale Wesen, und daher sollte die Würde jeder Leistung im ökomischen Sinn vorausgehen. Maßnahmen wie das Behinderteneinstellungsgesetz, Pflegefreistellungen, die Kultur eines wertschätzenden Umgangs miteinander sind Möglichkeiten, die Würde des Menschen ernst zu nehmen. Das sind soziale Errungenschaften, die nicht als Bremsfaktoren verstanden werden sollten.
„GUTE Arbeit“ ist sozial-ökologisch nachhaltig, stellt Produkte und Dienstleistungen her, die der positiven Gestaltung und Entwicklung der Welt nützen, und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Wenn Arbeit als sinnstiftend erachtet wird, sind Menschen bereit, ihre Fähigkeiten einzubringen und Gutes zu leisten. Menschen wollen auch Arbeit, die dem Grundsatz der Nachhaltigkeit Genüge tut. Gemeinsam haben wir eine Verantwortung gegenüber den nachkommenden Generationen.
„GUTE Arbeit“ umfasst das Recht, Arbeitsinhalte, Entscheidungen und Abläufe mitzugestalten, Fehlentwicklungen im Job aufzuzeigen, sich zu organisieren und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Jeder Schritt auf dem Weg zur „GUTEN Arbeit“ – sei es bei der Entlohnung, den Arbeitsbedingungen oder der Verteilung von Arbeit und Einkommen – ist leider ein hart erkämpfter Schritt. Daher ist eine starke Stimme der ArbeitnehmerInnen von besonderer Bedeutung. Das gilt auf gesamtwirtschaftlicher und überbetrieblicher Ebene, wo sich Gewerkschaften und Arbeiterkammern für die Anliegen und Interessen der ArbeitnehmerInnen einsetzen. Aber auch auf betrieblicher Ebene dürfen die Mitbestimmungsmöglichkeiten für die ArbeitnehmerInnen nicht aufgeweicht werden, sondern müssen weiter ausgebaut werden. Die Rechte der ArbeitnehmerInnen, die über Jahrzehnte aufgebaut wurden, dürfen nicht in Zeiten der Krise auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden. Solidarität, ein Ausbau des Sozialstaats und der ArbeitnehmerInnenrechte sind das Gebot der Stunde.
Initiative
Unterzeichnen Sie die Deklaration für „GUTE Arbeit“!
Die vonseiten der AK mitinitiierte Deklaration für „GUTE Arbeit“ bietet die Möglichkeit, ein klares Bekenntnis auf www.gute-arbeit.at abzugeben.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren gerhartinger.p@akooe.at
haider.r@akooe.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Gefährliche Entwicklung
Beobachten können wir jedoch die gegenteilige – gefährliche – Entwicklung: Austeritätspolitik auf dem Rücken der Erwerbstätigen und sozial Schwachen anstelle von Konjunkturbelebung und Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Pflege. Der Standort Österreich wird systematisch als „abgesandelt“ heruntergeredet, wodurch wiederum der politische Boden für von der Wirtschaft lang ersehnte „Reformen“ bereitet wird. Damit befindet sich Österreich in einer Abwärtsspirale, deren gegenteilige Effekte auf Konjunktur, Arbeitslosigkeit, soziale Absicherung und Staatsverschuldung in den sogenannten Krisenländern deutlich sichtbar wurden.
Hinter derartigen Antworten stehen klare Interessen – Interessen, die nicht das Wohl der Gesellschaft zum Ziel haben, sondern die Profitmaximierung einzelner. Tatkräftige Unterstützung bekommt diese Politik von der EU-Kommission. In ihren „länderspezifischen Empfehlungen“ etwa kommentiert sie die Budgetpolitik der Mitgliedstaaten und sie verfolgt – zumindest nominell – das Ziel, das Wachstum in Europa zu fördern. Regelmäßig fordert die Kommission die Deregulierung von – aus gutem Grund – geschützten Bereichen wie etwa dem Mietrecht, sie tritt für Privatisierungen ein, die Absenkung der Mindestlöhne sowie die Zurückdrängung von Gewerkschaftsrechten zum Beispiel bei der Lohnfindung. Diese Entwicklung setzt auch Gewerkschaften zunehmend unter Druck. Als AkteurInnen im politischen Verteilungskampf werden sie als „wachstumsschädigend“ etikettiert, wodurch letztlich ihr Einfluss zurückgedrängt werden soll.
Tatsächliche Strukturreformen sehen anders aus. In Österreich macht die Allianz „Wege aus der Krise“ – ein Bündnis aus Gewerkschaften und NGOs – vor, wie es gehen kann: Sie zeigt auf, welche Bedeutung öffentliche Investitionen und eine gerechte Vermögensbesteuerung haben, um sich den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen zu stellen. Im jährlich von der Allianz veröffentlichten „Zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudget“ wird der Reformbedarf anhand jederzeit umsetzbarer und finanzierbarer „Zukunftsinvestitionen“ beschrieben, die eine nachhaltige Wirkung auf die gesamte Gesellschaft haben. „Gute Budgetpolitik für alle“ erfordert sozial gerechte und ökologisch nachhaltige öffentliche Investitionen, die einerseits auf aktuelle Herausforderungen wie die demografische Entwicklung oder die drohende Klimakatastrophe eingehen und gleichzeitig unmittelbar Arbeitsplätze schaffen. Die geforderten Investitionen in den Ausbau von Kinderbetreuung, Bildung, Pflege, nachhaltige Energie, sozialen und nachhaltigen Wohnbau, eine ökologische Umgestaltung der Wirtschaft oder den öffentlichen Nahverkehr sind dringend notwendig, um gesellschaftlichen Wohlstand für alle zu sichern.
Auf der tagespolitischen Agenda werden solche Investitionen auf ihren kurzfristigen Kostenfaktor reduziert und damit als nicht realisierbar eingestuft. Diese Sichtweise verkennt, dass Investitionen in soziale Dienstleistungen und Infrastruktur einen besonders nachhaltigen Effekt haben. Insbesondere der damit verbundene Ausbau von Beschäftigung und der Rückgang an Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung führen dazu, dass sie sich bereits nach wenigen Jahren rechnen. Zögerliche Schritte hat die Regierung nun im Zuge des Arbeitsmarktgipfels gesetzt, der endlich den Startschuss für die bereits im Regierungsprogramm anvisierte Wohnbau- und Infrastrukturoffensive gibt.
Gerechte Verteilung von Arbeit
Eine der Hauptprioritäten für ein gutes Leben für alle muss der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sein. Dieser wird aber nicht allein durch die genannten Investitionen und den Ausbau sozialer Dienstleistungen und Infrastruktur gelingen. Auch das bisherige „Allheilmittel“ BIP-Wachstum kann nicht mehr ausreichend zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen. Nicht nur, dass entsprechende Wachstumsraten – auch in Zukunft – nicht mehr realistisch sind: stetig steigender Ressourcenverbrauch und ein Konsumverhalten, das mit Bedürfnisabdeckung nur noch wenig gemein hat, treiben unseren Planeten immer tiefer in die Klimakatastrophe. Auch bei technologischen Entwicklungen, die apokalyptisch bereits im Ruf stehen, 45 Prozent der Arbeitsplätze „einzusparen“, gilt es, neue Konzepte der Verteilung von Arbeit entgegenzusetzen.
Auch ein anderes Phänomen gibt Grund zur Beunruhigung: Zwar steigt trotz wachsender Arbeitslosigkeit und stagnierendem Arbeitsvolumen die Erwerbsquote, dieses Wachstum findet jedoch hauptsächlich in prekären und Teilzeitdienstverhältnissen statt. Somit gibt es faktisch eine Arbeitszeitverkürzung, die Betroffenen zahlen dafür aber einen hohen Preis: nicht existenzsichernde Einkommen und fehlende Zukunftssicherung. Für andere steigt gleichzeitig der Druck – durch Überstunden und Arbeitsverdichtung –, was dadurch bedingte Erkrankungen ansteigen lässt. Um diese scheinbaren Widersprüche zu lösen, muss Arbeit neu verteilt werden – dies muss jedoch kontrolliert durch ein schlaues Modell der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung geschehen.
Lebensqualität weniger Arbeit
Arbeitszeitverkürzung schafft Lebensqualität und Zeit für Familie, FreundInnen, Weiterbildung, zivilgesellschaftliches Engagement oder persönliche Hobbys. Sie eröffnete die Chance auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, eine fairere Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit und sie fördert gesellschaftliche Teilhabe und Demokratie. Gleichzeitig sichert und schafft eine Umverteilung von Arbeit Arbeitsplätze, was wiederum die Teilhabe jener ermöglicht, die andernfalls aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit Gefahr laufen, aus gewissen Bereichen der Gesellschaft gedrängt zu werden.
Die Formen einer solchen Arbeitszeitverkürzung können vielfältig sein und von individuellen Maßnahmen auf betrieblicher Ebene bis hin zu einer allgemeinen Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit reichen. Als ersten Schritt gilt es allerdings, die in Österreich jährlich geleisteten 270 Millionen Überstunden einzudämmen.
Die Verteilungsfrage
Die anhaltende Krise hat europaweit gezeigt, dass der Graben zwischen Arm und Reich wächst. Gerade jene, die ohnehin bereits im Überfluss leben, profitieren noch einmal mehr von der Austeritätspolitik. Sozialer Fortschritt ist nur dann möglich, wenn es gelingt, diese Kluft ein Stück weit zu schließen. Die geforderten „Zukunftsinvestitionen“ sind zum Nutzen der gesamten Gesellschaft, daher ist es nur gerecht, auch die Kosten in der Gesellschaft fair zu verteilen – ein Thema, das die österreichische Politik sorgsam vermeidet.
Arbeit und Konsum werden in Österreich überproportional hoch besteuert, während Vermögen – leistungslose Einkommen – nahezu ungeschoren davonkommen. Mit der Lohnsteuerreform wurde nun ein Meilenstein angegangen, doch bleibt die untrennbar damit verbundene Einführung von vermögensbezogenen Steuern ein Tabu. Die streckenweise äußerst vage gehaltene Gegenfinanzierung ist zu Recht Gegenstand von Skepsis und Kritik. Denn mit der Lohnsteuersenkung wird zwar eine dringend notwendige Maßnahme gesetzt, diese ist aber nicht in ein größeres Konzept nachhaltiger Reformen eingebettet.
Gesellschafts- und wirtschaftspolitisch führt jedoch kein Weg an einer fairen Besteuerung großer Erbschaften, Schenkungen und Vermögen vorbei. Ebenso wird der Finanzsektor – als Auslöser der europaweiten Krise – seinen Beitrag leisten müssen, sei es auf EU-Ebene oder vorübergehend auf nationaler Ebene. Auch die Verkürzung der Arbeitszeit und ihre Aufteilung auf mehr Köpfe ist eine Verteilungsfrage, deren Finanzierbarkeit letztlich auch im Rahmen der aktuellen Umverteilungsdebatte mitgedacht werden muss. Wer über Arbeitszeitverkürzung spricht, muss auch über Lohnausgleich sprechen und damit die Frage stellen, wer diese Kosten einer Arbeitszeitverkürzung (in welchem Verhältnis) tragen soll.
Linktipps:
Allianz „Wege aus der Krise“ und das „Zivilgesellschaftliche Zukunftsbudget“:
www.wege-aus-der-krise.at
E-Book des A&W-Blogs: „How to Make It Work:
tinyurl.com/qep8mz8
Crises, Austerity, Alternatives:
tinyurl.com/p7dtlec
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin susanne.haslinger@proge.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>How’s life?
Ziel ist es, den Blick über den Tellerrand der gängigen Maßzahl Bruttoinlandsprodukt hinaus zu lenken und die subjektiv fassbare Lebenswirklichkeit zu betrachten. Damit steht Österreich in einer Reihe anderer prominenter internationaler und supranationaler Statistikanbieter: „How’s Life?“ etwa stammt aus der Feder der OECD, Eurostat gibt die EU-weite Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen sowie die Europa-2020-Indikatoren heraus und die UNO den „Human Development Index“. Welche Daten bei den jeweiligen Messungen zur Basis genommen werden, dafür gibt es keine verbindlichen Vorgaben.
Messungen
Vergleicht man die unterschiedlichen nationalen und internationalen Konzepte miteinander, so lassen sich starke Parallelen erkennen. Als zentrale Messgröße werden meist das Bruttoinlandsprodukt (BIP, engl.: GDP) und seine Teilaggregate bevorzugt.
Hintergrund dafür ist die leichte Verfügbarkeit dieser Basisdaten. Darüber hinaus gibt es Primärdaten, die aus Befragungen gewonnen werden. Prominente Beispiele dafür sind die europaweite Haushaltsbefragung zur finanziellen Situation und des Konsums (HFCS), die EU-Erhebung zu den Lebensbedingungen in Privathaushalten (EU-SILC) und die in vielen Ländern durchgeführten Konsumerhebungen (die Ergebnisse der nächsten österreichischen Konsumerhebung 2014/2015 werden 2016 erwartet).
Die Statistik Austria veröffentlicht jährlich ca. 30 Schlüsselindikatoren, unter anderem zu folgenden Themen:
Vielfach stößt man jedoch an die Grenzen der Messbarkeit, auch lässt die aktuelle Datenlage oftmals keine weiteren Analysen zu. Besonders gravierend tritt dieses Problem beim Themenkomplex Einkommens- und Vermögenverteilung zutage, denn hierzu gibt es derzeit vielfach nur unzureichende Basisdaten.
Neoliberaler Widerstand
Diese Mängel werden aber hoffentlich nach und nach gemäß den Empfehlungen des SSFR behoben. Anstrengungen dafür gibt es sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Und eines soll nicht unerwähnt bleiben: Die Erhebung/Offenlegung von Daten zur Einkommens- bzw. Vermögensverteilung stößt immer noch auf vehementen Widerstand bei wirtschaftsliberalen Kreisen.
Die unberechtigte Angst vor Besitzstandsverlust erschwert daher eine vollständige Abbildung der Einkommens- und Vermögenssituation. Allerdings brauchen AkteurInnen in Wirtschaft und Politik eine vollständige und gesicherte Datenbasis als Grundlage für ihre Entscheidungen. Letztlich geht es auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Eine umfassende Datenbasis schafft die Grundlage für Entscheidungen, die im Idealfall wohlstandserhöhend wirken.
Zur Schaffung von intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum setzt die EU-Kommission im Rahmen der Strategie Europa 2020 in vielen Bereichen wohlfahrtsteigernde Maßnahmen. Dies betrifft vor allem zielgerichtete Investitionen in Bildung und Forschung. Dazu ausgearbeitete Leitindikatoren sollen zur Quantifizierung des Gegenwartszustandes beitragen und Handlungsanweisungen für EntscheidungsträgerInnen geben. Die Indikatoren beziehen sich etwa auf die Beschäftigung, Klimawechsel, Bildung, Armut, Forschung und Entwicklung usw. Im Allgemeinen kann man festhalten, dass das Engagement bei der Schaffung von Wohlfahrtsmaßen sehr stark zugenommen hat. Fast könnte man schon von einem institutionellen Wettkampf um die „besten“ Indikatoren sprechen.
Glück als Nationalprodukt
Für das Jahr 2010 wurde erstmals von Bhutan – einem asiatischen Kleinstaat – ein Index veröffentlicht, der im Westen als „Glücksindex“ (Gross National Happiness Index; Abk.: GHI) bekannt wurde. Nun, man kann sich wohl darauf einigen, dass Glück im weitesten Sinne zum „guten Leben“ gehört.
Das etwas skurril anmutende Unterfangen Bhutans basiert allerdings auf äußerst seriösen und methodisch anerkannten Grundlagen. Der bhutanische Index resultiert aus einer Befragung von 7.142 Menschen. Kurz umrissen beinhaltete der Fragenkatalog neun Bereiche: psychisches Wohlbefinden, Gesundheit, Zeitverwendung, Ausbildung, Belastbarkeit, gute Staatsführung, Gesellschaftsleben, Ökologie und Lebensstandard. Die Befragungsergebnisse wurden dann gewichtet und zu einem Index verdichtet.
Schon im Jahr 1729 stand im Übrigen im Rechtskodex von Bhutan folgender Satz: „If the Government cannot create happiness for its people, there is no purpose for the Government to exist.“ Frei übersetzt: Wenn die Regierung das Volk nicht glücklich machen kann, dann hat diese Regierung auch keine Existenzberechtigung. Diese Erkenntnis und auch eine damit verbundene Konsequenz würde man sich in der Jetztzeit wünschen.
Lebensqualität, gutes Leben oder Glück können wohl nur subjektiv bewertet werden. Dennoch ist es sinnvoll, neue Messkonzepte in den Gesellschaftsdiskurs einzubringen. Aber auch schon Gemessenes muss Gegenstand einer öffentlichen Diskussion sein. Wie wichtig dies ist, zeigt ein Beispiel: Derzeit wird der Anstieg der privaten Konsumausgaben pro Kopf als wohlstandsvermehrend betrachtet. Nun, das mag für große Teile der Bevölkerung durchaus zutreffen, aber eben nicht für alle.
Aus diesem Grund müssen die Basisdaten z. B. nach Einkommensschichten gegliedert werden. Auch die Qualität des Konsums – die derzeit in keiner Statistik ihren Niederschlag findet – muss thematisiert werden. Schlagwörter dazu sind etwa geplante Obsoleszenz, Klimabelastung und viele mehr.
Ebenso weiß man aus Studien, dass Verteilungsgerechtigkeit zu stärkerer individueller Zufriedenheit führt: Wenn es allen gut geht, fühlt sich auch der Einzelne besser. Und ganz besonders wichtig: Das aktuelle und kontroversiell diskutierte wirtschafts- und sozialpolitische Thema Arbeitszeitverkürzung und -verteilung muss noch viel stärker unter dem Gesichtspunkt „gutes Leben“ thematisiert werden. Denn auch da wird gesellschaftlicher Zusammenhalt manifest, und der tut allen gut.
Fortschritt
In diesem Sinne zum Abschluss ein Zitat von Ludwig Erhard aus dem Jahr 1957: „Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer nützlich und richtig ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoll ist, unter Verzichtsleistung auf diesen ‚Fortschritt‘ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“
Linktipps:
Eurostat und das „Gute Leben“
tinyurl.com/q7fk22t
HFCS:
www.hfcs.at/ueber.htm
www.grossnationalhappiness.com
EU-SILC:
tinyurl.com/oqrtomd
„How’s Life?“ – OECD:
tinyurl.com/otwq6yf
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor reinhold.russinger@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Am Anfang für diese Bemühungen stand die stark verbreitete Wahrnehmung, dass Wirtschaftswachstum die Lebenssituation vieler Menschen nicht mehr verbessert. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man die konzeptionellen Grundlagen des BIP betrachtet. Diese Zahl gibt nämlich lediglich Auskunft über den im Inland geschaffenen Mehrwert an Waren und Dienstleistungen. Ein realer BIP-Zuwachs muss aber nicht zwangsläufig zu einer materiellen Wohlstandssteigerung führen. Das ist beispielsweise dann nicht der Fall, wenn die Zahl der EinwohnerInnen schneller steigt oder der Anteil, über den die Menschen im Inland verfügen, schrumpft oder auch, wenn ein größerer Teil der entstandenen Einkommen zur Budgetkonsolidierung verwendet wird. Ein Indikator, der diese Einflussfaktoren berücksichtigt, ist das real verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der privaten Haushalte. Zusätzlich zum BIP werden darin etwa Einkommen eingerechnet, die im Ausland entstehen (vor allem Vermögenseinkommen wie Gewinnausschüttungen und Zinsen). Vergleicht man seine Entwicklung mit dem BIP, so ist klar zu erkennen, dass die Einkommen deutlich langsamer wachsen, insbesondere aufgrund der restriktiveren Budgetpolitik in den letzten 20 Jahren.
Verteilungsfragen ausgeblendet
Der Haushaltseinkommen-Indikator kann den wahrscheinlich wichtigsten Effekt der Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Wohlstandsentwicklung trotzdem nicht einfangen: die zunehmende – und in den letzten Jahren immer besser dokumentierte – Verteilungsschieflage, egal ob sie nun Einkommen, Konsum oder Vermögen betrifft. Mit den Arbeiten von Thomas Piketty und anderen ist der theoretische und methodische Fortschritt in den letzten Jahren nicht zu übersehen, der zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftswachstum und der Konzentration des Wohlstandes in Form von Vermögen einiges beigetragen hat. Trotz sichtbarer Bemühungen von Statistik Austria, Verteilungsfragen zur Messung von Wohlstand und gesellschaftlichem Fortschritt systematisch zu integrieren, bleibt dieser Bereich weiter ausbaufähig.
Die zweite große Dimension der weltweiten Initiativen zur Wohlstands- und Fortschrittsmessung bilden großteils subjektive Indikatoren unter der Überschrift „Lebensqualität“. Selbst wenn der materielle Wohlstand wächst und alle gleichermaßen davon profitieren, kann es zu einer Lücke zwischen erwartetem und tatsächlich wahrgenommenem Zuwachs kommen. Untersuchungen zeigen, dass die Lebenszufriedenheit bei einem bereits hohen Niveau materiellen Wohlstands durch weitere Zuwächse kaum mehr steigt. Freizeit, Gesundheit oder soziale Beziehungen rücken dann in den Mittelpunkt. Diese Faktoren bleiben allerdings an materiellen Wohlstand und seine Verteilung gekoppelt. Ungleiche Gesellschaften sind insgesamt tendenziell unglücklicher, ungesünder, sozial immobiler usw. Für Individuen gilt das erst recht: Niedrige Einkommen vermindern Lebenszufriedenheit, gesellschaftliche Teilhabe, Lebenserwartung, verschlechtern den Gesundheitszustand und gehen mit einer subjektiv höheren Umweltbelastung einher.
Wohlstandsorientierte Politik
Die Politik sollte sich nicht nur am „Mehr“ an produzierten Waren und Dienstleistungen ausrichten – mit allen damit einhergehenden negativen ökologischen Auswirkungen. Vielmehr sollte sie sich auf Wohlstand und sozialen Fortschritt konzentrieren, anders gesagt: auf ein gutes Leben für alle. Mit der besseren Datenbasis wurde die Grundlage bereits weitgehend geschaffen – zumindest in Österreich. In der wirtschaftspolitischen Debatte spielen sie trotzdem keine Rolle.
Die Gründe dafür sind natürlich vielfältig, aber ganz allgemein dürften Macht- und Kräfteverhältnisse eine besondere Rolle spielen. Nur wer die Definitionsmacht über „die Probleme“ hat, die es zu lösen gilt, ist in der Lage, Änderungen durchzusetzen. Wenn die Produktionsausweitung als wichtigstes Problem gilt, so wird sich über kurz oder lang eine Politik durchsetzen, die dieses Ziel zu erreichen vorgibt. Ausgangsbasis für eine alternative Politik muss es daher sein, die Auseinandersetzung mit alternativen Indikatoren sowohl diskursiv als auch institutionell zu verankern.
Magisches Viereck
In dieser Hinsicht kann man von der Europäischen Kommission gut lernen: Zur Verankerung des Wirtschaftswachstums als Hauptziel gibt es einen Jahreswachstumsbericht, der die wirtschaftlichen Prioritäten vorgeben soll, an denen sich die Regierungen der Mitgliedstaaten orientieren sollen. Zur Durchsetzung ihrer einseitigen Budgetregeln hat sie in allen Mitgliedstaaten Fiskalräte eingeführt, die ständig auf eine kurz- wie mittelfristige restriktive Budgetpolitik im Sinne der EU drängen. Aktuell versucht sie mittels sogenannter nationaler Wettbewerbsräte sogar, den globalen Konkurrenzkampf um Marktanteile zu institutionalisieren. Das würde eine auf Wohlstand und Lebensqualität ausgerichtete gesamtheitliche Wirtschaftspolitik auf nationaler Ebene massiv erschweren. Will man einen möglichst hohen nachhaltigen, materiellen Wohlstand und eine hohe Lebensqualität für möglichst viele Menschen schaffen, braucht es ebenfalls Institutionen, die sich ständig mit den Verbesserungsmöglichkeiten auseinandersetzen und regelmäßig wiederkehrende Empfehlungen in die Politik bzw. in die breite Öffentlichkeit tragen.
Anstelle von wenigen ExpertInnen sollten diese neuen Institutionen unter breiter zivilgesellschaftlicher Beteiligung agieren. So wie die Wachstumsorientierung derzeit von regelmäßigen Wirtschaftsprognosen implizit verstärkt wird, so müsste es auch Wohlstandsprognosen und -berichte geben. Aufgabe der Politik müsste es sein, mittelfristige Ziele zu formulieren, die eine Wohlstandsorientierung konkretisieren. Als Rahmen kann ein reformiertes „magisches Vieleck der Wirtschaftspolitik“ dienen, das vor knapp 50 Jahren etabliert wurde und längere Zeit einen fixen Orientierungspunkt für ein ausgewogenes wirtschaftspolitisches Zielsystem darstellte.
Gemessen an einem solchen Umbau der wirtschaftspolitischen Steuerung stehen wir in der Debatte über gesellschaftlichen Wohlstand – unter Berücksichtigung der ökologischen Grenzen – erst am Anfang. Dieser ist noch dazu von einer Suche nach den richtigen Messindikatoren bzw. den Definitionen und Dimensionen geprägt. Eine enge Verknüpfung zwischen den fachlich-statistischen Arbeiten und der politischen Ebene ist gefragt. So kam der Auftrag zur Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission vom damaligen französischen Staatspräsidenten Sarkozy. Ihre Ergebnisse waren die Grundlage für eine groß angelegte Enquete-Kommission des deutschen Bundestags. In Österreich hat die Statistik Austria mit ihrem Projekt „Wie geht’s Österreich“ bereits eine statistische Grundlage geschaffen, die in einem jährlichen Bericht mündet. Woran es nun noch fehlt, sind politische AkteurInnen, die politische Initiativen darauf bauen.
Kein Selbstzweck
Wirtschaftswachstum ist also bestenfalls Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck. Diese Feststellung schwächt bereits tendenziell die Wirtschaftsseite und eröffnet Spielräume für eine progressive sozial-ökologische Politik. Ein vorrangiges Ziel progressiver Wirtschaftspolitik ist es, das bestehende Ungleichgewicht bei der institutionellen Verankerung wirtschaftspolitischer Grundzüge zu überwinden. Die internationale Debatte zur Messung von Wohlstand und gesellschaftlichem Fortschritt sowie die Arbeiten zu ihrer statistischen Umsetzung bieten dafür einen guten Anknüpfungspunkt.
Blogtipp:
Wohlstands- und Fortschrittsmessung für Österreich:
tinyurl.com/hv687ma
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor georg.feigl@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Staatsfeind Nummer eins?
Das Göttinger Institut für Demokratieforschung befragte und beobachtete Pegida-„SpaziergängerInnen“, führte Gruppendiskussionen mit ihnen durch sowie eine Online-Umfrage. Die Ergebnisse wurden im Buch „Pegida - Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft“ zusammengefasst. Im Ergebnis zeigt sich ein differenziertes Bild: Viele DemonstrantInnen hatten sich trotz latenter Unzufriedenheit mit den aktuellen sozialen und politischen Entwicklungen lange Zeit kaum engagiert. „Erst ein außerhalb des Parteiensystem stehendes, nach vielen Seiten hin offenes Protestbündnis, eine Konfliktzuspitzung im Nahen Osten und auf der Krim, aber vor allem die lokalen Auswirkungen der weltweiten Krisen und menschlichen Notlagen, die Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften durch die Städte und Kommunen mobilisierten einige Tausend Menschen“, heißt es im Buch. Die AutorInnen vermerken mit Erstaunen, dass die befragten Pegida-AnhängerInnen zum Teil über fundiertes politisches Hintergrundwissen verfügen und nicht selten ganz konkrete Verbesserungs- und Änderungsvorschläge parat hatten.
Der niederländische Publizist René Cuperus wiederum schreibt in seinem Buch „Rechtspopulismus in Europa“: „Sparmaßnahmen, nicht enden wollende Reformen am Sozialstaat des Nachkriegseuropa, die den sozialen Schutz und die kollektive Sicherheit aushöhlen, Ungleichbehandlung der Interessen von Konzernen einerseits und derjenigen des Durchschnittsbürgers andererseits, andauernde Intensivierung und Zentralisierung der europäischen Integration inmitten eines euroskeptischen Tsunami, die Ungerührtheit des Establishments angesichts der folgenreichen Massenmigration – all das schürt den sozialen Neid und Unzufriedenheit mit der etablierten Politik.“
Zahlreiche Studien und Publikationen beschäftig(t)en sich mit der Frage, warum die Neuen Rechten derart an Attraktivität gewonnen haben. Der Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Wandel und Umbrüchen in der Arbeitswelt lag nahe, wurde aber selten empirisch untersucht. Vor mehr als zehn Jahren startete die EU-Kommission das Forschungsprojekt SIREN (Socioeconomic Change, Individual Reactions and the Appeal of the Extreme Right), an dem acht europäische Länder beteiligt waren. In Österreich untersuchte FORBA die Zusammenhänge zwischen politischen Orientierungen und den subjektiven Wahrnehmungen und Verarbeitungsformen der Umbrüche in der Arbeitswelt. Die Ergebnisse aus 32 qualitativen Interviews mit Angestellten, ArbeiterInnen, PensionistInnen und Arbeitslosen wurden unter anderem 2007 im Buch „Die populistische Lücke“ veröffentlicht.
Aufgestautes Arbeitsleid
Unsicherheit und Unzufriedenheit mit der Politik, die keine Sicherheit bieten kann, waren schon damals die Kernthemen. Auch die weiteren Ergebnisse der FORBA-Studie sind hochaktuell: Umstrukturierungen, Rationalisierungen, steigende Arbeitsintensität sind allgegenwärtig im Berufsalltag („Man kommt heim wie ein ausgepresster Fetzen“). Aus Sparmaßnahmen resultierender Personalmangel führt zu häufigeren Verzögerungen und Kundenbeschwerden, Stress und Frust bei den Beschäftigten steigen. Veränderungsprozesse in Unternehmen sind kaum durchschaubar, Vorschläge von Beschäftigten werden ignoriert. Fast alle Befragten berichten, dass sich im Laufe der Jahre die Distanz zum Management vergrößert hat, was als Demokratiedefizit empfunden wird.
Erlebtes Arbeitsleid
Das erlebte Arbeitsleid – „also die körperlichen, psychischen und sozialen Folgen der Unterwerfung unter die Zumutungen des Erwerbslebens, denen keine adäquate oder eine unsicher werdende Belohnung in Form von Einkommen, Sicherheit, Anerkennung und damit gesellschaftlicher Integration gegenübersteht“ – spielt eine wichtige Rolle. Leistungs- und Verfügbarkeitsgrenzen werden oft zu spät oder gar nicht bewusst wahrgenommen und kommuniziert. „Erst diese Blockaden, erfahrenes Arbeitsleid direkt zum Ausdruck zu bringen, ermöglichen es, das damit verbundene Unrechtsempfinden oder die aufgestaute Wut für Angriffe auf angebliche Sozialschmarotzer oder ‚Ausländer, die uns ausnützen‘, zu mobilisieren“, schreiben die Studien-AutorInnen. Außerdem: Nicht nur die beruflich erfolgreichen AufsteigerInnen haben „Arbeitsorientierung, Arbeit als Pflicht und Selbstzweck bzw. Leistungsprinzip so sehr verinnerlicht, dass andere Einstellungen und Lebensentwürfe kaum akzeptiert werden können“. So werden andere schnell zu „Sozialschmarotzern“. Gleichzeitig wird auch eigene Erfolg- oder Arbeitslosigkeit als dramatisch erlebt.
Die Neuen Rechten sind für mehrere Gruppen attraktiv: für leistungsorientierte Selbstständige und für aufstrebende Angestellte, die um den Platz in der gesellschaftlichen Mitte kämpfen; für ArbeiterInnen und „kleine“ Angestellte, denen verschärfte Bedingungen und physische Belastungen am Arbeitsplatz sowie fehlende Anerkennung zu schaffen machen. Geringverdienende Frauen mit Kindern wiederum leiden besonders unter ihrer Doppelbelastung und sehen sich in Konkurrenz mit billigen ausländischen Arbeitskräften. So gut wie alle haben Angst, „ausgemustert“ oder ausgegrenzt zu werden, trotz hoher Leistungsbereitschaft.
Dass es sich bei den Sorgen der Menschen nicht nur um geschürte Ängste ohne Grundlage handelt, zeigt ein Blick in die Statistik. Ganze 14 Prozent Realeinkommensverlust für ArbeiterInnen verzeichnete die Statistik Austria zwischen 1998 und 2013. Derartige Einbußen sind täglich schmerzlich spürbar und führen, in Kombination mit ausufernden Arbeitszeiten und hohen Flexibilitätsanforderungen, zu sozialer Isolation bzw. Angst vor Isolation. „Betroffene nehmen als besonders schmerzlich wahr, dass sie gesellschaftlich nicht mehr mithalten können und sich ihre Sozialkontakte reduzieren. Es stellen sich Gefühle der Entfremdung von der Gesellschaft ein. Angesichts der Wahrnehmung von Immigrant/inn/en im öffentlichen Raum, zumal ihrer auffälligen Geselligkeit und ihrer oft großen Familien, kann sich diese Entfremdung leicht an den ‚Fremden‘ entzünden. […] Migrant/inn/en und fremde Religionen werden dabei vielfach zum Symbol für die Fremdheit in der Gesellschaft – eine Fremdheit, die auch ohne Immigration gegeben wäre“, fassen die Studien-AutorInnen zusammen.
„Der Druck in der Arbeitswelt und die Angst vor Jobverlust sind seit unserer Untersuchung nicht kleiner geworden“, umreißt Jörg Flecker, einer der AutorInnen sowie Leiter des Instituts für Soziologie an der Uni Wien, die aktuelle Situation. „Der Wohlfahrts-Chauvinismus – wer hat Anspruch auf Sozialleistungen – wird sich noch weiter zuspitzen. Die Konkurrenz am Arbeitsmarkt oder auch um günstige Wohnungen wird weiter zunehmen.“
Sozioökonomische Spaltung
Die Lebenswelten von ArbeiterInnen und Vermögenden, von Gebildeten und weniger Gebildeten driften immer weiter auseinander. Diese sozioökonomische Spaltung stellt ein gravierendes Problem dar. Aufrufe zur Toleranz, „mit denen die politische Mitte und die intellektuelle Elite auf Manifestationen des Hasses auf Sündenböcke reagierten“, wären eher kontraproduktiv und würden nur zu weiterer Entfremdung beitragen. „Mich und meine Probleme sieht keiner“ ist dann nicht selten die Reaktion von „ModernisierungsverliererInnen“. Flüchtlinge bekämen breite Aufmerksamkeit und alles geschenkt, während die eigene prekäre Situation niemanden zu interessieren scheint. Da kommen die Rechtspopulisten gerade recht.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin office@astrid-fadler.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Es ist ein Satz, der so klingt, als wäre er erst vor Kurzem geschrieben worden. Dieser Eindruck täuscht aber, denn das Zitat stammt aus dem Jahr 1972. Damals nämlich begann man sich in einer breiten Öffentlichkeit mit den „Grenzen des Wachstums“ zu beschäftigen, wie auch der Titel des Buches lautet, dem dieser Satz entnommen ist. Darin wird eine Studie im Auftrag des Club of Rome über die Zukunft der Weltwirtschaft zusammengefasst.
Vorausschauend
So umstritten der Club of Rome selbst wegen seiner Unternehmernähe ist und so skeptisch man mancher Analyse gegenüberstehen mag, so vorausschauend wirken die Schlussfolgerungen der „Grenzen des Wachstums“: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“
Seither beschäftigen sich viele verschiedene AkteurInnen mit der Zukunftsfähigkeit des vorherrschenden Wachstumsmodells, aktuell vor allem unter dem Stichwort Nachhaltigkeit. Allein, die Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Umweltpolitik sollten bescheiden bleiben. Daran änderte auch das Platzen der Finanzblase im Jahr 2008 wenig: Im Mainstream hält sich das Ankurbeln des Wachstums bis heute als zentrales wirtschaftspolitisches Ziel.
Ungenutzte Chance
Dabei ist diese Krise nur ein weiterer Schuss vor den Bug des aktuellen Wirtschaftssystems und hätte somit einer von vielen Anlässen sein können, dieses grundlegend zu überdenken. „Diese Krise, so die damals einhellige Meinung, böte ein einmaliges Window of Opportunity, um den Ende der 1970er-Jahre eingeschlagenen wirtschaftsliberalen Entwicklungspfad hinter sich zu lassen“, schreibt etwa Berthold Huber, Vorsitzender der IG Metall, in „Kurswechsel für ein gutes Leben“. Diese Hoffnungen allerdings wurden bislang enttäuscht, so Huber. Die nach der Krise ergriffenen Maßnahmen seien „vor allem symbolischer und strukturkonservativer Natur“: keine wirksame Regulierung der Finanzmärkte, keine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik in Richtung Nachhaltigkeit.
Die deutsche Gewerkschaft IG Metall ist nur eine von vielen AkteurInnen, die sich mit Alternativen zum derzeitigen Wirtschaftssystem beschäftigen. Man muss das Problem bei der Wurzel packen, lautet die Analyse, und diese Wurzel ist das auf Wachstum und Ausbeutung der Natur basierende Wirtschaftsmodell.
Im Jahr 2012 veranstaltete sie einen großen internationalen Kongress mit dem Titel „Kurswechsel für ein gutes Leben“, bereits ein Jahr zuvor hatte sie sich bei ihrem Gewerkschaftstag einen solchen Kurswechsel zum Ziel gesetzt. Wie könnte ein Alternativmodell aussehen? Bertholt Huber erklärt die Vorstellungen der IG Metall: Dieser gehe es „um die Frage einer ‚humanen Ökonomie‘ und darum, wie es gelingen kann, qualitatives Wachstum, gute Arbeit, Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe für alle miteinander zu verbinden“.
Neuer Wohlstandsbegriff
In Deutschland beschäftigte sich außerdem eine Enquete-Kommission mit dem Thema. Die 17 Bundestagsabgeordneten und 17 externen Sachverständigen schlugen einen neuen Begriff von Wohlstand sowie eine neue Wohlstandsmessung vor.
Diese müssten „neben dem materiellen Wohlstand auch soziale und ökologische Dimensionen von Wohlstand abbilden“. Auch sie stellten das Wachstumsdogma infrage, denn dieses führe eben nicht automatisch „zu mehr materiellem Wohlstand für alle, mehr sozialer Gerechtigkeit und der Lösung der ökologischen Herausforderungen“.
Außerdem legte die Kommission eine Definition von Lebensqualität vor, die folgende Dimensionen beinhaltet: „der materielle Lebensstandard, der Zugang zu und die Qualität von Arbeit, die gesellschaftliche Verteilung von Wohlstand, die soziale Inklusion und Kohäsion, eine intakte Umwelt und die Verfügbarkeit begrenzter natürlicher Ressourcen, Bildungschancen und Bildungsniveaus, Gesundheit und Lebenserwartung, die Qualität öffentlicher Daseinsvorsorge sowie sozialer Sicherung und politischer Teilhabe als auch die subjektiv von den Menschen erfahrene Lebensqualität und Zufriedenheit“.
Mehr als materielle Bedürfnisse
In eine ähnliche Richtung gehen die Vorstellungen des britischen Ökonoms Tim Jackson, der als einer der renommiertesten Kritiker des absoluten Glaubens an Wachstum gilt. In seinem Werk „Wohlstand ohne Wachstum“ schreibt er: „Wohlstand in jeder sinnvollen Verwendung des Wortes handelt von der Qualität unseres Lebens und unserer Beziehungen, von der Belastbarkeit unserer Gemeinschaften und von unserem Gefühl einer gemeinsamen Bestimmung.“
Diese Vorstellung geht also weit über die Befriedigung materieller Bedürfnisse hinaus. Für Jackson ist Wohlstand „tief in der Lebensqualität, der Gesundheit und dem Glück unserer Familien verankert. Er zeigt sich in der Stärke unserer Beziehungen und in unserem Vertrauen in die Gemeinschaft. Wohlstand äußert sich durch Zufriedenheit bei der Arbeit und in dem Bewusstsein, dass wir Werte und Ziele teilen. Er beruht auf unserem Potenzial, voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“
All diese Vorstellungen haben jedoch eine wesentliche Einschränkung: Die Entwicklung muss „innerhalb der ökologischen Grenzen eines endlichen Planeten“ stattfinden.
Menschen für den Wandel
Diese verschiedenen Vorstellungen bewegen sich nicht im luftleeren Raum. Sie werden sogar von mehr Menschen geteilt, als man dies für möglich halten könnte. Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2012 sind den ÖsterreicherInnen folgende fünf Wünsche am wichtigsten: Gesundheit, persönliche Lebenssituation, das Leben weitgehend selbst bestimmen zu können, intakte Familie und Partnerschaft, Schutz der Umwelt.
Auch glauben immer weniger Menschen daran, dass Wirtschaftswachstum ihnen eine bessere Lebensqualität verschafft: 2010 teilten diese Meinung noch 40 Prozent, im Jahr 2012 sank der Wert auf 35 Prozent. 79 Prozent der Befragten waren der Meinung: „Es ist möglich, den Zuwachs an materiellem Wohlstand der Bevölkerung mit der Umwelt und einem sorgsamen Umgang mit Ressourcen in Einklang zu bringen.“
Weiter auf Kosten der Zukunft?
Mehr als 40 Jahre sind seit dem ersten Bericht des Club of Rome vergangen, seinen ersten Berechnungen zufolge hätten wir fast die Hälfte auf dem Weg zur Grenze des Wachstums hinter uns gelegt. Seit damals wurden diese Grenzen wiederholt überprüft und adaptiert.
Die Frage ist allerdings weniger, wann die Endlichkeit des Planeten denn nun tatsächlich erreicht ist. Fakt ist, dass die heutige Wirtschafts- und Lebensweise auf Kosten der Menschen wie der Natur geht. Oder um es mit Tim Jackson zu sagen: „Der Wohlstand von heute ist nichts wert, wenn er die Bedingungen untergräbt, von denen der Wohlstand von morgen abhängt.“
Linktipps:
Bertelsmann-Stiftung:
tinyurl.com/jhou9bn
Das pdf des Berichts als Download:
tinyurl.com/nkoskyz
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
In Erwägung, dass ihr uns dann eben mit Gewehren und Kanonen droht, haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod.
Ähnlich empfinden wohl die meisten Flüchtlinge, die sich, um Krieg, Hunger und Chancenlosigkeit in den finanziell völlig unterversorgten Auffanglagern in der Nachbarschaft der Kriegsgebiete zu entkommen, auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Unter diesen Bedingungen sei, so der ÖGB-Bundesvorstand in seinem einstimmigen Positionsbeschluss zur Flüchtlingsfrage vom 29. Oktober 2015, die Unterscheidung zwischen Kriegs- und sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ … schwer zu treffen. Sie alle treten den Weg nach Europa an, auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben. … Europa muss deshalb … vertriebenen Menschen ausreichend Schutz gewähren!“
GewerkschafterInnen aus betrieblichen und überbetrieblichen Organisationen standen schon immer in den vorderen Reihen, wenn es darum ging, Menschen auf der Flucht zu helfen – die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung ist ja ihrerseits auch eine Geschichte von Verfolgungs- und Fluchterfahrungen, angefangen von der Pionierzeit im 19. Jahrhundert bis zur faschistischen Ära von 1934 bis 1945. Bei allen Flüchtlingswellen, die Österreich erreichten, hatte der ÖGB dabei das soziale Ganze im Auge. Flüchtlingen eine Chance statt Almosen zu geben, das heißt aus Gewerkschaftssicht, sie nicht zum Spielball am Arbeitsmarkt werden zu lassen, sie nicht gegen die schon im Land befindlichen Arbeitslosen auszuspielen. Das betonte auch der ÖGB-Bundesvorstand 2015: Keinesfalls darf die Notsituation Arbeit suchender Menschen für Lohn- und Sozialdumping missbraucht werden.
1.700 Euro brutto bei Vollzeitbeschäftigung, das sind ab 1. Jänner 2016 mit der von den Gewerkschaften erfolgreich durchgesetzten Steuerreform rund 1.250 Euro netto. „Das ist keine Utopie, sondern eine unabdingbare Voraussetzung, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können“, so Katzian.
Das Meinungsforschungsinstitut IFES hat eine Sonderauswertung des Arbeitsklima Index durchgeführt. Die Daten bestätigen, dass eine Erhöhung für die Lohn und -gehaltsgruppen unter 1.700 Euro massive Auswirkungen auf ihre Lebensgestaltung hat. Die Anhebung ist außerdem ein wirksamer Schritt für mehr Einkommensgerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und zum Schließen der Einkommensschere. Frauen sind in viel höherem Ausmaß von niedrigen Vollzeiteinkommen betroffen als Männer. Auch Teilzeitbeschäftigte, von denen besonders viele weiblich sind, würden von einer Erhöhung profitieren.
„Die Selbstbestimmung von Frauen, nicht nur im Erwerbsleben, sondern darüber hinaus in der Pension, setzt ein Einkommen voraus, von dem man leben kann“, betont Bundesfrauenvorsitzende der GPA-djp Ilse Fetik.
In einer Aktionswoche Anfang Dezember haben KollegInnen der GPA-djp in Betrieben und im öffentlichen Raum Unterstützungsunterschriften für diese Forderung gesammelt. Die GPA-djp wird dieses Ziel zudem bei allen anstehenden Kollektivvertragsrunden konsequent verfolgen.
Infos unter: www.gpa-djp.at/aktionswoche
Weitere Punkte im Sündenregister: „Nicht einmal zwei Drittel der Lehrbetriebe (61 Prozent) interessieren sich dafür, was die Jugendlichen in der Berufsschule lernen – und jeder zweite Lehrling sagt, dass es bei neuen Arbeitsaufgaben nicht genug Zeit zum Ausprobieren gibt.“ Ausgerechnet jene Branchen, die am lautesten nach Lehrlingen schreien, sind im Übrigen auch jene, in denen die Jugendlichen nicht bleiben wollen. „Die Jugendlichen wollen keine unfreiwilligen Überstunden machen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten“, hält Vanessa Radu, Bundesjugendsekretärin der vida, fest. „Die Aufgabe der Betriebe ist es, die Lehrlinge auszubilden und sie auf ihrem Weg zur Lehrabschlussprüfung zu begleiten.“ „Was im schulischen Bereich unvorstellbar wäre, ist in der Lehrlingsausbildung der Normalfall: Es wird nicht kontrolliert, wie gut oder schlecht die Jugendlichen ausgebildet werden“, kritisiert ÖGJ-Vorsitzender Sascha Ernszt. „Das zu ändern muss eine Lehre aus dem ersten Lehrlingsmonitor Österreichs sein.“ Auch AK-Präsident Rudi Kaske hält fest: „Derzeit ist die Lehrabschlussprüfung der einzige Gradmesser für die Qualität der praktischen Ausbildung in den Betrieben. Es gibt in den meisten Betrieben keine weitere Überprüfung, und das soll sich ändern.“ ÖGB-Präsident Erich Foglar wiederum betont: „Da Arbeits- und Ausbildungsbedingungen maßgeblich für die Zukunft der ArbeitnehmerInnen sind, gehört für uns eine umfangreiche Ausbildung für die LehrlingsausbildnerInnen in den Betrieben sowie ständige Weiterbildung der AusbildnerInnen dazu. Die Lehrlinge können nur so gut sein, wie jene, die sie ausbilden.“ Von nun an wollen Gewerkschaften und AK alle zwei Jahre aus Sicht der Lehrlinge Vergleiche und Rückschlüsse ziehen, ob die Lehrausbildung einen Schritt nach vorn oder zurück macht.
Infos unter www.lehrlingsmonitor.at
]]>„Es geht nicht darum, diese Vertragsform generell in Frage zu stellen“, hält GPA-djp-Chef Wolfgang Katzian fest. „Die Verträge sollen auf jene Tätigkeiten beschränkt bleiben, die echte Führungs- und Managementaufgaben beinhalten, und sie sollen auch kein Instrument sein, um Lohn- und Gehaltsansprüche von Beschäftigten zu senken.“ Weitere Verbesserungen: Teilzeitbeschäftigte müssen in Zukunft darüber informiert werden, wenn in einem Unternehmen eine Stelle mit höherem Arbeitszeitausmaß ausgeschrieben wird. Konkurrenzklauseln sind nur noch bei Einkommen ab 3.240 Euro zulässig. Außerdem sind ArbeitgeberInnen künftig verpflichtet, den ArbeitnehmerInnen eine schriftliche Lohnabrechnung sowie eine Kopie zur Anmeldung zur Sozialversicherung auszuhändigen. „Derzeit erleben die Rechtsberaterinnen und Rechtsberater in Gewerkschaften und Arbeiterkammern allzu oft, dass Beschäftigte gar keine Lohnabrechnungen erhalten oder nur einen Waschzettel, auf dem ein einziger Betrag genannt ist“, kritisiert AK-Präsident Rudi Kaske.
Infos unter tinyurl.com/ox57vao
„Wichtig war uns vor allem, dass in Zukunft durch diese Tarifänderung den Menschen von den guten Lohn- und Gehaltserhöhungen mehr Geld übrig bleibt“, sagte ÖGB-Präsident Erich Foglar anlässlich einer Informationsveranstaltung in der ÖGB-Zentrale in Wien. „Gemeinsam haben wir die größte Steuerreform seit 40 Jahren erreicht. Ohne die großartige Unterstützung der BelegschaftsvertreterInnen und 882.184 gesammelten Unterschriften wäre das in dieser Größenordnung nicht möglich gewesen“, betonte Willi Mernyi, Kampagnen-Koordinator des ÖGB.
Mehr als 300 TeilnehmerInnen wurden über die spürbare Entlastung im Jahr 2016 informiert.
Die erfolgreiche „Lohnsteuer runter!“-Kampagne des ÖGB und der Arbeiterkammer ist ein weiterer Beweis dafür, dass man gemeinsam mehr erreichen kann und wie wichtig es ist, (mitglieder-)starke Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnenvertretungen zu haben
Mehr Infos unter:
www.oegb.at/mitgliedwerden
Weltweites Vorbild
Wir ärgern uns über die Straßenbahn oder den Zug, der morgens zu spät kommt. Über die rumplige Straße. Darüber, dass die Schule schon so früh beginnt und dass man von der Polizei aufgehalten worden ist.
Aber ganz ehrlich! Stellen wir uns einmal ein „gutes Leben“ ohne staatliche Leistungen vor. Ja, vom Bruttogehalt würde definitiv mehr Netto bleiben. Denn wir zahlen dafür, dass wir uns gegen Arbeitslosigkeit, gegen Armut im Alter, gegen Krankheit absichern.
Wir teilen das Risiko mit den anderen. Dadurch erwerben wir aber auch Ansprüche. Wir bekommen eine Ersatzleistung, wenn der Job weg ist – ein Umstand, der in Österreich im Jahr 2014 immerhin 922.387 Menschen betroffen hat. Neben dieser Versicherungsleistung ist die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistung ein wichtiges Instrument, um die Lebenssituation zu verbessern. Das beginnt mit der Bereitstellung von Wohnbauten mit leistbaren Mieten, von Straßen, Schulen und öffentlicher Sicherheit. Im öffentlichen Verkehr bis hin zum Krankenhaus arbeiten damit auch Menschen für die Allgemeinheit.
Risiko teilen
Klar gibt es eine kleine Gruppe von gut verdienenden Menschen, die sich all diese Leistungen auch privat organisieren kann. Es gibt Privatspitäler, Privatschulen, private Absicherung, private Security. Aber bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von brutto rund 1.900 Euro bzw. bei einem Bruttohaushaltseinkommen von etwa 3.600 Euro würde eine österreichische Durchschnittsfamilie mitunter Schwierigkeiten haben, wenn all diese Leistungen auf privater Basis von gewinnorientierten Unternehmen zugekauft werden müssten.
Uns geht’s gut, weil wir den Sozialstaat geschaffen haben. Ist das Schönfärberei? Nein, sagen auch US-Ökonomen wie Jeffrey Sachs, die den europäischen Wohlfahrtsstaat (auch wenn es davon viele Varianten gibt) weiterhin als weltweites Vorbild bzw. Standortvorteil sehen. Der Wohlfahrtsstaat verteilt zwischen Reich und Arm und zwischen verschiedenen Lebenslagen um. Manche haben lange Ausbildungszeiten, die von der Allgemeinheit finanziert werden, dafür haben sie dann höhere Einkommen mit einem progressiven Steuersatz und zahlen deshalb mehr Steuern.
Andere werden in einem öffentlich zugänglichen, dabei qualitativ hochwertigen Gesundheitssystem schneller geheilt und tragen dann arbeitend auch wieder zu dessen Finanzierung bei.
Obwohl unser Wohlfahrtsstaatssystem sehr weit entwickelt ist, heißt das nicht, dass sich nicht die Anforderungen ändern, es keine Lücken hat und nicht laufend mit den Bedürfnissen der Bevölkerung mit- und weiterentwickelt werden soll und muss.
Aufstieg möglich
Neben den absichernden Elementen des Staates ist auch zentral, dass die staatlichen Leistungen unterstützen, dass sich Menschen in die Gesellschaft integrieren können, ein gesellschaftlicher Aufstieg ermöglicht und soziale Ausgrenzung vermieden wird. Es geht also auch um Möglichkeiten, teilzuhaben und beizutragen.
Ungleiche Voraussetzungen schaffen auch ungleiche Ergebnisse, wie Forschungen des US-Professors John Roemer zeigen. Wenn jemand in einem 100-Meter-Lauf günstigere Startbedingungen hat, also bei Meter 50 lossprintet, wird er klarerweise viel leichter gewinnen können.
Daher muss mittels Steuerpolitik vermieden werden, dass sich ungleiche Voraussetzungen verfestigen und quasifeudale Strukturen immer fortschreiben. Berühmte Ungleichheitsforscher wie Thomas Piketty, Tony Atkinson oder Joseph Stiglitz treten deshalb für eine Besteuerung von hohen Vermögen in Form von Erbschafts- und Vermögenssteuern ein.
Zentraler Schlüssel Bildung
Öffentliche Dienstleistungen und Investitionen helfen viel stärker mit, diese Integrationsfunktion zu gewährleisten, als reine Geldleistungen.
Als zentraler Schlüssel wird hier Bildung gesehen. Es beginnt mit der frühkindlichen Erziehung, der Elementarbildung, wo eine soziale Durchmischung sich gesamtgesellschaftlich positiv auswirkt, und setzt sich bis zum offenen Zugang für den Besuch von Universitäten fort.
Viele unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen können damit schon früh gesammelt werden. Das ist keine radikale oder ideologische Forderung, sondern wird auch von internationalen Organisationen wie der OECD und auch den österreichischen Sozialpartnern gemeinsam unterstützt.
Überzogene Hoffnung
Eine Geldleistung allein, etwa ein Grundeinkommen, leistet diese Integrationsleistung nicht. Dies ist vielmehr eine überzogene Hoffnung, die mit dem Begriff verbunden wird. Denn eigentlich wird hier eine Geldleistung gefordert, ein Transfer, über dessen Zweck und Verwendung nichts gesagt werden kann.
Auch entpuppen sich oftmals gefeierte Beispiele bei näherem Hinsehen als mickrige Alternativen. Ein aktuelles Beispiel aus Finnland zeigt, dass es sich hier um nichts mehr als um eine Anpassung einer Lohnsubvention handelt – mit Arbeitspflicht.
Gerade die aktuelle Debatte über den Umgang mit flüchtenden Menschen zeigt auch, dass eine Grundversorgung ein wichtiger, aber noch lange kein hinreichender Baustein für eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft ist. Hier wird wieder zurückgegriffen auf Institutionen, die erstritten und erkämpft wurden und sich seither bewähren: Schule, Ausbildungssysteme, aktive Arbeitsmarktpolitik, soziale Absicherung. Es ist die Kombination zwischen Unterstützung und Beitrag, Umverteilung und Anerkennung, die wichtige Elemente des sozialen Ausgleichs sind.
Die gute Nachricht ist zudem, dass Menschen sich in Gesellschaften, die nach sozialer Gerechtigkeit streben, besser fühlen als in ungleichen, wie die britischen Forscher Kate Pickett und Richard Wilkinson herausgefunden haben. Nein, es ist nicht alles paletti. Unsere Gesellschaft und damit auch das wohlfahrtsstaatliche System stehen vor vielen Herausforderungen.
Ein gutes Leben kann in der heutigen Zeit für viele Menschen individuell ganz Verschiedenes bedeuten. Auch der Ressourcenverbrauch, die Umwelt, setzt hier Grenzen. Auf der anderen Seite wurde durch die Globalisierung die Welt zum Dorf und viele Grenzziehungen finden neu statt.
Vorzüge
Wenn wir uns der Vorzüge des Wohlfahrtsstaates bewusst sind und an den bestehenden Herausforderungen arbeiten, kann vieles im Sinne eines guten Lebens gelingen. Ein System, das auf gemeinschaftlicher Tragung der Risiken und sozialem Ausgleich fußt, schafft vielfache Voraussetzungen dafür, dass vielen Menschen Möglichkeiten eröffnet werden und sie sich wohlfühlen – und nicht nur einige wenige.
Linktipp:
OECD – In It Together: Why Less Inequality Benefits All:
tinyurl.com/ppovctc
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin christa.schlager@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Arbeit&Wirtschaft: Kann man die Frage nach dem guten Leben angesichts hoher Arbeitslosigkeit, Armut, stagnierenden Löhnen oder Flüchtlingsbewegungen überhaupt stellen?
Ulrich Brand: Es gibt ja eine dominierende Vorstellung in der Gesellschaft, was das gute Leben ist: Man soll viel verdienen, viel konsumieren, nicht zu viele Fragen stellen, diszipliniert sein. Wenn man sich die Gewerkschaftszeitungen ansieht, etwa die neue Ausgabe (der „Kompetenz“, Anm.): Da geht es um die Kollektivvertragsverhandlungen, zu sehen ist ein junges Pärchen, und über ihnen schwebt eine Wolke mit Auto, Kühlschrank, Reise, Eurozeichen und so weiter.
Doch das hat eine Kehrseite: So wie das gute Leben heute verstanden wird, führt es dazu, dass Menschen arbeitslos werden, dass Ressourcenzuflüsse hier zu Ressourcenkriegen woanders führen, sodass Menschen fliehen. Die heutige Vorstellung vom guten Leben ist individualisiert, erzeugt viel Druck und das führt zu Problemen.
Wir müssen die Frage des guten Lebens anders stellen und beantworten: Ein gutes Leben ist ressourcenleicht, solidarisch, ökologisch nachhaltig, nicht auf Kosten anderer.
Ist es denn so unverständlich, dass man nicht verzichten möchte?
Es gibt zwei Dimensionen bei dieser Diskussion, die erste wäre: Wir wissen vor allem aus der Gesundheitsforschung, dass ab einem bestimmten Einkommen subjektives Glücksempfinden größer ist, wenn die Verteilung gleicher ist. Wilkinson und Pickett haben gezeigt, dass das individuelle Wohlbefinden durchaus etwas mit der Gesellschaft zu tun hat, nämlich mit einem Gefühl, dass es mehr oder weniger gerecht zugeht, dass es auch anderen nicht so schlecht geht. Zweitens: Aus meiner Sicht ist Debatte um gutes Leben keine Debatte um Glück. Glück ist etwas Individuelles, man kann viel Geld haben und unglücklich sein. Die Frage nach dem guten Leben heute ist vielmehr die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Menschen solidarisch, auskömmlich und nachhaltig leben können. Das ist aus meiner Sicht der Kern der Debatte.
Jetzt kommen wir an eine Scheidestelle, denn es gibt eine ökologische Restriktion. Wir können nicht mehr sagen: Die Bedingung für ein gutes Leben ist ein Industriekapitalismus, der nicht so genau schaut, wo die Ingredienzen des Kuchens herkommen, Hauptsache der Kuchen wächst und wir können die Stücke verteilen. Wir müssen genauer fragen: Was hat es mit den Ingredienzen des Kuchens auf sich?
Aber kann man Menschen in den Nicht-Industrieländern wirklich übel nehmen, dass sie die gleichen Konsummöglichkeiten haben wollen?
Ich würde nicht sagen: Die Chinesen sollen unsere Konsummöglichkeiten haben, etwa in der Mobilität. Es braucht in China dringend ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein. Es geht nicht, dass du ein Auto hast, sobald du ein bisschen im Wohlstand lebst, wenn du dann Mittelklasse bist – und zwar nicht als moralische Ansprache, sondern als gesellschaftspolitisches Problem. Jetzt kommen in China die Smogs wieder, das ist ein Desaster. Und die Leute wissen doch, dass es ein Desaster ist.
Die staatlichen Politiken ändern sich jetzt ein bisschen. Nur hat das Zentralkomitee in China 1980 entschieden: Wir erhöhen die Mobilität weitgehend über Automobilität. Nur warum hat der Staat nicht gesagt: Wir machen das über öffentlichen Verkehr? Heute machen sie es, aber das ist total additiv zum großen Drive Automobilität. Ich würde sagen: Die Menschen in China sollen eine befreiende Mobilität haben, die auf einem guten, öffentlichen Verkehr basiert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht den moralischen Zeigefinger erheben, sondern auf die gesellschaftspolitischen Probleme hinweisen.
Lieber gutes Fleisch und davon weniger als billiges: Das klingt doch nach Verzicht, oder?
Dieser Rahmen – und der ist sehr stark in der Gewerkschaft vertreten – ist aus meiner Sicht falsch. Vielmehr müsste man sagen: Wir brauchen ein anderes Verständnis von Wohlstand. Ich würde den Leuten nicht ihr Schnitzel verbieten. Vielmehr muss gutes Fleisch gesellschaftlich so verstanden werden, dass es ökologisch produziert wird, zwar etwas teurer ist, aber dass ich Freude habe, wenn ich zweimal die Woche Fleisch esse. Das sind kulturelle Veränderungen – und ich glaube, dass da die Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielen. Die Verzichtforderung zählt zudem zu den konservativen Vorschlägen. Die halte ich für ziemlich problematisch, weil wenn sie Verzicht oder Gürtel enger schnallen sagen, dann meinen sie: die Ärmeren. Oder den Süden. Da würde ich sagen: Nein, es geht um einen solidarischen Umbauprozess.
Wie viel haben diese Fragen mit Verteilung zu tun?
Wir müssen die Frage des Übergangs oder der sozial-ökologischen Transformation, wie ich es bezeichne, unbedingt mit Verteilungsfragen kurzschließen. Aber nicht nur. Da würde ich die Leute in die Pflicht nehmen. Es muss eben nicht das Menschenrecht auf das tägliche Schnitzel sein. Wir wissen aus allen Gesundheitsstudien, dass wir zu viel Fleisch essen. Es ist also gesünder, es ist solidarischer, und es gibt hier super regionales Essen, das nachhaltig angebaut wird.
Der Umbauprozess hängt aber natürlich mit der Verteilungsfrage zusammen. Man sollte eben nicht bei den einkommensschwachen Hacklern oder sogar bei den Arbeitslosen anfangen. Bisher läuft die Alternativdiskussion – der Hype um Thomas Piketty oder Joseph Stiglitz, die beide in traditionellen Wachstumskategorien denken – unter dem Verteilungsgesichtspunkt. Ich würde den nie aufgeben wollen – auch die Verteilung von Macht, nicht nur von Einkommen und Vermögen. Aber ein Systemimperativ heute lautet: Es gibt drei wirtschaftspolitische Forderungen, nämlich Wachstum, Wachstum, Wachstum. Die Systemlogik ist: Geh nicht an die Macht der Vermögenden, geh nicht an die Macht des Kapitals. Das muss infrage gestellt werden.
Und die Bevölkerung muss an diesem Prozess beteiligt werden. „Nur das Kapital macht“: Das wäre mir zu wenig. Genauso zu sagen: „Nur die Leute, der Konsument macht das, wir kriegen das über den Lifestyle hin.“ Das glaube ich nicht, das sind knallharte Machtfragen.
Über Werbung werden Bedürfnisse bei den Menschen geweckt, die eigentlich der Profitlogik von Unternehmen dienen. Kann man sich dem überhaupt entziehen?
Ich denke schon. Es gibt natürlich Produktivitätssteigerungen – hoffentlich gibt es die, ein sozial verantwortlicher Unternehmer hat allein schon einen Expansionszwang, wenn er keine Leute entlassen will. Aber wir könnten ja auch die alte Idee von Keynes aufnehmen, der 1930 in seinem „Text an die Enkel“ geschrieben hat: Wenn wir Produktivitätswachstum haben, könnte das ja auch über Arbeitszeitverkürzung laufen. Was wäre das für ein kultureller Wandel!
Und jetzt nehmen wir noch die Flüchtlingsfrage dazu und verbinden sie mit einem Wunsch, der sich in allen Umfragen zeigt: Die Menschen wollen 30 Stunden arbeiten. Die Debatte um andere Wohlstandsmodelle und Machtfragen mit der 30-Stunden-Frage zusammenzubringen: Das wäre die Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeiterkammern. Die Leute haben doch bewiesen, dass sie bereit sind, ihre Klamotten herzugeben, und ich würde das nicht als Wohlstandsmüll denunzieren. Da haben Menschen geteilt, weil andere Menschen in Not waren. Wenn wir das umstellen und sagen: Ja, ich bin glücklicher mit 30 Stunden, ich habe eine gute öffentliche Infrastruktur, ich werde nicht über den Tisch gezogen und ich kann mich für etwas anderes einbringen – ich kann zum Beispiel fünf Stunden die Woche Unterricht für Flüchtlinge geben. Das ist doch irre! Da würde die Gesellschaft anfangen umzudenken.
„Raus aus der Beschleunigung“ versus „Rein in den Konsum“. Wie lässt sich dieser Widerspruch entkoppeln?
Ein kleiner gedanklicher Umweg: Ich sage, es muss aus meiner Sicht ein bedingungsvolles Grundeinkommen geben, und zwar nicht als Zwang, sondern dass man mit seiner Zeit auch Sinnvolles machen kann. Der kulturelle Wandel wäre: Ich habe mehr Zeit für anderes, für mich, für die Familie, für mein Grätzl, für die Politik, wie auch immer. Dann würde es eben nicht bedeuten „Mehr Zeit ist mehr Konsum“. Das wird uns aber nahegelegt: Du bist völlig entfremdet in der Arbeit, du hältst die Klappe von Montag bis Freitag und am Samstag gehst du zu Saturn oder kaufst dir ein T-Shirt für 1,99 aus Bangladesch und fragst nicht genau, unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde.
Diese Veränderung hin zu einer solidarischen Lebensweise ist eine, die natürlich Vorbilder braucht, die Orientierung braucht. Da würde ich die Gewerkschaften und Arbeiterkammern in die Pflicht nehmen. Sie sollten nicht sagen „Mehr im Geldbörsel!“ oder „Billig konsumieren!“, sondern vielmehr: „Solidarisch und gut konsumieren!“.
Die Gewerkschaften in Österreich gerade in den 1920ern haben ja gesagt: Wir sind gesellschaftspolitische Akteure und wir gestalten mit. Dann sind sie in die Defensive gedrängt worden als Partikularinteressenvertreter, während das Kapital das Allgemeininteresse vertritt. Genau das ist ja der Erfolg des Neoliberalismus. Und jetzt zu sagen: Die Gewerkschaften vertreten weiter die Interessen ihrer Mitglieder, aber sie vertreten auch das Interesse an einer guten Umwelt, an Zukunftsfähigkeit ... Dazu gehört aber auch, dass man sagt: Ihr, liebe Mitglieder, seid nicht entlassen, das machen nicht nur wir Vertreter, sondern engagiert euch! Die Menschen selber sollen sich als politisches Subjekt fühlen. Klar, wir benötigen Formen der Repräsentation, aber es gibt so viele Interessenbildungsprozesse, die völlig abgeschnitten von den Mitgliedern ablaufen, weil die Gewerkschaften oder die Funktionäre – und ich meine das nicht böse – ja eh wissen, was die Mitglieder wollen. Es geht also um eine Re-Politisierung – und damit meine ich keine Überpolitisierung, sondern eine kluge Re-Politisierung. Das war ja so spannend am Flüchtlingsthema im Sommer.
Da wäre Arbeitszeit ein spannendes Thema, auch Vermögenssteuern. Oder das Klimathema: Wir wissen, wir leben materiell über unsere Verhältnisse, wir zerstören da etwas. Da gibt es einen großen Unmut. Diesen könnte man in eine andere Lebensweise umbauen, etwa indem man sagt: Wien wird im Jahr 2030 autofrei sein. Überlegen Sie mal: Die Stadt wäre fast ohne Autos, außer Notwägen und so weiter. Das ist noch eine Größe, das ist doch Lebensqualität! Das ist aber auch eine Frage des Angebots, dass Menschen außerhalb des Gürtels und im Umland mitmachen können, und da wird es halt nicht so einfach.
Inwieweit hängen gutes Leben und Chancengleichheit zusammen?
Diese Transformationsdebatte kommt ganz stark aus der Ökologie und es gibt diesen Spruch: Gutes Leben für alle, nicht Dolce Vita für wenige! Das halte ich für ganz zentral. Weltweit ist es Dolce Vita für wenige, aber auch innergesellschaftlich.
Das gute Leben für alle ist eine Frage der Gerechtigkeit und der starke Gewerkschaftsbegriff ist die „Just Transition“. Der war ja teilweise in den Klimaverhandlungen präsent, ist aber wieder rausgefallen. Darauf würde ich aber bestehen: Das gute Leben muss ein gerechtes und solidarisches Leben sein. Und die Umweltdebatte zieht es sozusagen auf den ökologischen Imperativ: Wir müssen jetzt die CO2-Emissionen bis 2050 um 80 Prozent reduzieren. Ich glaube auch, dass wir das müssen, aber wenn wir das nicht gerecht hinkriegen, machen die Leute nicht mit.
Die Aufgabe in den nächsten Jahren wird sein, das nicht den Rechten zu überlassen. Die bedienen das mit Wohlstandschauvinismus, mit Rassismus, mit Abwertung, Hierarchisierung.
Vielmehr braucht es ein Wohlstandsmodell – dass wir uns bereit machen, um diese solidarische Lebenspraxis zu erreichen. Von daher kommen wir um die Gerechtigkeitsfrage nicht herum und auch nicht um die Machtfrage. Man muss sich mit den Vermögenden anlegen, man muss sich mit denen anlegen, die die Investitionsentscheidungen treffen, und das sind in der Regel private Unternehmen, und die muss man gegebenenfalls blockieren.
Der Ausbau öffentlicher Infrastruktur wird derzeit gerne mit dem Sparzwang vom Tisch gewischt. Ist da eine Wende überhaupt möglich?
Man kommt nur heraus, wenn wir die Austerität überwinden. Die große Blockade – neben dem Mentalen und Machtfragen, die wir gerade diskutiert haben – ist zurzeit die Austeritätspolitik. Die erzeugt wahnsinnig viel Angst, und zwar auch bei jenen, die heute noch gut leben – machen wir uns nichts vor!
Die Überwindung der Austeritätspolitik kann aber nicht nur traditions-keynesianisch sein, also nicht: Wir machen Wachstum, Wachstum, Wachstum, und verteilen besser. Das ist nicht unbedingt gerechtigkeitsfördernd. Die traditionelle keynesianische Lehre legt sich auch nicht unbedingt mit herrschenden Interessen an. Wir sind in einer Situation, in der wir einen kampfmutigen Keynesianismus brauchen und auch die Ökologiefrage stellen müssen.
Gibt es da noch Raum für das „normale“ Leben, in dem es eben auch Krisen gibt?
Es wird weiterhin Jobs geben, die nicht angenehm sind. Da sollte man nicht naiv sein. Nur: Wie ist die Arbeit verteilt? Wie wird das bezahlt? Welche Arbeit wird abgewertet? Warum gibt es Eliten, die die tollen Jobs machen, und viele andere haben nicht so tolle Jobs? Der Philosoph (Theodor W., Anm.) Adorno hat einmal gesagt, in einer emanzipierten Gesellschaft würde er auch am Tag drei Stunden Fahrstuhlführer sein, wenn er damit zu einer besseren Gesellschaft beiträgt. Das aber eher als Bonmot.
Ich bestehe eben deshalb auf den Bedingungen: Man muss die Bedingungen schaffen, dass man mit Mühsal oder einer Krisensituation gut umgehen kann und nicht alleingelassen wird. Hartz IV heißt ja, ich habe eine Krisensituation und diese wird verlängert. Ich werde auch noch gesellschaftlich stigmatisiert. Eine gute Gesellschaft würde sagen: Natürlich wird mal jemand arbeitslos, hat ein Burn-out oder es stirbt ein Mitmensch – und diese Krise wird gut aufgefangen.
Die Frage, die mich vor allem umtreibt: Wie können wir in einem demokratischen Prozess ein besseres Leben für alle schaffen? Gerade im Gewerkschafts- und Beschäftigtenspektrum lautet die Frage: Wie kommen wir aus dieser fossilen Demokratie raus? Diese Frage haben wir noch nicht richtig verstanden. Also wie schaffen wir eine ressourcenleichte, solidarische, emanzipatorische Demokratie?
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at
Um das gute Leben zu messen, ist das Wirtschaftswachstum wenig aussagekräftig. Tatsächlich verfügbare Einkommen und Konsum der Haushalte, (gute) Beschäftigung für alle und Verteilungsindikatoren geben hier eher Aufschluss.
Zudem muss berücksichtigt werden, ob unsere natürliche Umwelt unseren Wohlstand langfristig verkraftet. Ein Job ist eine Bedingung für die materielle Absicherung, er hat für viele Menschen auch sinnstiftende Funktion.
Zufrieden ist, wer mehr hat.
Zahlen, Daten, Fakten zum Thema anbei zum Downloaden!
]]>Niemand so richtig zuständig
Schon bevor die Patientin Schule ins Krankenhaus kam, waren etliche Anzeichen der Erkrankungen sichtbar. Diese Symptome wurden dem Krankenhaus aber nicht mitgeteilt und mehrere behandelnde praktische ÄrztInnen haben auf den teilweise bereits bedenklichen Zustand ungeordnet – nach Bundesländerlaune – reagiert. Im Krankenhaus sind irgendwie alle und niemand so richtig für die Patientin zuständig.
Der Primararzt – namens Bundesministerium – weiß wenig darüber, was im Krankenzimmer wirklich los ist. Welche Behandlungen und Medikamente die Patientin bekommt, weiß er nur oberflächlich. Somit meint er zwar festzulegen, welche Behandlungsschritte zu tun sind, kann sich aber nie sicher sein, ob sein Einsatz – vor allem der finanzielle – überhaupt in die gewünschte Richtung geht.
Die ÄrztInnen – die Bundesländer – tragen unter sich einen großen Machtkampf aus. Die meisten sind vor allem am eigenen Image orientiert und weniger am Wohlergehen der Patientin. Wer von ihnen welche Heilmethode anwendet, soll möglichst geheim bleiben. Sie treffen immer wieder auf eine Patientin in höchst unterschiedlichen Zuständen, was mehr Behandlung und mehr Medikamente in manchen Situationen erfordern würde. Gibt’s nicht, weil weder Solidarität noch die Heilung der Patientin gemeinsames Anliegen ist.
Kampf gegen das System
Zwei Krankenschwestern – im anderen System nennen sie sich LehrerInnen –, die sich abwechseln, wissen um den tagtäglichen Zustand der Patientin bestens Bescheid. Die eine ist älter und wird weder ermuntert noch angehalten, sich um bessere und neuere Pflege zu kümmern. Sie macht alles so, wie es immer war, und erwartet sich keine Besserung des Zustands mehr. Die zweite, jüngere, ist sehr bemüht, aber sie kämpft sich allein durchs System – für jedes neue Hilfsmittel muss sie harte bürokratische Hürden überwinden.
Zusätzlich wird die Patientin täglich mittags nach Hause entlassen. Meist ist leider gerade dann, wenn der Zustand der Patientin schlecht ist, niemand Unterstützender da. Dies verschlimmert die Hauptkrankheit – Chancenungerechtigkeit – naturgemäß regelmäßig.
Behandlungsplan
Wie kann die Patientin denn nun geheilt werden? Der Primararzt muss endlich die Oberhoheit über das Geschehen erlangen. Die behandelnden ÄrztInnen müssen sich am Zustand der Patientin orientieren. Ihre eigentümliche Eigenbrötlerei ist scharf zu beschneiden. Ganz wichtig ist die Stärkung der Krankenschwestern.
Übersetzt bedeutet das: Die Frühförderung im Kindergarten muss einen qualitativen Sprung machen – über ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr und Standards bei der Frühförderung. Auf die Transparenz der Verwendung der Mittel muss ein deutlich gezielterer Einsatz folgen. Die Gelder und LehrerInnen müssen dorthin, wo die größten Probleme sind. Jene Schulen, die viele sozial benachteiligte SchülerInnen betreuen, brauchen sozial ausgleichende Unterstützung. Der Ausbau von Ganztagesbetreuung in der Schule muss in höchster Qualität erfolgen. Und: Kein Schulabschluss mehr ohne Erreichung der Grundkompetenzen.
Denn bei den Diskussionen um Bildungsreform bleibt allzu oft auf der Strecke, worum es hier eigentlich geht: um die Kinder und Jugendlichen! Um ihre Bedürfnisse, ihre Fähigkeiten und ihre Freude am Lernen.
Wien: Eine reiche Stadt wächst
Das Gerede von der Überschuldung der Stadt Wien entbehrt jeder Grundlage. Denn die Pro-Kopf-Verschuldung der Hauptstadt liegt deutlich unter dem österreichischen Durchschnitt und ist viel niedriger als jene des Spitzenreiters Niederösterreich. Zudem stehen ihr hohes privates und öffentliches Vermögen gegenüber. Das Problem ist also nicht die Verschuldung, sondern es sind die ökonomisch unsinnigen Fiskalregeln, die die Stadt daran hindern, in den Ausbau der Infrastruktur zu investieren.
Gerade weil Wien eine rasch wachsende Stadt ist – zuletzt kamen rund 25.000 EinwohnerInnen pro Jahr dazu – wäre das dringend notwendig. Denn damit steigt der Bedarf an öffentlicher Verkehrsinfrastruktur, sozialem Wohnbau sowie Bildungs- und Sozialeinrichtungen. Dieser kann nur durch öffentliche Investitionen gedeckt werden.
Doch die EU-Fiskalregeln und der innerösterreichische Stabilitätspakt hindern die Stadt daran. Nicht einmal die bei einer so rasch wachsenden Bevölkerung unverzichtbaren Investitionen in die kommunale Infrastruktur werden vom Nulldefizitwahn verschont. Wenn nicht nur die Bevölkerung, sondern auch der Wohlstand in der Stadt wächst und alle davon profitieren sollen, müssen diese unsinnigen Regeln geändert werden.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/pylvx65
VW-Skandal zeigt die Macht der Lobby-Konzerne
Der VW-Skandal um die Manipulation von Abgaswerte-Messungen macht einmal mehr die problematische Dominanz des Lobbyings großer Konzerne in Brüssel deutlich. Laut Angaben des VW-Konzerns arbeiten 43 Lobbyisten in EU-Angelegenheiten für das Unternehmen und er gibt jährlich 3,3 Millionen Euro für Lobbying aus. Insgesamt schätzt man die Lobbyingausgaben der Autokonzerne und ihrer Verbände in Brüssel insgesamt auf mehr als 18 Milliarden Euro.
Das zeigt natürlich Wirkung. Die Autoindustrie hat es durch ihr vehementes Lobbying geschafft, strengere Abgaswerte und strengere Kontrollsysteme seit den 1990er-Jahren zu verhindern. Um ihre Forderungen durchzubringen, sitzen Experten der Autoindustrie z. B. in Expertengruppen, die die Europäische Kommission beraten.
Volkswagen etwa sitzt, trotz Skandal, nach wie vor in fünf Expertengruppen, die die Kommission derzeit beraten. Diese Gruppen sind nicht gerecht besetzt. In Schlüsselgeneraldirektionen kamen ArbeitnehmervertreterInnen auf minimale ein Prozent. Es liegt auf der Hand, dass das derzeitige System grundsätzlich überarbeitet gehört.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/nr78z8u
Faire Verteilung von Arbeitszeit
Quer über alle Branchen haben sich die VertreterInnen von Industrie und Wirtschaft ein Patentrezept zurechtgelegt, das lautet: Länger arbeiten, mehr Überstunden machen, später in Pension gehen, noch flexibler werden. Die Konsequenz ist eine absurde Situation. Immer mehr Menschen arbeiten an ihrem absoluten persönlichen Limit und darüber hinaus. Mit immer weniger Personal soll ein immer größeres Arbeitsvolumen bewältigt werden.
Mehr als 270 Millionen Überstunden wurden allein im Vorjahr in Österreich geleistet. Jede fünfte Überstunde bleibt unbezahlt. Diesem Überstundenwildwuchs stehen aktuell fast 320.000 Menschen gegenüber, die gar keine Arbeit haben. Dabei ist Zeit eine der wichtigsten Ressourcen, die wir Menschen zur Verfügung haben. Neben der Bezahlung sind es daher Fragen der Arbeitszeitgestaltung, die uns im gewerkschaftlichen Alltag am intensivsten beschäftigen. Wir brauchen neue und faire Arbeitszeitmodelle, die den ArbeitnehmerInnen mehr Zeit zum Leben lassen: Zeit für Familienleben, Regeneration, Freizeit oder Teilhabe am politischen und kulturellen Leben. Vorbehalte gegenüber Arbeitszeitverkürzung kann man durchaus als „retro“ bezeichnen.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/pp883yj
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„Lohndrückerei und Arbeitskampf“
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin maja.nizamov@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Ende Oktober stand einer dieser Tage ganz im Zeichen der Bildungspolitik. Nach einem Vormittag, der den Bogen von der Elementarpädagogik bis zur Hochschule spannte, stand der Nachmittag ganz im Zeichen der betrieblichen Praxis. Die TeilnehmerInnen stellten szenisch dar, wie und ob Bildung im jeweiligen Betrieb vorkommt. In längstens drei Minuten wurden vielfältigste Aspekte der betrieblichen Weiterbildungsrealität zutage gefördert.
Win-win-Situation
Hier wurde die Bildungsbarriere verkörpert, dort darüber diskutiert, ob eine verpflichtende Weiterbildung in der Freizeit rechtens ist. E-Learning und die dadurch verursachte „Vereinzelung“ von Lernerfahrungen wurden genauso thematisiert, wie die Tatsache, dass auch bei einem vielfältigen betrieblichen Kursangebot noch lange nicht gesagt ist, wer was bekommt.
All diese Themen sind nicht nur für BetriebsrätInnen relevant, sondern auch für AK, Gewerkschaften und ÖGB insgesamt. Vieles davon findet sich auch in ihren bildungspolitischen Programmen und Forderungen wieder.
Mit der sogenannten Digitalisierung der Wirtschaft geht auch eine Digitalisierung des Arbeitsplatzes einher – der „Arbeitsplatz 4.0“, wenn man so will. Die Prognosen sind nicht rosig: Viele Jobs sollen verloren gehen, und zwar nicht nur gering qualifizierte, sondern auch massiv im Bereich der mittleren Qualifikationsniveaus. In den anderen Jobs steigen die Ausbildungserfordernisse stark an. Qualifkationen veralten immer schneller, behaupten die ZukunftsforscherInnen. Daher reicht es nicht, allein im Schulsystem auf den digitalen Wandel bedacht zu nehmen.
LLL, also lebensbegleitendes Lernen, gewinnt für die Beschäftigten somit zunehmend an Bedeutung. Dazu kommt, dass es in alternenden Gesellschaften wie der österreichischen auch ein demografisches Erfordernis ist, die Beschäftigten möglichst lang und gut weiterzubilden. Wichtigster Lernort dafür ist der Betrieb. Und hier die gute Nachricht: Die aktuelle AK-Studie „Betriebliche Weiterbildung in österreichischen Unternehmen“ zeigt, dass betriebliche Weiterbildung eine Win-win-Situation ist. Sie zahlt sich für alle Beteiligten aus.
Höhere Produktivität
Studienautor René Böheim von der Uni Linz zeigt in der Studie den positiven Zusammenhang zwischen betrieblicher Weiterbildung von ArbeitnehmerInnen und der Produktivität von Unternehmen auf. Die Daten stammen von der Europäischen Erhebung über betriebliche Weiterbildung (CVTS4) und der Leistungs- und Strukturerhebung. Im Rahmen des CVTS wurden in Österreich insgesamt 3.553 Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten im Produktions- und Dienstleistungssektor über ihre Weiterbildungsaktivitäten befragt. Unternehmen, die in betriebliche Weiterbildung investieren, sind demnach um rund 16 Prozent produktiver als jene, die das nicht tun. Dieser relativ hohe Wert entspricht Ergebnissen aus internationaler Forschung, die vergleichbar hohe Renditen für andere europäische Länder dokumentieren (z. B. England).
Und die ArbeitnehmerInnen?
Nur was bedeutet eine Steigerung der Rendite um 16 Prozent? Der Fachbegriff lautet Bruttowertschöpfung (BWS). Diese betrug im Jahr 2010 im Durchschnitt 70.110 Euro. Die Steigerung durch betriebliche Weiterbildung beläuft sich auf sage und schreibe 11.217 Euro. Die durchschnittlichen Kosten für Weiterbildungen lagen hingegen bei gerade einmal 2.037 Euro pro TeilnehmerIn. Weiterbildung der MitarbeiterInnen ist also ein gutes Geschäft.
So weit, so gut für die Unternehmen. Aber was haben die ArbeitnehmerInnen davon? „Mehr Lohn bei betrieblicher Weiterbildung“, wie eine gleichnamige Studie aus dem Jahr 2009 herausgefunden hat. Beschäftigte in Unternehmen, die betriebliche Weiterbildung anboten, verdienten demnach rund ein Prozent mehr als Beschäftigte in Betrieben ohne Weiterbildung. Bei den Analysen, die mehrere Jahre mit einschlossen, wurde ein noch stärkerer Zusammenhang zwischen betrieblicher Weiterbildung und Lohnniveau gefunden. Sprich mehr betriebliche Weiterbildung führt zu besserer Qualifizierung, die sich auch in höheren Löhnen niederschlägt. Es gibt also auch ein Plus für die Beschäftigten am Lohnzettel, wenn auch dieses bei Weitem nicht so groß ist wie für die Unternehmen.
KV + Betriebsrat = Bildung
Für die TeilnehmerInnen der BetriebsrätInnenakademie und ihre KollegInnen in den Betriebsratskörperschaften gibt es eine besonders gute Nachricht: Die neue AK-Studie belegt nämlich, dass in Unternehmen, die aufgrund von kollektivvertraglichen Bestimmungen in betriebliche Weiterbildung investierten – und ohne solche Bestimmungen diese Investitionen nicht getätigt hätten – eine noch höhere Rendite möglich ist. Diese Rendite kann 17 bis 37 Prozent betragen – im Vergleich zu Unternehmen, die keine derartigen Bestimmungen vorfinden und deshalb nicht in betriebliche Weiterbildung investierten. Zudem findet mehr betriebliche Weiterbildung statt, wenn es dazu Regelungen im Kollektivvertrag gibt. Insgesamt geben allerdings nur rund 15 Prozent aller Unternehmen im CVTS an, dass der für sie geltende Kollektivvertrag Bestimmungen zur betrieblichen Weiterbildung enthält.
In keinem Sektor haben mehr als 50 Prozent der Unternehmen angegeben, einen Kollektivvertrag mit Bestimmungen zur Weiterbildung zu besitzen – und das obwohl kollektivvertragliche Regeln immer für die ganze Branche gelten. Hier scheint ein gewisses Informationsdefizit seitens der Unternehmen zu bestehen, was wiederum eine gute Möglichkeit für den Betriebsrat der jeweiligen Branchen ist, auf die Rechte der Belegschaft in Sachen Weiterbildung aufmerksam zu machen.
Waren im Jahr 2005 noch 81 Prozent der Unternehmen weiterbildungsaktiv, ist der Anteil im Jahr 2010 auf 87 Prozent gestiegen. Damit sind die österreichischen Unternehmen Spitzenreiter, gemeinsam mit den schwedischen. Studienautor Böheim sieht den Grund für den Anstieg in den sich rasch verändernden Anforderungen an die Fähigkeiten der Beschäftigten. Der Haken daran: Der Anteil der Beschäftigten, die an Kursen teilgenommen haben, beträgt im Durchschnitt nur 33 Prozent und ist somit deutlich geringer als in Schweden (47 Prozent).
Nicht alle Unternehmen bilden weiter
Trotz der positiven Auswirkungen wird in Österreich also gerade mal jede/r dritte ArbeitnehmerIn von Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten weitergebildet. Gerade in Branchen mit einem besonders hohen Anteil von formal Geringqualifizierten – wie etwa im Gastgewerbe oder dem Baubereich – ist die Weiterbildungsbereitschaft ganz besonders gering.
Warum bilden Betriebe nicht mehr Beschäftigte weiter? Von den rund 13 Prozent der Unternehmen, die 2010 keine betriebliche Weiterbildung angeboten haben, begründen dies 82 Prozent damit, die vorhandenen Fähigkeiten der Beschäftigten seien ausreichend. Weitere 45 Prozent der befragten Unternehmen betreiben darüber hinaus eine Hire-and-fire-Politik, wenn die Qualifikationen nicht reichen. Dies wirkt umso schwerer, als weitere 40 Prozent angeben, dass ihre Belegschaft zu ausgelastet für Weiterbildung sei.
Im Sinne einer inklusiven Bildungs- und einer präventiven Arbeitsmarktpolitik ist es besonders wichtig, Beschäftigte vor Ort in den Betrieben zu erreichen, noch bevor sie arbeitslos werden. Es braucht also neue Wege, und einer der wichtigsten Stellhebel könnte der Betriebsrat sein: um die Belegschaft über ihre Rechte (auch im Rahmen kollektivvertraglicher Regelungen) zu informieren, die Geschäftsführung in Bezug auf das Thema betriebliche Weiterbildung für die ganze Belegschaft zu sensibilisieren und beide Seiten bei der Organisation der Teilnahme an einem Bildungsangebot zu motivieren und gegebenenfalls zu unterstützen. Denn, wie aus allen Studien zum Thema hervorgeht: Betriebliche Weiterbildung ist eine Win-win-Situation, für die Unternehmen und für die Beschäftigten.
Linktipp
Böheim-Studie: Betriebliche Weiterbildung in österreichischen Unternehmen
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin petra.voelkerer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Politische Bildung
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit unterliegt nicht der Logik des Marktes (Was verkauft sich gut?) und der reinen Verwertbarkeit (Was bringt mir ein Zertifikat?) wie Angebote anderer Erwachsenenbildungseinrichtungen. Es beinhaltet Dauerbrenner z. B. aus dem Bereich der Sozialen Kompetenz oder dem Arbeitsrecht genauso wie klassische „politische“ Themen wie Antirassismus oder die Europäische Union – wobei de facto alle Themen in der gewerkschaftlichen Bildung auch politische Themen sind.
Gewerkschaftliche Bildung ist immer politische Bildung, weil es darum geht, die vermittelten Inhalte und die erworbenen Kompetenzen im gesamtpolitischen Kontext zu sehen, Verbindungen zwischen den Themen zu schaffen und Zusammenhänge herzustellen.
Martin Allespach, Hilbert Meyer und Lothar Wentzel beschreiben das in ihrem Buch „Politische Erwachsenenbildung“ folgendermaßen: „Eine politische Bildung, die ‚nicht Akzeptanzbeschaffung für bestehende gesellschaftliche Verhältnisse‘ ist, sondern ‚kritische Instanz zur Problematisierung gesellschaftlicher Widersprüche. Sie stellt den Anspruch, Politik zu entschlüsseln, Zusammenhänge durchschaubar zu machen und neue Perspektiven aufzuzeigen.‘“
Ziele und Besonderheiten
Die Fähigkeit zu analysieren, strategisch zu denken, zu argumentieren, mitzugestalten und vor allem auch über Grenzen hinweg zu denken und zu handeln ist wesentliches Ziel der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Und dabei sind sowohl die Grenzen im Kopf, die es manchmal zu überwinden gilt, gemeint, als auch ein transnationales Agieren über den eigenen Standort hinaus. Bildung ist nicht nur da, um Menschen fit für den Markt zu machen. Gewerkschaftliche Bildung hat deswegen eine ganz spezielle Rolle, da sie die Prinzipien der Kollegialität, der Solidarität vermittelt – Grundwerte, die die Basis jedes gewerkschaftlichen Handelns sind. Und gerade diese gewerkschaftliche Handlungskompetenz hat viel mit dem Aufbau von Haltungen zu tun und damit, selbstbewusst und auf gleicher Augenhöhe politisch zu argumentieren.
Es ist daher auch eine Besonderheit der gewerkschaftlichen Bildung, dass das Ziel nicht ist, den individuellen Marktwert zu erhöhen. Im Gegenteil, das Ergebnis dieses Lernprozesses ist sehr oft, dass die ArbeitnehmervertreterInnen danach verstärkt mit Konflikten und Auseinandersetzungen auf betrieblicher Ebene konfrontiert sind, wenn sie das Erlernte im Interesse der Beschäftigten umsetzen. Umso wichtiger ist es, die KollegInnen auch für diese Herausforderung mit Empowerment-Angeboten zu unterstützen und zu begleiten.
Das Ziel ist es, eine Aus- und Weiterbildung anzubieten, die aus der Praxis kommt, sich an den Herausforderungen der Arbeitswelt orientiert und GewerkschafterInnen in der Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen bestmöglich unterstützt. Dies gelingt nur durch Entwicklung und Stärkung des gewerkschaftlichen Bewusstseins, aus dem heraus erst Handlungs- und Konfliktfähigkeit entstehen kann.
Vom Wissen zum Handeln
Konkret bedeutet das, Seminare mit dem Schwerpunkt inhaltliche Fachkenntnisse anzubieten und Sachkompetenz zu vermitteln. Die Inhalte allein nützen jedoch nichts, wenn man nicht weiß, wie man z. B. Recht durchsetzen und verhandeln soll. Daher ist auch soziale Kompetenz wesentlich. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit endet hier aber nicht, denn es gehört schließlich dazu, das Erlernte auch im Betrieb anzuwenden, es umzusetzen und Handlungskompetenz zu beweisen. Zudem ist es aus gewerkschaftlicher Sicht wichtig, das Wissen an andere weiterzugeben und als MultiplikatorInnen aufzutreten.
Eine der Besonderheiten in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist die Heterogenität der TeilnehmerInnen – das spiegelt sich auch in den Angeboten wider. Die TeilnehmerInnen der einzelnen Seminare und Lehrgänge kommen aus unterschiedlichen Branchen, sind unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft usw. Sie haben daher auch unterschiedliche Arbeits- und Lebensrealitäten, die in der Konzeption und Umsetzung berücksichtigt werden müssen.
Dies erfolgt einerseits innerhalb der einzelnen Angebote, andererseits gliedern sich die unterschiedlichen Angebote entlang dieser Zielgruppen. Es gibt Angebote für Gewerkschaftsmitglieder, die keine (oder noch keine) Funktion haben, wie Diskussionsveranstaltungen, Kulturangebote oder die Gewerkschaftsschule. Für ArbeitnehmervertreterInnen gibt es österreichweit eine Vielzahl an Seminaren und Lehrgängen von unterschiedlicher Dauer. Dazu gehören die Grundkurse und Spezialseminare der Gewerkschaften, zentral und regional angebotene Tagesseminare und mehrtägige Seminare ebenso wie die länger dauernden Lehrgänge: Gewerkschaftsschule, BetriebsrätInnenakademie (BRAK) oder Sozialakademie (SOZAK).
Die zweijährige Gewerkschaftsschule stellt dabei eine Besonderheit dar: Sie wird österreichweit regional angeboten, findet abends statt und ist sowohl für Gewerkschaftsmitglieder mit als auch ohne Funktion in der ArbeitnehmerInnenvertretung zugänglich. Für ArbeitnehmervertreterInnen gibt es darüber hinaus noch zusätzliche Spezialangebote je nach ihrer Funktion (Behindertenvertrauenspersonen, BetriebsrätInnen im Aufsichtsrat, Sicherheitsvertrauenspersonen, KonfliktlotsInnen, Europäische BetriebsrätInnen usw.).
Bindeglied
Aber auch ein spezielles Angebot für ReferentInnen und TrainerInnen, die in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig sind, gehört zur Palette dazu – in der ReferentInnenakademie erhalten sie eine Vielzahl an Train-the-Trainer-Angeboten. Das ist besonders wichtig, da die TrainerInnen und ReferentInnen als Bindeglied zwischen Gewerkschaft und TeilnehmerInnen eine Schlüsselfunktion haben. Im Rahmen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit besitzt auch die gewerkschaftliche Kulturarbeit einen wichtigen Stellenwert. Sie verfolgt das Ziel, möglichst vielen ArbeitnehmerInnen den Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen.
Die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen wird vielfach als Bereicherung und Ausgleich zum stressigen Arbeitsalltag erlebt. Viele ArbeitnehmerInnen kommen jedoch viel zu selten in den Genuss von Kunst und Kultur. Die gewerkschaftliche Kulturarbeit umfasst dabei den Besuch von Veranstaltungen, Museen und Theateraufführungen genauso wie das aktive Mitwirken in Workshops (z. B. Schreibwerkstätten und Theaterworkshops).
Lernen darf Spaß machen
Bei all den beschriebenen Zielen und Besonderheiten ist eines klar: Das alles kann nur gelingen, wenn auch der Faktor Spaß nicht zu kurz kommt. Nur wenn die Inhalte auch emotional ankommen, ist Lernen wirkungsvoll. Mit anderen Worten: Es darf, nein, es muss auch gelacht werden. Denn auch das ist eine Besonderheit der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung.
Linktipps
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]]>Echte Willkommenskultur gefragt
Entgegen der Kritik von AK und ÖH wurde gerade erst das „Flickwerk“ (AK) der Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP) bis 2021 verlängert sowie zusätzlich ausgedehnt. Die STEOP, also ein verpflichtender Kanon von Prüfungen, der in einem kurzen Zeitabschnitt zu absolvieren ist, soll nun für fast alle Studien gelten. Eine entsprechende „Willkommenskultur“ für Menschen, die sich – wie beschrieben – zunächst schwerer beim „Studieneingang“ tun und dann vielleicht auch etwas mehr Zeit für die erste „Orientierung“ im Universitätsdschungel brauchen, sieht jedenfalls anders aus.
Neben mehr Geld und weniger Eingangshürden benötigen Studierende aus bildungsbenachteiligten Schichten auch Netzwerke. Vor allem in der ersten Studienphase können entsprechende Unterstützungsangebote dazu beitragen, eventuell fehlende familiäre Ressourcen auszugleichen. Versuche, hier deutsche Initiativen wie „Arbeiterkind.de“ auf Österreich zu übertragen, scheinen aber vorerst ins Stocken geraten zu sein. In Graz existiert allerdings seit 2013 ein spezielles Programm: „Eigens ausgebildete MentorInnen, die selbst aus ‚bildungsfernen‘ Schichten kommen, stehen First Generation Students bei der Auswahl des Studiums zur Seite und beraten sie in den ersten beiden Semestern zu allen Fragen rund ums Studium und mögliche Unterstützungen.“ Bemerkenswert: Laut Uni Graz kommen 52 Prozent ihrer Studierenden aus „bildungsfernen“, also tatsächlich benachteiligten Schichten – deutlich mehr als der österreichweite Schnitt. Eigentlich schade, dass es so etwas nicht an allen österreichischen Universitäten gibt, immerhin könnten alle Studierenden der ersten Generation eine solche Unterstützung gut gebrauchen.
Linktipp
Projekt Uni Graz:
tinyurl.com/o52on74
Literatur
Magazin erwachsenenbildung.at Nr. 21, Februar 2014:
Das Versprechen sozialer Durchlässigkeit. Zweiter Bildungsweg und Abschlussorientierte Erwachsenenbildung:
Abrufbar unter erwachsenenbildung.at/magazin/archiv.php
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor john.evers@vhs.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Lintner, die am Bundesoberstufenrealgymnasium (BORG) in Spittal an der Drau maturiert hat, hat alle Fächer gemeistert und sogar Mathematik, die nie ihr Steckenpferd war, gut geschafft. Doch das Drumherum, die Unklarheit über Termine, die Unsicherheit der LehrerInnen und die teils schlechte Organisation mit kurzfristigen Änderungen haben viel Unruhe reingebracht: „Ich denke, die Zentralmatura hätte viel gechillter ablaufen können, wenn man erst ein paar Klassen später angefangen hätte, sodass die Schüler schon früher darauf vorbereitet worden wären.“ Ihre Erfahrung war unter anderem, dass LehrerInnen verzweifelt waren, weil sie selbst nicht wussten, was sie tun sollten, und ihren Frust an der Klasse ausgelassen haben.
Server überlastet
Wenige Monate nach Runde eins ist vor allem die Panne mit den Vorwissenschaftlichen Arbeiten (VWA) gut in Erinnerung: Der Server, auf den die SchülerInnen ihre Arbeiten hochladen mussten, war überlastet und fiel aus, was dazu führte, dass die Arbeiten nicht fristgerecht abgegeben werden konnten. Davon waren nicht nur eine Handvoll MaturantInnen betroffen: Im Gegensatz zu früher, wo man freiwillig eine Fachbereichsarbeit schreiben konnte, muss jetzt jede/r SchülerIn eine VWA im Umfang von 40.000 bis 60.000 Zeichen schreiben. Natürlich fiel wegen des Serverausfalls niemand durch, aber der angesichts der Matura ohnehin schon erhebliche Stresspegel wurde noch mehr in die Höhe getrieben. Aufreibend war auch, dass Prüfungsfragen in manchen Klassen verspätet ankamen, sodass sich Prüfungen verzögerten, und dass Beurteilungsschlüssel bis kurz vor der Matura geändert wurden.
Stressige VWA
Das Schreiben der VWA hat bei vielen SchülerInnen für Stress gesorgt. Die meisten haben zuvor noch nie eine Arbeit in so großem Umfang verfasst, in der noch dazu zitiert werden muss. Selbst einer Plagiatsprüfung werden die Arbeiten unterzogen. Gerade bei der VWA zeigte sich, dass die Vorbereitung durch LehrerInnen entscheidend ist. Julia Steiner, die vergangenen Sommer im BRG/BORG in Kirchdorf an der Krems maturiert hat, fand die VWA super: „Sie ist der einzige Teil bei der Zentralmatura, wo du individuell über das schreiben kannst, was dich interessiert. Und sie ist eine super Vorbereitung für die Uni.“ Steiner erzählt, dass „relativ viel Stress“ um die VWA gemacht wurde, obwohl diese „eine an sich doch relativ einfache Sache“ sei.
Hannah Lintner hat nicht so positive Erinnerungen: Sie schrieb über Tattoos und Piercings – ein Thema, für das sich kein/e LehrerIn interessierte. Deshalb wurde sie nicht von einem oder einer von ihr gewünschten LehrerIn betreut, sondern der Gitarrenlehrerin zugeordnet. Die Vorbereitung auf die VWA war ebenfalls enttäuschend: „Wir hatten in der sechsten Klasse das Fach VWA und haben ein Buch bekommen – und dann nichts mehr.“ Zudem hätten LehrerInnen einander etwa bei den Zitierregeln widersprochen bzw. waren selbst unsicher. „Ich habe viel dafür tun müssen, aber die VWA ist keine wissenschaftliche Arbeit. Das Einzige, was man dabei lernt, ist, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen und ein paar Seiten darüber zu schreiben.“ Immerhin: Lintner erntete am Ende Lob für ihre VWA.
Diverse Meinungen
Zur Mathematik-Zentralmatura gibt es ebenso diverse Meinungen. Grob gesprochen lautete die Kritik: Die neue Matura kommt jenen entgegen, die in Mathe Schwächen haben, unterfordert aber die anderen. Mit den Vorbereitungsmaterialien des Bifie konnten sich SchülerInnen gut wappnen, allerdings mussten sie nicht unbedingt verstehen, was sie tun, weil es teilweise reichte, sich an das Übungsbeispiel zu erinnern und das richtige Ergebnis anzukreuzen. Dass es mit der Vergleichbarkeit nicht weit her ist, zeigte sich daran, dass an manchen Schulen Taschenrechner verwendet werden durften, die Grafiken wie den Verlauf einer Kurve anzeigen, an anderen aber nicht. Aber immerhin schafften bereits 90 Prozent der SchülerInnen bei der schriftlichen Mathe-Matura eine positive Note.
Vergeudete Chancen
Die Arbeiterkammer zählt zu den BefürworterInnen der Zentralmatura. Der erste Durchgang verlief aus ihrer Sicht mit Ausnahme von wenigen Punkten reibungslos. Laut Martina Laux, Expertin in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien, ist die Zentralmatura „ein guter Schritt, der das österreichische Schulsystem voranbringt“. Es sei fair und gerecht, dass alle SchülerInnen die gleiche Schwierigkeit vorfinden. Positiv sei auch, dass sich die Rolle der LehrerInnen im Unterricht ändere: Waren sie früher „im schlechtesten Fall strafende, prüfende GegnerInnen“ der SchülerInnen, würden sie durch die Zentralmatura zu „PartnerInnen, die wie TrainerInnen im Sport die SchülerInnen bei ihrer Zielerreichung unterstützen“, meint Laux. SchülerInnen würden zur Zielerreichung „mal mehr, mal weniger“ Förderung benötigen. Daher fordert die AK die indizierte Mittelverteilung, also dass „bei der Ressoucenverteilung zwischen den Schulen berücksichtigt wird, welche Voraussetzungen die SchülerInnen mitbringen“, sagt Laux. Viel zu tun sei noch bei der Nachbereitung der Prüfungsergebnisse: „Profi-SkifahrerInnen analysieren ihre Trainingsläufe, um besser zu werden – in der Schule passiert das aktuell nicht.“
Derzeit gebe es keine offizielle Strategie, was passieren soll, wenn die Prüfungsergebnisse an einem Schulstandort unterdurchschnittlich sind. Wie diese Schule unterstützt werden soll, ist für Laux eine sehr wichtige Frage: „Das Ministerium vergeudet eine große Chance, wenn die Ergebnisse quasi in den Aktenschrank gepackt und versperrt werden.“
Bildung als Armutsvermeidung
Rainer Bölling, Bildungsforscher und Autor des Buchs „Kleine Geschichte des Abiturs“, wirft einen kritischen Blick auf den Trend, Reifeprüfungen zu zentralisieren: „Die Erfahrungen mit dem Zentralabitur deuten darauf hin, dass ein mittleres Level angesteuert wird und starke Schüler nicht so sehr gefordert werden.“
In den vergangenen zehn Jahren, seit das Zentralabitur in Deutschland breit angewendet wird, sei das Prüfungsniveau „sehr offensichtlich“ gesunken – und die Noten seien viel besser geworden. Aber ist eine steigende Anzahl an jungen Menschen mit Matura etwas Schlechtes? Schließlich erhöht hohe Bildung die Chancen auf beruflichen Erfolg und verringert die Armutsgefahr. Die EU strebt sogar bis 2020 an, dass mindestens 40 Prozent der Jugendlichen einen Hochschulabschluss haben. „Die europäische Bildungspolitik ist auf dem falschen Weg“, warnt Bölling. In Frankreich etwa produziere man viele MaturantInnen, aber: „Ein großer Teil geht in die Jugendarbeitslosigkeit.“ Schwierig sei auch die Situation in den USA, wo viele das Studium abbrechen. Bewährt hätten sich dagegen Schulsysteme mit Berufsbildung wie in Österreich. Außerdem: „Wenn die Abiturientenquoten erhöht werden, gibt es mehr Konkurrenz an den Universitäten.“ Keinesfalls für sinnvoll hält Bölling es, die Erlaubnis zu studieren allein von der Performance der SchülerInnen während weniger Tage im Frühling abhängig zu machen. Die Bildungsministerin zeigte sich mit dem ersten Durchgang „sehr zufrieden“. Große Änderungen für das kommende Jahr seien nicht notwendig. Dann gilt die Zentralmatura flächendeckend für die berufsbildenden Schulen. Dann heißt es für 43.000 SchülerInnen, den Reifetest zu bestehen.
Linktipps
Übersicht über die Zentralmatura: www.bifie.at/srdp
AK: Förderung von Schulen in sozial
benachteiligten Bezirken: tinyurl.com/powju9e
Gastbeitrag in der FAZ von Rainer Bölling: tinyurl.com/lac6sur
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at
Selbstverständlich sind SchülerInnen keine Versuchskaninchen und im Bildungsbereich sind viele Player an Entscheidungen beteiligt. Doch manchmal schaffen es Veränderungen wirklich derart langsam in die Klassenzimmer, dass das ganze System regelrecht weltfremd anmutet. Immerhin sind sich (fast) alle einig: Bildung bedeutet mehr als Berufsausbildung. Einem modernen Schulwesen sollte es gelingen, sowohl ökonomischen Erfordernissen gerecht zu werden als auch Kreativität und individuelle Förderung zu ermöglichen.
Nah an der Praxis
Einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Erneuerung sind Schulversuche oder Projekte. Seit einigen Jahren etwa gibt es den Schulversuch „Zwei-Phasen-Schularbeit“. Dabei werden Mathematik- oder Deutsch-Schularbeiten am Ende der Stunde wie üblich abgegeben, aber von den SchülerInnen selbst in der nächsten Mathematik- oder Deutschstunde noch einmal gecheckt und korrigiert. Erst dann wird benotet. Dieses Vorgehen entspricht nicht nur der üblichen Arbeitsweise im beruflichen Alltag, die SchülerInnen beschäftigen sich dadurch auch intensiver mit dem Lernstoff und können ihre Korrekturfähigkeit schulen. Zwei-Phasen-Schularbeiten werden sowohl in Pflichtschulen als auch in AHS-Unterstufen an einzelnen Schulstandorten praktiziert.
Den Übergang ins Berufsleben erleichtern soll das Projekt Fachmittelschule (FMS), das derzeit an Polytechnischen Schulen in fünf Wiener Bezirken in Kooperation mit Neuen Mittelschulen (NMS) läuft. Nach einer ausführlichen Orientierungsphase können SchülerInnen für je drei Wochen in vier von neun möglichen Fachbereichen „schnuppern“. Erst danach entscheiden sie sich fix für einen Fachbereich.
Umfassendes Wissen
Abseits der üblichen Schulfächer oder (un)verbindlichen Übungen gibt es auch noch die sogenannten Unterrichtsprinzipien: Entwicklungspolitische Bildungsarbeit, Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern, Europapolitische Bildung, Gesundheitserziehung, Interkulturelles Lernen, Leseerziehung, Medienbildung, Sexualpädagogik, Umweltbildung, Verkehrserziehung sowie Wirtschaftserziehung und VerbraucherInnenbildung. Diese sollen sich fächerübergreifend wie ein roter Faden durch den Unterricht ziehen – in welcher Form und wie umfangreich, hängt weitgehend von den Lehrkräften ab.
Politische Bildung ist sowohl Unterrichtsprinzip als auch Schulfach: 1970 als unverbindliche Übung eingeführt, ist sie heute in den einzelnen Schultypen noch unterschiedlich verankert. In der Berufsschule ist sie ein eigenes Unterrichtsfach, in allen anderen Schulformen wird Politische Bildung ab der 8. Schulstufe in Kombination mit (Zeit-)Geschichte, Recht oder Wirtschaftskunde angeboten. Außerdem müssen entsprechende Themen anlassbezogen schon ab der Volksschule in allen Schulstufen fächerübergreifend in den Unterricht eingebaut werden. Laut aktuellem Regierungsprogramm wird Politische Bildung schon ab der 6. Schulstufe im Gegenstand „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“ fix verankert. Ein entsprechender Lehrplanentwurf ist bereits ausgearbeitet.
Blended Learning
Wie unser Alltag und die Arbeitswelt in 25 Jahren aussehen werden, ist weitgehend ungewiss. Ziemlich sicher ist, dass Computer, Internet und Co eine wichtige Rolle spielen werden. Als Blended Learning bezeichnen ExpertInnen den Mix aus konventionellem Unterricht und digitalen Lehr- und Lernmethoden; „efit21 – Digitale Bildung“ heißt die entsprechende Strategie des BMBF. Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek: „Kein Kind soll die Schule ohne digitale Kompetenzen verlassen. Es ist wichtig, Schülerinnen und Schüler so früh wie möglich zu einem reflektierten und sinnvollen Umgang mit digitalen Medien hinzuführen und allen Kindern die nötigen Grundkompetenzen zu vermitteln. Nur so können sie als Gestalterinnen und Gestalter in einer zunehmend digitalisierten Welt eine aktive Rolle übernehmen.“ Die Palette reicht von E-Books im Rahmen der Schulbuchaktion (digi4school) über Smart-Boards als Hightech-Version der üblichen Schultafel bis zu Lernplattformen.
Virtueller Lernraum
„In Österreich steht vier von fünf SchülerInnen der Sekundarstufe eine Lernplattform als virtueller und geschützter Lernraum zur Verfügung, das ist in keinem anderen europäischen Land besser“, so Heinisch-Hosek. Auf diesen Plattformen (z. B. Edumoodle) können sich PädagogInnen vernetzen, Erfahrungen teilen und mit SchülerInnen direkt kommunizieren. Es werden nicht nur Unterrichtsmaterialien angeboten und das selbstständige Lernen und Üben gefördert, auch gemeinsames und klassenübergreifendes Arbeiten an Themen und Projekten ist möglich.
Die ersten Notebook-Klassen wurden bereits in den späten 1990ern eingeführt. Mittlerweile gibt es in ganz Österreich rund 600 Laptop-Klassen und es sollen noch mehr werden. Während anfangs die Kosten noch stolz von den Eltern übernommen wurden, trat mit fortschreitender Verbreitung von Blended Learning immer deutlicher zutage, dass weniger begüterte SchülerInnen finanzielle Unterstützung brauchen.
Mit dem Projekt „Mobile Learning“ wollen BMBF und BMVIT Schulen und Eltern bei der Einführung neuer Technologien unterstützen. 94 Schulen aus 31 regionalen Clustern nehmen daran teil und wurden mit insgesamt rund 2.000 (Leih-)Tablets für den Unterricht ausgestattet – zum Teil finanziert aus den Mitteln der Breitbandmilliarde.
Coole Projektnamen können allerdings nicht ganz darüber hinwegtäuschen, dass Österreich im internationalen Vergleich auch in puncto IT-Skills ziemlich weit hinten liegt. Das Bildungsministerium ist zwar stolz darauf, dass Österreich mit nur 2,9 SchülerInnen pro Computer deutlich unter dem OECD-Schnitt von 4,7 liegt, aber erstens finden sich in der OECD auch weniger begüterte Länder, der Durchschnitt sollte also für ein reiches Land wie Österreich nicht unbedingt ein Maßstab sein. Zweitens gab es in der PISA-Studie „Computers and Learning: Making the Connections“ leider auch einige unerfreuliche Ergebnisse. Bei der aufgabenorientierten Internetsuche etwa lag Österreich deutlich unter dem OECD-Schnitt.
Durchlässigkeit erhöhen
Verbesserungswürdig ist bekanntlich auch die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Dabei geht es nicht zwangsläufig um die Erhöhung der AkademikerInnenquote, sondern um echte Chancengleichheit. Inwieweit Schule Begabungen erkennen und die persönliche Entwicklung fördern kann, sogar Spaß machen kann, hängt zu einem großen Teil auch von den Fähigkeiten und dem Engagement der Lehrkräfte ab. Schulen müssen keineswegs jeden Trend mitmachen, aber sie sollten doch am Puls der Zeit sein. Teamteaching etwa sollte angesichts von Integrationsklassen, Projektunterricht und Bilingual Schools auch für LehrerInnen, die sich traditionell eher als EinzelkämpferInnen sehen, zur Selbstverständlichkeit werden. Damit wären sie außerdem auch bezüglich Teamfähigkeit ein Vorbild. Über die Jugend von heute zu klagen, die keinem Vortrag folgen kann, ohne sich nebenbei mit dem Smartphone zu beschäftigen, hilft niemandem.
In Zeiten des Infotainments sind auch Erwachsene schneller gelangweilt und greifen zum Handy – das sich ja auch für Notizen und Hintergrund-Recherche eignet. Die Halbwertszeit von Wissen wird immer kürzer und im Laufe einer jahrzehntelangen Lehrtätigkeit sind Flexibilität und Toleranz unverzichtbar. Im Sinne der Kinder und Jugendlichen bleibt nur zu hoffen, dass diese Eigenschaften durch bürokratische Hürden nicht überstrapaziert werden.
Linktipps
Virtuelle Schule: www.virtuelleschule.at
OECD-Studie im Internet: tinyurl.com/qfveyu4
Lehrkräfte-Toolkits zu den Themen Sicherheit und Gesundheitsschutz (für 7- bis 11-Jährige): tinyurl.com/qzct8vt
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Das einzelne Kind sehen
Wie lassen sich die gestiegenen Ansprüche an die Schule mit der Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen – ein gesellschaftlicher wie bildungspolitischer Anspruch – miteinander vereinbaren? Notwendig dafür ist eine individuell adäquate Lernumgebung. Das Ziel: Alle Kinder sollen in gleicher Würde leben können, das einzelne Kind soll gesehen werden. Das aktuelle, äußerst strukturierte Regelschulsystem stellt jedoch zumeist die Wissensvermittlung in den Mittelpunkt – und von den SchülerInnen wird erwartet, sich in dieses System einzufügen. „Der Fokus liegt oft nicht auf den individuellen Bedürfnissen des Kindes. Vielmehr geht es darum, wie Kinder es schaffen, die Lernziele zu erreichen“, weiß Beham. „Kinder mit besonderen Bedürfnissen müssen da erst ihren Platz finden. Bisher galt, dass in Sonderschulen oder Integrationsklassen beschult wird“, erklärt Mandler. „Jetzt gibt es den Anspruch, dass sie inklusiv mit allen anderen Kids unterrichtet werden. Das stellt sehr hohe Anforderungen an das Schulsystem.“ Die Vorteile: Schüler, die altersentsprechend entwickelt sind, erleben, dass es auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen gibt, die ebenso ihre Persönlichkeit und einen Platz in unserer Gesellschaft haben.
Von sich aus sind die Jungen unvoreingenommen, aber sie übernehmen oft Vorurteile der Erwachsenen – vor allem die Defizitorientierung. Psychologin Beham: „Es ist aber wichtig, dass Anderssein Teil der Normalität wird. Inklusion ist ein wichtiges Ziel im derzeitigen Schulsystem. Wie gehen Lehrer mit Kindern um, wie fördern sie Anerkennung? Es muss weniger um Lob und Tadel gehen, sondern um einen würdevollen Umgang miteinander.“ Eine Schule, die für alle perfekt ist, gibt es aber eben auch nicht. „Ich glaube an die Individualität und Persönlichkeit. Es sollte unterschiedliche Unterrichtsformen geben, und es wird immer Kinder geben, die einen speziellen Förderbedarf haben“, erklärt Beham.
Grundsätzlich obliegt den Eltern die Entscheidung, ob das Kind in eine Sonderschule oder Integrationsklasse geht. Vielen Eltern aus bildungsfernen Haushalten wird nicht genug erklärt, welche Tragweite ihre Entscheidung für die langfristige Bildungszukunft ihrer Kinder haben kann. Neben Kindern mit Behinderung landen vor allem Mädchen und Burschen mit Migrationshintergrund in Sonderschulen, oder sie werden mit dem Begriff „sonderpädagogischer Förderbedarf“ (SPF) bezeichnet.
Ihre Anzahl steigt: Im Schuljahr 2000/01 besuchten laut Statistik Austria 1,71 Prozent aller PflichtschülerInnen eine Sonderschule, im Schuljahr 2010/11 waren es bundesweit 1,98 Prozent. Dabei sollte ein solches Attest nur mit äußerster Zurückhaltung ausgestellt werden, immerhin verschlechtert es die Chancen am Arbeitsmarkt erheblich.
Eingeschränktes Angebot
Grundsätzlich beruht das Sonderschulsystem darauf, dass Kinder, die dem Unterricht in der Volks-, Haupt- oder Polytechnischen Schule wegen körperlicher oder geistiger Behinderung nicht folgen können, in eine Sonderschule überwiesen werden. Seit 1993 dürfen die Eltern entscheiden, ihre Auswahl wird allerdings vom konkreten schulischen Angebot eingeschränkt. In der Steiermark etwa werden mehr als 80 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf integriert, in Niederösterreich, Tirol und Vorarlberg liegt der Anteil bei nur knapp über 30 Prozent.
Im August 2014 forderte der Monitoringausschuss die Abschaffung der Sonderschule bis September 2015, da diese Schulform der UN-Behindertenrechtskonvention widerspreche. Der Ausschuss argumentiert, dass die Sonderschule diskriminierend ist, weil sie einzig auf das Merkmal der Beeinträchtigung abstellt. Sonderschulen waren bereits im Jahr 2008 vom Ausschuss als menschenrechtswidrig kritisiert worden. Das Ziel auch damals: eine inklusiv geführte gemeinsame Schule aller Kinder bis 14 Jahre, die auf individuelle Bedürfnisse eingeht.
Gescheite Rahmenbedingungen
Kurt Kremzar, Bildungsexperte der AK Wien, ist für die inklusive Schule: „Das Problem ist, dass es nicht alle Eltern so sehen. Gerade bei den Sinnesbehinderungen gibt es Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder nicht gut betreut werden, wenn sie in eine normale Schule gehen. Es ist auch eine Frage der Ressourcen.“ Grundsätzlich müsse das Ziel eine inklusive Schule sein. „Eine allgemeine Sonderschule werden wir nicht mehr brauchen. Wenn man gescheite Rahmenbedingungen hat, könnte die Sonderschule abgeschafft werden“, findet Kremzar.
Dass viele Eltern gegen ein Selektieren von SchülerInnen sind, bei ihrem eigenen Kind aber primär auf Leistung setzen, macht die gemeinsame Schule zu einem schwierigen Vorhaben. Noch dazu fehlt es an geeigneten Lehrkräften, denn ein inklusives Schulsystem verlangt auch LehrerInnen, die entsprechend in Pädagogik geschult sind. Selbst die neue LehrerInnenausbildung leistet dies nicht. Ob für jedes Kind mit besonderen Bedürfnissen Platz in einer Regelschule sein wird, darüber streiten ExpertInnen.
Dabei bereichern gerade Kinder mit besonderen Bedürfnissen eine Klasse und entsprechen damit sogar den heutigen Ansprüchen des Arbeitsmarkts, denn durch sie erwerben MitschülerInnen ganz selbstverständlich soziale Kompetenzen. „Kinder können dann vieles erlernen, was sie sonst vielleicht versäumen – sehr viel an sozialer Kompetenz, Rücksichtnahme und Toleranz. Sie können sich als kompetent erleben, weil sie etwa anderen dabei helfen, im Unterricht mitzukommen“, weiß Kinder- und Jugendpsychologin Mandler.
SchülerInnen können sich in diesen sozialen Gruppen als wertvoll erleben, was eine zusätzliche soziale Kompetenz ist. Manch skeptischen Eltern ist diese Bereicherung durchaus vermittelbar. „Besser sein, jemanden unterstützen, auch einmal auf jemanden Rücksicht nehmen. Und die Möglichkeit, jemanden zu beschützen.“ SchülerInnen entwickeln in Integrationsklassen oft eine schöne Gemeinschaft. „Sie leben gemeinsame Werte, sehen Kinder mit besonderen Bedürfnissen als vollwertige Mitglieder, sind gemeinsam auf ihre Leistungen stolz.“
Extreme Leistungsorientierung
In der Praxis „die Entwicklungshelferinnen“ machen Maria Beham und Jasmin Mandler die Erfahrung: „Eltern glauben, dass Kinder zu wenig in der Schule lernen. Und wenn dann noch ein behindertes Kind in der Klasse ist, dann würde womöglich noch weniger gelernt. Es gibt eine extreme Leistungsorientierung.“ Die Psychologinnen sind überzeugt, dass Anerkennung und würdevolles Miteinander im schulischen Bereich auf allen Ebenen ein Teil der Zukunft sein müssen. Jasmin Mandler äußert noch einen anderen Wunsch: „Neben der Schule, die strukturiert ist, sollte dazu übergegangen werden, in der Freizeit einen Ausgleich für die Kinder zu finden. Einen, der möglichst unstrukturiert ist.“ Im Vordergrund sollten vielmehr Entschleunigung und Entspannung stehen.
All das setzt natürlich voraus, dass man sich vom alleinigen Leistungsanspruch verabschiedet und sich stattdessen Gedanken darüber macht, wie grundlegendere Kompetenzen vermittelt werden können, die junge oder möglicherweise auch ältere Menschen in die Lage versetzen, mit Veränderungen in der Gesellschaft zurechtzukommen. Von daher könnten sowohl LehrerInnen wie SchülerInnen von Sonder- und inklusiven Schulen wichtige Erfahrungen beisteuern. Immerhin vermitteln sie den Umgang mit einer vielfältigen Gesellschaft – eine Kompetenz, die sich als wertvoller herausstellen könnte als das pure Faktenwissen.
Linktipps
www.die-entwicklungshelferinnen.at
Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation: tinyurl.com/ogoymu4
www.oear.or.at
monitoringausschuss.at
www.bmbf.gv.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorinnen sophia.fielhauer@chello.at
resei@gmx.de oder die Redaktion aw@oegb.at
In Österreich sind jährlich laut einer aktuellen AK-OÖ-Studie durchschnittlich 75.100 Jugendliche davon betroffen.1 Somit sind 7,4 Prozent junger Menschen zwischen 15 und 24 Jahren weder in Beschäftigung, im Bildungssystem oder in einer Trainingsmaßnahme integriert. Die detaillierten Zahlen zeigen, dass die Anzahl der Betroffenen konjunkturabhängig ist und in den Krisenjahren ansteigt. Rund 38 Prozent der NEET-Jugendlichen sind länger als ein Jahr im NEET-Status.
NEET hat viele Gesichter
Die klassischen NEETs gibt es nicht. Es sind Jugendliche beiderlei Geschlechts mit verschiedenen Bildungsabschlüssen und unterschiedlichem Gesundheitszustand, die freiwillig oder unfreiwillig aus dem Erwerbs- und Bildungssystem ausgeschlossen sind. Unter ihnen findet man also sowohl solche, die aktiv eine Arbeit oder für sie geeignete Ausbildung suchen, als auch solche, die nicht arbeiten können oder wollen oder sich bewusst eine Auszeit nehmen. Zu finden sind Jugendliche aus bildungsfernen Familien, die Klassen wiederholen mussten und keinen Pflichtschulabschluss vorweisen können. Unter den NEETs sind aber auch MaturantInnen aus gut situiertem Elternhaus, die beispielsweise an der harten Aufnahmeselektion überfüllter Unis scheitern. Oft sind es Jugendliche, die sich bereits weiter vom Arbeitsmarkt entfernt haben und aufgrund der vermeintlichen Aussichtslosigkeit keine Alternativen mehr suchen.
Risiko Nr. 1: Früher Schulabbruch
Allerdings zeigt sich, dass es individuelle und gesellschaftliche Risikofaktoren gibt. Die EU-Agentur Eurofound hat für die Europäische Union errechnet, dass beispielsweise Jugendliche mit Migrationshintergrund ein um 70 Prozent höheres NEET-Risiko haben. Gesundheitliche Einschränkungen erhöhen das NEET-Risiko um 40 Prozent, und Jugendliche, deren Eltern arbeitslos waren, haben ein um 17 Prozent erhöhtes Risiko. Außerdem sind Jugendliche aus bildungsfernem Elternhaus, aus dem urbanen Bereich und (vor allem weibliche) Jugendliche mit Betreuungspflichten häufiger betroffen. Auch problematische familiäre Umstände, traumatische Erfahrungen, emotionale Auffälligkeiten, Drogen, Alkohol und finanzielle Engpässe können erschwerend wirken. Übergeordnet kann als zentralstes Merkmal ein früher Schulabgang („early school leavers“) für eine NEET-Betroffenheit ausgemacht werden.
Aus österreichischen Forschungsinterviews geht zudem hervor, dass bisherige Erfahrungen mit dem System Schule oft prägend waren. Viele NEET-Betroffene erzählen von Mobbing- und Ausgrenzungserfahrungen, Leistungs- und Lernschwierigkeiten, Konflikten mit LehrerInnen sowie Schulängsten, die ihre Schulkarriere gekennzeichnet haben. Hinzu kommen Umbruchphasen (z. B. Schulwechsel, Klassenwiederholung, Wechsel in Ausbildungskontexte etc.), die als schwierig erlebt wurden. Die sehr unterschiedlichen und persönlichen Geschichten der Jugendlichen zeichnen das Bild, dass unzureichende oder falsche Information, ungeeignete oder mangelnde Unterstützung sowie Misserfolgserfahrungen bei vielen zu Frustration oder Resignation führen.
Vorbilder (be)leben
Umgekehrt zeigen die Interviews auch, dass hilfreich erlebte Unterstützung oder positive Vorbilder die Betroffenen auch wieder Mut schöpfen lassen. Allen Hindernissen und Fehlschlägen zum Trotz können so auch positive Kehrtwendungen stattfinden. Studienteilnehmer Christian2 hat offenbar die positive Erfahrung mit einem didaktisch phantasievollen Nachhilfelehrer nachhaltig inspiriert: Er hat nach vielen Umwegen und Hindernissen das Ziel entwickelt, selbst Lehrer zu werden. Durch die Lehre mit Matura konnte er schließlich seinen Traum verwirklichen und Lehramt studieren. So wie Christian gelingt immerhin 32 bis 47 Prozent ein erfolgreicher Ausstieg aus dem NEET-Status.3
Die Studien machen auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: Bei gefährdeten Jugendlichen kann die Beziehung zu den Lehrpersonen ausschlaggebend für den (Nicht-)Abbruch der Schule sein. Folglich ist es wichtig, dass LehrerInnen diesbezüglich sensibilisiert und geschult werden, um Risiken zu erkennen und handeln zu können. In der Praxis bedeutet das, eine gute Beziehung zu den abbruchgefährdeten Jugendlichen zu pflegen und Unterstützungsangebote verfügbar zu haben.
Nicht (nur) eine Frage des Willens
Wie sich abzeichnet, ist die NEET-Situation kaum eine Frage der individuellen Entscheidung. Die Antwort ist vielmehr in der Chancenverteilung und im Bildungssystem mit den damit verbundenen Möglichkeiten zu suchen. Die Beeinträchtigung des Einzelnen ist jedoch groß, da ein selbstbestimmtes Leben und persönliche Entfaltung im NEET-Status schwierig ist. Hinzu kommt, dass die volkswirtschaftlichen Kosten und negativen sozialpolitischen Folgen gesamtgesellschaftliche Relevanz haben und politische Strategien erfordern. Die bunt zusammengesetzte NEET-Gruppe benötigt ein ebenso vielschichtiges Angebot. Grob können die Maßnahmen in Prävention und Maßnahmen zur Reintegration am Arbeitsmarkt beziehungsweise ins (Aus-)Bildungssystem unterschieden werden.
Die frühzeitige Prävention ist laut ExpertInnen ganz wesentlich. Damit soll ein früher Schulabbruch verhindert werden, um die Chancen am Arbeitsmarkt später zu erhöhen. So wird etwa die Etablierung eines Frühwarnsystems empfohlen. Dieses zielt darauf ab, auf erste Probleme, die sich oft bereits Jahre vorher abzeichnen, reagieren zu können. Damit könnte den Betroffenen zeitgerecht Unterstützung angeboten werden (z. B. psychologische Unterstützung bei Mobbing).
Jugendcoaching
Prävention kann auch standortbezogen erfolgen: Schulen mit schwierigen Ausgangsbedingungen könnten gezielt mit benötigten Ressourcen unterstützt werden (z. B alternative Lehrpläne bei hohem Migrationsanteil). Da sich der Übergang zwischen Schule und Beruf häufig schwierig gestaltet, werden vermehrte Berufsorientierung und Jugendcoaching vor der 9. Schulstufe vorgeschlagen.
Bei der Reintegration von NEET-Jugendlichen werden insbesondere niederschwellige und bedürfnisgerechte Maßnahmen mit einer persönlichen und vertrauensvollen Beziehungsarbeit angeraten. Diese kann beispielsweise im Rahmen von aufsuchender Jugend- und Sozialarbeit oder durch Online-Anlaufstellen geleistet werden. Österreich hat im internationalen Vergleich nicht nur niedrige Jugendarbeitslosigkeits-, sondern auch eine der niedrigsten NEET-Zahlen. Da die Potenzialförderung der Jugend immer auch eine Investition in die Zukunft ist, kann nur für eine weitere Absenkung der NEET-Raten plädiert werden. Wie Versuche in anderen Ländern zeigen, haben die Maßnahmen zudem wünschenswerte Nebeneffekte: So konnten in Griechenland mit neuen Lernmethoden nicht nur positive Effekte gegen frühen Schulabbruch erreicht werden, sondern es kam auch allgemein zu einer Steigerung der schulischen Leistungen.
Linktipps
Online-Anlaufstelle für Jugendliche:
www.unentdeckte-talente.at
AK OÖ und Uni Linz: „Jugendliche weder in Beschäftigung, Ausbildung noch in Training: Ein Bundesländervergleich in Österreich“ (2015):
tinyurl.com/nmeyl9f
AK und Stadt Wien: „Quo Vadis Bildung? Eine qualitative Längsschnittstudie zum Habitus von Early School Leavers“ (2014):
tinyurl.com/o4v4jk3
Sozialpolitische Studienreihe des BMASK: „Unterstützung der arbeitsmarktpolitischen Zielgruppe ‚NEET‘“ (2014):
tinyurl.com/qheql4t
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin kontakt@elkeradhuber.at oder die Redaktion aw@oegb.at
1 Zahlen variieren je nach Erhebungsinstitut und Beobachtungszeitspanne. Die an dieser Stelle genannten Zahlen kommen aus dem Forschungsbericht 2015 der AK OÖ. Diese betreffen den Forschungszeitraum von 2006 bis 2013. Eine umfangreiche Studie des Sozialministeriums (Sozialpolitische Studienreihe) zieht einen Untersuchungszeitraum von 2006–2011 heran: Da ist von durchschnittlich 78.000 Jugendlichen bzw. 7,8 Prozent der 16- bis 24-jährigen Betroffenen jährlich die Rede. Das IHS spricht wiederum von 12 Prozent bzw. 128.000 BildungsabbrecherInnen bei den 15- bis 24-jährigen Personen. http://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2015/PK0588/index.shtml
2 Christian wurde im Rahmen der Studie „Quo vadis Bildung?“ interviewt.
3 innerhalb des Beobachtungszeitraumes von fünf Quartalen
Nicht persönliches Wissen und Können der Kinder, sondern vor allem der höhere Bildungsstand der Eltern ist in Österreich für das Erreichen höherer Schulformen entscheidend. Wer nach der Volksschule in der Hauptschule beginnt, hat nur sehr geringe Chancen, diesen Weg wieder zu verlassen und in eine weiterführende Schule mit Matura zu wechseln. Die Bildungspolitik wird sich verstärkt mit der Frage nach Aufrechterhaltung von kleinen Schulstandorten befassen müssen. Auch nach der Schule sollten künftig Fortbildungen und das Lernen am Arbeitsplatz mehr gefördert werden.
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]]>Mehr als 1.200 Kurse
Seit Februar 2015 wird der kostenlose Nachhilfeunterricht in diesen Fächern auch für die Sekundarstufe 1 (Neue Mittelschule und AHS-Unterstufe) angeboten. SchülerInnen bzw. Eltern können zwischen zwei Möglichkeiten wählen: Direkt in den Schulen gibt es Semester-Lernhilfekurse mit Anmeldung, in sogenannten Lernstationen (meist an VHS-Standorten) können die SchülerInnen unangemeldet vorbeikommen und etwa vor einer Schularbeit kurzfristig Hilfe bekommen. Wird in der Lernstation der Bedarf nach langfristiger Unterstützung festgestellt, so ist die Einschreibung in einen Lernhilfekurs möglich. Falls nötig, werden auch im Semester neue Kurse eingerichtet.
Die im Mai 2015 auf Basis von Telefoninterviews mit mehr als 3.300 Eltern (mit rund 5.500 Kindern) veröffentlichte IFES-Studie im Auftrag der AK Wien zum Thema Nachhilfe ergab:
Die Studie bestätigt unter anderem zwei langjährige ÖGB-Forderungen: Ausbau der schulischen Fördermaßnahmen sowie mehr verschränkte Ganztagsschulen mit Unterricht, Üben und Freizeit über den ganzen Tag.
Hilfe im Netz
Digital Natives mit Eigeninitiative und Selbstdisziplin, aber ebenso Eltern mit Auffrischungs- oder Nachhilfebedarf können auch online Unterstützung finden. Auf YouTube etwa gibt es die Videos der amerikanischen Non-Profit-Organisation Khan Academy auch auf Deutsch. Der Erziehungswissenschafter Salman Kahn nutzte bereits 2006 das Internet, um Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt kostenlosen Bildungszugang zu ermöglichen. Das Projekt, damals revolutionär, hat inzwischen über 2,3 Millionen AbonnentInnen weltweit und bietet 4.000 YouTube-Nachhilfevideos in 65 verschiedenen Sprachen an.
Die „coolste Nachhilfe Deutschlands“ bietet The simple Club in den Fächern Mathematik, Physik, Biologie, Chemie und seit Kurzem auch Wirtschaft. Keine Nachhilfe im Stil des typischen Bildungsfernsehens, aber den Online-Kommentaren nach zu schließen zumindest jugendgerecht. In jedem Fall haben Lern- und Nachhilfevideos auf YouTube theoretisch den Benefit, dass die sich UserInnen gegenseitig in Form von Postings auf die Sprünge helfen können.
Peer-to-Peer-Lernen
Höchstens zehn Euro pro Stunde soll es kosten, wenn SchülerInnen einander beim Lernen helfen – österreichweit vermittelt über eine Online-Plattform. Der Gedanke von Talentify ist, dass beide Seiten profitieren – die schwachen SchülerInnen, die eine Perspektive bekommen und gestärkt werden, und die NachhilfelehrerInnen, die das eigene Wissen vertiefen und außerdem ihre Sozialkompetenzen erweitern. Außerdem bietet Talentify auch Hilfe bei der „Lebensvorbereitung“ und will junge Menschen auf dem Weg ins Berufsleben begleiten. Es geht um Fragen wie „Wo liegen meine Talente? Was will ich einmal werden und was braucht es dazu?“. Geübt werden Zeitmanagement, Kommunikation, Lebensläufe schreiben etc.
Das geflügelte Wort „Gratis ist nichts wert“ stimmt im Bildungsbereich, wo zum Glück nach wie vor viele Angebote von der öffentlichen Hand finanziert werden, meist ganz und gar nicht. Kostenfreie Maßnahmen bieten manchmal mehr Bürokratie und weniger Flexibilität, aber sie sind weder minderwertig, noch werden sie gering geschätzt. Während Nachhilfeinstitute, Maturaschulen und Co in den Medien allgegenwärtig sind, sind Gratis-Angebote in der Regel auch ganz ohne Werbung ausgebucht – so wie etwa die staatlichen Abendgymnasien mit ihren sieben Standorten in ganz Österreich. Diese Schulen bieten berufsbegleitend erwachsenengerechte Unterrichtsmethoden, funktionieren aber im Wesentlichen ähnlich wie andere Gymnasien – inklusive kostenlosem Förderunterricht. Außerdem werden Fernkurse angeboten.
Nach der Matura
Erst seit einigen Jahren auf dem Bildungsmarkt sind die Vorbereitungskurse zu den kapazitätsbeschränkten Studienrichtungen (Veterinär-)Medizin, Publizistik und Psychologie. Laut einer Studie des Wissenschaftsministeriums sind die Kosten für diese Kurse aber in dieser relativ kurzen Zeit, konkret seit 2009, merklich gestiegen. Über ein Drittel der Medizin Studierenden investierte mehr als 500 Euro in die Vorbereitung für das Zulassungsverfahren. In den Fächern Architektur, Biologie, Informatik, Wirtschaft, Pharmazie, wo es erst seit 2013 Zugangsbeschränkungen gibt, konnten vielfach mangels Kapazitätsüberschreitung ohnehin alle TestteilnehmerInnen aufgenommen werden. Trotzdem gibt es auch hier kostenpflichtige Vorbereitungskurse.
„Erfreulicherweise wurden bei der Novelle des Universitätsgesetzes im vergangenen Oktober Schritte in die richtige Richtung gesetzt“, so Martha Eckl, Bildungsexpertin der AK Wien. Erstens muss künftig bei Aufnahme- oder Auswahlverfahren seitens der Universitäten sichergestellt werden, dass diese zu keinerlei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sowie der sozialen Herkunft führen. Zweitens: Der Prüfungsstoff muss ab dem Wintersemester 2019/20 auf der Homepage der Universität kostenlos zur Verfügung stehen. „Das spätere Inkrafttreten hat urheberrechtliche und praktische Gründe. Bis dahin kann der Prüfungsstoff auch auf andere geeignete Weise – aber jedenfalls kostenlos – bereitgestellt werden.“
Linktipps
AK-Studie: Nachhilfe in Wien 2015. Studienbericht:
tinyurl.com/q3nxx7u
AK-Studie: Nachhilfe in Österreich. Bundesweite Elternbefragung 2014:
tinyurl.com/pnhshay
VHS-Gratislernhilfe: www.vhs.at/gratislernhilfe
Datenbank der Bildungsförderung: www.kursfoerderung.at
Abendgymnasien in Österreich: www.abendgymnasium.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Das war vor neun Jahren. Heute ist Rütli ein Vorzeigemodell gelungener Integration und das Lieblingskind der deutschen Bildungspolitik. Doch was hat den Unterschied ausgemacht? Abgesehen vom schlechten Ruf ließ der Brief der Schule potenzielle UnterstützerInnen auf den Plan treten. Vor allem hat die öffentliche Hand Geld in die Hand genommen, in Zahlen: 32 Millionen Euro.
Was hat Rütli mit Österreich gemeinsam? Die Bildungswissenschafterin Gertrud Nagy hat die Entwicklung städtischer Haupt- und Mittelschulen in Österreich erforscht und festgestellt, dass immer mehr Schulen zu sozialen Brennpunktschulen wie einst Rütli werden. Ihr Fazit: „Wir müssen dringend gegensteuern!“
Gertud Nagy sieht einen gemeinsamen Nenner zwischen Haupt- und Mittelschulen in österreichischen Ballungsräumen und der deutschen Rütli-Schule: ein sehr hoher Anteil an SchülerInnen mit Migrationshintergrund – und vor allem mit Herkunft aus einem sozial und ökonomisch schwachen Elternhaus. Der Knackpunkt, meint Nagy, ist die fehlende soziale Durchmischung an diesen Schulen. Ahmed und Kevin, wie sie überspitzt Prototypen dieser SchülerInnen nennt, finden sich in Brennpunktschulen gehäuft mit anderen, die null Bock auf die Schule und wegen ihrer schlechten Leistungen kaum berufliche Perspektiven haben. Sie werden zu Jugendlichen, die durch Aggression und Machtkämpfe Anerkennung suchen.
Ängste bildungsnaher Eltern, die Gesamtschule könnte ein niedrigeres Anforderungsniveau bedeuten, wenn Lehrkräfte nicht konstruktiv mit einer Vielfalt von Kindern umgehen können, kann Nagy nachvollziehen. Langfristig führe an einer besseren sozialen Durchmischung mittels Gesamtschule aber kein Weg vorbei. „Wenn wir weitermachen wie bisher, dann müssen wir alle dafür zahlen. Und ich meine wirklich alle!“, warnt Nagy eindringlich. Denn wenn Ahmed und Kevin nicht mit Lisa und Alexander zusammenkommen, bedeute das Parallelgesellschaften, leicht radikalisierbare Jugendliche, FacharbeiterInnenmangel und hohe Kosten für Eingliederungsmaßnahmen.
Mehr als eine Schule
Im Jahr 2009 wurde die Rütli-Schule mit einer benachbarten Realschule und einer Grundschule zu einer Gemeinschaftsschule, zum „Campus Rütli“, fusioniert. Damit wurde die Hauptschule aufgelöst, seit dem Schuljahr 2011/12 gibt es zudem eine gymnasiale Oberstufe. Im besten Fall können die SchülerInnen heute 13 Jahre lang zusammen lernen. Genial daran findet Nagy die Entwicklung der Schule hin zu einem lokalen Bildungsverband. Auf dem 48.000 Quadratmeter großen Campus sind zahlreiche Beratungs- und Betreuungsangebote zu finden: Kindergärten, eine Sporthalle, eine Volkshochschule, ein Gesundheitsdienst, Jugendklubs, ein Café und Berufsberatungsstellen. Dazwischen gibt es Grün- und Spielflächen. Der Stadtteil wurde durch den Campus aufgewertet. „Rütli ist nicht nur ein Projekt der Schulpolitik, sondern auch der Stadtentwicklung“, so Nagy.
Eine gemeinsame Schule nach ähnlichem Konzept könnte auch in Österreich erfolgreich sein. „Stellungnahmen der Sozialpartner wie im Bad Ischler Dialog 2013 zeigen Konsens, dass die frühe Trennung mit zehn Jahren abgelehnt wird – auch wenn meist der Begriff Gesamtschule gemieden wird“, meint Nagy. Aber die Angst der Mittelschicht vor dieser Schulform sei derzeit zu groß, um sie in den nächsten Jahren zu realisieren. Man müsse Schadensbegrenzung betreiben, indem sozial benachteiligte Kinder mittels bester Lernkultur gefördert werden – und in Form einer gerechten Mittelzuteilung.
Bedarfsorientierte Mittelverteilung
Soziale Brennpunktschulen brauchen mehr finanzielle Ressourcen, fordert Bildungswissenschafterin Nagy und plädiert wie Arbeiterkammer und OECD (2012) für eine bedarfsorientierte Mittelverteilung. Die Idee dahinter: Schulen mit mehr sozial benachteiligten Kindern erhalten mehr Ressourcen, da sie unter schwierigeren Bedingungen arbeiten und mehr Aufwand als gut funktionierende Schulen haben. „Manchmal braucht es Ungleichheit, um Gleichheit zu erzeugen“, sagt Nagy. Derzeit spielt die Zusammensetzung der SchülerInnenschaft einer Schule bei der Verteilung von Personal- und Sachaufwand kaum eine Rolle. In einigen Kantonen der Schweiz, in Teilen Deutschlands und in den Niederlanden ist die bedarfsorientierte Mittelverteilung längst gang und gäbe. „Das Geld, das wir heute in Bildung einsparen, investieren wir morgen in Gefängnisse“, bringt es die Rektorin der Rütli-Schule Cordula Heckmann auf den Punkt. Und das scheint, angesichts der Chronik ihrer Schule, nicht einmal dramatisierend.
„Ich unterstelle jeder Lehrperson, dass sie einen möglichst guten Unterricht halten will. Aber wenn sie mit so vielen Problemen befasst ist, kommt das Lernziel zu kurz“, erklärt die Bildungswissenschafterin. Am Campus Rütli hat man gute Lösungen gefunden. Vor Ort kümmern sich SchulpsychologInnen und SozialpädagogInnen um die Anliegen der SchülerInnen. Damit werden die Probleme aus dem Unterricht genommen, die LehrerInnen können sich auf ihre Lehrziele konzentrieren und werden entlastet. Eine gute Bildungsreform setze auch bei der Ausbildung und Auswahl der Lehrkräfte an, betont Nagy. In Rütli habe die neue Schulleitung gesagt: „Da kommt jetzt Arbeit auf uns zu – schulinterne Fortbildungen, Arbeit an Wochenenden. Wer das nicht mittragen will, soll lieber gehen.“ Ein Drittel des Lehrpersonals hat die Schule verlassen.
Beste Lehrpersonen
Die gemeinsame Unterrichtsentwicklung hat dazu geführt, dass die SchülerInnen nun deutlich bessere Leistungen erbringen. Heute gehören zum Kollegium in Rütli auch türkische und arabische LehrerInnen, die die Sprache der SchülerInnen sprechen. Vor allem aber, meint Nagy, sollten an Schulen in sozialen Brennpunkten nur die besten Lehrpersonen unterrichten, die es schaffen, auch leistungsschwachen Kindern Freude am Lernen zu vermitteln.
Am Campus Rütli setzt man auf neue Lernkultur und Personalisierung, das heißt, Kinder entsprechend ihrer Möglichkeiten zu fördern und zu fordern. Bestenfalls holt man dazu die Eltern mit ins Boot. Die Rütli-Schule hat das mit zum Erfolg geführt. Interkulturelle ModeratorInnen vermitteln den Kontakt zu den meist türkischen und arabischen Eltern, sie begleiten LehrerInnen bei Hausbesuchen und dolmetschen bei Elterncafés.
Eine Wende ist möglich
Im Jahr 2014 haben die ersten SchülerInnen in Rütli das Abitur gemacht. Etwa fünf Prozent der Kinder verließen die Schule ohne Abschluss – vor neun Jahren waren es noch knapp 20 Prozent. Dazu muss gesagt werden, dass die Zusammensetzung der SchülerInnenschaft unverändert ist: 86 Prozent der etwa 900 Jugendlichen haben Migrationshintergrund, rund 80 Prozent der Familien leben von staatlichen Transferleistungen. Die soziale Durchmischung verändert sich aber bereits in den unteren Klassen. Laut Rektorin Cordula Heckmann sei es nur eine Frage der Zeit, bis der Wandel alle Jahrgänge erreicht.
Nach dem Aufschrei der Schulleitung vor neun Jahren hat sich die Gesellschaft, nicht nur die Schule, die Frage gestellt: Wohin führt es, wenn wir soziale Brennpunktschulen verkümmern lassen? Diese Diskussion wünscht sich Gertrud Nagy auch für Österreich. „Wollen wir jahrelang mit unserem Steuergeld für Maßnahmen zur sozialen Eingliederung zahlen, nur weil die Politik verabsäumt, allen Jugendlichen gute Chancen zu bieten?“
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin steindlirene@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
Unter www.gerechtebildung.jetzt kann man für ein Kind verschiedene Kriterien auswählen und sich ansehen, welchen Bildungsweg es am wahrscheinlichsten einschlagen wird – je nachdem, ob es ein Mädchen oder ein Bub ist, ob es am Land oder in der Stadt wohnt, nicht zu vergessen: welchen Bildungsabschluss die Eltern haben und welche Sprache die Familie im Alltag spricht. Außerdem kann man ein zweites Kind ergänzen und somit Bildungswege vergleichen.
Die andere Herkunft
Nennen wir das zweite Kind Franz. Er lebt ebenfalls am dünn besiedelten Land und hat Eltern, die PflichtschulabsolventInnen sind. Das Ergebnis: Beide werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Volksschule eine Hauptschule besuchen (mehr als 80 Prozent). Fast gar nichts ändert sich, wenn man die Alltagssprache von Alexandra und Franz auf „Nicht Deutsch“ ändert. Beide Kinder werden ebenso wie ihre im Alltag Deutsch sprechenden Schulkolleginnen mit großer Wahrscheinlichkeit ins Poly gehen, an eine Berufsbildende Höhere (BHS) oder Mittlere Schule (BMS).
Völlig anders sieht es hingegen aus, wenn die Eltern ein Studium absolviert haben: In diesem Fall gehen Alexandra und Franz sehr wahrscheinlich auf eine AHS (39 und 31 Prozent) oder eine BHS (12 bzw. 18 Prozent). Die vom Jahoda-Bauer-Institut, dem BIFIE und dem Bildungsministerium geförderte Homepage illustriert damit ein Problem, unter dem das österreichische Bildungssystem leidet: Der Bildungshintergrund und die sozioökonomische Herkunft der Eltern entscheiden darüber, welche Bildungswege die Kinder einschlagen werden – und nicht die ethnische Herkunft, wie es RechtspopulistInnen gerne propagieren. Der Nationale Bildungsbericht aus dem Jahr 2012 formuliert deutlich: „Die soziale Herkunft ist die zentrale Ungleichheitsdimension. Sie wirkt sich durchgehend in der Bildungslaufbahn auf den Kompetenzerwerb und den Schulbesuch aus.“
Auch eine andere Herkunft bestimmt über den Bildungsweg der Kinder: Die schulische Herkunft nämlich, und zwar noch dazu sehr früh. „Die wahrscheinlich wichtigste Entscheidung in der Bildungskarriere eines Kindes, die Wahl zwischen Hauptschule bzw. Neue Mittelschule und AHS, muss in Österreich bereits mit 10 Jahren getroffen werden – hauptsächlich bestimmen das die Eltern. Ist ein Bildungsweg einmal eingeschlagen, wird dieser, unabhängig von der Schulleistung, meist weiterverfolgt“, heißt es etwa auf www.gerechtebildung.jetzt. Außerdem hat diese frühe Entscheidung Einfluss auf die Leistungen der Kinder selbst. Vergleiche mit anderen Ländern zeigen, so der Nationale Bildungsbericht, dass beispielsweise die Leseleistung der Kinder in jenen Ländern weniger vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängt, wo die „Erstselektion“ erst mit 16 Jahren stattfindet.
Mittlerweile setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Grundstein für Ungleichheiten bereits im Kindergarten gelegt wird. Der Ausbau der Kindergartenplätze in den vergangenen Jahren zeigt, dass der Besuch des Kindergartens für die Kinder positive Effekte hat. Allerdings besteht weiter Handlungsbedarf, immerhin stellt der Nationale Bildungsbericht auch fest, dass es der Einrichtung nicht gelingt, Kinder aus sozial benachteiligten Familien stärker zu fördern.
Stärke des Systems
Viel wurde unternommen, um Chancengleichheit im Bildungssystem zu erreichen. Nicht zuletzt die Berufsbildenden Schulen ermöglichten und ermöglichen vielen Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schichten den Zugang zur Universität. Immerhin bieten sie beides: Die Möglichkeit, ein Studium zu beginnen, sowie den direkten Einstieg in den Beruf nach der Matura. Letzterer kann für sozial schwächere Eltern deshalb von Bedeutung sein, weil sie ihre Kinder nicht mehr mit ihren ohnehin bescheidenen finanziellen Ressourcen weitertragen müssen. Im Nationalen Bildungsbericht ist vor diesem Hintergrund davon die Rede, dass die Berufsbildenden Schulen „die Stärke des österreichischen Schulsystems“ sind, da ihnen „eine Reduktion der Chancenungleichheiten nach sozialer Herkunft“ gelingt. Einzige Einschränkung: An den Berufsschulen bleiben Kinder mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert.
Die gerechtere Gesamtschule
Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass die gemeinsame Schule bis 14 Jahre Ungleichheiten am besten entgegenwirkt. Deshalb ist die wohl wichtigste Maßnahme der vergangenen Jahre die im Jahr 2012 erfolgte Einführung der sogenannten Neuen Mittelschule (NMS). Die ersten Erfahrungen in Österreich zeigen bereits die positiven Auswirkungen dieser Schulform: Im Vergleich zu den Hauptschulen wechseln mehr Neue MittelschülerInnen in die AHS als HauptschülerInnen. Auch ermöglicht sie mehr Kindern mit Migrationshintergrund den Sprung in eine Schulstufe, die zur Matura führt. Allerdings ist es weiterhin so, dass acht von zehn MaturantInnen die AHS-Unterstufe besucht haben.
Die sozioökonomische Herkunft sowie der Bildungshintergrund der Eltern beeinflussen auch, wie gut SchülerInnen die in der Schule vermittelten Inhalte erlernen. In der vierten Schulstufe zeigen Kinder von bildungsfernen Eltern laut Nationalem Bildungsbericht deutlich schlechtere Leistungen: Ganze zwei Jahre macht der Rückstand aus, den sie im Vergleich zu den Kindern von MaturantInnen haben.
Spielt der Migrationshintergrund also gar keine Rolle? Zumindest nach der Volksschule hat er keinen Einfluss darauf, in welchen Schultyp die Eltern ihr Kind schicken. Dies ändert sich jedoch im Alter von rund 14 Jahren: Kinder mit nicht deutscher Umgangssprache schaffen den Sprung von der Haupt- in eine höhere Schule deutlich seltener als ihre KollegInnen, die nur Deutsch sprechen, in Zahlen: 29 und 42 Prozent. Wie bereits erwähnt zeigt die Neue Mittelschule hier bereits eine kompensierende Wirkung.
Haben Kinder aus sozioökonomisch schwächergestellten Familien es einmal bis zur Matura geschafft, wartet die nächste Hürde auf sie: der Unizugang, der in den vergangenen Jahren deutlich eingeschränkt worden ist. Grundsätzlich haben der freie Hochschulzugang sowie die steigenden Studierendenzahlen viel dazu beigetragen, die soziale Mobilität in der österreichischen Gesellschaft zu erhöhen. Heute kommen drei Viertel der österreichischen Studierenden aus bildungsfernen Schichten, bei der Hälfte haben die Eltern keine Matura.
Soziale Selektion reloaded
Der Bericht zur sozialen Lage der Studierenden kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss: „Der Hochschulsektor trägt in beträchtlichem Ausmaß zur sozialen Mobilität in der Gesellschaft bei.“ Allerdings: Der Befund relativiert sich, wenn man sich die relativen Zahlen ansieht. Nach diesen müsste der Anteil der Kinder von NichtakademikerInnen unter den Studierenden nämlich deutlich höher sein. Dem ist aber nicht so: Die Studierwahrscheinlichkeit für Kinder, deren Vater Akademiker ist, ist „um den Wahrscheinlichkeitsfaktor 2,5 höher als für Studierende aus bildungsfernen Familien“. Die nun an immer mehr Unis eingeführten Zugangsbeschränkungen reihen sich in das System der sozialen Selektion ein. So kommt eine Studie der Arbeiterkammer zu dem Ergebnis, dass etwa in der Humanmedizin der Anteil der Kinder von AkademikerInnen seit der Einführung der Zugangsbeschränkungen noch einmal angestiegen ist.
„Wer schon hat, bekommt noch mehr.“ Nach diesem Motto wird Bildung also in Österreich verteilt. Es profitieren vor allem jene von höherer Bildung, deren Eltern auch schon eine solche genossen haben. Paradoxerweise setzt sich diese Logik im Berufsleben fort, denn ArbeitnehmerInnen mit höheren Abschlüssen werden eher auf Weiterbildungen geschickt als schlechter Qualifizierte. Es gibt also noch viel zu tun, damit allen Kindern die ganze Bandbreite an Bildungswegen offensteht und sie vom Bildungssystem auch bestmöglich profitieren können.
Linktipps
Nationaler Bildungsbericht: www.bifie.at/nbb
Bildung in Zahlen: tinyurl.com/oc5xxxg
Blogtipp:„Soziale Selektion im Hochschulsystem“: tinyurl.com/pwb94pf
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
Bildungsmanagement ist ein lebendiger Prozess. Manche der Projekte des Programms bestanden den Praxistest nicht oder mussten unter neuen Rahmenbedingungen neu konzipiert werden, andere dagegen wirken bis ins 21. Jahrhundert. So sind zum Beispiel die ÖGB-AK-Bildungsforen in den Bundesländern aus den 1996 angeregten „ÖGB-AK-Ausschüssen für gewerkschaftliche Bildungsarbeit“ hervorgegangen.
]]>In Österreich wird die BürgerInnen-Initiative und Kampagne von der Gewerkschaft vida unterstützt, europaweit von der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF). Die ETF repräsentiert über 3,5 Millionen Gewerkschaftsmitglieder aus den Verkehrssektoren von über 40 europäischen Ländern, davon über 200.000 in Österreich in Bahn, Straße, Luft- und Schifffahrt. Der Verkehr ist vitaler Bestandteil der europäischen Volkswirtschaft. Der Transportsektor erzeugt nahezu fünf Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) und zählt mehr als 11 Millionen direkt Beschäftigte. Das entspricht fünf Prozent aller ArbeitnehmerInnen in der EU.
„Die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten geraten immer mehr unter Druck“, kritisiert der Vorsitzende des vida-Fachbereichs Eisenbahn, Roman Hebenstreit, der österreichisches Mitglied im Vorstand der Europäischen Transportarbeiter-Föderation ist. „Die Qualität von Verkehrsdienstleistungen sowie die Sicherheit von Passagieren, Beschäftigten und Waren muss unter fairen Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen aufrechterhalten werden. Das wollen wir mit unserer Bürgerinitiative erreichen“, so Hebenstreit.
Mehr Infos unter www.fairtransporteurope.eu
Damit Lehrlinge nicht mehr auf ihren Fahrtkosten sitzen bleiben, startete die PRO-GE-Jugend die Kampagne „We are looking for a Freifahrt“. Um möglichst viele Lehrlinge zu erreichen, informieren die jungen GewerkschafterInnen vor Berufsschulen und in Betrieben über diesen untragbaren Zustand. „Mithilfe eines Fragebogens erheben wir, wie oft Lehrlinge zwischen Wohnort und Berufsschulinternat hin- und herfahren und was sie das Ganze kostet“, erklärt Bundesjugendsekretär Thomas Klösch. „Mit unserem Fahrtkostenrechner sehen die Lehrlinge sofort, wie viel sie pro Jahr für die Fahrt zur Berufsschule und zurück ausgeben. Dann ist es nicht mehr schwer, sie von unserer Forderung nach voller Erstattung der Fahrtkosten zu überzeugen.“ Für alle, die den Fragebogen ausfüllen, gibt es tolle Preise zu gewinnen.
Mehr Infos unter tinyurl.com/odlxqw
]]>Der EGB begrüßt die Zahlen der Kommission, wonach die Flüchtlinge einen zwar geringen, aber positiven Einfluss auf die europäische Wirtschaft haben würden. „Die Notwendigkeit, Flüchtlinge unterzubringen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist ein weiterer Grund, warum die EU die Nachfrage ankurbeln und Investitionen fördern muss.“ Der EGB ist besorgt, dass die Kommission Arbeitsmarkt- und Strukturreformen verlangt, während sie gleichzeitig hofft, dass höhere Einkommen die Nachfrage erhöhen würden. Ein klarer Widerspruch, da die Reformen das Gegenteil bewirken würden, nämlich die Einkommen der Menschen niedrig zu halten.
Schlechte Nachrichten gab es für Österreich: Es wird bei der Arbeitslosigkeit im EU-Vergleich deutlich zurückfallen. Für 2016 lautet die Prognose der EU-Kommission 6,1 Prozent, das ist nur mehr Rang sieben. Noch vor zwei Jahren hatte Österreich die niedrigste Arbeitslosenquote in der EU.
Mehr Infos unter www.etuc.org
]]>Damit aus einer Qualifikation ein attraktives Jobprofil wird, braucht es das Ineinandergreifen von „formaler Ausbildung, berufsübergreifenden und sozialen Kompetenzen“, so die Koautorin der Studie Julia Bock-Schappelwein. Die Bedeutsamkeit von Soft Skills erklärt sich aus den sich verändernden Anforderungen in der Arbeitsorganisation: Die Zusammenarbeit in wechselnden Teams oder das virtuelle Arbeiten in der Cloud verlangen die Fähigkeit zur Selbstreflexion genauso wie Einfühlungsvermögen und Kommunikationsstärke. Die Studie legt aber auch Widersprüche offen, zeigt, dass Bildung nicht alle Arbeitsprobleme löst.
Mismatch
Im Jahr 2010 war mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen nicht bildungsadäquat beschäftigt. Besonders Frauen (27,4 Prozent) und MigrantInnen (33,4 Prozent) arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau. Die Ingenieurin, die als Reinigungskraft arbeitet, oder die Sozialwissenschafterin, die bei ihrem Studentenjob in der Gastronomie „hängenbleibt“, sind keine Einzelfälle. Deutlich zeigt sich dieses Mismatch in der Berufsgruppe der Hilfskräfte, der Großteil der Beschäftigten ist formal überqualifiziert.
Dieser Befund überschneidet sich mit einer Analyse des Arbeitsmarktforschers Manfred Krenn, der die anhaltende Nachfrage im Bereich der Einfacharbeit behandelt. 700.000 Arbeitsplätze für angelernte Hilfstätigkeiten, für die keine Berufsausbildung nötig ist, stehen 545.000 PflichtschulabsolventInnen gegenüber. Nur 37,3 Prozent der Beschäftigten in Einfacharbeiten verfügen über keine Berufsausbildung, über die Hälfte hat einen Lehrabschluss und zwölf Prozent haben Matura oder einen Universitätsabschluss. Es gibt individuelle Gründe, um eine Qualifikation beruflich nicht nutzen zu können; Kompetenzen, die man nicht nutzt, verbrauchen sich. Zugleich decken die Zahlen einen Verdrängungswettbewerb auf. Da stellt sich die Frage: Rechnet sich Bildung?
Je zusätzliches Ausbildungsjahr erhöht sich der durchschnittliche Bruttostundenlohn um neun Prozent. Allerdings ist die Bildungsrendite von Frauen tendenziell niedriger. OECD-Studien zufolge ist die Lohnprämie für ein Studium im Vergleich zur Sekundärausbildung niedriger. Besonders Frauen bringt ein Jahr Hochschulbildung finanziell am wenigsten, womit Österreich an letzter Stelle von 21 OECD-Ländern liegt. Aber: Ein Studium erweist sich als bester Schutz vor Arbeitslosigkeit. Menschen mit Pflichtschulabschluss haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko arbeitslos zu werden.
Vorteile der Berufsqualifikation
Auch die Lohnprämie für eine Sekundarausbildung (Lehre, BHS, AHS) zahlt sich gegenüber einer Pflichtschulausbildung aus. Wer sich die ausbildungsspezifischen Erwerbschancen ansehen will, nutzt „BibEr“, das von AMS und Statistik Austria betreute „Bildungsbezogene Erwerbskarrierenmonitoring“. Es zeigt die Erwerbsverläufe je nach Ausbildungstyp, die Einkommenshöhe und den Arbeitsstatus.
Abgesehen von Geld lassen sich die Vorteile einer Berufsqualifikation auch anders belegen. So sind Menschen mit höherer Ausbildung zufriedener, gesünder und haben eine längere Lebenserwartung. Liegt das nun an der Qualifikation oder an den Lebensumständen?
„Ich weiß nicht, was kommen wird. Deshalb brauche ich einen guten Rucksack, um den Weg zu meistern“, skizziert Bock-Schappelwein die große Herausforderung für die Bildung der Zukunft. Deshalb brauche es einen Mix an Qualifikationen, praktischen Arbeitserfahrungen und einen Abschluss, der über die Pflichtschule hinausgeht. „Wo fallen Entscheidungen für Bildungskarrieren? In der Volksschule. In der Eingangsphase müssen ausreichend Mittel und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden“, fordert die Ökonomin.
Diese Einschätzung stützen internationale Studien, die zudem das Gesamtschulsystem als eine notwendige, wenn auch nicht ausreichende Bedingung für mehr Chancengleichheit ansehen. In Österreich wird nicht nur Vermögen vererbt, sondern auch Bildungsabschlüsse. Deshalb wäre es dringend geboten, die Durchlässigkeit zu weiterführenden Ausbildungen zu erhöhen.
Lust am Lernen
Trotz aller Bemühungen wird es immer Menschen geben, deren Lieblingslied „Nie mehr Schule“ heißt. Die von der EU angeregte stärkere Zertifizierung informell erworbenen Wissens steckt in Österreich noch in den Anfängen. Projekte zur Anerkennung von Lehrabschlüssen, wie „Du kannst was!“ in Oberösterreich, heben sich positiv ab. Unternehmen sind gefragt, lernfreundliche Arbeitsumgebungen zu schaffen: Arbeit, die Raum bietet für selbstständige Entscheidungen und arbeitsplatznahe Qualifizierung. Wie erhalten wir uns Neugierde und Lust am Lernen? Diese vermittelt ein ungewöhnliches Filmdokument. In „Rosi, Kurt und Koni“ porträtiert Hanne Lassl Lebensläufe von ÖsterreicherInnen mit bruchstückhaften Lese- und Schreibkompetenzen. Das betrifft fast eine Million Menschen. Sie zeigt nicht nur die Hürden und Beschämung, die diese Menschen erleben, sondern ebenso ihren Kampf um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, was Lernen auch bedeutet.
Fähigkeiten für Innovation
„Lernen ist mehr als Lernen, um sich der Welt anzupassen, sondern Lernen heißt auch, sich die Welt anzupassen. Bildung hat mit Freiheit zu tun, heißt Zeit zu haben, nachzudenken, Umwege zu gehen, auf Abwege und eigene Ideen zu kommen, quer zum normalen Denken“, sagte der Bildungsforscher Erich Ribolits in einer Diskussion. Anders ausgedrückt: All das sind Fähigkeiten für Innovation – und die braucht die Arbeitswelt von morgen sicher.
Linktipps
Bildungserträge in Österreich von 1999 bis 2005 (IHS und Statistik Österreich), 7/2007:
www.equi.at/dateien/Bildungsrendite_IHS-STATA-05.pdf
Nationaler Bildungsbericht 2009:
www.bifie.at/buch/936/1/d
Projekt Bildungsbezogenes Erwerbskarrierenmonitoring:
tinyurl.com/qzbjdoa
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Arbeit&Wirtschaft: Es heißt immer, Bildung ist eine Chance und deshalb müssen wir mehr für unsere Bildung tun. Stimmt das?
Christiane Spiel: Studien zeigen eindeutig über sehr viele Länder hinweg: Je höher die Bildung ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ein höheres Einkommen hat, dass jemand gesünder ist und länger lebt. Natürlich hängt das auch davon ab, in welche Berufssparten man geht, weil das Einkommen, die Chancen am Arbeitsmarkt und die Aufstiegschancen sehr unterschiedlich sein können. Aber in Summe kann man das sehr wohl so sagen. Krankheiten wie Alzheimer treten zum Beispiel bei Personen mit höherer Bildung im Mittel um bis zu fünf Jahre später auf. Das hat damit zu tun, dass eine höhere Bildung meist auch bedeutet, mehr über einen gesunden Lebensstil zu wissen, mehr Bewegung zu machen, eher zum Arzt zu gehen, den passenden Arzt zu wählen und so weiter.
Bildung wirkt sich also auf das ganze Leben aus?
Ja, und es ist vor allem so, dass die Personen, die von Anfang an gerne und viel gelernt haben, das ihr Leben lang aufrechterhalten. Damit ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass es ihnen gut geht, dass sie gesund sind, dass sie sich selbst versorgen können und dass sie mehr Interessen haben. Denn plötzlich zu sagen „So, und jetzt fange ich an zu lernen“, wenn man es in früheren Jahren nicht getan hat – das fällt sehr schwer.
Seit Jahren spricht man vom „lebenslangen Lernen“. Manche sagen, das klingt ein bisschen wie „Lebenslänglich“ beim Gefängnis.
Lebenslanges Lernen als bedrohlich zu empfinden, basiert auf einem Missverständnis. Denn das heißt ja nicht, dass ich ununterbrochen lerne. Es heißt nur, dass ich offen bin für Neues, dass ich es interessant finde, neue Dinge zu lernen und zu erfahren. Es geht darum, dass ich Gelegenheiten zum Lernen aufgreife und es nicht als Bedrohung sehe, wenn ich mich im Beruf weiterbilden soll. Weiterbildung schafft mir ja mehr Optionen, zum Beispiel für einen Aufstieg.
Wenn ich mich während meiner Berufstätigkeit öfter weiterbilde, werde ich das nach der Pensionierung auch eher beibehalten. Wenn wir uns die Alterspyramide anschauen, wird das immer notwendiger werden, weil immer mehr Menschen älter werden, und es immer weniger Junge gibt, die die Älteren erhalten können. Eine höhere Bildung, ein Interesse an Neuem, erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich gut selbst organisieren und selbst erhalten kann. Weiterbildung im hohen Alter hat noch etwas Positives: Sie schafft die Basis für soziale Beziehungen. Je älter ich werde, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, mit denen ich Kontakt hatte, sterben. Das bedeutet, dass ich vereinsame. Wenn ich in die Volkshochschule gehe, einen Sprachkurs mache oder Reisen unternehme, dann lerne ich dort Menschen kennen, die gleiche Interessen haben. Damit habe ich die Möglichkeit, auf Basis dieser gemeinsamen Interessen neue soziale Beziehungen einzugehen.
Viele Menschen haben Angst, dass sie sich mit steigendem Alter nichts mehr merken.
Die gute Nachricht ist, und das belegt die Forschung: Lernen ist in jedem Lebensalter möglich. Natürlich ist es so, dass gewisse Dinge im Alter schwerer gehen, aber nicht alles. Wichtig ist dabei die Basis, das heißt, dass ich bereits in jungen Jahren neugierig auf Neues bin und mir das erhalte. Eigentlich sollte die Schule den Grundstein dafür legen und auch vermitteln, wie man lernt.
Lernen ist ja ein Prozess: Ich überlege mir, was ich lernen möchte und welche Ziele ich mir setze. Ich brauche das Selbstvertrauen, dass ich es schaffen werde. Und ich brauche Lernstrategien: Wie teile ich mir die Zeit ein, brauche ich jemanden als Unterstützung, brauche ich Materialien dazu und so weiter. Und zum Schluss reflektiere ich, wie der Lernprozess gelaufen ist und was ich daraus für das nächste Mal lernen kann.
Es kommt noch etwas dazu in höherem Alter: Wir haben zwei grobe Bereiche der Kognition. Der eine hat zu tun mit dem Arbeitsgedächtnis und der Konzentrationsfähigkeit, wir nennen das die Mechanik. Da haben wir schon relativ früh eine Abnahme, die beginnt schon um das Alter von 20 Jahren. Der zweite Bereich, die Pragmatik, ist das erworbene Wissen, das ich weiter aufbauen und vernetzen kann. Das Schöne ist, da sind die älteren Personen besser, weil die jungen noch nicht so viele Wissensbestände haben. Über etwas drüber schauen, etwas Größeres organisieren und vieles dabei im Blick zu haben, das ist etwas, was wir bis ins hohe Alter relativ gut aufrechterhalten können. Wir sollten deshalb nicht nur auf die Verluste achten, sondern auf das, was wir gut können. Dann macht das Lernen mehr Freude.
Wenn man über Chancen durch Bildung spricht, muss man auch schauen, ob man überhaupt die Chance zur Bildung hat. Da steht ja Österreich nicht so gut da. Wo liegen da die Probleme?
Die Statistiken zeigen, dass in erster Linie niedriger sozioökonomischer Status zu Benachteiligungen führt. Das zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen. Es beginnt schon vor Schuleintritt, weil Kinder aus solchen Haushalten oft weniger gefördert werden, sodass der Start in der Schule schwerfällt. Das heißt, man sollte zu dem einen verpflichtenden Kindergartenjahr und dem Sprachscreening am besten ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr einführen und auch ein breiteres Entwicklungsscreening machen. Denn es geht nicht nur um Sprache, sondern auch um Instruktionsverständnis, Empathie, Regelverständnis, Umgang mit Rückmeldungen oder auch Frustrationstoleranz, also ob ein Kind, wenn etwas nicht klappt, gleich verzweifelt.
Eine weitere schwierige Situation ist der Übergang von der Volksschule in die weiterführende Schule. Die Volksschullehrerin bzw. der Volksschullehrer ist die Person, die mit ihrer Benotung die Entscheidung über den Zugang zum Gymnasium trifft. Von höher gebildeten Eltern wird oft Druck ausgeübt, dass ihr Kind unbedingt ins Gymnasium gehen muss. Nicht jede Lehrerin, jeder Lehrer kann diesem Druck standhalten – und gibt dann bessere Noten, als gerechtfertigt wäre. Die Übergangsentscheidung hängt nur zu 30 Prozent mit den Leistungen der Kinder zusammen und zu 70 Prozent mit dem Wunsch der Eltern.
Diese frühe Entscheidung für einen Schultyp bedingt dann spätere Entscheidungen. Nach der 8. Schulstufe besuchen viel mehr Kinder, die schon in der Unterstufe im Gymnasium waren, eine Schule, die zur Matura führt, als Kinder, die aus der Neuen Mittelschule kommen. Auch das Milieu in einer Schule spielt eine große Rolle. Bei den neuesten Analysen der Standarderhebungen – das sind die ersten Erhebungen in Österreich, an denen alle Kinder teilnehmen – zeigt sich ganz stark, dass nicht nur der eigene sozioökonomische Hintergrund oder ein Migrationshintergrund eine Rolle spielt, sondern auch, wie eine Klasse zusammengesetzt ist. Wenn in einer Klasse viele Kinder sind, die ebenfalls keine gute Ausgangssituation haben, steigt das Risiko für das individuelle Kind deutlich an, die geforderten Leistungen nicht zu erbringen.
Wie könnte man das vermeiden?
Im nächsten Nationalen Bildungsbericht, dessen Mitherausgeberin ich bin, gibt es ein eigenes Kapitel dazu. Danach sollten alle Klassen hinsichtlich des sozioökonomischen und des Migrationshintergrundes der Kinder eine Mischung aufweisen. Davon profitieren alle, da dann auch der Konkurrenzdruck nicht so groß ist. Hilfreich wäre ein Sozialindex, das heißt, dass die Schulen nicht pro Kind einen bestimmten Betrag bekommen, sondern auf den sozioökonomischen Status und den Migrationshintergrund Rücksicht genommen wird, und Schulen, die hier höhere Anteile haben, auch mehr Geld bekommen.
Die Schulen bräuchten auch mehr Autonomie, damit sie das Geld je nach Bedarf für zusätzliche Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder mehr Sprachlehrer und Sprachlehrerinnen oder kleinere Gruppen einsetzen können. Wien ist da übrigens am meisten benachteiligt, weil immer mehr Menschen in die Städte ziehen und deshalb in Wien fast alle Klassen die Höchstzahl an Schülerinnen und Schülern haben und gleichzeitig den höchsten Anteil an Migrantinnen und Migranten.
Hat die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen auch etwas mit dem Bildungssystem zu tun?
Geschlechtsstereotype, also die Zuschreibung von bestimmten Eigenschaften und Verhaltensweisen zu Buben und Männern oder Mädchen und Frauen und die Erwartung, dass sich diese auch so verhalten, sind in unserer Gesellschaft stark verankert. Es wird zum Beispiel angenommen, dass Mädchen eher fleißig sind, aber für gewisse Fächer nicht so begabt, während es heißt, Knaben seien faul, in gewissen Fächern aber begabter. Wenn diese Stereotype immer wieder transportiert werden, führt das dazu, dass sie von den Mädchen und Buben angenommen werden. Das führt dazu, dass die Mädchen meistens bessere Noten haben und „braver“ sind. Auch das gehört zum weiblichen Stereotyp. Als Konsequenz schließen die Mädchen häufiger die Schule positiv ab.
Es gibt viel mehr Knaben, die die Pflichtschule nicht positiv abschließen, dann keinen Lehrplatz finden und arbeitslos sind als junge Frauen. Das hat mit dem männlichen Stereotyp zu tun, denn ein Streber zu sein ist ein Schimpfwort für einen Knaben in der Pubertät. Es ist viel cooler zu sagen, die Schule ist furchtbar, ich lehne sie ab und lerne nichts. Aber dann besteht die Gefahr, arbeitslos zu werden.
Mädchen haben wieder den Nachteil, dass man sie mit gewissen Berufen und Fächern verbindet, die meist weniger anerkannt sind, und das bedeutet meist weniger Einkommen. Nach wie vor wählen Mädchen zu einem hohen Prozentsatz als Lehrberuf Friseurin und Knaben eine technische Lehre. Eine Friseurin verdient viel weniger als jemand in einem technischen Bereich. Eine aktuelle Studie, die wir gemacht haben, hat außerdem gezeigt: Lehrerinnen und Lehrer würden den begabtesten Mädchen empfehlen, Lehrerin zu werden, während sie den begabtesten Knaben empfehlen würden, Techniker zu werden. Techniker verdienen auch mehr als Lehrerinnen.
Machen Lehrerinnen und Lehrer das absichtlich, dass sie Buben und Mädchen anders behandeln?
Nein, überhaupt nicht. Ein großer Teil der Menschen ist sich der Geschlechtsstereotype überhaupt nicht bewusst. Kindern wird auch nach wie vor häufiger ein Spielzeug gekauft, das geschlechtsstereotyp ist: Mädchen bekommen Barbiepuppen, die Knaben Autos. Die Kinder spielen dann natürlich auch eher mit den geschlechtsstereotypen Spielsachen und Eltern spielen mit ihren Kindern auch häufiger mit diesen Spielsachen als mit anderen. Die Kinder freuen sich, wenn die Eltern mit ihnen spielen, daher wird das noch verstärkt. Je älter die Kinder werden, desto mehr verhalten sie sich so, wie die Stereotype es vorhersagen. Damit schließt sich der Kreis.
Was müsste getan werden, um Chancengleichheit zu schaffen?
Das Wichtigste ist der Elementarbereich, denn je früher ich Benachteiligungen ausgleiche, desto weniger Probleme gibt es nachher, und desto weniger Geld muss ich in Relation in die Hand nehmen. Das spart auch Frustrationen, denn wenn man über eine längere Schulkarriere ständig Misserfolgserlebnisse hat, wird man frustriert. Es gibt viele Studien, die klar zeigen, dass der Besuch eines Kindergartens mit hoher Qualität dazu führt, dass die Personen später mehr verdienen, es weniger Delinquenz gibt und so weiter. Der zweite Schritt ist, dass man die Einrichtungen nicht im Gießkannenprinzip mit Finanzen versorgt, sondern in Abhängigkeit von der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft. Das gilt für alle Bildungsinstitutionen.
Wichtig ist auch, dass die Autonomie der Bildungseinrichtungen erhöht wird, damit man schnell und standortspezifisch Maßnahmen setzen kann, um die Kinder bestmöglich zu unterstützen. Man muss auch viel mehr auf Vielfalt achten, auf die Vermeidung von Stereotypen. Das wird mit der neuen Ausbildung für Pädagoginnen und Pädagogen versucht, die jetzt begonnen hat. Aber bis das wirkt, dauert es viele Jahre. Deshalb muss man sofort auch andere Maßnahmen setzen.
Ein ganz kritischer Punkt sind die frühen Schnittstellen im Bildungssystem. Über die muss man sehr gut nachdenken. Ich persönlich bin für die Gesamtschule, aber sie muss gut sein, denn wenn man nur das Schild austauscht und sonst nichts ändert, bringt es nichts. Man muss das sehr gut vorbereiten. Die Schule müsste innen differenziert sein, damit man individuell fördern kann und natürlich auch die fördern kann, die in manchen Bereichen sehr begabt sind. Es geht ja nicht nur darum, Benachteiligungen auszugleichen, sondern darum, jedes einzelne Kind nach seinen Möglichkeiten und Potenzialen zu fördern.
Wir sollten außerdem über ein Bildungsminimum nachdenken, damit jeder Bürger, jede Bürgerin die Möglichkeit hat, sich selbst wirtschaftlich zu erhalten und am kulturellen und politischen Leben teilzunehmen. Die Schulbildung sollte nicht enden, wenn jemand 15 Jahre alt geworden ist, sondern wenn er oder sie das Bildungsminimum erreicht hat. Dafür bräuchte es eine grundlegende Änderung.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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Die Beschleunigung hat die Arbeitswelt voll erfasst. Das subjektive Zeitempfinden der Menschen spiegelt das nicht wider, sehr wohl aber die steigende Anzahl an psychischen Erkrankungen aufgrund von Stress. Im europäischen Vergleich haben österreichische ArbeitnehmerInnen die längsten Wochenarbeitszeiten, dazu kommen Überstunden und All-In-Verträge. Ganze 68,4 Millionen unbezahlte Überstunden haben österreichische ArbeitnehmerInnen im Jahr 2012 geleistet. Auf der anderen Seite arbeiten Teilzeit-Beschäftigte weniger als ihre KollegInnen aus anderen europäischen Ländern.
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]]>Absurde Situation
Die Konsequenz dieser Strategie ist, dass wir uns in einer absurden Situation wiederfinden. Immer mehr Menschen arbeiten an ihrem absoluten persönlichen Limit und darüber hinaus. Mit immer weniger Personal soll ein immer größeres Arbeitsvolumen bewältigt werden. Mehr als 270 Millionen Überstunden wurden allein im Vorjahr in Österreich geleistet. Jede fünfte Überstunde bleibt unbezahlt. Diesem Überstundenwildwuchs stehen aktuell fast 320.000 Menschen gegenüber, die gar keine Arbeit haben. Aber wehe dem, der in dieser Situation auf die Idee kommt, etwas an der Verteilung der Arbeitszeit verändern zu wollen. Der wird von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung sofort ins Retro-Eck gestellt und als Bedrohung für die Wirtschaft bezeichnet.
Gefährdung der Wirtschaft
Dabei ist es retro und eine Gefährdung für die Wirtschaft, wenn man sein Rezept auch dann nicht ändert, wenn es nachweislich keinen Erfolg bringt. Weniger arbeiten und mehr Zeit zum Leben zu haben liegt nicht nur im Interesse der Einzelnen. Auch die Unternehmen profitieren davon, wenn die Beschäftigten nicht ausschließlich am Limit arbeiten, sondern ausgeruht zur Arbeit kommen. Permanenter Leistungsdruck und Stress verhindern Kreativität und zerstören Motivation. Ein solches Arbeitsumfeld schadet auch den Unternehmen massiv und verursacht Folgekosten, die im kurzfristigen Profitdenken nicht mitberücksichtigt werden.
Wir brauchen eine neue faire Verteilung der Arbeitszeit und Arbeitszeitmodelle, die den ArbeitnehmerInnen mehr Zeit zum Leben lassen, Zeit für Familienleben, Regeneration, Sport oder Weiterbildung sowie Teilhabe am politischen und kulturellen Leben. Männer wie Frauen brauchen mehr Zeit, wenn sie kleine Kinder zu Hause haben oder eine/n Angehörige/n pflegen, ebenso wollen sie vielleicht gegen Ende des Berufslebens langsam weniger arbeiten. Dazwischen kann es Phasen geben, wo Beruf und Karriere wichtig sind und sie gerne viel arbeiten. Ausmaß und Lage der Arbeitszeit entsprechend der jeweiligen Lebensphase selbst bestimmen zu können kann enorm viel Druck wegnehmen und ganz wesentlich zur psychischen und physischen Gesundheit beitragen.
Beschäftigungswachstum
Notwendig ist eine Reduktion von Überstunden genauso wie die Verlängerung des Urlaubs und eine generelle Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden. Auf Sabbaticals und Auszeiten muss ein Rechtsanspruch bestehen. Und wir sagen All-in-Verträgen den Kampf an. Wenn es gelingt, ein Drittel der Überstunden – nämlich jene, die regelmäßig anfallen – in mehr Arbeitsplätze umzuwandeln, wären das über 50.000 Vollzeitarbeitsplätze. Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden, also um 10 Prozent, würde ein Beschäftigungswachstum von rund 100.000 neuen Jobs bringen. Die Augen vor solchen Argumenten zu verschließen und nur an den kurzfristigen Profit zu denken ist nicht nur wirtschafts-, sondern auch zukunftsfeindlich – man könnte auch sagen retro.
Verteilung und radikaler Reformismus
Forderungen, deren Umsetzung als nicht realistisch erachtet werden, gelten als radikal. Demnach ist Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) mit seiner Forderung nach einer globalen Vermögenssteuer utopisch oder radikal. Sir Tony Atkinson („Inequality – What can be done?“) wiederum setzt seine Maßnahmen auf nationaler Ebene an, weshalb er als realistischer oder weniger radikal bezeichnet wird. Radikalität bedeutet, eine Problemstellung an der Wurzel zu packen, also Wurzelbehandlung statt Symptombekämpfung zu betreiben.
Demzufolge gilt wohl weder eine globale noch eine nationale Vermögenssteuer als radikal, solange sie die Besitzverhältnisse nicht substanziell ändert, wie Matthias Schnetzer ausführt. Dass sich die Verteilungssituation immer mehr zuspitzt, ist real. Selbst die OECD warnt vor gesellschaftlicher Polarisierung und sozialen Spannungen, weil die unteren 40 Prozent der Einkommensverteilung sukzessive abgehängt werden. Es gilt, klar zu sagen: Eine Steuer auf sehr große Vermögen, die nur einen Teil der Erträge abschöpft, verändert die Vermögensverhältnisse nicht nachhaltig. Eine Steuersenkungspolitik für Spitzeneinkommen löst keinen „Trickle-down-Effekt“ für die unteren Einkommensschichten aus.
Lesen Sie mehr:
http://blog.arbeit-wirtschaft.at/radikaler-reformismus-in-der-wissenschaftlichen-verteilungsdebatte/
Generationengerechtigkeit
Die Aufrufe, das Pensionssystem in Österreich zu reformieren, um es künftig auch finanzieren zu können, gibt es seit Jahren. Der Beitrag von Angelika Gruber zeigt auf, dass der Ruf nach mehr „Generationengerechtigkeit“ mittlerweile ein Standardargument der Politik wie auch der Ökonomie ist, dessen Analyse viel zu kurz greife. In Österreich wird das öffentliche Pensionssystem zum größten Teil über Sozialversicherungsbeiträge finanziert.
Da diese Beiträge als fixer Anteil der Löhne und Gehälter berechnet werden, ist ihr Wachstum für die Dynamik des Beitragsaufkommens entscheidend: je höher das Beschäftigungsniveau, umso höher ist die Zahl der BeitragszahlerInnen; je höher die Entlohnung, umso höher ist das Beitragsvolumen.
Da die Lohnquote in Österreich seit Jahren kontinuierlich sinkt, hat dies einen negativen Effekt auf die Finanzierungsbasis der Altersversorgung – sie wird zunehmend kleiner und gleichzeitig steigt die Zahl der PensionistInnen. Daher ist es notwendig, den eigentlichen Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital anzutasten, so Gruber.
Lesen Sie mehr:
http://blog.arbeit-wirtschaft.at/generationengerechtigkeit/
Fortschritt bedeutet Arbeitszeitverkürzung
Der Trend zu mehr Freizeit erscheint in unserer heutigen Gesellschaft als etwas Neues. Aber bereits Karl Marx und John Maynard Keynes haben diese Idee in ihren Wirtschaftstheorien verfolgt, wie Bernhard Schütz, Ökonom an der Uni Linz, in seinem Beitrag ausführt.
Karl Marx war der Ansicht, dass sich jeder Mensch ganzheitlich verwirklichen kann und die „gesellschaftlich notwendige Arbeit“ so weit wie möglich reduziert werden sollte, damit der Widerspruch zwischen Arbeit und Selbstverwirklichung aufhört.
John Maynard Keynes ging davon aus, dass der technologische Fortschritt es ermöglicht, die Arbeitszeit weitestgehend zu reduzieren, und die Menschen sich in der Freizeit ihrer eigentlichen Bestimmung widmen könnten. So neu erscheint die Debatte um Arbeitszeitverkürzung also nicht.
Allerdings braucht es dafür heute auch eine Verteilungsdebatte, damit die freiwillige Arbeitszeitverkürzung von einem Privileg der wenigen zu einer tatsächlichen Option für alle wird.
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http://blog.arbeit-wirtschaft.at/fortschritt-bedeutet-arbeitszeitverkuerzung-der-ansicht-waren-schon-marx-und-keynes/
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Zentraler Stellenwert
Das Nachwuchsproblem wird auch bei den Gewerkschaften kaum wahrgenommen oder die Suche einfach den Jugendabteilungen überlassen, bei denen jedoch oft selbst die Motivation und Interesse an der Betriebsratsarbeit fehlen oder – sofern diese überhaupt vorhanden sind – schwinden. Dabei hat die Jugendarbeit bei den Gewerkschaften einen zentralen Stellenwert. Denn die Jugendabteilungen versuchen nicht nur, junge Menschen für die Gewerkschaftsarbeit zu begeistern, zu motivieren und somit junge Mitglieder zu gewinnen, sondern sie bilden auch junge GewerkschafterInnen aus und gründen Jugendvertrauensräte. Wenn jedoch nur wenige ihren Weg als BetriebsrätInnen weitergehen, entsteht eine große Lücke – viel Erfahrung und Talent gehen verloren.
Stefan Bartl (GBH), Michael Dedic (GdG-KMSfB), Michael Oppenberger (PRO-GE), Alexander Sollak (GPF) und Georg Steinbock (vida) haben sich im Jahr 2012/2013 diesem herausfordernden Thema gestellt. Im Rahmen ihrer SOZAK-Abschlussarbeit haben sie sich intensiv mit der Nachwuchsförderung in den ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen beschäftigt, mit dem Ziel, die Gewerkschaften mit diesem Problem zu konfrontieren. Gleichzeitig entwickelten sie einen Ratgeber, der BetriebsrätInnen dabei unterstützen soll, vorhandenes Potenzial weiter zu nutzen und einen reibungslosen Übergang vom Jugendvertrauensrat zum Betriebsrat sicherstellen zu können. Sie präsentieren auch mehrere Lösungsansätze, die bereits von Gewerkschaften in die Tat umgesetzt wurden.
Handbuch Mentoring
Kern ihrer Arbeit ist jedoch ein umfangreicher Leitfaden, „Mentoring für Gewerkschaft, Betriebsrat und Personalvertretung“, der Betriebsratskörpern und Gewerkschaften als Unterstützung dienen kann, um das Mentoring korrekt in der eigenen Organisation zu implementieren und umzusetzen. Als Literaturquelle nennen die Autoren ein Frauenförderprogramm der deutschen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie das „GEW-Handbuch Mentoring“. „In einer geschützten, auf persönlichem Austausch basierenden Beziehung soll individuelles Potenzial erkannt, gefördert und umgesetzt werden“, sagen die Autoren in ihrem Ratgeber.
Mentor und Odysseus
Vielleicht hatten auch Sie einen Mentor oder eine Mentorin, der oder die Ihnen Wissen weitergegeben, Sie gefördert und gefordert hat? Ein/e LehrerIn, ein/e ehemaliger Vorgesetzte/r, ein/e AusbildnerIn oder gar einfach nur ein/e Bekannte/r Ihrer Familie? Eine Person, der Sie bis heute dankbar sind, die teilweise dafür verantwortlich ist, wer Sie heute sind und wo Sie heute stehen? Das Wort „Mentor“ selbst stammt – wie sollte es auch sonst sein – aus der griechischen Mythologie, denn Mentor war ein Freund des Odysseus und Lehrer und Erzieher von dessen Sohn Telemach. Seither gilt Mentor als Bezeichnung für die Rolle eines Beraters oder einer Ratgeberin, der oder die eigene Erfahrungen und Wissen an die sogenannten „Mentees“ weitergibt, um diese zu fördern. Sogar während des Mentoring-Prozesses werden neue Erfahrungen, neues Wissen und neue Erkenntnisse gewonnen.
Mentoring ist jedoch nicht nur ausschließlich im beruflichen Bereich möglich, es kann auch im persönlichen Umfeld stattfinden. Für alle Formen von Mentoring-Beziehungen sollte jedoch eines grundlegend sein: Es handelt sich um eine gleichberechtigte Austauschbeziehung, geschlechtsneutral, freiwillig, vertraulich und trotz eventueller Alters- und Erfahrungsunterschiede nicht hierarchisch geprägt, ohne Weisungsbefugnis.
Gemäß den Autoren ist Mentoring eine hervorragende Maßnahme, um den Generationenkonflikten innerhalb der einzelnen Gewerkschaften und Betriebsratskörperschaften entgegenzuwirken. Denn in diesem Rahmen kann geistiges Kapital von GewerkschafterInnen mit Erfahrung an die noch unerfahrenen BetriebsrätInnen und FunktionärInnen weitergegeben werden. „Das gemeinsame Interesse, zu wachsen, ist stärker als die Befürchtung, sich nicht zu verstehen“, sagen sie. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Arten der Personalentwicklung, sei es im Rahmen von Trainings oder Seminaren, handelt es sich beim Mentoring um eine berufsbegleitende Art von Fortbildung, die für alle MitarbeiterInnen eingesetzt werden kann. Das Grundkonzept kann flexibel je nach Bedürfnis und Zielsetzung an die verschiedensten TeilnehmerInnen angepasst werden. Da der Mentee die Inhalte und Ziele selbst bestimmen kann, bleiben mehrere Möglichkeiten der Weiterentwicklung offen, und die Person lernt während des Mentorings nicht nur, zunehmend Verantwortung zu übernehmen und effizient zu arbeiten, sondern kann auch die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen besser entwickeln und entfalten.
Kein Protektionismus
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Mentoring-Beziehungen entstehen können. Einerseits können sie ganz zufällig entstehen, indem der/die Erfahrenere den „Neuling“ unterstützt und fördert. Es gibt aber auch strukturierte Programme, die Mentoring-Beziehungen systematisch bilden können. Letztere haben den Vorteil, dass Beziehungen entstehen, die sonst nie zustande gekommen wären. Diese Programme sind auf einen Zeitraum, meist ein bis eineinhalb Jahre, festgelegt, können jedoch weitergeführt werden. Um zu verhindern, dass Mentoring innerhalb der Organisation mit Protektionismus verwechselt wird, sind diese Programme offiziell und transparent und werden in interne und externe Programme der Organisation integriert.
Bei Erscheinen des Ratgebers konnten die Autoren auf keine Erfahrungswerte mit strukturierten Mentoring-Programmen innerhalb der österreichischen Gewerkschaften zurückgreifen. In Deutschland hingegen konnten einige Gewerkschaften bereits einige Erfahrungen sammeln. Da Frauen in vielen gewerkschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert waren, wurden hauptsächlich Frauen, die in der Gewerkschaft entweder berufstätig oder auf freiwilliger Basis aktiv waren, in verschiedenen Mentoring-Programmen gefördert. So wurden im Mentoring-Programm „VERA“ der Deutschen Postgewerkschaft vor allem junge Gewerkschaftssekretärinnen unterstützt, die innerhalb eines Jahres durch erfahrenere Kolleginnen betreut und gefördert wurden. Nach der Teilnahme übernahmen die ehemaligen Mentees verschiedenste Funktionen, die dem Bundesvorstand von ver.di unterstehen.
Weiterentwicklung
Ein weiteres Programm der deutschen Gewerkschaft Nordbaden wurde bereits im Jahr 2000 umgesetzt. Zielgruppe waren ebenfalls Frauen, die eine Karriere in gewerkschaftlichen Funktionen oder eine berufliche Veränderung anpeilten. Mentorinnen waren Kolleginnen in der Gewerkschaft und Schulleiterinnen, die ganz entsprechend den Zielen der Mentees eingesetzt wurden, sodass diese sich in gewerkschaftlichen und schulischen Funktionen weiterentwickeln konnten.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin maja.nizamov@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Exotisches Land
Buch verabschiedete sich von ihrem LehrerInnenjob in die unbezahlte Karenz: „Ich dachte mir, ich verdiene ohnehin keine Millionen, und ich wollte noch möglichst viel Zeit mit meiner Tante – die zum Glück entgegen der Arztprognose noch lebt – verbringen und auch meine über 95-jährige Oma besser kennenlernen.“ Und auch das österreichische Land kann so manche Überraschung bereithalten. „Das hier ist für mich eine exotischere Erfahrung als mein Auslandsaufenthalt in Barcelona. Hier komme ich mir in gewisser Weise fremder vor: Jeder kennt jeden, und das seit mindestens vier Generationen“, erzählt sie. Raus aus dem beruflichen Laufrad, durchatmen und Perspektiven zurechtrücken können: Sehnsüchte wie diese haben viele ArbeitnehmerInnen. Im Jahr 1998 wurde mit der Bildungskarenz die Möglichkeit geschaffen, immerhin zum Zwecke der Weiterbildung aus dem viel zitierten Hamsterrad im Job auszusteigen. Die Maßnahme erfreut sich großer Beliebtheit. Andere wiederum sehen sie skeptisch: Die Leute gingen auf Weltreise, statt sich weiterzubilden, wird behauptet. Doch so einfach ist das nicht, denn Studierende in Bildungskarenz müssen dem AMS Nachweise über bestandene Prüfungen vorlegen. Andere kritisieren, dass hauptsächlich jene in Bildungskarenz gehen, die ohnehin schon hohe Bildungsabschlüsse haben. Die Bildungskarenz reihe sich damit in die sozial ungerechte Systematik vieler anderer beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen ein, in denen jene zu kurz kommen, die von vornherein eher niedrige Abschlüsse haben.
Der unterstellte Missbrauch der Bildungskarenz für Weltreisen ist Michael Tölle ein Dorn im Auge. Immerhin lässt sich dies weder be- noch widerlegen. „Dazu gibt es keine Daten“, hält der Bildungsexperte der AK fest. „Es wäre jetzt auch schwieriger mit dem strengeren Leistungsnachweis.“ Richtig sei allerdings, dass „anteilsmäßig mehr AkademikerInnen die Bildungskarenz in Anspruch nehmen, als in der Gesamtbevölkerung vertreten sind“.
Um den Zugang zur Weiterbildung weiter zu öffnen, wurde die Teilzeit-Bildungskarenz eingeführt. Diese sollte es WenigverdienerInnen leichter machen, nur einige Stunden pro Woche bis halbtags aus dem Job auszusteigen und die so gewonnene Zeit der Weiterbildung zu widmen. Außerdem wurde im Juli 2013 das Fachkräfte-Stipendium eingeführt, das es Erwachsenen ermöglichen soll, eine Fachkräfte-Ausbildung in Mangelberufen zu machen. Trotz des großen Erfolges wird es ab 2016 allerdings wieder eingestellt.
Unterm Strich bleibt die altbekannte Ungleichbehandlung: Wer bereits ein Studium hinter sich gebracht hat, kommt öfter in den Genuss von Weiterbildungsmöglichkeiten – „das gilt besonders für die betriebliche Weiterbildung“, betont Tölle – bzw. kann leichter per Bildungskarenz aussteigen.
Burn-out-Prävention
AK-Experte Tölle bringt bei allen Vorbehalten einen wichtigen Aspekt ins Spiel: Die Bildungskarenz kann man auch als wichtige Maßnahme zur Burn-out-Prävention ansehen. Auf der anderen Seite wisse auch die Wirtschaft die Bildungskarenz zu ihren Zwecken einzusetzen. Als Beispiel nennt Tölle die vor dem Hintergrund der Krise beschlossene „Bildungskarenz plus“: Unter der Voraussetzung, dass das Unternehmen 50 Prozent der Kosten der Weiterbildung übernimmt, zahlte das Land bzw. das AMS die andere Hälfte der Kosten für den oder die ArbeitnehmerIn. „Das war sozusagen eine Alternative zur Kurzarbeit“, erklärt Tölle. „So haben sie Produktionsrückgänge ausgleichen und am Ende sogar noch weiter gebildete Arbeitskräfte zurücknehmen können.“
Aber warum nehmen hauptsächlich AkademikerInnen diese Möglichkeit in Anspruch? Für Michael Tölle gibt es darauf eine einfache Antwort: „Es gehen eher Leute in Bildungskarenz, die es sich leisten können, eine Zeit lang nur vom Arbeitslosengeld zu leben. Für viele ist Bildungskarenz schlichtweg nicht leistbar.“ Nicht jede/r verfügt über die entsprechenden finanziellen Mittel oder kann einfach einmal so raus aus dem Alltag oder Familienzusammenhang.
Eine Auszeit: Dafür hat sich die freie Journalistin Doris Neubauer nach jahrelanger Vollzeitanstellung in der Kommunikationsabteilung der APA und bei einer NGO entschieden. Finanziert hat sie es durch Erspartes. Zunächst reiste sie nach Australien und in die USA. Nach ihrer Rückkehr hielt es sie nicht lange in Wien, sondern sie fing ein Leben als „digitale Nomadin“ an. „Was ich für meine Arbeit brauche, ist ein Laptop und ein funktionierendes Internet. Ob ich in einem Kaffeehaus in Tansania sitze und per Skype versuche, Interviews zu machen, oder hier, spielt dabei keine Rolle“, sagt sie.
Arbeit und Urlaub auf einmal
In Amerika wurde für dieses Arbeitsmodell der Begriff „Workation“ geprägt, die Verbindung aus Arbeit und Urlaub. „Sogenannte Coworking Camps oder Workation Retreats sprießen anscheinend gerade wie die sprichwörtlichen Schwammerln aus dem Boden, und zwar inmitten herrlicher Landschaften in Gran Canaria, in der Türkei oder auch außerhalb von Berlin oder Paris, um nur einige zu nennen“, sagt Christa Langheiter, die regelmäßig an Interessierte Auszeit-Newsletter mit interessanten Neuigkeiten rund um das Thema verschickt. „An inspirierenden Orten steht Infrastruktur zum Arbeiten zur Verfügung, ebenso wie Menschen zum Austauschen. Und Ruhe, um abzuschalten und sich zu entspannen“, schwärmt die ehemalige ORF-Redakteurin.
Entfremdung
Arbeit als Erfüllung, bei der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, weil das Hobby zum Beruf wurde – und das auch noch um einen Lohn oder ein Gehalt, von dem man nicht nur leben, sondern zwischendurch sogar ausspannen kann: Wer träumt nicht davon? Und ist es nicht genau das Gegenkonzept zur Entfremdung in der Arbeit? Immer öfter ist zu hören, dass das Leben zu kostbar sei, um es mit kraftraubendem Alltagstrott und ungelebten Träumen zu verbringen. Wie groß das Interesse an „Sabbaticals und Auszeiten“ ist, merkt man auch an den zahlreichen Büchern, die dazu erscheinen. Umfragen zufolge würden drei Viertel aller ArbeitnehmerInnen in Österreich und Deutschland gerne eine längere Auszeit vom Job nehmen. Diese Vorstellung eines Lebens jenseits der Entfremdung stößt allerdings auf die Realitäten der Beschleunigung am Arbeitsplatz und die Ansprüche der Wirtschaft.
Vor diesem Hintergrund wirkt es fast anachronistisch, wenn man den Ratschlag hört: „Es hilft, einen Schritt zurückzutreten und einmal in Ruhe darüber nachzudenken, was Zeit eigentlich für uns ist.“ Dennoch hat der Philosoph und Ökonom Karlheinz Geißler recht: „Wann immer wir im Alltag über Zeit reden, sprechen wir letztlich über unser Leben. Wenn wir unzufrieden sind und sagen: ‚Ich habe keine Zeit‘, meinen wir oft ‚Ich habe kein Leben‘“, so Geißler. Er beschäftigt sich seit Langem mit der Frage, wieso wir uns so gehetzt fühlen. „In allen Hochkulturen waren Geduld, Gelassenheit und Langsamkeit ein Zeichen von Würde, Klugheit und Selbstachtung“, erinnert er. Bei manchen Arbeitgebern spricht sich inzwischen herum, dass sie nichts davon haben, ihre MitarbeiterInnen wie Zitronen auszupressen.
Zufriedenheit
Wie es weitergeht, steht für Sonja Buch nicht wirklich fest. Ihren Lebensunterhalt verdient sie derweil mit einem geringfügigen Kellnerjob in der Gastwirtschaft der Tante. In Sachen Lebensstandard musste sie Abstriche machen. Auch wenn sie hinter dem Konzept des einfachen Lebens stehe, vermisse sie natürlich manchmal den Luxus, gesteht sie ein. Derweil aber ist sie zufrieden mit dem, was sie hat: „Ganz ehrlich gesagt ist es mir persönlich momentan wichtiger, mit der Tante Schwammerl suchen zu gehen und der Oma bei der kleinen Landwirtschaft zu helfen, wo die Tiere noch alle einen Namen haben.“
Linktipp
Informationen rund um Bildungsförderungen:
tinyurl.com/o428c8f
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorinnen irene_mayer@hotmail.com und sonja.fercher@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Soziale Spaltung
In Österreich ist heute wie in kaum einem anderen europäischen Land die soziale Herkunft für den Bildungserfolg entscheidend. Der Wirtschaftsprofessor Wilfried Altzinger und seine KollegInnen von der WU Wien zeigten kürzlich in einer Studie, dass 54 Prozent der Kinder, die in Haushalten aufwachsen, in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss aufweist, selbst einen akademischen Titel erreichen. Haben die Eltern hingegen maximal einen Pflichtschulabschluss, schließen nur sechs Prozent der Kinder ein Hochschulstudium ab. Für viele junge Erwachsene aus bildungsfernen und finanziell schwächeren Verhältnissen ist der finanzielle Aufwand der Hauptgrund, auf ein Hochschulstudium an der Universität oder der Fachhochschule zu verzichten. Die monatlichen Lebenshaltungskosten für Studierende in Österreich liegen laut Österreichischem Akademischen Austauschdienst bei durchschnittlich 850 Euro pro Monat. Bei sechs Semestern Regelstudienzeit für ein Bachelorstudium kommen da im Durchschnitt über 30.000 Euro zusammen – für viele Studierende und ihre Familien eine schwere Hürde. Entscheiden sich junge Erwachsene aus „kleinen Verhältnissen“ doch für ein Studium, reicht das Familieneinkommen oft nicht aus, um sie zu unterstützen – und sie müssen arbeiten gehen.
Auch für Sonia Lech ist Geld das größte Problem. Die Tochter einer Kindergärtnerin und eines Bauarbeiters ist die erste in ihrer Familie, die die Hochschule besucht. Lech bezieht Studienbeihilfe und hat zwei Jobs, um sich das Studium zu finanzieren. Die staatliche Studienförderung, die weniger begüterten Studierenden wie ihr zur Absicherung während des Studiums dienen soll, reicht nicht aus, um ihr Studium zu finanzieren. Ein Grund ist, dass in Österreich seit 1999 die Berechnungsgrenzen für die Höhe der Stipendien nicht angepasst wurden. So führen kollektivvertragliche Lohnerhöhungen bei den Eltern beispielsweise zu geringeren Stipendien. Gleichzeitig ist die Studienbeihilfe immer weniger wert, weil auch die Lebenshaltungskosten laufend steigen.
Um die Finanzierung des Studiums zu stemmen, gehen – wie Sonia – mehr als die Hälfte aller Studierenden in Österreich nebenbei arbeiten. Dies trifft laut der letzten Studierenden-Sozialerhebung (2011) gerade zu Beginn des Studiums auf Studierende aus einkommensschwachen Schichten häufiger zu. Des Weiteren belegt die Studie, dass sie im Durchschnitt mehr Stunden arbeiten als ihre besser gestellten StudienkollegInnen – dies allerdings häufiger in Jobs, die mit ihrem Studium nichts zu tun haben.
Angesichts des zeitlichen Drucks, in der vorgegebenen Zeit die nötigen ECTS-Punkte zu sammeln, sind also jene klar im Nachteil, die nebenbei noch jobben müssen. Zum Druck im Studium selbst kommt für sie noch der Druck dazu, sich finanziell über Wasser halten zu müssen. „Die Schwierigkeit liegt dabei darin, den Stundenplan, die Uni und die Arbeit unter einen Hut zu bekommen“, schilderte Sonia vor Kurzem ihre Situation in einer Fernsehreportage. Der ständige Druck und die hohen Anforderungen, ihr Studium in der vorgesehenen Zeit zu schaffen und sich nebenbei größtenteils selbst zu finanzieren, werden zur Belastung. „Dann muss man sich schnell überlegen, ob man nicht doch eher ein Semester länger studiert, um Arbeit und Studium unter einen Hut zu bringen“, erklärt sie. Ihr Beispiel ist kein Einzelfall. Fast die Hälfte der befragten Studierenden in der Studierenden-Sozialerhebung Österreichs berichten über Probleme, Studium und ihre Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, und viele StudienanfängerInnen rechnen bereits im ersten Jahr damit, ihr Studium nicht in der Regelstudiendauer abzuschließen. Nicht zuletzt kann die erhöhte Berufstätigkeit leicht zu einem Verlust der Studienbeihilfe mangels ausreichenden Studienerfolgs führen.
Steigende Anforderungen
Ein weiteres Ziel der Bologna-Reform war die Förderung des internationalen Austausches von Studierenden. Jede/r sollte nach Möglichkeit im Ausland ein Gastsemester absolvieren, um Erfahrungen zu sammeln und später auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben. Aber für viele junge Erwachsene aus einkommensschwachen Familien bedeutet die Internationalisierung des Studiums eine zusätzliche Belastung, die es vor der Reform nicht gab. Oftmals sind die Lebenshaltungskosten im Ausland höher, und es können in manchen Ländern weitere Studiengebühren dazukommen, die von den Auslandszuschüssen kaum vollständig abgedeckt werden können. Wer also nicht über die ausreichenden finanziellen Mittel verfügt, ist klar benachteiligt. Hinzu kommt, dass für das Auslandssemester der Nebenjob aufgegeben werden muss, der für das Einkommen im Alltag notwendig ist. Neben den Auslandserfahrungen erwarten heute viele Unternehmen von ihren potenziellen MitarbeiterInnen zusätzlich, dass sie während des Studiums auch erfolgreich Praktika absolviert haben. Für Studierende mit der entsprechenden finanziellen Unterstützung der Eltern ist diese Anforderung weniger problematisch. Aber die Zeit zu finden, um nebenbei (oftmals unbezahlte) Praktika zu absolvieren, ist für arbeitende Studierende kaum zu schaffen, ohne ihr Studium zwangsläufig ein Semester zu verlängern.
Reduktion der Doppelbelastungen
Die Mehrheit der Bachelor- und Master Studiengänge sind heute als Vollzeitstudiengänge konzipiert. Eine studienbegleitende Berufstätigkeit ist meist nicht vorgesehen. Die durch den Bologna-Prozess verschärften Studienbedingungen haben die Belastungen für Studierende aus finanziell schwächeren Familien und für Berufstätige massiv erhöht. Der Abschluss in der Regelstudiendauer wird fast unmöglich. Zeit für thematische Vertiefungen, Hobbys oder ehrenamtliches Engagement hat nur, wer es sich leisten kann.
Linktipps
Studierenden-Sozialerhebung 2011:
www.sozialerhebung.at/index.php/de/
Eckl & Kastner (2015). Stipendien im Sinkflug:
tinyurl.com/pc74h44
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor philipp.schnell@akwien.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Freie Wahl?
Trotz vorhandener Unstimmigkeit zweifelt kaum jemand noch an der Tatsache, dass Teilzeitbeschäftigung hierzulande boomt und immer mehr an Gewicht gewinnt. Insgesamt stieg die Teilzeitquote im Vergleich zum Vorjahr von 28,2 auf 28,6 Prozent, allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, denn bei den Frauen sind es 48 Prozent, bei den Männern lediglich 11,2 Prozent. Frauen, die in Chefetagen sitzen, und Männer, die wegen der Kinder Teilzeit arbeiten und somit die traditionelle Rollenverteilung aufbrechen, gibt es zwar, sie sind jedoch sehr selten.
Wie Statistiken zeigen, verzichtet in der Regel noch immer die Frau auf die Karriere und kümmert sich um die Familie – so wie die Genetikerin Stefanie W. „Aufgrund fehlender Kinderbildungseinrichtungen und Öffnungszeiten, die eine Vollzeitbeschäftigung nicht ermöglichen, ist es mir leider nur möglich, in Teilzeit zu arbeiten. Im Sommer müssen sogar die Großeltern einspringen“, sagt sie und fügt hinzu, dass sich die Teilzeitbeschäftigung negativ auf das Haushaltseinkommen der Familie auswirkt. Kinderbetreuung und Pflegebetreuung von Angehörigen werden als häufigste Gründe dafür genannt, weshalb die Betroffenen nicht Vollzeit arbeiten. Es gibt aber auch Arbeitnehmerinnen, die Teilzeit aus anderen Gründen wählen, etwa weil sie einfach mehr Freizeit haben wollen. Sandra K. ist 38 Jahre alt und Mutter zweier Kinder. „Mittlerweile sind die Kinder relativ selbstständig, nichtsdestotrotz möchte ich nicht wieder auf Vollzeit umsteigen. Ich genieße meine freie Zeit, wenn ich zu Hause bin“, erzählt die Handelsangestellte.
Luxus oder Problem?
Schaut man sich die Aussagen der beiden Mütter an, ist es schwer, zu beurteilen, ob Teilzeit nun eher Luxus oder Problem ist. In den vergangenen Jahren wurden Tausende Vollzeitjobs durch Teilzeitstellen ersetzt. Auch wenn einerseits der Wunsch bei ArbeitnehmerInnen nach Teilzeit vorhanden ist, ist diese nicht immer gewollt. Viele Teilzeitbeschäftigte können nicht aufstocken, obwohl sie das möchten. In einem sind sich viele ExpertInnen aber einig: Die Arbeitswelt hat sich verändert, Beschäftigte sind immer häufiger Stresssituationen ausgesetzt und vor allem junge Menschen möchten weniger arbeiten. Nicht weil sie faul sind, sondern weil ihnen auch ihre Freizeit wichtig ist. Das zeigt, dass die Zeit definitiv reif ist für neue Ansätze in der Unternehmenskultur.
Halbtagsführung
ÖGB-Frauen und andere Frauenorganisationen kritisieren immer wieder die Tatsache, dass die Wirtschaft nach wie vor fast ausschließlich Vollzeitjobs in Führungspositionen anbietet. Das führt dazu, dass Frauen in der Chefetage total unterrepräsentiert sind, obwohl sie mittlerweile sogar besser ausgebildet sind als Männer. Qualifizierte Teilzeit und geteilte Führungsmodelle, die Frauen wie Männern ein angemessenes Einkommen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen könnten, werden von Unternehmen selten praktiziert. Möglich wäre dies aber, wie die s Bausparkasse zeigt: Schon von Anfang an führte eine weibliche Führungskraft ihr Team in einer der größten Abteilungen in Teilzeit. Ein Hindernis auf dem Weg zu Führungsfunktionen oder Beförderungen ist es nicht. In Zukunft soll die Belegschaft in dieser Hinsicht noch stärker sensibilisiert werden.
Vorteile und Risiken
Auch andere Unternehmen versuchen, Maßnahmen zu setzen, um ArbeitnehmerInnen die richtige Balance zwischen Beruf und Familie zu ermöglichen. Laut eigenen Angaben bietet Microsoft Österreich unterschiedliche Arbeitszeitmodelle an – ganz nach dem Motto: „My office is where I am.“ Durch den Einsatz von innovativen Technologien besteht die Möglichkeit, völlig ortsunabhängig zum Beispiel im Home-Office zu arbeiten. Die Gewerkschaft GPA-djp sieht bei diesem Modell einige Vorteile für die ArbeitnehmerInnen. „Beschäftigte sind freier in der Gestaltung ihrer Arbeitszeit und können daher ihren Arbeitsalltag oft leichter organisieren. Fahrtzeiten und verkehrsbedingte Zeitverluste werden geringer. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann dadurch einfacher werden“, erklärt Eva Angerler aus der Abteilung Arbeit und Technik in der GPA-djp.
Diese Form der Arbeit beinhalte aber Risiken. Um auf der sicheren Seite zu sein, rät die Gewerkschaft, die Rahmenbedingungen für die Telearbeit in einer schriftlichen Vereinbarung zu regeln und nicht zwischen Tür und Angel unverbindlich zu besprechen. Dazu bietet die GPA-djp Musterbetriebsvereinbarungen an. Dort finden sich Bestimmungen darüber, wer welche Arbeitsmittel zur Verfügung stellt bzw. wer die Kosten dafür trägt. Enthalten sind auch Vereinbarungen, wie die betrieblichen Daten einerseits und die Privatsphäre der (Tele-)ArbeitnehmerInnen andererseits geschützt werden und wer für Schäden an den Arbeitsmitteln aufkommt. Wie der IT-Konzern bietet auch der Handelsriese Billa seinen MitarbeiterInnen, von denen knapp 60 Prozent in Teilzeit arbeiten, neben Gleitzeit auch die Möglichkeit von Home-Office. Zusätzlich erfolgt die individuelle Arbeitszeiteinteilung in Absprache mit der Führungskraft, die bei familiären Herausforderungen spontan reagieren kann und soll. Dazu wurde eine eigene Infobroschüre erstellt.
Armutsgefährdung verhindern
Teilzeitarbeit ist in bestimmten Lebensphasen eine wichtige und sinnvolle Alternative zur Vollzeit. Um echte Chancengleichheit am Arbeitsmarkt vorzufinden, darf sich Teilzeit aber in Zukunft nicht weiter negativ auf die Karriere auswirken – und sie darf nicht dazu führen, dass ArbeitnehmerInnen deshalb armutsgefährdet sind. Unternehmen müssen Teilzeitbeschäftigten auch einen Entwicklungsraum bieten und den Arbeitsalltag so organisieren, dass der Austausch im Team trotz Teilzeitarbeit nicht zu kurz kommt.
Kinderbetreuung ausbauen
Damit Frauen, die vor allem von Teilzeit betroffen sind, die freie Wahl haben, sind Maßnahmen wie flächendeckende und leistbare Kinderbildungseinrichtungen notwendig. Denn auch wenn Teilzeit die gewünschte Arbeitszeit ist, ist sie nicht immer umsetzbar. Die Arbeitswelt ist komplexer geworden und verlangt auch von Teilzeitbeschäftigten Flexibilität. „Es ist höchste Zeit, den flächendeckenden Ausbau der Kinderbildungseinrichtungen voranzutreiben“, fordert Anderl. „Alle Eltern, von Wien, Eisenstadt über Linz bis hin zu Bregenz, müssen die gleichen Voraussetzungen vorfinden, um ihrer Beschäftigung nachgehen zu können, ohne sich ständig Gedanken machen zu müssen, wer die Betreuung der Kinder übernimmt. Dazu gehören auch bedarfsorientierte Öffnungszeiten, auch in den Sommermonaten, die das ermöglichen.“
Nachlese
Arbeit&Wirtschaft 09/2013:
„Die doppelte Pfeilspitze aus Simmering“
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin amela.muratovic@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Stressfaktoren
Was sie aber in der Regel nicht hat, ist Geld. Zumindest kein eigenes. Es sei denn, sie hat reich geerbt oder den Lotto-Jackpot geknackt. Anderen Menschen bleibt für die Beschaffung von Geld nur, die eigene Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Das ist grundsätzlich nichts Schlechtes, wenn der Job Spaß macht, anständig bezahlt ist und unter zumutbaren Bedingungen stattfindet. Die Crux daran ist, dass selbst ein solcher Job ganz schön Stress machen kann – wenn zu dieser bezahlten Arbeit auch noch unbezahlte dazukommt. Das ist erst recht dann der Fall, wenn diese nicht in Gestalt vergleichsweise geduldiger Schmutzwäsche oder eines stillen staubigen Bodens daherkommt, sondern als sehr viel nachdrücklichere und aufgeweckte Dreijährige oder als mit den Aufgaben überfordertes Schulkind. Oder aber auf möglicherweise leisere, aber nicht weniger dringliche Art als pflegebedürftige Mutter.
Zauberwort
Dann kommt das Zauberwort der Vereinbarkeit ins Spiel. Und spätestens dann wird es bisweilen richtig schwierig. Denn Pausen sind bei allen Tätigkeiten unerlässlich. Beziehungen machen aber keine Pause. Trotzdem braucht die Beziehungsarbeit sehr wohl Unterbrechungen. Niemand kann 24 Stunden am Tag liebevoll und fürsorglich sein. Wenn diese 24 Stunden außerdem noch gut gefüllt sind mit Erwerbsarbeit, Wegzeiten, Hausarbeit und Alltagsorganisation, kann der Schalter für den Fürsorgemodus auch schon einmal ein wenig klemmen. Vor allem dann, wenn zwischen all diesen Dingen keine Pausen mehr sind, keine Zeit zum Durchschnaufen und auch kein Augenblick, um sich einfach einmal auf sich selbst zu konzentrieren.
Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Marketagent.com ist nur jede oder jeder Siebente der Meinung, dass sich Familie und Beruf (eher) gut miteinander vereinbaren lassen. Andere sehen das noch drastischer. Die beiden Väter und Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing sagen schlicht: „Es ist die Hölle.“ Und der Berliner Soziologe Hans Bertram nennt uns „die überforderte Generation“.
Da ist vielleicht etwas dran, denn in Summe wird ganz schön viel gearbeitet: Erwerbstätige Frauen bringen es insgesamt auf 66 Stunden in der Woche, erwerbstätige Männer liegen mit 64 Stunden nur knapp darunter – Wegzeiten nicht eingerechnet. Die Aufteilung zwischen bezahlt und unbezahlt variiert zwischen den beiden Geschlechtern allerdings beträchtlich. Während Frauen vier von zehn Stunden ohne Bezahlung erbringen, sind es bei Männern nur 2,5. Im Freiwilligenbereich läuft unbezahlte Arbeit für andere oft unter dem Titel „Zeitspende“. Frauen sind in diesem Sinne sogar großzügige Zeitspenderinnen. Zudem zeigen Studien, dass sich Männer im Konfliktfall für die bezahlte Erwerbsarbeit entscheiden, Frauen für die „Familienarbeit“. Der Spagat zwischen den beiden Arbeitswelten ist also noch immer eine weibliche Domäne.
Ausbildung „umsonst“?
Frauen bleiben in der radikalen Variante zwei Möglichkeiten: sich als revolutionäre Hausfrau und Mutter die Zeit für Muße zu verschaffen – allerdings um den Preis, die eigene, oft hervorragende Ausbildung „umsonst“ gemacht zu haben und sich in die wirtschaftliche Abhängigkeit zum Partner zu begeben. Der sollte dabei auch mitspielen, genug verdienen, nicht länger krank oder arbeitslos werden und sich bitte auch nicht trennen. Sonst wird es nämlich auch für diese Frauen ungemütlich. Theoretisch hätten Männer diese Option auch, in der Praxis findet sie aber kaum Anwendung.
Die andere Variante ist, auf Kinder zu verzichten und möglichst auch auf pflegebedürftige Verwandte. Wer sich in keinem der beiden Modelle wiederfindet, dem bleibt nur noch, es – allen Unkenrufen zum Trotz – doch mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu versuchen. Dabei ist es kaum hilfreich, dass nicht nur die Zeit mit immer mehr Aktivitäten gefüllt wird und das Einfach-einmal-Nichtstun zunehmend verschwindet. Noch dazu wird das Tun selbst immer schneller. Dabei kann ein einzelner Bereich nicht losgelöst vom sonstigen Umfeld betrachtet werden. Gesellschaften haben ihre eigene Grundgeschwindigkeit – und die ist in einem modernen, hoch technologisierten Umfeld viel schneller als in einem landwirtschaftlich geprägten Land, wie es Österreich vor nicht allzu langer Zeit war.
Steigender Arbeitsdruck
Vor rund 150 Jahren war Österreich ein Agrarland, in dem 75 Prozent der Bevölkerung dem Bauernstand (Bauern) angehörten; heute sind es magere drei Prozent. Stattdessen sind zwei Drittel der Männer und vier Fünftel der Frauen im Dienstleistungsbereich beschäftigt. Als KundInnen wollen wir dort prompten Service, kurze Reaktionszeiten auf unsere Anfragen und möglichst spontan entscheiden, wann wir einen Service in Anspruch nehmen. Für Beschäftigte bringt das – verknüpft mit immer mehr Aufgaben für immer weniger Personal – steigenden Arbeitsdruck. Das betrifft fast alle Bereiche der bezahlten Arbeit. Unter dem Titel Wettbewerbsfähigkeit sind immer stärkere Rationalisierungen verbunden mit einer Flexibilisierung der Arbeitszeit an der Tagesordnung. Für die Beschäftigten erhöht sich damit die Geschwindigkeit, mit der Tätigkeiten erfüllt werden müssen, immer weiter.
Schnelleres Privatleben
Das beschleunigt auch unser Privatleben, weil es fast unmöglich ist, das Arbeitstempo vor der Wohnungstür abzugeben. Nur wenige beherrschen die Kunst, aus der Taktung, in der sie den ganzen Tag gearbeitet haben, am Abend einfach auszusteigen. Darüber hinaus verändern sich auch die Erwartungen an unbezahlte Arbeit. Die Kriterien der Effizienz, die den Erwerbsalltag beherrschen, sickern so tief ins Bewusstsein, dass sie auch unsere Vorstellungen über unbezahlte Arbeit beeinflussen. Dann gießt auch noch die Technisierung zusätzlich Öl ins Beschleunigungsfeuer, weil zwingende Wartezeiten wegfallen. Stundenlanges Kochen? Fertigprodukte und Mikrowelle machen das nicht mehr notwendig. Warten, bis die Wäsche trocken ist? Der Trockner regelt das zeitlich punktgenau. Dinge, die Entlastung versprochen haben, treiben die Spirale eigentlich noch ein wenig weiter.
Zumeist wollen wir das auch so. Warten ist eine Zumutung. So empfinden wir es jedenfalls. Dass es eine Pause sein kann, können wir kaum noch wahrnehmen. Aber der Stress versickert nicht auf Kommando, wenn es gerade einmal ein paar Sekunden ruhiger wird. Es braucht insgesamt eine Entschleunigung und echte Pausen, aus denen man Erholung schöpfen kann.
Was also tun? Es nützt alles nichts: Die alten Forderungen gelten noch immer. Notwendig ist eine Entlastung von unbezahlter Arbeit – und eine fairere Aufteilung zwischen Frauen und Männern. Also wieder: Ausbau von Elementarbildung und Kinderbetreuung, mobiler und stationärer Pflege und Anreize für partnerschaftliche Teilung von Familienarbeit. Es wird aber auch nicht ohne Entlastung von bezahlter Arbeit gehen, sprich ohne eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit.
Für uns selbst können wir inzwischen über Entschleunigung durch unbezahlte Arbeit nachdenken und uns Dinge ins Leben holen, die einfach Zeit brauchen: Pflanzen im Garten wachsen lassen, richtig kochen ohne Mikrowelle und Fertigprodukte, Wäsche in der Sonne trocknen statt in der Metalltrommel. Zum Greißler spazieren statt mit dem Auto zum Hypermarkt zu stauen. Kleine stille Revolutionen im Alltag. Unter dem Motto: Der Stress hat jetzt Pause.
Blogtipp
http://blog.arbeit-wirtschaft.at/gesucht-frau-mit-kind-in-vollzeit/
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sybille.pirklbauer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Arbeitsstättenverordnung
Abseits der neuen Welt der Arbeit mit Designermöbeln, Desk-sharing und Darkroom gibt es auch einige Unternehmen, die es ganz anders versuchen. Dort machen beispielsweise alle MitarbeiterInnen gleichzeitig Mittagspause und kochen bzw. essen gemeinsam. In manchen Firmen soll das sogenannte Power-napping in speziellen Ruheräumen durchaus möglich sein. Der Bogen in puncto Pausenkultur reicht von Vorzeigeprojekten bis zum spartanischen Sozialraum mit Holzbänken, Neonlicht und Kalenderblättern an der Wand.
Laut Arbeitsstättenverordnung sind Aufenthaltsräume dann zur Verfügung zu stellen, wenn regelmäßig gleichzeitig mehr als zwölf ArbeitnehmerInnen anwesend sind, die nicht den überwiegenden Teil ihrer Arbeitszeit an auswärtigen Arbeitsstellen oder Baustellen verbringen. Unabhängig von der Anzahl der Beschäftigten sind – sofern kein anderer Raum zur Erholung oder zum Essen vorhanden ist – Aufenthaltsräume zur Verfügung zu stellen:
• für ArbeitnehmerInnen, die mehr als zwei Stunden pro Tag im Freien beschäftigt werden;
• für ArbeitnehmerInnen, die in Arbeitsräumen beschäftigt werden, die nicht zur Erholung oder zur Einnahme von Mahlzeiten während der Arbeitspausen geeignet sind (z. B. wegen Lärm, Erschütterungen, üblen Gerüchen, Schmutz, Staub, Hitze, Kälte, Nässe oder gefährlichen Arbeitsstoffen).
Die Verordnung legt außerdem ziemlich genau fest, wie diese Aufenthaltsräume hinsichtlich Größe, Helligkeit, Temperatur oder Luftqualität beschaffen sein sollten. Im Übrigen gelten für Bereitschaftsräume ähnliche Vorschriften.
Verbesserungsbedarf
Während es in größeren Unternehmen und Organisationen zum Teil sowohl eine Kantine als auch eine Teeküche bzw. einen Pausenraum gibt, ist die Situation in manchen Branchen und Betrieben durchaus verbesserungswürdig. In vielen Einkaufszentren gibt es keine Pausen- oder Aufenthaltsräume für die Angestellten. Die Center-Restaurants stellen keinen gleichwertigen Ersatz dar. „Vor allem bei Tätigkeiten mit Kundenkontakt sind Zeiten, wo man sich zurückziehen kann und seine Ruhe hat, der ständigen Musikberieselung entfliehen kann, unentbehrlich“, so Psychotherapeutin Rotraud Perner. „Es mag sein, dass einem die Ruhe ungewohnt vorkommt. Aber das ist ähnlich wie bei Entzugserscheinungen: Nicht alles, was man vermisst, ist auch gesund.“
„Beschäftigte, die viel unterwegs sind, wie AußendienstmitarbeiterInnen oder etwa MitarbeiterInnen bei mobilen Pflegediensten, haben häufig weder die Zeit noch die Gelegenheit, in Ruhe Pause zu machen und sich eine halbe Stunde zu entspannen“, berichtet Isabel Koberwein, Arbeitszeit-Expertin der GPA-djp. „Das führt nicht nur zu erhöhten Stressbelastungen bei diesen Berufsgruppen. Es ist auch deshalb ungesund, weil die Möglichkeit, sich ausgewogen zu ernähren, deutlich eingeschränkt ist.“
Aber selbst wenn ein gut ausgestatteter Pausenraum vorhanden ist, gibt es Gründe, diesen nicht zu nutzen. Denn gar nicht so wenige ArbeitnehmerInnen finden wegen erhöhten Arbeitsanfalls oder starken Kundenandrangs keine Zeit für eine längere Pause. Laut IFES-Umfrage hält rund ein Viertel der Beschäftigten höchstens gelegentlich die Pausenzeiten ein. Oft muss dann ein schneller Snack direkt am Arbeitsplatz reichen. Diese Art der „Pausenabstinenz“ geschieht übrigens meist aus Pflichtbewusstsein und nur selten auf Anordnung von Vorgesetzten.
In größeren Gebäudekomplexen sind manchmal die Wege zu den Pausenräumen relativ lang, sodass die Räumlichkeiten nicht ausreichend genutzt werden. „Da kann der Pausenraum noch so gut gestaltet sein: Wenn man für Hin- und Rückweg insgesamt 10 von 30 Minuten einkalkulieren muss, dann wird die Pause eben anderswo verbracht oder überhaupt verkürzt“, weiß Isabel Koberwein.
Optimal ausgestattet
Besonders in modernen, offenen Bürolandschaften sind Rückzugsmöglichkeiten, die tatsächlich Abstand von Stress und Hektik bieten können, essenziell. Neben Basics wie Sitzgelegenheiten, Kaffeemaschine oder Mikrowelle gibt es viele Möglichkeiten, Sozialräume ansprechend und den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. So kann man Gelegenheiten zur Verfügung stellen, um Smartphones aufzuladen, WLAN anbieten sowie Tageszeitungen und Fachzeitschriften auflegen. Eine gut sichtbare Uhr sorgt dafür, dass trotz ansprechendem Ambiente nicht auf die Zeit vergessen wird. Auch eine angenehme Farbgestaltung kann viel ausmachen: Geschmäcker sind zwar verschieden, aber trotzdem müssen nicht immer Grau, Schwarz und Beige dominieren. Ein Nonplusultra an Entspannung bieten Massagesesseln oder -auflagen. Auch die Ausstattung eines Raums mit Holz hat positive Wirkungen auf die Gesundheit. In einer Pilotstudie des Instituts für Nichtinvasive Diagnostik am Forschungszentrum Joanneum stellte sich heraus, dass durch Holz der Stresslevel sinkt und damit auch der Puls (minus sechs Schläge pro Minute).
Großzügige Begrünung
Pflanzen verbessern nicht nur die Luftqualität, mehrere Untersuchungen haben ergeben, dass sich Menschen in „grüner“ Umgebung wohler fühlen und produktiver sind. Wo Ficus, Fensterblatt, Grünlilie und Co direkt am Arbeitsplatz nicht möglich sind (etwa in Produktionsbetrieben), wäre die großzügige Begrünung des Pausenraums daher besonders empfehlenswert.
BetriebsrätInnen haben ein Mitspracherecht bei der Gestaltung von Pausen- und Bereitschaftsräumen. Das gilt nicht nur für Neubauten und Adaptierungen. Wer hier für die KollegInnen etwas verbessern möchte, wird durch eine (anonyme) Umfrage nach Wünschen für den optimalen Pausenraum sicher einige Anregungen bekommen. Denn was nützt der teuerste Kaffee-Vollautomat, wenn die meisten Beschäftigten womöglich lieber Tee trinken? Anschaffungen, die an den Bedürfnissen der Mitarbeitenden vorbeigehen, kommen teuer und sorgen unter Umständen sogar für Unmut, weil sich manche dadurch vielleicht übergangen fühlen.
„Dafür haben wir jetzt nicht die Mittel“ ist ein häufiges Argument gegen Veränderungen. Horst Stöbich, Betriebsrat in Oberösterreich, hat sich gemeinsam mit seinen KollegInnen erfolgreich für den Erhalt des Team-Pausenraums in einem Wohnheim für mehrfach behinderte Menschen eingesetzt. Der liebevoll eingerichtete Raum sollte dem Büro des neuen Wohnheimleiters weichen und in den Keller verlegt werden. „Wie überall im Sozialbereich ist auch bei uns das Geld knapp und größere Investitionen waren im Budget nicht eingeplant. Aber letztendlich haben wir erreicht, dass durch einen Holzanbau über einer ungenützten, renovierungsbedürftigen Terrasse zusätzlich Raum geschaffen wurde und unser Pausenraum erhalten geblieben ist.“ Horst Stöbich (ARCUS Sozialnetzwerk) erhielt 2011 den ersten Preis beim GPA-djp-Fotowettwerb „Mein Pausen(t)raum“.
Linktipps
Arbeitsstättenverordnung:
www.arbeitsinspektion.gv.at/astv/astv.htm
Praxisbeispiel für optimale Pausenraumgestaltung:
tinyurl.com/odobybl
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin office@astrid-fadler.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Schlechter Ruf
„Unsere Branche hat einen schlechten Ruf“, weiß Berend Tusch, Vorsitzender des Fachbereichs Tourismus in der Gewerkschaft vida. Er kennt die schwierigen Arbeitsbedingungen, die oftmals dem Anspruch Österreichs als Qualitätstourismusland – und den dafür verlangten Preisen – diametral entgegenstehen. Neben schlechten Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen ist ein Job in der Gastronomiebranche obendrein ein Freizeit- und Familienkiller. Dienste wie freie Tage werden von manchen Chefs willkürlich festgelegt und wieder verschoben – eine Absprache mit den MitarbeiterInnen findet kaum statt.
„Unter den Betrieben gibt es schwarze Schafe, die das schnelle Geld wittern, aber nicht an die Zukunft denken“, kritisiert Gewerkschafter Berend Tusch. Bei manchen Unternehmen ist die Ausbeutung von Personal bereits System. Gerne werden Menschen eingestellt, die von Personalbereitstellungsfirmen an die Unternehmen verwiesen werden. Viele von ihnen sind ArbeitnehmerInnen aus dem osteuropäischen Raum. Sie sind bereit, Extremes zu leisten, nur selten hinterfragen sie, was ihnen tatsächlich zusteht. Besonders trifft es etwa Frauen in der Zimmerreinigung. „Durch die Personaldienstleister trägt das Hotel kein Risiko. Es ist egal, ob jemand krank oder schwanger ist oder sonst etwas nicht passt – die betreffende Mitarbeiterin wird einfach wieder zurückgeschickt“, ärgert sich Tusch. Sehr ähnlich verhält es sich in den Hotelküchen und mit dem Frühstücksservice-Personal. Auch hier werden die ArbeitnehmerInnen von Firmen bereitgestellt.
Ein Viersternehotel nahe der Innenstadt verlangt stolze Preise, lässt aber zugleich Küchen-, Servier- und Reinigungskräfte billig schuften. Bewusstes Hotel hat einige Standorte in Österreich und auch im Ausland. Hotel- und Gastronomiebetriebe können Beschäftigte punktgenau nach ihrer Belegung einsetzen – wer nur im Bereitschaftsdienst ist, hat es auch deshalb schwer. Zu Recht ist die Gastronomie als sogenannte Fluchtbranche bekannt. Ein Großteil der ArbeitnehmerInnen nutzt sie als Übergang und versucht, so schnell wie möglich in anderen Branchen unterzukommen. Derzeit gilt: In der Branche ist ein hoher Anteil an Hilfskräften beschäftigt.
Der Vorsitzende des Fachbereichs Tourismus will jedoch den Ruf der Gastronomie und Hotellerie entscheidend verbessern. „Über kurz oder lang hilft nur eine bessere Ausbildung, ordentliche Bezahlung und Wertschätzung“, ist Tusch überzeugt. Nur durch Loyalität können MitarbeiterInnen länger in dieser Branche gehalten werden. Kein einseitiges Ausnutzen, sondern eine Balance von Geben und Nehmen müsse verankert werden. Das Personal in der Gastronomie und Hotellerie agiert äußert flexibel, dasselbe wäre auch von den jeweiligen Unternehmen zu erwarten, meint Tusch: „Wenn man einen überdurchschnittlichen Einsatz erwartet, dann muss es auch eine entsprechende Abgeltung geben. Es muss nicht unbedingt Geld sein, die Leistung könnte auch in Freizeit abgegolten werden.“
Alternative
Anstelle des Garantielohnsystems, das zu einem großen Teil vom Nettoumsatz abhängig ist, fordert die vida schon lange das Festlohnsystem. Nun ist es endlich in Kraft getreten. „Das Festlohnsystem garantiert den Beschäftigten einen höheren Grundlohn. Sie sind nicht länger vom Umsatz abhängig, der mit dem Verkauf von Speisen und Getränken erzielt wird – und damit auch nicht mehr von Gegebenheiten wie dem Wetter.“ Die grundlegende Veränderung für die MitarbeiterInnen lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Sicherheit. Denn endlich wissen sie zu Beginn des Monats, womit sie am Monatsende rechnen können. Zudem bedeutet das Festlohnsystem ein planbares Urlaubsgeld, finanzielles Überleben während eines Krankenstandes und auch einen Fixbetrag für die Pensionskasse. Ein weiterer Nachteil des bisherigen Garantielohnsystems: Es ist für Firmen mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden – die Einstufung der MitarbeiterInnen war teilweise kaum nachvollziehbar.
Überholte Hierarchien
Auch im Kollektivvertrag wurden die Beschäftigungsgruppen neu definiert. Schließlich hat sich in den vergangenen Jahren auch die Arbeitsaufteilung stark verändert. „Klassische Hierarchien, wo es einen Oberkellner gibt, der nur für das Kassieren zuständig ist, und Zuträger und Abservierer im Dienst sind, gibt es kaum mehr“, so Tusch. Heute gibt es vor allem gleichrangige ServicemitarbeiterInnen. Ebenso haben sich die Rollen in der Hotellerie verändert. Frühstück wird nicht mehr serviert, sondern die Gäste bedienen sich selbst. Berend Tusch: „Dafür werden allerdings weniger qualifizierte Kräfte gebraucht.“ Die Neuerung im Kollektivvertrag sieht vor, dass es nun fünf Beschäftigungsgruppen gibt, die allein durch ihre Tätigkeit und nicht durch ihre Bezeichnung definiert sind. Fachkräfte werden im Kollektivvertrag deutlich von Hilfskräften unterschieden.
Der neue Festlohn gilt immerhin bereits in den Bundesländern Wien, Niederösterreich und seit Kurzem auch wahlweise in der Steiermark. Die anderen Bundesländer, allen voran die Tourismushochburgen wie Salzburg, Kärnten, Tirol und Vorarlberg, fehlen noch. Ein Grund dafür ist die unterschiedliche Bezahlung. Die Kollektivverträge haben bisher auf bundesländerspezifische Eigenheiten Rücksicht genommen. Etwa, dass der Westen sehr von der Sommer- und Winter-Tourismus-Saison abhängig ist. „Die Bundesländer müssen langsam angeglichen werden“, führt Tusch aus. Kurios ist auch die Situation am Semmering. Wer dort auf der steirischen Seite mit dem Kellnern anfängt, verdient 1.400 Euro brutto. Wird der Dienst auf der niederösterreichischen Seite ausgeübt, starten Betroffene hingegen mit einem Gehalt von 1.620 Euro brutto.
Ebenfalls geändert wurde der Durchrechnungszeitraum, für Vollzeitkräfte wurde er von 13 auf 26 Wochen erhöht. Darüber hinausgehende Überstunden müssen finanziell abgegolten werden, auch ist ein Zeitausgleich nur innerhalb eines Durchrechnungszeitraumes möglich. Es bleibt Unternehmern weiterhin überlassen, ob sie ihre MitarbeiterInnen am Umsatz beteiligen, doch die untersten Lohngruppen sind nunmehr abgesichert. „Das ist uns ganz wichtig“, sagt Tusch. Bis 2018 soll der Mindestlohn von derzeitig 1.400 Euro auf 1.500 Euro erhöht werden.
Alltäglicher Stress
Trotz allem ist es nicht leicht, in dieser Branche zu arbeiten. Stress ist alltäglich, gleichzeitig ist es besonders wichtig, freundlich zu den Gäste zu sein. Das kann auf Dauer schwierig werden. „Wir brauchen mehr Nachhaltigkeit“, ist sich Tusch sicher und fordert die Betriebe auf, mehr Beschäftigte einzustellen. Die Weltwirtschaftskrise hat die Gastronomie empfindlich getroffen – aus einem Übergangszustand, als zahlreiche Unternehmen in Bedrängnis waren und von ihrem Personal durch finanziellen Verzicht unterstützt wurden, ist eine Dauerlösung geworden.
Einerseits gibt es im Tourismus mittlerweile Nächtigungsrekorde und Österreichs Stellenwert als Tourismusland ist weltweit hoch – die Arbeitsbedingungen aber haben sich dem ganz und gar nicht angepasst. „Was vor der Krise zwei bis drei Menschen erledigt haben, das macht jetzt einer“, erklärt der Vorsitzende des Fachbereichs Tourismus. Vergessen werde gerne, dass Gäste vor allem Aufmerksamkeit benötigen. Gut betreute Menschen, perfekter Gastgeber mit Charme – diese Arbeit ist in Zeiteinheiten schwierig zu definieren.
Unternehmen versuchen allerdings, die aufgewendete Betreuungszeit zu begrenzen – einerlei, ob im Hotel-Check-in oder bei der Kommunikation mit Gästen. „Wir sind aber kein Produktionsgewerbe, wo Maschinen auf- und abgedreht werden. Bei uns im Tourismus zählt die zwischenmenschliche Ebene – und die nimmt nun einmal mehr und einmal weniger Zeit in Anspruch. Das kann nicht einfach durch eine Kalkulation berechnet werden.“
Linktipp
vida-Umfrage:
tinyurl.com/ojn83q2
Schreiben Sie Ihre Meinung an die AutorInnen resei@gmx.de und sophia.fielhauer@chello.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Flexibilisierung für wen?
Die Flexibilisierung hat zwar, etwa in Form der Gleitzeit, auch positive Auswirkungen für ArbeitnehmerInnen, gleichzeitig aber hat sie nicht selten für noch mehr (unbezahlte) Überstunden gesorgt. Zum Teil unterscheidet sich die gelebte Praxis doch ziemlich von der Theorie. Denn selbst bei Unternehmen mit flexiblen Arbeitszeitmodellen haben 10 bis 15 Prozent der einfachen und qualifizierten Angestellten nie die Möglichkeit, den Arbeitsbeginn zu variieren, wie sich im Zuge einer Studie der Uni Graz zeigte.
Flexibilisierung führt also nicht automatisch zur Individualisierung der Arbeitszeit. Wie weit Beschäftigte ihre Arbeitszeiten tatsächlich mitgestalten können, scheint sehr von den alltäglichen Erfordernissen bzw. von den Vorgesetzten abzuhängen. Auch bei Unternehmen mit fixen Arbeitszeitmodellen geben mehr als drei Viertel an, dass es zumindest in Ausnahmefällen bzw. nach Absprache für die Beschäftigten möglich ist, den Arbeitsbeginn zu variieren.
Ob Kinderbetreuung, Pflege, Weiterbildung, Fernweh oder einfach das Bedürfnis nach Erholung – viele Beschäftigte wünschen sich eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. (Frei-)Zeit gilt längst als wertvolles Gut. „Kein Geld der Welt kann Freizeit aufwiegen“: Dieser Meinung sind 39 Prozent der ArbeitnehmerInnen laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage von karriere.at. Fast genauso viele (36 Prozent) finden, dass Urlaubstage ein optimaler Benefit sind – wenn die Bezahlung ansonsten in Ordnung ist. Nur 15 Prozent der Befragten tendieren eher zu Geld als Extra-Leistung des Unternehmens, schränken aber ein, dass sich die dafür nötigen Überstunden im Rahmen halten müssen.
Derzeit werden hauptsächlich fünf verschiedene, (eher) an den Bedürfnissen der Beschäftigten orientierte Modelle zur flexibleren Gestaltung von (Lebens-)Arbeitszeit praktiziert. Eines davon ist die Solidaritätsprämie: Wenn ein/e Beschäftigte/r die Arbeitszeit reduzieren möchte, dann fördert das AMS die Einstellung einer zusätzlichen Arbeitskraft im Ausmaß der Reduktion. Möglich ist eine Reduzierung um bis zu 50 Prozent, wobei sich das Gehalt nur um die halbe Stundendifferenz verringert. Das AMS finanziert die „Überzahlung“ der zeitreduzierten Arbeitskraft inklusive dafür anfallender Lohnnebenkosten. Laufzeit: zwei Jahre, ist die Ersatzarbeitskraft älter als 45, sind es drei Jahre.
Freizeitoption
Eine andere Variante ist die Freizeitoption: Die seit 2013 in einigen Branchen-Kollektivverträgen ausgehandelte Möglichkeit, statt mehr Einkommen mehr Freizeit zu bekommen, ist bei Jung und Alt gut angekommen. Insgesamt hat jede/r zehnte Beschäftigte diese Möglichkeit gewählt. Die meisten haben die neue Freizeit angespart und noch nicht verbraucht. Rund die Hälfte wollen diese für die Pension aufheben. Leider hat die Arbeitgeber-Seite darauf bestanden, dass die Option nur einmal je ArbeitnehmerIn in Anspruch genommen werden kann.
Vor allem MitarbeiterInnen im öffentlichen Dienst können ein Sabbatical in Anspruch nehmen. Sie können eine sechs und zwölf Monate dauernde Auszeit vom Berufsleben in Anspruch nehmen. ArbeitnehmerInnen haben keinen Rechtsanspruch darauf, einige Unternehmen geben ihren MitarbeiterInnen diese Möglichkeit allerdings. Im Gegensatz zum Erholungsurlaub wird das Sabbatical nicht bezahlt, vielmehr werden die Bezüge innerhalb einer bestimmten Zeit gekürzt. Beispielsweise kann man die Bezüge über einen Zeitraum von fünf Jahren auf 80 Prozent des regulären Einkommens reduzieren, verbunden mit einer einjährigen Freistellung vom Dienst. Eine Rückkehr an den ursprünglichen Arbeitsplatz ist nach Ende des Sabbaticals vorgesehen.
Neuer Schwung und neues Wissen
Immer größerer Verbreitung erfreuen sich Bildungskarenz und Bildungsteilzeit. Von dieser Möglichkeit machten etwa 2011 jeden Monat durchschnittlich 4.700 Personen Gebrauch. Die Dauer der Bildungskarenz kann zwischen zwei Monaten und einem Jahr betragen, Bildungsteilzeit dauert mindestens zwei Monate bis maximal zwei Jahre. Das Entgelt während dieser Zeit entspricht der Höhe des fiktiven Arbeitslosengeldes. Längere Auszeiten haben theoretisch den Vorteil, dass die ArbeitnehmerInnen danach mit neuem Schwung bzw. neuem Wissen zurückkehren.
Wenn Sabbatical oder Bildungskarenz allerdings in Wahrheit eine Art Flucht vor einem ungeliebten Job oder vor Burn-out darstellen, dann bleiben die positiven Effekte sowohl für die Betroffenen als auch für die Arbeitgeber mit hoher Wahrscheinlichkeit nur äußerst gering. Gut für die Work-Family-Balance sowie die Arbeitszufriedenheit sind Arbeitszeitkonten, zum Beispiel in Form von Gleitzeit mit Überstundenpauschale – bei bis zu zehn Überstunden pro Monat. Wichtig ist dabei, dass Beschäftigte über die Gestaltung der Arbeitszeit weitgehend selbst bestimmen können sowie zusätzliche Überstunden nur selten nötig sind und entsprechend bezahlt werden. Lebensarbeitszeitkonten, die ähnlich zentral verwaltet werden wie die Abfertigung, sind in Deutschland zum Teil bereits Realität. Seit 2009 werden die Konten nicht mehr in Stunden abgerechnet, sondern in Euro – inklusive Verzinsung.
Viele ArbeitnehmerInnen quer durch alle Branchen und Altersklassen wünschen sich eine flexible Arbeitszeitgestaltung, die sich nicht wie bisher hauptsächlich nach den Vorgaben der Unternehmen orientiert. Die Umfrage „Arbeitszeit 4.0“ von work@professional, an der mehr als 2.600 Fach- und Führungskräfte teilnahmen, ergab: 60 Prozent der Befragten wünschen sich differenzierte Lebensabschnittsarbeitszeiten, mit denen es möglich ist, die Arbeitszeit individuell an veränderte Lebenssituationen (Kinderbetreuungspflichten, Weiterbildung, soziale Aktivitäten etc.) anzupassen.
Generation Z
Laut Trend- und Jugendforschung können sich die ab 1995 Geborenen besser gegen vermehrten Druck und das Eindringen der Arbeitswelt in das Privatleben abgrenzen. Im Vordergrund stehe die persönliche Einkommens- und Lebenslustmaximierung. Hart gearbeitet wird nur phasenweise und kurzfristig im Falle spannender Projekte. Für Sascha Ernszt klingt das allzu realitätsfremd und abgehoben: „Schön wär’s. Tatsächlich sind etwa Lehrlinge deutlich unter Druck, wenn sie wie beispielsweise bei Siemens schon am Anfang hören, dass nicht alle übernommen werden können.“ Der Druck wird von oben nach unten weitergegeben. Auch der Trend zu befristeten Jobs und Projektarbeiten sorge für Unsicherheit. „Reinhackeln bis zum Umfallen“ lautet dann für manche die Devise. „Sobald eine oder einer damit beginnt, am Freitag länger zu arbeiten, haben die meisten anderen das Gefühl, dass sie mitziehen müssen.“ An die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Stress, der auch nach Arbeitsschluss nicht ganz aufhört, weil berufliche Mails per Handy abgerufen und beantwortet werden, denken junge Menschen noch nicht.
Linktipps
Flexible Arbeitszeitmodelle in österreichischen Industriebetrieben, Diplomarbeit Heidemarie Buchinger, Kurzfassung unter
tinyurl.com/nk64vf6
GPA-djp: Arbeitszeit 4.0
tinyurl.com/ntgdc57
Arbeitszeitgesellschaft:
arbeitszeitgesellschaft.wildapricot.org
Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP):
www.zeitpolitik.de
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin office@astrid-fadler.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Kulturgut Sonntag
Takt und Rhythmus prägen die Natur (Tages-, Jahreszeiten), aber auch Kultur. „Feier- und Festtage sind schützenswerte Zeitarten, die immer stärker gefährdet sind“, meint Margit Schäfer vom Verein zur Verzögerung der Zeit. Der Sonntag ist ein letzter Rest vormoderner allgemeinen Feierkultur, weitgehend abgelöst durch eine individualisierte Freizeitkultur, vielleicht abgesehen vom Tatort-Krimi, der für viele fast ein Sonntagabendritual ist. Menschen brauchen Rituale. Der Sonntag hat viele hervorgebracht: Sonntagskleidung, -braten oder -spaziergang. Der Sonntagsspaziergang ist ein beliebtes Sujet der bildenden Kunst. Einprägsam karikiert Carl Spitzweg den Sonntagsspaziergang als Inszenierung bürgerlicher Familienidylle, die Kommunikationsarmut und männliche Dominanz zum Vorschein bringt. Der Kern bleibt positiv, nicht umsonst gibt es die Redewendung „dass etwas kein Sonntagsspaziergang gewesen ist“, um eine mühsame Angelegenheit zu beschreiben.
Sonntagsneurose
Doppelgesichtiger Sonntag: ein arbeitsfreier Feiertag, der zugleich andere Zwänge sichtbar macht. Der austro-ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi spricht von Sonntagsneurosen. 1919 beschreibt er in einem Aufsatz die sonntäglich wiederkehrenden Kopf- und Bauchschmerzen Jugendlicher, für die es keinen erkennbaren körperlichen Grund gibt. Befreit von den Fesseln, die uns Pflichten und Zwang auferlegen, mobilisiere diese innerliche Befreiung „Selbstbestrafungsfantasien“, die sich mit diesen Symptomen äußern. Der Neurologe Viktor E. Frankl erklärt die Sonntagsneurosen als mangelnde Sinnerfahrung, die Menschen an arbeitsfreien Tagen erfahren, indem sie in eine Art existenzielles Vakuum kippen.
„Wenn es nur einen Wert in meinem Leben gibt und ich mich neurotisch in meine Arbeit stürze als eine Flucht, dann ist der Entzug schmerzhaft“, so Harald Pichler vom Viktor Frankl Zentrum Wien. Nach 15 Jahren Managementerfahrung berät er heute Unternehmen, um Sinnfragen in die Firmenorganisation zu integrieren. Arbeitsfreie Zeit macht nicht alle Menschen glücklich. Überraschend ist, dass gerade Hochqualifizierte darunter leiden. Eine empirische Studie der Hamburger Wirtschaftswissenschafter Wolfgang Maennig und Malte Steenbeck wertete das Glücksverhalten von 34.000 Personen in einem Zeitraum von sechs Jahren aus. Bei Männern wie Frauen mit akademischer Ausbildung sinkt die Zufriedenheitsskala am Sonntag auf 7 ab, steigt am Montag – als glücklichster Tag der Woche – auf 7,2 an (Skalenwert 10 steht für sehr zufrieden). Der allgemeine Zufriedenheitswert liegt mit 6,8 bei wenig Qualifizierten deutlich darunter, rutscht aber sonntags kaum ab. Frauen aus dieser Gruppe sind mit 6,7 Punkten am Wochenende am unglücklichsten.
Krankmacher Sonntagsarbeit?
Ob Sonntagsneurose, -krankheit, -depression oder Sonntagabendsinnkrise: Auch wenn an diesem Tag gelitten und gestritten wird – arbeiten sollte man besser nicht. Das deutsche Bundesamt für Arbeitsschutz und -medizin ließ eine Studie über die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen langer Arbeitszeiten erstellen, rund 50.000 Menschen nahmen daran teil. Das Ergebnis: Sonntags- und Wochenendarbeit stellen einen zusätzlichen Belastungsfaktor für psychisch-vegetative Beeinträchtigungen dar, auch die negativen Folgen für das Sozialleben sind erheblich, so die Studienautorin Anna Wirtz. Maßgeblich ist aber die wöchentliche Gesamtarbeitszeit und mangelnde Planbarkeit. Denn allein an dem Tag kann es nicht liegen. In Gastgewerbe, Tourismus, Unterhaltungsindustrie, Gesundheitswesen, öffentlichem Verkehr ist sie selbstverständlich. „Arbeit am Sonntag kann nicht grundsätzlich schädigend sein. Sonst wäre ja jeder Landwirt im Burn-out. Wichtig sind Selbstbestimmtheit und Sinnorientierung in der Arbeit“, stellt Pichler fest. Geht es bei Sonntagsarbeit also vorrangig um die autonome Entscheidungsmöglichkeit? In Österreich gilt für Vollzeitbeschäftigte, die am Sonntag arbeiten, ein Ersatzruhetag unter der Woche. Warum gleicht diese individuelle Regelung die Bedeutsamkeit eines allgemein arbeitsfreien Sonntags nicht aus?
Sozialtag und Tag für Ehrenamt
„Die Gesellschaft braucht synchronisierte Freizeit“, betont Franz Georg Brantner, Sprecher der „Allianz für einen freien Sonntag“ und GPA-djp-Regionalvorsitzender von Wien. Seit 2002 setzt sich die Allianz für die sozialen wie religiösen Anliegen dieses arbeitsfreien Tages ein, mit wachsender Zahl europäischer BündnispartnerInnen. Der Sonntag als Tag geistiger Erbauung und der Beziehung: Bei zunehmend flexibler Arbeitszeitgestaltung, wo Freizeit und Begegnung auch organisiert sein wollen (und somit selbst zur Arbeit werden), schafft ein freier Sonntag gute Rahmenbedingungen.
Rund eine halbe Million ArbeitnehmerInnen arbeiten im Handel. In erster Linie betrifft die Sonntagsöffnung den Einzelhandel, aber nicht nur. Wird sonntags mehrheitlich gearbeitet, müssen auch Kinder außer Haus betreut werden. In der Mehrzahl betrifft auch das Frauen, die mit Sonntagsarbeit ein zusätzliches Vereinbarkeitsproblem schultern müssten. Neben den kirchlichen und gewerkschaftlichen AllianzpartnerInnen erklärt dies das Engagement des Vereins der AlleinerzieherInnen. Auch Vereine melden Bedenken an. Der österreichische Alpenverein, die Kinderfreunde oder der Österreichische Blasmusikverband: All diese Vereine brauchen einen freien Sonntag, sonst lässt sich ihre Tätigkeit kaum noch organisieren.
Wiener Gemütlichkeit
Anders als in vielen europäischen Großstädten sind in Wien die Geschäfte am Sonntag noch weitgehend geschlossen. Geht es nach dem Präsidenten der Wiener Wirtschaftskammer, soll die Einführung von Tourismuszonen diese auch in Österreich einmalige Position der Hauptstadt beenden. In festgelegten Tourismuszonen entlang touristischer „Hotspots“ wie der City, der inneren Mariahilfer Straße und Schönbrunn soll es Einzelhandelgeschäften erlaubt sein, am Sonntag zu öffnen.
Dieser Vorstoß stößt bei Weitem nicht bei allen auf Gegenliebe. Die Mehrheit der Bevölkerung, die betroffenen ArbeitnehmerInnen und auch viele Kleinbetriebe lehnen ihn vielmehr ab. Aus der Erfahrung der längeren Öffnungszeiten weiß man, dass das Geschäft nicht mehr wird, sondern sich nur mehr verschiebt. „Konzerne und die Einkaufszentren treiben die Debatte um die Sonntagsöffnung voran. Die Arbeitsplätze, die da entstehen, sind prekäre, geringfügige oder Teilzeitjobs“, warnt Brantner.
„Man muss die Menschen vor sich selbst schützen, der arbeitsfreie Sonntag ist ein kollektives Regulativ“, resümiert der Philosoph und Zeitcoach Franz J. Schweifer. Individualisierung wie Digitalisierung entgrenzen immer mehr Lebensbereiche, die zugleich Halt schenken. Sei es Online-Shopping oder das E-Mail-Checken vor Beginn der Arbeitswoche: müssen nicht alle, tun aber viele. Das gilt auch für die geplante Sonntagsarbeitsregelung in Tourismuszonen. Bei steigendem Arbeitsdruck wird rasch aus einem Sollen ein Wollen. Der grundsätzlich arbeitsfreie Sonntag ist ein starkes Angebot für eine Auszeit von der Arbeits- und Konsumzeit. Politische Rahmenbedingungen lassen sich einfordern, für die individuelle Umsetzung muss jede/r dann letztlich selbst sorgen.
Linktipp
Mehr Infos unter:
www.freiersonntag.at
Servicetipp
Die Sonntagsallianz bedankt sich mit einer Fotoausstellung bei allen, die an diesem Tag arbeiten müssen. Diese ist bis 6. November bei freiem Eintritt im Foyer des ÖGB Catamaran in Wien zu sehen.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin beatrix@beneder.info oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Der Koalabär als Vorbild
„Er isst ein paar Eukalyptusblätter und döst dann einfach; schläft der Koala weniger als 18 Stunden am Tag, stirbt er an Erschöpfung. Nicht so der Mensch, der es vorzieht, 18 Stunden am Tag zu malochen“, kritisiert Spät in seinem Beitrag die Fixierung der Gesellschaft auf Arbeit. Auch wenn der Autor den hier mitschwingenden Biologismus sowie das komplexe soziale System der Koalas nicht weiter diskutiert, meint er das Beispiel im Kern durchaus ernst: zurück zur Natur, zurück zum Ursprung. „Zieleinkommen“: So lautet das wirtschaftliche Leitmodell dieser anderen Gesellschaft. Produziert wird nur, was unmittelbar ge- und verbraucht werden kann. Ein Fischer, der sich täglich mit einem kleinen Fang begnügt, um dann im Hier und Jetzt (und nicht erst in der Pension) das zu tun, was er am liebsten tut, zum Beispiel in der Sonne zu dösen, orientiert sich an diesem Modell. Ähnliches gelte für bestimmte, noch „ursprünglich“ lebende Gesellschaften wie beispielsweise den afrikanischen Stamm der !Kung (!Xun).
Dass Menschen derartige soziale Strukturen „entdecken“, ist in der Menschheitsentwicklung allerdings nicht neu. Schon in der Formierungsphase der modernen ArbeiterInnenorganisationen und Gewerkschaften war dies fester Bestandteil der Ideenwelt. „Urkommunistische“ Zustände wurden hier aber auch – beispielsweise von Friedrich Engels – wenig romantisierend als Periode der „Wildheit“ beschrieben. Solche frühen Gesellschaften bedeuteten oft Mangel, weil die Menschen völlig abhängig von Wind und Wetter waren. Der US-Forscher Jared Diamond hat vor einigen Jahren in seinem Werk „Arm und Reich“ sehr überzeugend dargestellt, wie diese klimatischen Faktoren die Entwicklung sowie vor allem die soziale Differenzierung der Menschheit vorantrieben. Damit widerlegte Diamond im Übrigen auch die These einer (angeblich) „natürlichen sozialen Ungleichheit“ von Menschen und Gesellschaften. Er verstand sein Werk auch als Beitrag im Kampf gegen den Rassismus.
Paul Lafargue: So lautet der Name eines kritischen Denkers des 19. Jahrhunderts, auf den in Debatten um Arbeitsethos, Leistungsgesellschaft, aber auch Grundeinkommen von vielen Seiten gerne Bezug genommen wird – nicht immer zu Recht. Der Schwiegersohn von Karl Marx war ein bedeutender Aktivist der internationalen ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung. Sein bekanntestes Werk trägt einen bis heute provozierenden Titel, nämlich „Das Recht auf Faulheit“ – es erschien im Jahre 1880.
„Eine seltsame Sucht“, heißt es in den Einleitungsworten dieses Pamphlets, „beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.“
Lafargue beschreibt zunächst die Entwicklung des Arbeitsbegriffs im Kapitalismus, die Auffassung von Arbeit als Erziehungs- und Disziplinierungsmittel, zumindest für den Großteil der Bevölkerung. Durchgesetzt wurde und werde dies mit Zwang, nämlich durch Arbeitshäuser, oder wesentlich effizienter durch Hunger – aber nicht nur. Wie schon in den Einleitungssätzen angedeutet, kritisiert Lafargue vor allem die Übernahme einer mächtigen bürgerlichen Ideologie der „Arbeitssucht“ durch die ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften selbst sowie die Vorstellung, dass wirtschaftliches Wachstum automatisch das Elend reduziere. Er wiederum vertrat die Ansicht, dass die „Arbeitssucht“ der ArbeiterInnenschaft strukturell sogar zur eigenen Verelendung beiträgt – insbesondere im Falle eines Überangebots von Arbeitskräften. In seinem Gegenentwurf legt er der ArbeiterInnenbewegung eine völlig andere Strategie nahe, die tatsächlich stark an aktuelle Debatten erinnert: Wie sehen Alternativen für ein gutes Leben aus? Was braucht es dafür? Diese zentralen Fragen beantwortet er mit dem Konzept einer radikalen Arbeitszeitverkürzung sowie „der Verpflichtung der Arbeiter, ihre Produkte auch zu verzehren“. Durch die entsprechende Balance von moderaten Arbeitszeiten von täglich nur drei Stunden, sinnvoller gesellschaftlicher Nutzung der Technik und Umverteilung sei eine Welt möglich, in der jeder und jede auch ausreichend das Recht auf Faulheit in Anspruch nehmen könnte. Dieses „Recht auf Faulheit“ ist für den Sozialisten Lafargue, im Gegensatz zu DenkerInnen wie Spät, kein individuell umsetzbares Recht. Es ist ein Ansatz, um (geistige) Gegenmacht aufzubauen, um die Gesellschaft in der Folge kollektiv verändern zu können. Mit diesen Vorstellungen können auch GewerkschafterInnen durchaus etwas anfangen, ebenso wie mit den stets modernen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung.
Die Arbeit hoch?
Fritz Keller, Historiker und ehemaliger Personalvertreter (Zentralvorstand GdG), beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit Paul Lafargue und ist auch Mitherausgeber seiner Werke. Bereits angesichts der Hymne der österreichischen ArbeiterInnenbewegung „Die Arbeit hoch“ (Lied der Arbeit) hält er als Gewerkschafter eine kritische Auseinandersetzung mit dem Arbeitsbegriff für unumgänglich.
Visionär
Für Keller ist Paul Lafargue ein Visionär, der aktuelle Probleme wie die wachsende Zahl von Burn-outs, das neoliberale Prinzip „Wachstum und Produktion um jeden Preis“ und damit nicht zuletzt auch ökologische Fragen bereits in den 1880ern erkannt hat. Der Historiker versuchte, Lafargues Ideen daher auch in Gewerkschaftskreisen bekannt zu machen. In einer Debatte mit dem ehemaligen US-Arbeitsminister Robert Reich auf dem 14. ÖGB-Kongress im Jahr 1999 meinte Keller: „Ich hatte den Eindruck, dass Sie den Wirtschaftsprozess als unveränderlich, als eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellen, die man als solche akzeptieren muss. Ich glaube, dass Wirtschaft ein Produkt von Menschen ist und durch Menschen verändert werden kann. Die Globalisierung ist nicht nur Realität, sondern auch ein Kampfslogan der Kapitalisten (…) Wenn zum Beispiel in Osteuropa nicht dieser Zusammenbruch erfolgt wäre, hätten wir vielleicht heute nicht diese Wirtschaftssituation. (…) Zusammenfassend: Ich glaube, wir sollten nach wie vor dafür einstehen, dass es in einer Gesellschaft die Möglichkeit gibt, dass Männer und Frauen nicht Produkte des Marktes sind, dass wir nicht ohne Sinn und Zweck produzieren, sondern letztendlich das Recht auf Arbeit proklamieren und auch damit beginnen können, das Recht auf Faulheit zu verlangen.“
Dass die Umsetzung dieses Rechts letztlich vor allem eine Geld- und damit auch eine Machtfrage ist, scheint auch dem eingangs zitierten Patrick Spät bewusst zu sein. So fordert er nicht nur, die Füße hochzulegen und „Pippis Lied“ zu trällern („Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt“). Er räumt auch ein, dass Pippi Langstrumpf einen Goldkoffer brauchte, um den leeren Kühlschrank zu füllen. Was jene ohne einen solchen Koffer tun müssen, zum Beispiel um gegen das Ungleichgewicht von (oft unbezahlten) Überstunden und steigender Arbeitslosigkeit vorzugehen, beantwortet ein anderer Beitrag aus dem Buch „Sag alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik“. Die Berliner Aktivistin Lucy Redler fordert „Gegenwehr statt Yogi-Tee“ und ruft dazu auf, sich zu organisieren. Von den Gewerkschaften wünscht sie sich eine breite Kampagne für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, nicht zuletzt, um mehr „Zeit zum Leben, Lieben, Lachen, Sich-politisch-Engagieren und von mir aus Yogi-Tee-Trinken für alle“ zu haben.
Linktipps
Recht auf Faulheit, gesamter Text auf
tinyurl.com/2m46oe
Fritz Keller über Paul Lafargue:
tinyurl.com/opj765j
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]]>Sogenannte Freizeit
Das Paradoxe daran: Zumindest im historischen Vergleich haben wir gar nicht so wenig Freizeit. Allein im 20. Jahrhundert hat sich dem in Wien ansässigen Institut für Freizeit- und Tourismusforschung (IFT) zufolge die durchschnittliche Lebenszeit europaweit um ein Drittel verlängert, die Arbeitszeit wurde auf 39 Wochenstunden halbiert, und der Urlaub hat sich auf bis zu fünf Wochen ausgeweitet, manche kommen sogar in den Genuss von sechs Wochen. „Nur 14 Prozent unserer Lebenszeit verbringen wir im Beruf und in Ausbildungen“, sagt IFT-Leiter Peter Zellmann. Ein Drittel unseres Lebens verschlafen wir, und der Rest, nämlich 53 Prozent, ist laut Zellmann die „sogenannte Freizeit“. So genannt, weil es „nicht die freie Zeit für uns selbst“ ist. Bei Alleinerziehenden oder Eltern mit zwei Kindern sei diese Zeit gleich null. Ansonsten gehe der Großteil der Freizeit für Ehrenämter, selbst gewählte Verpflichtungen, Heimarbeit und Leistungen für die Familie drauf. All diese Tätigkeiten gelten nicht als Arbeit im Sinne des BIP. Würde man sie dazurechnen, sähe die Freizeitbilanz schon anders aus.
Die „Freizeitgesellschaft“ sei „eine falsche Überschrift des Boulevards“, findet Zellmann. Es habe sich in den letzten 30 Jahren viel weniger verändert, als man annehmen würde: Der passive Konsum von Fernsehen, Radiohören und Lesen sei etwa seit rund 30 Jahren ziemlich gleich geblieben. Insgesamt betreiben auch nicht mehr ÖsterreicherInnen Sport. Selbst so etwas wie der Laufboom habe nicht so stattgefunden, wie in den Medien beschrieben: „Es laufen gleich viele Menschen wie in den Achtzigerjahren, aber die, die laufen, laufen heute jeden Tag.“ Zweifellos aber ist nicht alles gleich geblieben: „Die Mobiltelefonie und das Internet haben unser Freizeitbudget verändert. Die Digitalisierung hat uns in die Technikfalle gelockt.“ Wir haben uns angewöhnt, in die gleiche Zeiteinheit immer mehr hineinzustopfen, anstatt die Zeit für unser Wohlbefinden zu nutzen. Der Lebenszeitgewinn führe keineswegs zu mehr Lebensqualität, sondern vielmehr zu Zeitknappheit und Burn-out.
Das Thema Zeit beschäftigt auch den Wirtschafts- und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach seit Jahrzehnten. Die ungeheure Dynamik der Finanzmärkte mit ihrem Hochfrequenzhandel, der durch die Kombination von Technik und Finanzwirtschaft möglich wurde, war für ihn der Anstoß, das Buch „Die Zeit gehört uns: Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung“ zu schreiben. Ungleiche Verteilung gibt es nicht nur bei Einkommen und Vermögen, sondern auch beim Thema Zeit oder besser Zeitsouveränität. „Wem wird mehr Freizeit gestattet? Und wem nicht?“, fragt Hengsbach. Problematisch werde es „überall da, wo einseitige Machtverhältnisse bestehen“. Also wo zum Beispiel Unternehmen sich am Shareholder-Value orientieren und nicht mehr autonom genug sind. Zeit-Ungleichheit herrscht auch zwischen Männern und Frauen: Für viele Frauen beginnt nach der Erwerbsarbeit die Kinderbetreuung oder das Sorgen für die Eltern. Männer, die ihre Erwerbsarbeit gerne reduzieren und dafür auch auf Lohn verzichten würden, stünden dagegen unter Rechtfertigungsdruck.
Herrliche Verlockungen
Freizeit hat für viele heute einen bittersüßen Klang. Die einen kommen nicht in deren Genuss, weil sie aufgrund von Überstunden, Hausarbeit oder familiären Verpflichtungen nur noch ins Bett fallen, wenn alles erledigt ist. Andere haben zwar viel freie Zeit, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen, können es sich aber nicht leisten, diese mit den herrlichen Angeboten der Konsumwelt zu füllen oder gar mit Muße. Wieder andere haben Zeit und Geld, wünschen sich aber, angestachelt von den verlockenden Rufen der Urlaubs- und Freizeitwirtschaft, mehr Geld und mehr Zeit und sind also auch nicht glücklich.
Der Freizeitforscher Peter Zellmann kritisiert, dass es in Mitteleuropa bis heute eine tief verwurzelte Kluft zwischen Arbeit und Freizeit gibt. Während es in Skandinavien schon zu Beginn der 1970er-Jahre etwas wie eine Freizeitpolitik gegeben habe, war Freizeit für die MitteleuropäerInnen „eher ein Negativum, das bestenfalls zur Wiederherstellung der Arbeitskraft gut war. Der Workaholic war das Leitbild der Nachkriegszeit.“ Freizeitpolitik meine weniger ein Freizeit-Angebot als die Tatsache, dass Freizeit als gleich wichtiger Lebensbereich wie Arbeit angesehen werde: „Nicht entweder … oder, nicht zuerst die Arbeit, dann das Spiel. Die Reihenfolge ist egal: Es darf auch zuerst das Spiel sein, wenn die Arbeit dann erst recht gut erfolgt.“ Zellmann ruft dazu auf, „Mut zur Muße“ zu haben.
Freizeitangebote wie der Kulturpass, mit dem unter dem Motto „Hunger auf Kunst und Kultur“ Benachteiligte Kulturangebote gratis in Anspruch nehmen können, sind laut Zellmann „durchaus vernünftige Maßnahmen“, aber sie „bringen die Gesellschaft nicht wirklich weiter“: Solange das Grundproblem nicht erkannt werde, haben solche „Pflästerchen“ wenig Sinn.
Dass viele von uns über ihre freie Zeit nicht mehr verfügen können, muss sich auch aus Friedhelm Hengsbachs Sicht wieder ändern. Er hofft auf eine Bewegung, eine Rebellion. Kleine Änderungen im Alltag wie sich „eine Viertelstunde auf einen Stuhl setzen und meditieren“ reichen nicht aus. Dennoch: Nein sagen lernen, nicht immer gleichzeitig essen und lesen und einfach öfter mal „herumschildkröteln“ sind wichtig. Größere Gegenbewegungen zur beschleunigten Freizeit wie Urban Gardening, Slow Food und Konsumreduktion – all diese Maßnahmen gingen in die richtige Richtung. Hengsbach: „Die Notwendigkeit einer Umkehr ist offensichtlich.“
Freizeit entschleunigen
Was es aus seiner Sicht noch bräuchte, damit wir wieder Herr und Frau unserer Zeit werden: kollektive Arbeitszeitverkürzung, Nachhaltigkeit anstatt Wachstumsrausch und Geschlechtergerechtigkeit. Und bis es so weit ist, können wir ja zumindest unsere Freizeit entschleunigen und jedenfalls – zeitweise – unsere schlauen Geräte ausschalten und mehr Muße einkehren lassen.
Linktipp
Mehr Infos unter:
zenhabits.net
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]]>Horror Langsamkeit
Sich so langsam fortzubewegen ist für viele heutzutage geradezu zur Horrorvorstellung geworden: Es soll schneller gehen, Wartezeiten soll es möglichst keine geben, schon gar nicht in der Wirtschaft. Immer mehr ist von dieser Beschleunigung auch die Freizeit betroffen. Zugleich scheinen sich viele Menschen nichts mehr zu wünschen, als aus diesem stressigen Leben auszusteigen. Dass dies viele auch tun, darin wollen manche sogar einen „Trend zur Entschleunigung“ sehen. Falsch wäre dies nicht, ganz im Gegenteil. Denn die Erfahrung zeigt: Arbeitszeitverkürzung schafft nicht nur Arbeitsplätze, sondern verbessert insgesamt ihre Qualität – und sorgt damit unterm Strich für gesunde wie motivierte MitarbeiterInnen.
„Entschleunigung“ an sich ist, auch wenn man sich das heute nur schwer vorstellen kann, ein sehr altes Thema. Allerdings war Muße ein Privileg der Wohlhabenden. Die Kulturgeschichte ist natürlich komplexer, doch um es kurz zu fassen: Aus dem Flanieren des Adels wurde Windowshopping, aus dem Konsum-Privileg weniger wurde Shoppen für alle – und vor allem ein Antrieb für die Wirtschaft. Aber wie kommt es eigentlich, dass der Mensch zwar viel Energie in Innovationen investiert, die ihm eigentlich das Leben erleichtern sollen – um sich stattdessen letztlich von ihnen hetzen zu lassen?
Zeitersparnis
Grundsätzlich, so sagt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, sei die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Beschleunigung. „Fast jede Technik dient der Zeitersparnis“, fasst er im Interview mit der „Wirtschaftswoche“ zusammen. „Das Auto, das Flugzeug, die Mikrowelle, der Fahrstuhl, der Rasierapparat, auch die Waschmaschine. Die wäscht zwar langsam, aber ich spare enorm viel Zeit.“ Und doch leidet der moderne Mensch vor allem an einem: Zeitknappheit.
In seinem Buch „Beschleunigung“ gibt Rosa die oft zitierte „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll wider – diese stammt aus dem Jahr 1963, wohlgemerkt: Ein an der Küste dösender Fischer wird von einem Unternehmer angesprochen, warum er nicht alles daransetze, um mehr zu verdienen, wenn nicht gar ein ganzes Unternehmen zu gründen, um dann andere für sich arbeiten lassen zu können. Auf die Frage des Fischers nach dem Sinn von all dem antwortet der Unternehmer letztlich: damit er sich „dann den ganzen Tag lang an den flachen Strand setzen, die Sonne genießen und angeln“ könne. Das tue er doch jetzt auch schon den ganzen Tag, hält dem der Fischer entgegen.
Mit dieser Geschichte ist jedenfalls ein wichtiger Aspekt der modernen Gesellschaft angesprochen, nämlich Wachstum um jeden Preis. Und doch endet man in der Sackgasse. „Es ist immer das Gleiche: Der Horizont dessen, was man mithilfe neuer Techniken pro Stunde, Tag und Woche erledigen kann, wächst und schrumpft zugleich“, stellt Rosa fest.
Der gravierende Unterschied liege darin, dass der Fischer angeln müsse, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, während der Unternehmer fischen könne. „Erweiterung des Möglichkeitshorizontes“ nennt Rosa das. Die Qual der Wahl ist wiederum die Kehrseite der Medaille – dazu gesellte sich erst die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Freizeit, plus die immer mehr verschwimmenden Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Anders gesagt: Es wird immer mehr Dienst in den Schnaps geschüttet. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Der Dienst wird immer mehr mit Schnaps angereichert? Immerhin reicht es nicht mehr, dass man sich den Beruf, der ursprünglich die Finanzierung des Überlebens garantieren sollte, freier wählen kann als zuvor. Nein, der Job soll geradezu berauschend sein und am besten auch noch die Freizeit.
Zwischen Anspruch und Realität
Im Schwärmen über „gute Arbeit“ ist der Abgrund schnell vergessen, der zwischen Anspruch und Realität klafft. Dabei hat dieser Abgrund einen einfachen Namen: Ungleichheit. Eine dieser Ungleichheiten besteht zwischen den Geschlechtern. Über die Gestaltung ihres Alltags selbst entscheiden zu können, das wünschen sich viele Menschen. Doch wer kann das schon außer Selbstständigen und Führungspersonen? Die Hausfrau, nur hat sie einen entscheidenden Nachteil: Ihre Arbeit wird nicht bezahlt, weshalb ihre soziale Absicherung vom berufstätigen Mann abhängt. Den weiteren Nachteil beschreibt die deutsche Kulturwissenschafterin Susanne Breuss in ihrem Beitrag im Buch „Bewegte Zeiten: Arbeit und Freizeit nach der Moderne“ aus dem Jahr 2002: „Die Hausfrau ist im Grunde ständig beschäftigt (oder zumindest im Bereitschaftsdienst) und muss doch immer Zeit haben.“ In Wahrheit entspricht sie dem Ideal der heutigen ArbeitnehmerInnen, denn nicht nur ist sie allezeit bereit, noch dazu kennt sie keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit.
An berufstätige Frauen werden meist ähnliche Ansprüche gestellt, zumindest in der Freizeit, sodass der Begriff Doppelbelastung geradezu untertrieben scheint. Nun ist viel die Rede von den neuen Vätern, und in der Tat ist es höchste Zeit für eine gerechtere Verteilung von Hausarbeit zwischen den Geschlechtern. Hartnäckig aber hält sich die geschlechtsspezifische Ungleichheit zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, und zwar trotz der mehr als hundertjährigen Emanzipationsgeschichte: Während Männer durchschnittlich 16 Stunden mit unbezahlter Arbeit verbringen, sind es bei Frauen ganze elf Stunden mehr.
Betrachtet man den Nachholbedarf Österreichs in Sachen Kinderbetreuung, nimmt es wenig Wunder, dass die Teilzeitbeschäftigung von Frauen in Österreich auf so hohem Niveau ist und sie noch dazu durchschnittlich weniger Stunden arbeiten als viele europäische Geschlechtsgenossinnen.
Langsamkeit als Ressource
Langsamkeit kann eine enorme Ressource sein. Angeblich engagierte Bill Gates für die schwierigsten Aufgaben am liebsten die faulsten Leute. Der Grund: Sie suchen nach dem einfachsten und/oder schnellsten Weg, um ein Ziel zu erreichen – ohne dabei den eigenen Anspruch nach Perfektion aufzugeben. Genau das sei die Wunschvorstellung der jungen Generation, behaupten manche. Vorsicht ist natürlich angebracht, immerhin arbeiten nicht alle ArbeitnehmerInnen in solch gut bezahlten Jobs, für die der Microsoft-Magnat „faule“ MitarbeiterInnen suchte. Zweifellos aber ist Kreativität und Nachdenklichkeit hilfreich, um Arbeitsprozesse besser zu gestalten und somit auch unnötigen Stress zu vermeiden, und zwar egal in welchem Bereich.
Aber zurück zur Schnecke: Was haben diese eigentlich davon, dass sie so langsam sind? „Der Vorteil ist, dass sie alles erreichen können, ohne sich stressen zu müssen“, antwortet Mollusken-Forscherin Anita Eschner. Einen Nachteil könne die Schnecke dadurch jedenfalls nicht haben. „Im Gegenteil, es muss ein großes Erfolgsprinzip sein.“ Immerhin gibt es Schnecken schon seit mehr als 500 Millionen Jahren auf der Erde, sie waren sogar schon vor den Dinosauriern da. „Das können nicht viele Tierarten von sich sagen“, meint Eschner. An Tempo legen Schnecken jedenfalls nur dann zu, wenn sie müssen. Etwa wenn sie Futter jagen oder zur Fortpflanzung. Eschners Fazit: „Wenn alles passt, besteht auch kein Grund zur Eile. Warum sollte sie also diese Energien verschwenden?“ Eine gute Frage eigentlich.
Linktipps
Brand Eins „Mehr Faulheit wagen“:
tinyurl.com/qzfmn8p
Heinrich Böll „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“:
tinyurl.com/ofmfeg8
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>In dem Ausmaß, in dem sich die Arbeiter einen vorläufig noch bescheidenen Platz an der Sonne erkämpft haben, sind ihre Lebensgewohnheiten anders geworden. Die Freizeit wird nicht mehr wie früher in rauschgeschwängerten Kneipen verbracht, sondern der Großteil der licht- und lufthungrigen, die ganze Woche angestrengt schaffenden Arbeiter strömt hinaus in die freie Natur. Ausflüge, Wanderungen oder Campingfahrten sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Neben anderen Problemen, die dabei zu lösen sind, spielt der Proviant eine wichtige Rolle, muss er doch, je nach Jahreszeit, Hitze oder Kälte gut überstehen und trotzdem schmackhaft sein.
Die Fleischerbetriebe haben … ihre Produktion entsprechend eingestellt. Viele Arten von Dauerwürsten … werden in erstklassiger Qualität angeboten … Die Herstellung solcher Dauerwaren erfordert besondere Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit und Sorgfalt … Da Dauerwurst vielfach einen Reifeprozess durchmachen muss, ist ständiges Überprüfen und Beobachten notwendig, das an das Fachwissen der damit betrauten Fleischarbeiter genauso hohe Anforderungen stellt wie an jene, die bei der Vorbereitung oder an den Maschinen beschäftigt sind.
Neben Firmen, die sich ausschließlich mit der Erzeugung von Dauerwaren befassen, haben auch viele andere Fleischerbetriebe diese Produktion aufgenommen. Der gut organisierte Vertrieb ermöglicht es den Ausflüglern, sich in jedem beliebigen Lebensmittelgeschäft mit Reise- und Ausflugsproviant einzudecken.
So tragen auch unsere Fleischarbeiter dazu bei, dass die Freude an Luft, Licht und Sonne, an Wald und Flur nicht nur ein Privileg der in Autos dahinrasenden und in teuren Restaurants speisenden Begüterten ist, sondern auch die Werte schaffenden Arbeiter daran teilhaben können.
Bleibt nur zu wünschen, dass auch die Fleischarbeiter Verständnis finden, wenn sie sich gegen jene Gruppe von Meistern wehren, die sie … daran hindern, sich ebenfalls der freien Natur zu erfreuen.
Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at
Zielgruppe sind SchülerInnen aller Schulen der Sekundarstufe II, das heißt ab der 9. Schulstufe der Polytechnischen Schulen, Berufsschulen, berufsbildenden mittleren und höheren Schulen und AHS. Die SchülerInnen werden von einem oder einer LehrerIn betreut, sie sollen die Thematik durch Interviews und historische Quellen (Internet, Bild- und Fotosammlungen, Zeitungen etc.) erarbeiten. Die feierliche Preisverleihung in der Hofburg findet immer unmittelbar um den 27. April statt, dem Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik 1945.
Zur Erinnerung: 2012 initiierte der scheidende Bundespräsident Heinz Fischer den Geschichtswettbewerb, der unter seiner Patronanz steht und organisatorisch vom „Theodor Körner Fonds“ betreut wird. Über 75 SchülerInnengruppen, jeweils mit BegleitlehrerIn, haben sich seither beteiligt. Finanziert wird der Fonds nahezu zur Hälfte von der Bundesarbeitskammer, weitere Förderungen kommen vom ÖGB und einigen Gewerkschaften, außerdem vom Österreichischen Zukunftsfonds, dem Bildungsministerium und dem ORF. Die Auswahl der PreisträgerInnen wird durch eine Fachjury unter dem Vorsitz des Zeithistorikers Oliver Rathkolb vorgenommen.
Das Jahr 2016 ist für Bundespräsident Fischer insofern von Bedeutung, als seine zweite und damit letzte Amtszeit endet und somit die Präsidentschaftswahl ansteht. Seit dem Jahr 2008 sind auch 16- und 17-Jährige wahlberechtigt, demnach auch viele SchülerInnen. Der Wettbewerb ist also gleichsam ein Beitrag zur politischen Bildung.
Mehr Infos unter: www.theodorkoernerfonds.at/geschichtswettbewerb/
]]>Das AMS braucht ausreichend Personal, um Betroffene individuell beraten zu können. Aufgrund des Personalmangels und der steigenden Arbeitslosigkeit ist dafür oft viel zu wenig Zeit vorhanden. Um zu verhindern, dass Langzeitarbeitslosigkeit in die Armut führt, fordert die AK: Die Bezugsdauer und die Höhe beim Arbeitslosengeld müssen angehoben werden. Die Notstandshilfe darf nicht in das System der Mindestsicherung überführt werden. „Unerträglich ist, dass es noch immer keine Bewegung beim Bonus-Malus-System zugunsten älterer ArbeitnehmerInnen gibt“, so Kaske. Dieses soll jene Betriebe sanktionieren, die älteren ArbeitnehmerInnen keine Chance geben. Die Mittel des „Beschäftigungsprogramms 50+“ sollen um 100 Millionen Euro auf insgesamt 350 Millionen Euro aufgestockt und auch für jüngere Langzeitarbeitslose eingesetzt werden. Aus- und Weiterbildung müssen in aktiver Arbeitsmarktpolitik wieder an Stellenwert gewinnen. Insbesondere soll das Fachkräftestipendium fortgeführt werden. Es ermöglicht Beschäftigten und Arbeitsuchenden dringend benötigte Berufsausbildungen. Davon profitieren Unternehmen und ArbeitnehmerInnen gleichermaßen.
Mehr Infos unter: tinyurl.com/pjb8dgd
]]>Mehr Infos unter: tinyurl.com/pugk239
]]>Mehr Infos unter: www.oegb-eu.at
]]>Die ÖGB-Frauen werden weiterhin verstärkt dafür kämpfen, dass die Einkommensschere geschlossen und der Papamonat umgesetzt wird, aber auch dafür, dass mehr Frauen in Führungspositionen kommen.
Zahlreiche PolitikerInnen, u. a. BM Sabine Oberhauser, BM Gabriele Heinisch-Hosek, BM Rudolf Hundstorfer und AK-Präsident Rudi Kaske, folgten der Einladung der ÖGB-Frauen und nahmen an der Festveranstaltung im Catamaran teil. Unisono bedankten sie sich bei den Gewerkschafterinnen für ihren jahrelangen, unermüdlichen Einsatz für die Frauen.
Weitere Infos: www.oegb.at/frauen
]]>Unproduktiv?
Ähnlich scheint es vielen anderen zu gehen, nicht umsonst schießen wiederum Angebote zur Entspannung tatsächlich wie Pilze aus dem Boden – von verschiedenen, bisweilen sündteuren Wellness-Angeboten über Sport in der Natur bis hin zum Aschram in Indien. Zugegeben, nicht immer kostet Erholung Unmengen von Geld, gerade in Österreich ist ein erholsamer Ausflug in die Natur sogar sehr günstig möglich. Die vielen Medienberichte über Ausstiege aus der Beschleunigung täuschen aber über etwas sehr Wesentliches hinweg: So manche, die ins Kloster gehen, wo sie dann wirklich ihr Handy ausschalten müssen, statt es einfach selbst zu tun, werden für die hohe Geschwindigkeit ihrer Arbeit auch entsprechend finanziell entschädigt. Die meisten ArbeitnehmerInnen erleben eine Beschleunigung am Arbeitsplatz, ohne dass sich dies in ihren Löhnen oder Gehältern widerspiegelt oder in den Möglichkeiten zur Entschleunigung. Ganz im Gegenteil: Um den Job nicht zu verlieren, fühlen sie sich geradezu gezwungen, jegliche weitere Beschleunigung zu bewältigen – bis es eben gar nicht mehr geht und sie im Burnout landen. Sogar die Kur wird unter Generalverdacht gestellt, denn dort mache man ja nichts Produktives.
Zurück zur Verteilungsfrage: Damit nicht nur Gut- oder BestverdienerInnen in den Genuss von Entschleunigung kommen, führt kein Weg an einer Arbeitszeitverkürzung vorbei. Aufschlussreich ist dabei ein Blick ins Ausland: In Schweden etwa probieren Unternehmen den Sechs-Stunden-Tag aus, und zwar bei vollem Lohnausgleich. Seit Februar gilt dieser in einem Göteborger Pflegeheim für eine Gruppe von PflegerInnen von SeniorInnen. Die Bilanz ist durchwegs positiv: Die Beschäftigten seien gesünder und motivierter, nicht zuletzt sei die Qualität der Pflege deutlich besser geworden (mehr: tinyurl.com/p2qmbrw) – und man hat mehr Personal eingestellt. Aber kommt man damit nicht vom Regen in die Traufe? Immerhin ist inzwischen auch die Freizeit beschleunigt. Machen wir uns nichts vor: so romantisch die Vorstellungen rund um Muße auch sind, schon früher sollte man etwas Sinnvolles mit der freien Zeit anfangen. So ist es geradezu folgerichtig, dass auch die Freizeit von der Beschleunigung erfasst und darauf abgeklopft wird, ob sie auch wirklich einem Zweck dient. Der von Gewerkschaften hart erkämpfte Urlaub etwa sollte dazu beitragen, dass sich die Menschen regenerieren, um umso kraftvoller wieder an die Arbeit gehen zu können, nicht zu vergessen, dass sie konsumieren sollten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. So wahr diese Analyse ist, so wenig taugt sie als Gegenargument. Denn warum sollte man Menschen etwas vorenthalten, nur weil es auch im Interesse der Unternehmen ist?
Wozu das alles?
Auf der Wiese liegen und einfach nur die Seele baumeln lassen: Das ist einfach wunderbar! Es hilft dabei, manches zu relativieren, das im Eifer des Gefechts wie ein unüberwindbares Problem erscheint – oftmals scheinen Lösungen danach geradezu auf der Hand zu liegen. Vor allem aber ist es einfach erholsam. Und es drängt sich mir die Frage auf: Wozu erwirtschaften wir denn eigentlich den ganzen Wohlstand, wenn nicht, damit es den Menschen gut geht und sie es sich gut gehen lassen können?
Ratlosigkeit
Arbeitslosigkeit ist kein Einzelphänomen, und doch scheint es, als gäbe es im menschlichen Umgang damit eine gewisse Ratlosigkeit. Natürlich können Umbrüche im Leben auch eine Chance bedeuten, etwas „Neues“ zu machen oder sich einer Sache hinzugeben, die man schon immer machen wollte. Gleichzeitig sind erzwungene Pausen aber fragile Zeiten: Sich plötzlich in einer ungewollten und ungewohnten Lebenssituation wiederzufinden kann zu einer weitreichenden Destabilisierung führen, die erschütternde finanzielle, soziale und gesundheitliche Folgen haben kann.
Zahlreiche Studien belegen: Arbeitslosigkeit ist ein massiver Stressfaktor. Das hat eine große Bandbreite an Ursachen, denn der Verlust des Jobs ist oft mit einer ganzen Reihe anderer Verluste verbunden: Einkommen, Status, soziale Kontakte, Anerkennung, um nur einzelne zu nennen. Herkömmlich wird Stress mit Termindruck und hoher Leistungsanforderung verbunden, massive Stressoren sind jedoch auch die genannten Belastungen von Arbeitslosen und die damit einhergehenden Sorgen. Besonders eindrücklich belegt das eine Studie der deutschen Krankenkassa DAK, die besagt, dass Arbeitslose sogar unter mehr Stress leiden als Manager.
Gesundheit leidet mit
Stress hat bekanntlich auch Folgen für die Gesundheit. So leiden Betroffene häufig unter psychischen und physischen Folgeerscheinungen. Auch Arno S. hatte nicht nur mit einer allgemeinen Verschlechterung der Stimmung zu kämpfen, sondern litt außerdem unter massiven Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Wie eine deutsche Erhebung gezeigt hat, nehmen fast alle Erkrankungen bei Arbeitslosigkeit zu. Zudem gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass der Verlust von Erwerbstätigkeit eine Reihe von negativen Auswirkungen hat, und zwar in vielen Lebensbereichen der Betroffenen.
Beispielsweise beeinflusst Arbeitslosigkeit die Familienplanung negativ und nicht positiv, wie häufig dargestellt wird. Eine Studie der Universität Linz besagt, dass bei Betriebsschließungen sich die betroffenen Frauen seltener für Nachwuchs entscheiden. Wirtschaftswissenschafter Mario Schnalzenberger erklärt das so: „Bei Betriebsschließungen werden nicht selektiv bestimmte Frauen gekündigt – sondern alle. Das sind Frauen, die sozusagen in Summe dem Durchschnitt entsprechen und deren Verhalten sich explizit aufgrund der Arbeitslosigkeit verändert. Hier ist also ein direkter Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Unsicherheit und der verringerten Geburtenrate herstellbar.“
Schwierige Umstellung
Auch in fortgeschrittenem Alter bringt der Wegfall der Arbeit große Veränderungen mit sich. Obwohl sich die überwiegende Mehrheit freut, besteht bei rund einem Viertel die Gefahr eines „Pensionsschocks“. Dieser beeinträchtigt das allgemeine Wohlbefinden und ist beispielsweise gekennzeichnet von schlechter Stimmung, Depression oder Stressempfinden. Hinzu kommt, dass Stress und Depression Risikofaktoren für Demenz sind. Die Umstellung fällt oft besonders schwer, wenn die Arbeit bisher der zentrale Lebensmittelpunkt war. Daher ist es wichtig, sich ein soziales Netz außerhalb der Arbeit zu gestalten, Interessengemeinschaften zu pflegen und Hobbys zu kultivieren. Es ist für viele auch die Chance, die bestehende Partnerschaft neu zu definieren, schließlich verändert sich die bisherige Routine und Zeitgestaltung. Soziales Engagement hilft mitunter ebenfalls, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wieder positiv zu erleben. Es gilt, die passende Rolle – abseits der beruflichen – für sich selbst zu finden.
Mythos Leistungsfähigkeit
Die Idee, dass das Menschsein auch Phasen der Erwerbslosigkeit, Krankheit und Hilfsbedürftigkeit beinhaltet, passt so gar nicht zum allseits suggerierten Gesellschafts- und Medienbild. Dieses entspricht vielmehr dem autonomen, ewig fitten und agilen Menschen. Hilfsbedürftigkeit ist meist nur in sehr jungen Jahren – beispielsweise beim Säugling – ein toleriertes Merkmal. Diesen dominanten Diskursen kann man sich nicht so einfach entziehen, und so setzt man meist alles daran, diese Phasen zu bekämpfen. Dabei werden nicht selten physische und psychische Grenzen ignoriert, was die Menschen erst recht wieder krank machen kann – sei es, dass sie an Depression oder auch an Bluthochdruck erkranken. Die Ambivalenz zwischen Erleben und Ideal ist oft schwer zu ertragen. Dabei ist es ein offenkundiger Unsinn, dass Lebensverläufe linear und frei von Krisen sind. So gesehen können Krankheitsbilder wie Burn-out in dem Kontext als Folgeerscheinung gedeutet werden: Gesellschaftlicher Druck und Angst, gepaart mit dem kollektiven Hang, Leistung sehr eng zu fassen, erzeugen ein Klima, das die Missachtung eigener Grenzen fördert.
Veränderung als Herausforderung
Auch für Arno S. wurde die unfreiwillige Auszeit zur persönlichen Herausforderung, er selbst spricht von einer „Abwärtsspirale“. Es war für ihn ein langer Prozess, aus dieser wieder herauszukommen und beruflich wie privat wieder Fuß zu fassen. Noch lange wirkten die Erlebnisse nach, die inzwischen mehr als zehn Jahre zurückliegen. „Mich haben noch Jahre später Zukunftsängste gequält. Ich hatte kein Vertrauen in mich, solch eine Situation zu meistern, sollte ich wieder arbeitslos werden“, erzählt er. Er habe sich immer mehr von seinen FreundInnen zurückgezogen, bis sein Freundeskreis fast nicht mehr existent war, auch die Beziehung ging in die Brüche. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich wieder Spaß am sozialen Umgang mit Menschen hatte und wieder einige Freunde hatte, die ich auch gerne traf.“ Rückblickend sieht er aber auch positive Effekte: „Ich lernte zu sparen, mich zu organisieren und mich in der Arbeit zu konzentrieren. Ich war dabei erstaunt über die positiven Ergebnisse, die ich erzielte, wenn ich meine Energien fokussierte und alle Schritte konsequent durchzog. Allerdings war meine Motivation die Angst, meinen Job wieder zu verlieren, obwohl diese Angst eher unbegründet und irrational war.“ Jahre später begann er eine Psychotherapie: „Ich setzte mich dabei ernsthaft mit mir und meiner Gefühlswelt auseinander und tue es noch heute, was ich durchwegs als positiv bewerte.“
Trotzdem bestehen
Äußere Einwirkungen lassen sich oft nur schwer beeinflussen, zudem treffen sie meist unvorbereitet und somit hart. Der Mensch ist zudem nicht so einfach „gestrickt“ und berechenbar, dass für jede Situation eine passende Strategie im Vorfeld entwickelt werden kann. Einen Garanten für ein krisenfreies Leben gibt es somit nicht. Im besten Fall schärfen Krisen unser Wertesystem und unseren Blick dafür, was uns wirklich wichtig ist. Prioritäten können frisch angeordnet und der Fokus neu ausgerichtet werden.
Linktipps
Gesamtes Interview von Arno S. nachlesbar:
www.elkeradhuber.at/#neuigkeiten
Emilia Del Bono, Andrea Weber and Rudolf Winter-Ebmer (2014): „Fertility and economic instability: the role of unemployment and job displacement“, Journal of Population Economics, September 2014:
www.labornrn.at
Soziales Engagement Informationen für Wien:
www.gesund.at/a/aufgaben-im-alter
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen:
tinyurl.com/pqvozj2
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin kontakt@elkeradhuber.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Das erweiterte Wohnzimmer
Entschleunigung heißt für Nico, sich innerlich verlieren zu können, sich unter anderen Leuten unsichtbar zu machen, an Orten zu verweilen, die nicht unbedingt Konsum erfordern. Das können Büchereien, Parkanlagen oder einfache Sitzgelegenheiten in der Innenstadt sein. Diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen sieht Andreas Baur, Mediensprecher für die Abteilung Stadtentwicklung und Verkehr der Stadt Wien, als Aufgabe einer Großstadt. „Der öffentliche Raum ist das erweiterte Wohnzimmer der Bevölkerung, das Angebote zur Erholung schafft“, so Baur. Er soll Platz für Begegnungen bieten und zum Verweilen und Durchatmen einladen. Seine Gestaltung sei daher wesentlich für die Lebensqualität von Menschen. Diesen Standard zu halten ist nicht einfach, denn Wien hat einen Zuwachs von knapp 30.000 Menschen jährlich. Da stellt sich die Frage, wie man angesichts dieser Entwicklung den öffentlichen Raum attraktiv gestaltet.
Flächen zum Verweilen
Die Ideen der Stadt Wien dazu sind im Stadtentwicklungsplan 2025 (STEP 2025) festgeschrieben. So sollen etwa bis 2025 80 Prozent der Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden. Heute sind es knapp 73 Prozent. Neben Mobilität bildet die Schaffung von urbanen Frei- und Grünräumen einen Schwerpunkt des Stadtentwicklungskonzepts. Zum Beispiel, indem in dicht verbauten Teilen der Stadt neue Flächen zum Verweilen im Freien geschaffen werden. Mit der ersten Wiental-Terrasse wurde am 1. September ein solches Konzept umgesetzt. Auf 1.000 Quadratmetern können BesucherInnen auf Sitzbänken das Treiben des vorbeiziehenden Radverkehrs und den Durchzug der darunterliegenden U-Bahn verfolgen und sich dabei selbst treiben lassen. Die Wiental-Terrasse sei laut Baur kein Ort, an dem Ruhe herrsche, aber einer, an dem man in einem schönen Ambiente zur Ruhe kommen könne. Etwas, nach dem sich auch Nico sehnt. Wenn es nach ihm ginge, müsste die Stadt viel mehr konsumfreie Verweilorte zur Verfügung stellen. Zum Beispiel am Wiener Naschmarkt, wo es abgesehen von den Lokalen keine einzige Sitzgelegenheit gibt.
Woher kommt die Sehnsucht nach Entschleunigung im öffentlichen Raum? Menschen haben immer weniger Zeit und wollen diese sinnvoll nutzen. In der Stadt zur Ruhe zu kommen ist ein Ausgleich zum beschleunigten Alltag, zur Hektik, die sich durch viele Lebensbereiche zieht. Dort noch schnell etwas erledigen, da noch schnell einkaufen: Für Baur bedeutet Entschleunigung im öffentlichen Raum weniger Stress, mehr Platzangebote zum konsumfreien Verweilen, weniger Lärm und weniger erzwungene Achtsamkeit – dass man also nicht ständig darauf achten muss, ob im nächsten Moment ein Auto um die Ecke rast. Nico geht einen Schritt weiter, für ihn ist die Frage nach Entschleunigung im öffentlichen Raum zugleich eine Frage der Aneignung – eine Art Rückeroberung des von Autoverkehr und Wirtschaft eingenommenen Raumes, der eigentlich jedem und jeder gehört.
Tatsächlich verwandelte die Massenproduktion von Autos seit den 1920er-Jahren öffentliche Ruheorte in lärmende Verkehrsknotenpunkte. Die Zentren wurden zu Orten der Beschleunigung, mit dem Ziel, Straßenräume möglichst autogerecht zu erschließen. Immer mehr Menschen suchten die verloren gegangene Behaglichkeit in der Peripherie. Erst in den 1970er-Jahren begegnete die Stadt Wien den negativen Auswirkungen der Industrialisierung: Die erste Fußgängerzone wurde 1974 auf der Kärntner Straße als Protagonistin der Entschleunigung im öffentlichen Raum eröffnet. Binnen weniger Jahre entwickelte sie sich zur bekanntesten Einkaufs- und Flaniermeile Wiens. Fußgängerzonen waren erste Anzeichen der Rückeroberung eines beschleunigten Raumes mit dem Zweck des gemütlichen Flanierens. Weitere Fußgängerzonen folgten, etwa die Meidlinger Hauptstraße oder die Favoritenstraße. Mit der Fertigstellung der Fußgänger- und Begegnungszone Mariahilfer Straße im August 2015 setzt sich der Trend der Rückeroberung weiter fort. „Dabei wurde mit den Begegnungszonen eine geniale Form geschaffen, wie Straßenräume fair organisiert werden können“, so Baur. „FußgängerInnen und RadfahrerInnen haben mehr Freiraum, die Tempolimits für den Auto- und Radverkehr sorgen für Entschleunigung und höhere Aufenthaltsqualität.“
Die Rückeroberung des öffentlichen Raums, der Straßen und Räume fordert auch die Agenda-Gruppe „Öffentlicher Raum“ des achten Wiener Gemeindebezirks Josefstadt. Sie wünscht sich eine „Slow City“, die mehr Platz zum Ruhen, zum Bewegen und Genießen bietet. Die Agenda-Gruppe will öffentliche Räume so gestalten, dass sie eine hohe Lebens- und Wohnqualität sowie Überschaubarkeit aufweisen. Das heißt kurze und einfache Wege zwischen Erholung, Leben und Arbeiten. Die Gruppe wird dabei selbst aktiv, zum Beispiel indem sie während der Sommermonate an drei Samstagen parkende und fahrende Autos aus einigen Straßen verbannt und stattdessen die AnrainerInnen mit Liegestühlen, Sonnenschirmen und Rasenteppichen zur Gemütlichkeit animiert. „Slow City“ geht auf das Konzept der „città slow“ (italienisch/englisch: langsame Stadt) zurück, das 1999 in der toskanischen Stadt Greve gegründet wurde. Bei città slow geht es darum, die vorhandenen Werte einer Stadt zu erkennen und sie zu Orten des Genusses, der Entschleunigung und der Nachhaltigkeit auszubauen. Mittlerweile sind über 190 Städte weltweit mit der orangefarbenen Schnecke von città slow zertifiziert. Fastfood-Ketten oder Autos in der Innenstadt sind in den meisten dieser Kleinstädte tabu. Für Großstädte wie Wien kommen solche Zertifizierungen nicht infrage, da sie die Grenze von maximal 50.000 EinwohnerInnen überschreiten. Aber warum eigentlich nicht ein „Slow Grätzel“ schaffen?
Begehrte Grätzeloasen
Die Maßnahmen zur Gestaltung eines erholungsreichen Stadtraumes basieren alle auf demselben Prinzip: der Einbeziehung der BürgerInnen. „Die Planungsprozesse sind heute völlig anders als noch vor zwanzig Jahren“, so Andreas Baur. Die Entwicklung des Stadtraumes sei nicht „Good Will von irgendjemandem“, sondern Resultat von Befragungen und Miteinbindung von BürgerInnen. Sie sind die Fachleute ihrer Wohngebiete und können selbst Forderungen und Wünsche zur Verbesserung ihres Lebensraumes an die Stadt stellen, zum Beispiel im Rahmen der Grätzeloasen. Bei dieser Initiative können einzelne BürgerInnen Maßnahmen vorschlagen, die sie mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien im eigenen Grätzel umsetzen. Die Grätzeloasen finden regen Zulauf. Kleine Gärten und Sitzgelegenheiten werden am meisten gewünscht, aber auch Maßnahmen wie öffentliche Bücherschränke, gemeinsames Frühstück an verschiedenen Orten im Grätzel oder regelmäßige Singtreffs in Parks wurden bereits realisiert.
Öffentliches Schlafzimmer
Nico, der junge Sozialarbeiter, möchte in der Stadt lieber nicht selbst aktiv werden. Diese Aufgabe überlässt er der Stadt. Wenn er sich aber etwas wünschen dürfte, dann wäre das ein öffentliches Schlafzimmer, in dem er sich für ein bis zwei Stunden inmitten der Innenstadt hinlegen könnte. Andreas Baur bleibt lieber aktiv. Er wünscht sich, dass alle Parks in Wien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. So wie unlängst der kleine Liechtensteinpark im neunten Bezirk, den er wegen des alten Baumbestandes zu seinem liebsten Ort der Erholung nominiert.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin steindlirene@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Tradition
Seit Jahrhunderten hat die Siesta in Spanien Tradition. Zur sechsten Stunde nach Sonnenaufgang (sexta hora) kamen die Menschen von den Feldern und aus den Geschäften nach Hause und ruhten sich aus. Sie aßen miteinander und unterhielten sich im Kreis von Familie und FreundInnen. Es gab die „siesta con pijama“ – und die ohne. Wie lange sie auch dauerte: Sie galt als heilig. Als große kulturelle Leistung bezeichnete der politische Journalist Werner A. Perger die Zeit entspannter Kontemplation, den Brauch, mit dem Generationen hindurch vor allem im Süden Spaniens der großen Hitze begegnet waren.
Als Spanien Mitte der 1980er-Jahre der Europäischen Gemeinschaft beitrat, wurde schnell klargemacht: Ein Land, dessen AmtsträgerInnen die Mittagszeit verdösen, passt nicht in eine effiziente europäische Verwaltung. Größere Firmen der Privatwirtschaft regelten die Siesta – bzw. vielmehr deren Beseitigung – bald über den Kollektivvertrag. Weiter beschnitten wurde die Siesta im Jahr 2005, als die Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero die lange Mittagspause für die öffentlich Bediensteten strich.
„Reaktion auf die Schuldenkrise“, meldete die „Süddeutsche Zeitung“ am 29. Juli 2012, „Spanien schafft Siesta ab.“ Per 1. September 2012 „durfte“ der Einzelhandel, bis zu diesem Zeitpunkt eines der letzten wenigen Bollwerke gegen die Eliminierung eines Kulturgutes, durcharbeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde von 72 auf 90 Stunden ausgedehnt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Mittagspause für Geschäfte unter 300 m2 verpflichtend gewesen.
Faulenzen
„Siempre la siesta“ betitelte der „Spiegel“ einen Beitrag in seiner Ausgabe vom 24. Juni 2013, den der deutsche Politikwissenschafter Max A. Höfer mit einem Vorwurf einleitete: Durch die Euro-Krise würden die SüdeuropäerInnen gezwungen, wie die Deutschen zu leben. Konkret beklagt wurde die Abschaffung der Siesta im Herbst 2012 – laut dem deutschen Magazin war diese auf Druck der Euro-Troika zustande gekommen. Denn „Faulenzen“, selbst in brütender Mittagshitze, solle sich ein Land im Staatsbankrott nicht leisten können.
„Der Schlaf, der dem müßiggängerischen Faulenzen so ähnlich ist, stellt die totale Nutzbarmachung der Zeit fundamental in Frage“, schreibt Max A. Höfer in dem zitierten Artikel. So stünde der Schlaf bei den Puritanern seit jeher unter Generalverdacht. Höfer nennt den Anthropologen Matthew Wolf-Meyer, der in der umfangreichen Studie „The Slumbering Masses. Sleep, Medicine and Modern American Life“ zeigt, dass die ursprünglich puritanische, auf Nützlichkeit orientierte Einstellung zum Schlaf bis heute das Verständnis um ihn präge. Selbst die medizinische Schlafforschung der USA hätte lange darauf abgezielt, „den Schlaf zu amerikanisieren, indem sie sich auf Effizienz und Schlafmanagement konzentrierte“.
Der Kapitalismus, so der deutsche Ökonom und Politikwissenschafter Höfer, mache systematisch aus der Nacht einen Tag. Schlaf gelte mittlerweile als Managementproblem, das prinzipiell lösbar sei, wenn man nur rationale Mittel, etwa Medikamente, anwende. „Die Frage, ob und wann in hochbeschleunigten Wettbewerbsgesellschaften jemals Schlafenszeit ist, raubt vielen den Schlaf“, schreibt Elisabeth von Thadden in der „Zeit“ vom 21. Oktober 2014. Die Statistiken, Ratgeber und Illustrierten notierten seit Jahren immer aufgeregter die fiebrig ansteigenden Kurven der neuen Schlaflosigkeit, insgesamt gebe es heute über 80 schlafmedizinische Diagnosen.
Wenig Schlaf verdirbt die Laune
Einer der Diagnostiker ist Ingo Fietze, der den Anstieg der Schlafstörungen nicht nur auf längere Lebenszeit zurückführt: Stress in der Arbeit und zu Hause nage am Schlaf, die wachsenden Herausforderungen der Leistungsgesellschaft trügen das Ihre bei. Die häufigsten Schlafstörungen wie Insomnie, Schlafapnoe und unruhige Beine verkürzen die Lebenserwartung, erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf- und andere Erkrankungen. Sie verderben die Laune oder führen gar zu Depressionen, weiß der Experte.
Ein Erwachsener schläft im Schnitt 7 bis 7,5 Stunden. Der Anteil der KurzschläferInnen mit einer Schlafzeit von unter sechs Stunden steige dramatisch, so der Fachmann. Ein Experiment von Forschern an der Universität Freiburg, die mehrere StudentInnen unter Steinzeitbedingungen ohne externe Einflüsse unter Beobachtung stellten, zeigte, dass sich deren Schlafzeit um rund 90 Minuten verlängerte. Conclusio des Schlafexperten: Die Industrialisierung raubt uns den Schlaf. Die Siesta light wurde in den Ländern des Nordens durch den mittäglichen Powernap eingeführt, mit dem nicht nur etwaiger fehlender Nachtschlaf kompensiert werden sollte. Zwar hat sich der Kurzzeitschlaf am Arbeitsplatz nicht durchgesetzt, doch findet er weiterhin zahlreiche VerfechterInnen in der Wissenschaft.
„Warme Speisen ziehen Blut aus dem Gehirn Richtung Magen. Die Verdauung braucht Energie, die dem Gehirn fehlt“, transportiert Ingo Fietze das Sprichwort vom vollen Bauch in die Arbeitswelt. So sei es ökonomisch sinnvoll, zwischen 12.00 und 14.00 Uhr eine Siesta zu machen. „Jeder Arbeitgeber trifft eine gute Entscheidung, wenn er flexible Arbeitszeiten und Ruhepausen zulässt. Das erhält die Arbeitsmoral, die Leistungsbereitschaft und sicher auch den Spaß an der Arbeit.“ Allerdings, so sein Rat, sollte nach spätestens 40 Minuten der Wecker klingeln, um ein Absinken in den Tiefschlaf zu vermeiden.
Subversiver Schlaf
„Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit“, schreibt der Kunstkritiker Jonathan Crary in seinem 100-seitigen Essay „24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus“. Darin rechnet er mit einer Gesellschaft ab, in der die Menschen 24 Stunden auf Trab gehalten werden sollen: als KäuferInnen, KonsumentInnen, als ewig Erreichbare und Alarmierte. In ihr steht es nicht gut um den Schlaf. MedizinerInnen berichten von Netzsüchtigen, die mehrmals des Nachts E-Mails checken. Der Schlaf verkümmert so zum „sleep mode“, zu einer Art lästigem Bereitschaftsmodus, immer verfügbar für die wichtigen Nachrichten der realen Welt.
Schlafen statt schuften?
Wenn man so will, ließe sich der Siesta-Erlass des Bürgermeisters im spanischen Dorf Ador auch politisch interpretieren. Nach den Kommunalwahlen im Mai mussten die beiden etablierten Großparteien, Sozialisten und Konservative, zahlreiche Rathäuser räumen. Neue, oft linksalternative Wahlbündnisse – gegründet aus Protest gegen Korruption und rigiden Sparkurs – übernahmen das Ruder. Kann die Wiedereinführung der Siesta als Systemkritik verstanden werden? Heißt schlafen statt schuften die neue Devise? Joan Faus wehrt sich gegen eine Überinterpretation und zitiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Derzufolge ist ein 20- bis 30-minütiges Nickerchen zu Mittag der Gesundheit zuträglich. Außerdem, so Joan Faus, bewahre es besonders die Schwächsten vor einem Hitzschlag.
Linktipp
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Arbeit&Wirtschaft: Es ist viel von Beschleunigung die Rede: Wie real ist diese?
Franz Astleithner: Das wirklich zu messen ist schwer. Laut European Working Condition Survey geben in Österreich ein bisschen mehr als 60 Prozent an, noch genug Zeit zu haben, um ihre Arbeit erledigen zu können. Andere Entwicklungen sprechen wiederum dafür, etwa wenn man die Entwicklung bei psychischen Erkrankungen betrachtet.
Hartmut Rosa hat sehr schön aufgezeigt, dass es durch den technologischen Wandel und das Schaffen von Konsumbedürfnissen bei den Menschen mehr zu einem Kaufen statt einem Konsumieren von Produkten kommt. Um es plakativ darzustellen: Wie groß ist die Reihe von Büchern, die im Bücherregal zu Hause stehen, die man aber immer noch nicht gelesen hat? Aus der Perspektive von Rosa hat der technologische Fortschritt in gewisser Weise die emanzipatorischen Potenziale verloren, weil die Menschen nicht mehr die Zeit haben, die Dinge zu nutzen.
Dabei dienen die meisten Innovationen vor allem dem Ziel, die Menschen zu entlasten. Warum führt das eigentlich nicht zu einer Entschleunigung?
Theoretisch müsste das so sein. Aber historisch hat sich gezeigt, dass die technologischen Innovationen und der Produktivitätsfortschritt schlussendlich dazu geführt haben, dass die Menschen immer mehr arbeiten. Mit neuen Kommunikations- und Informationstechnologien ufern die Grenzen noch aus, und das verursacht massiven Stress.
Freizeit als Muße: Ist das weiterhin ein Privileg?
Beim Thema Muße – mehr Freizeit, die wir vielleicht faktisch haben, aber nicht erlebt fühlen können – muss man auch auf das eingehen, was der französische Soziologe (Alain, Anm.) Ehrenberg mit dem „erschöpften Selbst“ betitelt. In der heutigen Zeit kann man gemäß der Formel „Jeder ist seines Glückes Schmied“ eigene Entscheidungen treffen und eigene Wege gehen. Aber wir sind auch einem extremen Druck ausgesetzt, das Leben möglichst ideal zu verwerten.
Es ist inzwischen soziologischer Mainstream, dass es zu einer weiteren Ökonomisierung aller Lebensbereiche kommt. Der deutsche Philosoph Jürgen Rinderspacher sagt, dass es heutzutage den normativen Drang gibt, Zeit sinnvoll zu nutzen. Dieser wird viel über obere Mittelschichten reproduziert und verbreitet. Er bringt ein sehr schönes Beispiel, nämlich dass unsere Großeltern einfach noch ein paar Stunden auf der Bank vor dem Haus gesessen sind und in die Landschaft geschaut haben. Das würden heute viele als inferiore Zeitnutzung ansehen, wie er es nennt. Heutzutage müssen wir schon in einen Aschram nach Indien fliegen.
Sind Auszeiten Ausdruck für eine beginnende Entschleunigung?
So, wie es gelebt wird, ist es eigentlich eher eine kurze Ausflucht. Ein Sabbatical kann man interpretieren als eine kurze Auszeit von diesem Verwertungsdruck der Erwerbsarbeit, um sich wieder zu regenerieren. Das wirkliche Aussteigertum gibt es heute weniger als zum Beispiel in den Siebzigerjahren.
Man hat das Gefühl, wenn man nicht seine Karriere, seine Biografie durchzieht, ist man irgendwann weg vom Arbeitsmarkt und kommt nicht mehr so leicht zurück. Man braucht sich ja nur die Studien heute anschauen, die viel straffer organisiert sind. Die Studienpläne sind viel verengter – und eigentlich kann man sagen darauf ausgerichtet, die Menschen für die Erwerbstätigkeit verkaufbar zu machen.
Es haben also nicht alle die Möglichkeit, aus der Beschleunigung auszusteigen?
Keinesfalls. Dieser Diskurs über die Generation Y und die stärkere Freizeitorientierung ist eher ein Mittelschichts-Phänomen. In weniger privilegierten Schichten stellt sich die Frage viel, viel weniger, ob man jetzt mal die Arbeitszeit reduziert. Wenn ich meinen schlecht bezahlten 40-Stunden-Job habe, bleibt nicht mehr viel Raum für mehr Muße.
Eine interessante Parallelität: Man spricht von einer Jugend, die sich nicht mehr unter Druck setzen lassen will, während gerade eine Jugend aufwächst, die total unter Druck gesetzt wird.
Das ist ein bisschen eine Paradoxie unserer Zeit. Das ist ähnlich wie die viel, viel stärkere Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit, während die Chancen auf Arbeit für einen immer größer werdenden Teil der Menschen nicht mehr gegeben sind. Wir haben immerhin eine bereinigte Arbeitslosenquote von knapp zehn Prozent.
Der gesellschaftliche Anspruch und die faktischen Möglichkeiten driften auseinander. Das ist beim Thema Muße und „mehr Zeit haben“ ähnlich. Partiell gibt es den Trend zu mehr Teilzeitbeschäftigung auf jeden Fall. Trotzdem würde ich sagen, dass es eher die Menschen betrifft, die es sich leisten können. In Niedriglohnsegmenten ist es dann eher unfreiwillige Teilzeit.
Der Wohlstand in unserer Gesellschaft ist sehr groß, zugleich haben ArbeitnehmerInnen wenig davon. Warum?
Da machen Sie mehrere Türen auf. Bei der Arbeitszeit selbst können wir eine starke Polarisierung feststellen. Einerseits gibt es jene, die arbeiten, manche haben viel längere Arbeitszeiten und machen viel, viel mehr Überstunden, viele stehen immer mehr unter Druck. Auf der anderen Seite gibt es eine immer größere Reservearmee von Arbeitslosen, die – um es in der marxistischen Terminologie zu fassen – den Druck auf die arbeitende Bevölkerung größer werden lassen, Arbeit zu jeglichen Bedingungen anzunehmen.
Die andere Tür sind die Löhne und die Produktivität: Seit den Siebzigerjahren hat sich die Produktivität in Österreich mehr als verdoppelt, doch die Arbeitszeit ist de facto seit 1975, als sie auf 40 Stunden reduziert wurde, kaum mehr gekürzt worden, zumindest nicht auf kollektivvertraglicher Ebene. Da spielen natürlich Mechanismen eine Rolle, wie Wohlstand verteilt wird, warum Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am steigenden Bruttoinlandsprodukt weniger beteiligt werden.
Zudem steigt die Zahl der unselbstständig Beschäftigten seit den Siebzigern kontinuierlich, doch die Lohnquote sinkt. Das heißt schlussendlich, wir haben eine Umverteilung von Löhnen zu Gewinnen und von Arbeit zu Kapital.
Welchen Sinn hat Arbeitszeitverkürzung?
Wenn man sich die gesellschaftliche Ungleichverteilung von Arbeit anschaut und die steigende Ungleichheit dazunimmt: Da könnte Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich ein Mittel sein, um die Ungleichheit zu verringern.
Arbeitszeitverkürzung würde außerdem wieder Arbeitskräftemangel herstellen, der derzeit auf makroökonomischer Perspektive nicht vorherrscht. Das würde das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital wieder ein bisschen in Richtung Arbeit verschieben. Der marxistische Ansatz lautet: Wenn man auf der einen Seite die Arbeit hat und auf der anderen das Kapital, die ausverhandeln, wer wie viel bekommt, ist natürlich eine große Zahl von Arbeitslosen für die Verhandlungsposition der Arbeiterinnen und Arbeiter schlecht. Arbeitszeitverkürzung ist eigentlich die einzige in dem politischen System durchsetzbare Stellschraube, wie man dieses Verhältnis wieder ein bisschen ebener machen könnte.
Die Beschäftigungswirksamkeit von Arbeitszeitverkürzung ist in der Literatur umstritten. Die neoklassischen Ansätze gehen eher davon aus, dass es keinen Effekt hat. Aber es gibt für Frankreich Beispiele, die berechnen, dass die Arbeitszeitverkürzung einen positiven Beschäftigungseffekt hat. Da gibt es per se keine Antwort, denn es kommt sehr stark darauf an, wie diese konkret ausgestaltet wird, wie das Verhältnis von Binnen- zu Außenmarkt ist. Ich halte sie für eine gesellschaftlich relevante und eigentlich zukunftsweise Maßnahme.
Gibt es Risiken?
Arbeitszeitverkürzung kann gesehen werden als Stellschraube, um die geschlechtergerechte Arbeitsteilung zur forcieren. Aber dass dies tatsächlich passiert, ist nicht gewiss. Es gibt Literatur, die davon ausgeht, dass die absolute Wahlfreiheit bei der Arbeitszeitgestaltung unter den Bedingungen, wie die Arbeitsverteilung gegenwärtig funktioniert, eher dazu führen würde, dass Männer noch mehr arbeiten und Frauen noch weniger. Arbeitszeitverkürzung wäre allerdings ein Mittel, damit wieder Ressourcen für eine Neuverhandlung von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung frei werden.
Das orthodoxe, ökonomische Argument lautet, dass es in einer internationalen Wirtschaft ein Produktivitätsnachteil ist, wenn die Lohnstückkosten steigen. Auch das ist wieder sehr relativ, weil es wieder sehr auf die Ausgestaltung ankommt. Und es zeigt sich, dass Arbeitszeitverkürzung Produktivitätszuwächse bewirkt. Die schwedischen und norwegischen Beispiele haben gezeigt, dass es mehr oder weniger eine Win-win-Situation für alle ist.
Arbeitszeitverkürzung wird auch als Möglichkeit gesehen, die negativen ökologischen Konsequenzen unseres Wirtschaftens zu reduzieren: Menschen müssen weniger pendeln, es wird weniger produziert, Stichwort Post-Wachstum. Aber es ist eher eine offene Frage, was die Leute dann wirklich machen: ob sie ökologisch sind, in die Bibliothek gehen und zum Buch greifen oder ob sie Fernreisen machen.
Ist Arbeitszeitverkürzung eine Maßnahme zur Entschleunigung?
Das würde ich auf jeden Fall so sehen, vor allem vor dem Hintergrund, dass schon ganz, ganz viele Beschäftigte mehr oder weniger am Limit arbeiten. Insofern ist eine weitere Intensivierung von Arbeit bei vielen schon schwer möglich. Bei einer Arbeitszeitverkürzung würde zumindest die Regenerationszeit mehr.
Weniger Arbeit und längere Regeneration bedeuten weniger Krankheiten: eine Entlastung gleichermaßen für die Firmen wie für die Gesellschaft?
Für die Gesellschaft jedenfalls. Für die Firmen ist es relativ. Die schwedischen Beispiele haben gezeigt: Die Firmen haben zwar weniger Krankenstände, aber diese werden ja normalerweise ab einem gewissen Zeitpunkt von der Sozialversicherung finanziert. Das heißt, im Endeffekt ist es für die Sozialversicherungsträger oder den Fiskus von Vorteil, aber nicht direkt für die Unternehmen.
Wobei man das auch als Chance für eine Senkung von Lohnnebenkosten sehen könnte.
Das Argument könnte man in jedem Fall ausbauen. Es gibt ja auch den Ansatzpunkt – das ist eher aus einer keynesianischen Perspektive –, dass Menschen mehr Zeit zum Konsumieren haben. Wenn die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich passiert, kann das auch die Nachfrage anregen.
Braucht es neue Konzepte für Arbeit, weil es vielleicht bald nicht mehr genug davon gibt?
Diese Theorien gibt es schon lange. Jeremy Rifkin hat vom Ende der Arbeit und von ihrer Zukunft geschrieben. Auch André Gorz hat in den Achtzigerjahren gemeint, dass uns die Arbeit ausgeht. Es gibt dazu unterschiedliche Einschätzungen: Einerseits hat der Kapitalismus die Fähigkeit, Nachfrage und Bedürfnisse zu schaffen, die individuell trotzdem dazu motivieren, dass man viel arbeitet.
Andererseits ist die Arbeitslosigkeit durchwegs am Steigen, von daher hat dieses Argument schon etwas, es ist allerdings umstritten. Empirisch steigt die Arbeitslosigkeit, das ist das einzig Sichere.
Firmen wie Google oder Microsoft scheinen die Potenziale der Entschleunigung erkannt zu haben.
Dafür ist die Zeit, die Menschen dann im Büro verbringen, sehr, sehr lang. Da geht es um die Übernahme dessen, was Marx das Insubordinationsproblem nennt: dass die Arbeiterinnen und Arbeiter kontrolliert werden müssen, um überhaupt zu arbeiten. Heute ist Selbstkontrolle ganz, ganz stark, sodass sich die Arbeiter selbst marktförmig organisieren und verhalten. Man muss das deshalb sehr, sehr kritisch betrachten, weil sich die Leute im Endeffekt in die freiwillige Selbstausbeutung begeben.
Dazu kommt der Diskurs, dass Arbeit Spaß machen muss. Das wird in den Firmen aktiv forciert, was aber dazu führt, dass Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zur Gänze verschwimmen. Und wenn Arbeit keinen Spaß macht, ist man als Individuum auch selbst schuld und hat selbst etwas falsch gemacht.
Wenn selbst an die Freizeit so viele Ansprüche gestellt werden: Kann man sie dann überhaupt noch genießen?
Das ist eine wirklich schwierige Frage. Die Antwort wäre vielleicht, dass man sich der kommerzialisierten Form der Freizeit entzieht. Aber das schafft niemand.
Klingt nach Enthaltung und Askese. Ist es nicht letztlich ein Fortschritt, dass mehr Menschen Freizeit haben?
Ja natürlich, wir leben in einer Zeit, in der es höchste Zeit für mehr Freizeit ist! Dass das mit Askese zu tun hat, ist nicht gesagt. Man muss hier zwischen Freizeit und Konsum unterscheiden. Und dass der Konsum kurzlebiger Güter problemtische Folgen hat, sieht man an jeder Ecke. Stephan Lessenich nennt das die Externalisierungs-Gesellschaft. Unsere derzeitigen Wirtschaftsweisen und der Reichtum des Westens funktionieren einerseits über Ausbeutung von Ressourcen von anderen Ländern und gleichzeitig über das Vernichten von Zukunftsoptionen zukünftiger Generationen durch die ökologische Zerstörung. Er hat da einen wunderbaren Vortrag auf dem deutschen Kongress für Soziologie gehalten, wo er in Anspielung auf den Monty-Python-Film gefragt hat: „Was hat der Kapitalismus je für uns getan?“. Er hat in den westlichen Ländern Wohlstand für ganz, ganz viele ermöglicht, für die Arbeiterschaft. Das aber auf Kosten von ganz, ganz vielen anderen.
Mit den Flüchtlingen kommt dieser Bumerang nun zurück. Allerdings könnten manche diese Situation als Argument gegen Arbeitszeitverkürzung verwenden.
Genau deswegen brauchen wir eine Arbeitszeitverkürzung, weil wir ja mehr Menschen in den Arbeitsmarkt bringen wollen.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
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]]>Kommunikation mit Angehörigen
Für Flüchtlinge hat das Internet eine große Bedeutung. Grundsätzlich erfahren sie darüber wohl, wo sie nun eigentlich gelandet sind. Vor allem ist es der Kommunikationskanal, um mit ihrer Familie in Kontakt zu treten. Diese bangt natürlich um ihre Angehörigen, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa gemacht haben. Über Skype, WhatsApp oder soziale Netzwerke tauschen sich die Flüchtlinge also mit ihrer Familie aus, mit FreundInnen oder auch neuen Bekanntschaften, die sie auf ihren Fluchtwegen gemacht haben. Zugleich können sie sich über die Ereignisse in ihren Heimatländern informieren, nach Anlaufstellen suchen und ihre weiteren Wege planen.
Manche haben die Bedeutung dieses Mediums für die Flüchtlinge erkannt. In Traiskirchen etwa hat die Partei „Der Wandel“ einen Wlan-Hostspot bereitgestellt. Eine Privatperson stellte ihren Dachboden als Standort für die Anlage zur Verfügung. Auch in Deutschland versorgt die Initiative „Freifunk“ die Flüchtlinge in verschiedenen Städten mit frei zugänglichem Wlan. Am Wiener Hauptbahnhof stellten Privatpersonen ebenfalls kurzerhand Wlan-Router zur Verfügung, nachdem sie erfahren hatten, dass es daran mangelte.
Organisation 2.0
Für die vielen Freiwilligen, die Flüchtlinge nun schon seit einigen Monaten unterstützten, ist das Internet ebenfalls ein Segen. Schon bei der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die unhaltbaren Zustände in Traiskirchen spielten soziale Medien eine wichtige Rolle. Manche ließen sich von den Flüchtlingen den Kontakt geben, um vor dem nächsten Besuch nachfragen zu können, was diese wirklich brauchen. Über soziale Medien wurden Besuche koordiniert, Informationen über gebrauchte Sachspenden weiterverbreitet, der Einsatz Freiwilliger beim Sortieren von Sachspenden organisiert und Bilder vom Lager an die Öffentlichkeit getragen. Auch die Flüchtlinge konnten sich zu Wort melden und schickten immer wieder Videos aus dem Inneren des Lagers weiter.
Das Internet hat sich nicht nur in den sogenannten industrialisierten Ländern tief in den Alltag der Menschen eingegraben. Auf der ganzen Welt dient es Menschen als einfaches wie praktisches Kommunikations- und Informationsmittel. Manche schöpften daraus große Hoffnungen: Die Welt würde zu einem Global Village zusammenwachsen, in dem alle Menschen gleichen Zugang hätten und auf Augenhöhe miteinander kommunizieren würden.
Die Wahrnehmung über die Verbreitung des Internets ist in unseren Breiten vielfach von Vorurteilen geprägt. So wurden Ressentiments über die angeblich zu gut versorgten Flüchtlinge mit Smartphones geschürt. Die Nutzung des Internets bzw. von mobilen Geräten ist allerdings kein westliches Privileg. Gerade Asien verzeichnet einen massiven Zuwachs an InternetnutzerInnen, fast die Hälfte der weltweiten SurferInnen geht dort ins Netz. Nichtsdestotrotz sind Europa, die USA, Australien und Neuseeland jene Regionen der Welt, in denen die meisten Menschen im Verhältnis zur EinwohnerInnenzahl Zugang zum Internet haben. Es gilt also weiterhin, eine große Kluft zu überwinden, denn in den sogenannten Entwicklungsländern hat ein Drittel der Menschen Zugang zum Internet, in den sogenannten Industrieländern sind es 80 Prozent.
Digitale Kluft
Doch auch in Europa oder in den USA gibt es eine digitale Kluft. Eine Untersuchung des Rats der Wirtschaftsberater im Weißen Haus ergab etwa, dass nur drei Viertel aller US-Haushalte online sind, in den einkommensschwächsten Landesteilen sogar nur 50 Prozent. Dazu kommt ein klares Stadt-Land-Gefälle bei der Geschwindigkeit. Gleiches gilt im Übrigen für Österreich.
Netzneutralität: So lautet ein Schlagwort, das eine Hoffnung auf Egalität im Internet zusammenfasst. Allerdings geht es dabei nicht so sehr um den grundsätzlichen Zugang zum Internet, sondern vielmehr um die Geschwindigkeit, mit der die Daten der Individuen weitertransportiert werden. Vom Anspruch her sollten diese Daten gleich behandelt werden – in anderen Worten neutral –, egal, ob sie eine große US-Firma verschickt oder ein Flüchtling. Wer ein Geschäft machen will, ist aber natürlich bestrebt, dem besser zahlenden Publikum mehr zu bieten als weniger zahlungskräftigen KundInnen.
Die Initiative für Netzfreiheit engagiert sich deshalb in Österreich dafür, dass diese Netzneutralität gesetzlich festgeschrieben wird. „Eine Abkehr vom Prinzip der Netzneutralität hätte weitreichende Konsequenzen für Wirtschaft, kulturelle Vielfalt und Grundrechte im Internet“, mahnt die Initiative in ihrem Forderungskatalog. „Die Pläne mancher Provider zur Segmentierung ihres Netzwerks würden das Internet als barrierefreien Markt zerstören. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen würden von der gleichberechtigten Teilnahme am Internetmarkt abgehalten.“
Innovationen
Je nachdem, wie Zugang und Nutzung des Internets gestaltet sind, können sich also Chancen ergeben – oder eben alte Ungleichheiten reproduziert werden. Ein großes wirtschaftspolitisches Anliegen etwa ist, dass Innovationen nicht mehr das Monopol von großen und zahlungskräftigen Firmen bleiben sollen, die über entsprechende Ressourcen verfügen, um weiterzuentwickeln – und aufgrund ihrer Monopolstellung den KundInnen ihre Produkte um viel zu teures Geld verkaufen. Eine App, die barrierefreie Wege aufzeigt, eine andere, die – so banal dies klingen mag – den Weg zur nächsten öffentlichen Toilette weist, eine weitere, die den Weg durch den Dschungel einer bestimmten Behörde weist: Das sind nur kleine Beispiele.
Neue Chancen für Gewerkschaften
Auf politischer Ebene wiederum kämpfen AktivistInnen für den offenen Zugang von Regierungsdaten – gerade in Österreich ein harter Kampf. Dabei könnte der Zugang zu öffentlichen Daten einerseits wirtschaftliche Innovationen fördern, wofür sich etwa die Open Knowledge Foundation einsetzt.
In Österreich kämpft das Forum Informationsfreiheit für einen transparenten Staat. Nicht nur JournalistInnen, sondern auch die BürgerInnen selbst sollen im Sinne von demokratischer Kontrolle Zugang zu staatlichen Daten haben. So soll die Kontrolle staatlichen Handelns sowie der sorgfältige Einsatz von Steuergeldern nicht nur JournalistInnen möglich werden, sondern letztlich allen BürgerInnen. Ob Staat, Wirtschaft oder Gesellschaft: Auf vielen Ebenen werden traditionelle Strukturen nicht nur infrage gestellt, sondern bisweilen sogar überholt.
Auch für Gewerkschaften ergeben sich hier neue Chancen: BetriebsrätInnen können die neuen Medien nutzen, um KollegInnen zu organisieren, die auf heterogene Standorte aufgeteilt sind. Auch die Organisation von prekären Gruppierungen oder die Vernetzung mit anderen AkteurInnen lässt sich via Internet einfacher bewerkstelligen. Die Undok-Stelle, die sich für undokumentierte ArbeiterInnen einsetzt, ist dafür ein neueres Beispiel, die Vernetzung der atypischen oder migrantischen ArbeitnehmerInnen in der GPA-djp ein schon länger etabliertes.
Nicht zuletzt bietet das Internet einen völlig neuen Raum für Gegenöffentlichkeiten. Ob es um Griechenland geht, um Vermögenskonzentration und Umverteilung oder neue Formen der Ausbeutung: Auch Gewerkschaften eröffneten sich alternative Kanäle abseits des neoliberalen Diskurses, die noch dazu über soziale Netzwerke unkompliziert verbreitet werden können. Die ersehnte Gleichheit hat auch das Internet nicht gebracht. Solange Ungleichheit die Welt regiert, wird sich daran auch so schnell nichts Grundlegendes ändern. Die Voraussetzungen könnten aber schlechter sein.
Linktipps:
International Telecommunication Union – „The world in 2015“
tinyurl.com/ooo65pz
Forum Informationsfreiheit
www.informationsfreiheit.at
Open Knowledge Foundation
okfn.at
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja.fercher@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Verhalten vorhersagen
Mithilfe statistischer Verfahren können sogar Prognosen über unser zukünftiges Verhalten getroffen werden. Aus vergangenen Aufenthaltsorten lassen sich etwa mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unsere zukünftigen Aufenthaltsorte vorhersagen. Andere wissenschaftliche Studien haben belegt, dass sich allein aus sogenannten Metadaten, also etwa der Häufigkeit von Anrufen, mit erstaunlich hoher Zuverlässigkeit auf Charaktereigenschaften wie psychische Instabilität, mangelnde Gewissenhaftigkeit oder soziale Unverträglichkeit schließen lässt. Die US-Firma Cignifi nutzt etwa genau solche Telefon-Metadaten, um die Kreditwürdigkeit von KonsumentInnen einzuschätzen – ganz ohne Zahlungshistorie. Gleichzeitig haben wir kaum eine Wahl. Wer heute ein Telefon benutzen möchte, kann nicht entscheiden, ob, sondern höchstens wer Zugriff auf die erfassten Daten erhält.
An den dominanten Herstellern der Smartphone-Betriebssysteme führt praktisch kein Weg vorbei. Ohne einen BenutzerInnen-Account bei Google, Apple oder Microsoft lassen sich die Geräte kaum sinnvoll nutzen Dazu greift ein großer Teil der von dritten Unternehmen angebotenen Zusatz-Apps auf Kontakt- oder Standortdaten zu. In diesen Apps sind oft weitere versteckte Dienste von wieder anderen Firmen eingebaut. Für die KonsumentInnen unsichtbar erfasst etwa der inzwischen von Yahoo gekaufte Dienst Flurry das Nutzungsverhalten von global 1,4 Milliarden Menschen in über 500.000 unterschiedlichen Apps. In Folge werden diese Menschen kategorisiert und klassifiziert – nach Alter, Geschlecht, ihrem Interesse für Finanzprodukte, ihrer sexuellen Orientierung oder als „neue Mütter“ (im Übrigen eine besonders lukrative Zielgruppe für gezielte Werbung).
Einkäufe und Facebook-Likes
Doch wie lassen sich solche Informationen extrahieren? Die US-Supermarktkette Target etwa konnte schwangere Frauen und sogar deren Geburtstermine anhand einer Analyse der gekauften Produkte identifizieren. Recherchen des Journalisten Charles Duhigg zufolge zog Target dafür Schlüsse aus der Menge bestimmter Hautlotionen, Seife, Watte, Waschlappen oder Nahrungsergänzungsmitteln, die in gewissen Zeitabständen gekauft wurden. WissenschafterInnen der Universität Berkeley wiederum konnten allein auf Basis von Facebook-Likes mit relativ hoher Zuverlässigkeit auf persönliche Eigenschaften schließen – etwa auf Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit, politische Einstellung, Religion oder Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsum. Diese „Likes“ – also die von den NutzerInnen angegebenen Interessen und Vorlieben – stellen eine ähnliche Art von Daten dar wie unsere Einkäufe, unsere Suchbegriffe oder die Websites, die wir im Netz besuchen.
Wiedererkennen und zuordnen
Der Aufruf einer Website oder der Gebrauch eines Smartphones setzt heute meist eine ganze Kaskade an verborgenen Datenübertragungen in Gang. Fast alle gut besuchten Websites haben eine Vielzahl an Diensten eingebaut, die jeden unserer Klicks an unzählige dritte Unternehmen übermitteln.
Mithilfe sogenannter Cookies können die NutzerInnen jedes Mal wiedererkannt werden – auch über mehrere Websites hinweg. Der Benutzer-Account auf den großen Plattformen wie Google oder Facebook dient dabei zunehmend als Ankerpunkt, um die aufgezeichneten Verhaltensweisen auf unterschiedlichen Websites und Geräten mithilfe von Telefonnummern und E-Mail-Adressen immer wieder einzelnen Personen zuordnen zu können. Zudem sammelt etwa Facebook samt seinen Tochterfirmen wie WhatsApp oder Instagram durch den Zugriff auf die Adressbücher der NutzerInnen auch Daten über diejenigen, die gar nicht angemeldet sind.
Alte und neue Player
Darüber hinaus kooperiert Facebook nun auch mit Datenhandelsunternehmen, die schon seit Jahrzehnten im Geschäft sind. Ein Beispiel ist die US-Firma Acxiom, die über bis zu 3.000 Eigenschaften von 700 Millionen Menschen verfügt, darunter auch Daten über alle deutschen Haushalte. Acxiom betreibt unter anderem die Kundendatenbanken von 15.000 globalen Top-Unternehmen und arbeitet auch mit Google und Twitter zusammen.
Durch Partnerschaften wie diese können die digitalen Persönlichkeitsprofile der Online-Firmen endlich mit den langjährig angesammelten Beständen der alten Datenhandelsunternehmen verknüpft werden. Dazu kommen KundInnendatenbanken Abertausender weiterer Unternehmen. Damit wird es möglich, scheinbar anonyme BesucherInnen bestimmter Websites an der Kasse im Geschäft als genau jene wiederzuerkennen und umgekehrt. Die Zuordnung erfolgt mittels der gleichermaßen bei den Online-Plattformen wie auch im Handel hinterlegten Telefonnummern oder E-Mail-Adressen – und über Cookies und teils mehreren Zwischenstationen.
In den letzten Jahren sind globale Netzwerke aus Unternehmen entstanden, die umfassende Informationen über KonsumentInnen aus vielfältigen Online- und Offline-Quellen erfassen und diese miteinander verknüpfen. Die Daten werden einerseits für personalisierte Werbung eingesetzt. Diese Art der Werbung hat allerdings nur mehr wenig mit dem gemein, was wir bis vor Kurzem noch unter diesem Begriff verstanden haben. Die Einblendungen erfolgen gezielt auf der Ebene einzelner Personen – auf Basis von deren Verhalten. Es ist nur ein kleiner Schritt von dieser Art der personalisierten Werbung zu einer Praxis, in der Einzelne auf Basis ihrer Daten völlig unterschiedliche Angebote bekommen – oder gar individuelle Preise für die gleichen Produkte, wie bereits in vielen Online-Shops üblich.
Im Endeffekt werden die KonsumentInnen auf Schritt und Tritt beobachtet, analysiert und klassifiziert. Wie lukrativ sind einzelne KundInnen? Wem werden welche Zahlungsoptionen im Online-Shop angeboten? Die Grenzen zwischen Marketing und der Bewertung von KonsumentInnen nach ihrer Kaufkraft oder ihrer Kreditwürdigkeit verschwimmen immer mehr. Gleichzeitig betrachten die Unternehmen ihre Datenbestände und Analyse-Technologien als Geschäftsgeheimnisse. Für Einzelne ist völlig intransparent, wie sie eingeschätzt werden und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Kommerzielle Überwachung
Viele Praktiken der Unternehmen sind nach europäischem Datenschutzrecht illegal. Trotzdem geht die Entwicklung rasant voran – getrieben von großen Kapitalsummen, die in Geschäftsmodelle fließen, die auf der Verwertung persönlicher Daten beruhen. Internationale Versicherungen befassen sich bereits damit, Krankheitsrisiken aus dem Einkaufsverhalten abzuschätzen. Andere Firmen arbeiten an Bonitätsbewertungen oder an der Einschätzung von Job-BewerberInnen unter Einbeziehung von Online-Daten. Gleichzeitig erfassen im sogenannten Internet der Dinge immer mehr Geräte Informationen über unseren Alltag – von E-Book-Lesegeräten, Fitness-Armbändern und Überwachungsboxen im Auto bis zu vernetzten Thermostaten. Für das Individuum ist es schon heute schwierig bis unmöglich, dieser kommerziellen Überwachungsmaschine zu entkommen.
Noch schlimmer: Wer nicht teilnimmt, macht sich erst recht verdächtig und wird im Zweifel negativ eingestuft. Allgegenwärtige digitale Überwachung könnte künftig drastische Auswirkungen auf die Autonomie des Einzelnen haben. Wenn sich Gesellschaft und Politik nicht bald sehr viel nachdrücklicher für diese Entwicklungen interessieren, wird uns die Tech-Industrie vor vollendete Tatsachen stellen.
Linktipp:
„Kommerzielle digitale Überwachung im Alltag“: Studie von Wolfie Christl im Auftrag der AK.
tinyurl.com/q6y97o8
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor cw@crackedlabs.org oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Erleichterungen
Heutzutage hat jeder Job digitale Aspekte, sie können die Arbeit bereichern oder dequalifizieren. Dank maschineller Assistenz kann ein Mensch mit Behinderung einen anspruchsvollen Arbeits-platz finden, einem/einer HeimhelferIn wiederum könnte dank mobiler Eingabe der Dokumentation mehr Zeit für das persönliche Gespräch bleiben. Zugleich reduziert die Digitalisierung die menschliche Tätigkeit auf maschinelle Überwachung und Algorithmenkontrolle, dann bleibt etwa den ÜbersetzerInnen nur noch das Korrigieren sprachlicher Fehler.
Mensch und Maschine kommen einander näher: Roboter Nao wird als Geografiehilfslehrer eingesetzt. Motoman SDA5 kocht mit zwei überdimensionierten Greifarmen Krabbensuppe. YuMi baut Seite an Seite mit seinem menschlichen Kollegen Schaltschränke zusammen. DaVinci operiert in den USA immer öfter Gallenblasen, doch als Ersatz für seine menschlichen KollegInnen ist er noch zu teuer. Anders ist die Lage in der Autoproduktion: Hier kostet die menschliche Arbeitsstunde 50 Euro pro Stunde, der blecherne Kollege hingegen nur vier bis sechs Euro. Der Einsatz von Robotern bleibt jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Anfang Juli zeigte der erste tödliche Roboterunfall in der Geschichte die Gefahren auf – von der Vielzahl an Fragen rund um autonom fahrende Fahrzeuge einmal abgesehen.
Die Qualität der Arbeitsbeziehung Mensch‒Roboter entsteht erst, unbestritten verändert sie Wert-schöpfungsketten und Arbeitsorganisation. „Industrie 4.0 führt in der Sachgüterproduktion zum Personalabbau. Zugleich werden neue hoch qualifizierte Berufe entstehen, um die Maschinen zu steuern und zu kontrollieren. Arbeitsplätze mit wenig Produktivität wie Regalbetreuung oder Kassadienst kommen unter die Räder“, sagt Gernot Mitter, Arbeitsmarktexperte der AK Wien.
Die Digitalisierung überträgt die Maschinentaktung 24/7 auf die klassische Büroarbeit. Seitdem wir Computer in Taschengröße als Smartphones immer bei uns tragen, ist berufliche Erreichbarkeit eine Selbstverständlichkeit. Eine IFES-Studie bestätigt die entgrenzte Arbeitskultur: Fast die Hälfte der Angestellten verbringt einen Gutteil ihrer Arbeitszeit unterwegs. Aufschlussreich ist, dass die MitarbeiterInnen dies durchwegs freiwillig tun, überwiegendend ohne finanzielle oder zeitliche Entschädigung.
In den Frühzeiten des Handys war das mobile Büro Inbegriff der neuen Arbeitsfreiheit. Heute bevölkern Massen von Laptop-ArbeiterInnen Züge, Kaffeehäuser oder Parkbänke, ohne sonderlich fröhlich zu wirken. Dabei könnte es für beide Seiten Vorteile haben: Unternehmen sparen sich Kosten für Büroinfrastruktur, ArbeitnehmerInnen haben mehr Flexibilität in der Zeitgestaltung und ersparen sich etwa das tägliche Pendeln. Voraussetzung ist allerdings, dass man lernt, selbst Grenzen zur Arbeit zu ziehen – und dass das Unternehmen eine Kultur pflegt, die dies als Arbeitstugend schätzt. „Deshalb riefen wir die GPA-djp-Kampagne ‚Schalt mal ab!‘ ins Leben“, so Clara Fritsch. Denn die Zunahme psychischer Erkrankungen kann im Zusammenhang mit dieser „Always on“- Mentalität stehen. In Führungskreisen ist Nicht-Erreichbarkeit im Übrigen längst schick: Urlaub in Hotelanlagen mit Device-free-Zones sind in, um das Offline-Sein zu genießen.
Digitaler Taylorismus
Die Digitalisierung macht persönliche Kontrolle des Personals immer weniger wichtig. Genauer als jede Stechuhr und aufmerksamer als jede/r Vorgesetzte kontrollieren und beurteilen die Arbeitsgeräte selbst die KollegInnen. Das Echtzeit-Monitoring ermöglicht stark individualisierte Leistungsbemessung und Kontrolle: Wie lange braucht jemand für eine Aufgabe hier oder in Vietnam? Effizienzsteigerung und Arbeitsverdichtung sind nicht nur für Konzerne Thema. Auch der Handwerksbetrieb schickt der Servicetruppe neue Arbeitsaufträge direkt aufs Handy. GPS-Lokalisierung reduziert „leere Fahrten“, weil der/die Vorgesetzte weiß, wer am nächsten bei der neuen Kundschaft ist.
Allein in der Crowd
Die fortschreitende Globalisierung reduziert die Kern- und baut die Randbelegschaften aus. Digitale Dienstleistungen werden immer öfter an die Crowd vergeben. Sie heißen CrowdFlower, freelancer.com oder Humangrid: Diese Arbeitsvermittlungsplattformen nehmen gegen Provision Aufträge von Unternehmen an und vermitteln die Jobs an die registrierten Crowd-Mitglieder.
Bezahlt wird auf Honorarbasis nach erfolgreich erledigtem Job: Der durchschnittliche Stundenlohn schwankt zwischen 1,25 Dollar bei Mechanical Turk (der ältesten Plattform, gegründet von Amazon) und bis zu 9,40 Euro beim deutschsprachigen Clickworker. Was in europäischen Sozialstaaten ein Hungerlohn ist, ist für einen indischen Crowdworker lukrativ. Als bekannt wurde, dass IBM eine Crowd beauftragte, um diese in Konkurrenz zum eigenen Entwicklungsteam zu stellen und so Hunderte Arbeitsplätze abzubauen, erkannte die deutsche Gewerkschaft den Handlungsbedarf. Christine Brenner, Vorsitzende der IG Metall: „Komplexe Aufgaben werden oftmals in kleine Teilaufgaben zerlegt, bevor sie ausgeschrieben werden, was die Arbeitsaufgabe dequalifiziert und so die Bezahlung senkt.“ Und das trifft für die Mehrheit der Minijobs zu. „Crowdworking ist eine neue Spielart der Arbeitsorganisation und noch in der Probephase. Es wird sich aber auch auf die Gestaltung des Normalarbeitsverhältnisses auswirken“, gibt Walter Peissl vom Institut für Technikfolgenabschätzung zu bedenken.
Es entstehen immer vielfältigere Arbeitsformen. Martin Risak verweist in seinem Blog-Beitrag auf einen aktuellen Bericht der „European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (eurofund)“. Darin werden neue Arbeitsformen erstmals zusammengefasst und strukturiert dargestellt. Insgesamt neun verschiedene Typen kennt der Bericht: Neben der Crowd gibt es etwa „Casual Work“, also Arbeit auf Abruf. Eine andere Variante ist Job-Sharing: „Mehrere ArbeitnehmerInnen teilen sich einen Arbeitsplatz und koordinieren ihre Verfügbarkeiten selbst.“ Auch eine Bezahlung in Form von Gutscheinen oder Schecks, „Voucher-based Work“ genannt, kennt die neue Arbeitswelt.
Klassenkampf reloaded
Wer profitiert von den Produktivitätsgewinnen und wer verliert? Zwischen 2007 und 2015 verdoppelte sich die Zahl der Millionäre, vier der Top Ten verdienten ihr Geld durch Informationstechnologie. Gernot Mitter sieht die Perspektive in einer noch stärkeren Spaltung. „Ein schwaches Drittel wird relativ gute Jobs haben und die anderen zwei Drittel werden auf prekäre Erwerbsformen zurückgeworfen.“
Existenzsichernde wie gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen einzufordern und wachsam gegenüber neuen Erwerbs- und Überwachungsformen zu sein bleibt gewerkschaftliche Aufgabe. Um mit der Halbwertszeit von Wissen Schritt zu halten, wird die Forderung nach Weiterbildung existenziell. In einer Arbeitswelt, die Zeit und Raum als berufliche Orientierungsraster aufweicht, nimmt Vereinzelung trotz steigender Kommunikationsdichte zu.
Solidarisches Handeln braucht gemeinsame soziale Erfahrungen – auch dies ein Auftrag an die ArbeitnehmerInnen-Vertretung. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Arbeits-Crowd genossenschaftlich in Coworking-Places organisiert, um Arbeitsrechte einzufordern, oder ob ein Heer digitaler und isoliert auftretender HeimarbeiterInnen um lukrative Aufträge und gute Bewertungen rittert.
Linktipps:
Arbeit&Wirtschaft-Blog
blog.arbeit-wirtschaft.at/neue-arbeitsformen
FairCrowdWork Watch
www.faircrowdwork.org
Grünbuch Arbeiten 4.0 zum Downloaden
tinyurl.com/nblpvx2
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin beatrix@beneder.info oder die Redaktion aw@oegb.at
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Arbeit&Wirtschaft: Wie mobil sind eigentlich Sie selbst in Ihrer Arbeit?
Sabine Köszegi: Komplett! Ich arbeite zum Beispiel auf dem Weg in die Arbeit, da gehe ich meine E-Mails durch oder telefoniere, und ich arbeite viel von zu Hause. Für mich passt das perfekt.
Sie haben zwei Kinder. Wie ist Ihre Erfahrung mit der Abgrenzung von Beruf und Familie oder Freizeit?
Das ist ein Riesenthema. Es ist aber eine Kompetenz, die man erwerben kann. Unsere Studentinnen und Studenten müssen das zum Beispiel auch lernen. Sie haben im Grunde genommen kein Wochenende, wenn sie es nicht als Wochenende definieren, und sie haben auch keinen freien Abend, wenn sie nicht sagen: So, und jetzt ist Freizeit. Sie könnten sich ja permanent vorbereiten, lernen, studieren und aktiv sein. Manche kommen damit besser zurecht, manche schlechter.
Genauso ist es mit flexiblem Arbeiten. Zum Beispiel: Dienstag ist mein Home-Office-Tag, da hole ich meine Kinder um drei und nicht erst um fünf Uhr ab und verbringe den Nachmittag mit ihnen. Diese zwei Stunden arbeite ich ganz locker um neun Uhr ein, wenn die Kinder im Bett sind. Wichtig ist aber auch, dass man selbst bestimmte Zeiten fixiert: Ich mache das von neun bis elf am Dienstagabend und nicht jeden Abend. Und ich teile mir die Arbeit so ein, dass ich sie in dieser Zeit schaffe. Im Gegenzug nehme ich Freizeiten, die in die reguläre Nine-to-five-Arbeitszeit fallen.
Die eine Seite sind also die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst. Die andere Seite ist, dass es von der Arbeitgeberseite klare Spielregeln geben muss. Derzeit ist das aber in kaum einem Unternehmen geregelt. Die Leute bekommen mobile Devices und dürfen auch mobil arbeiten. Aber es ist ihnen nicht klar, wie viel sie eigentlich erreichbar sein müssen. Was dann implizit dazu führt, dass sie das Gefühl haben, dass sie das Mobiltelefon nicht auf die Seite legen oder abschalten dürfen, sondern permanent erreichbar sein müssen. Das verursacht dann schlussendlich Stress, weil es keine wirklichen Erholungsphasen gibt und man quasi permanent unter Strom steht. Deshalb braucht es auf beiden Seiten Richtlinien, Regeln und Vereinbarungen, aber eben auch Kompetenzen.
Welche flexiblen Modelle gibt es?
Das geht von flexibler Tagesarbeitszeit, Stichwort Gleitzeit, über flexible Wochenarbeitszeit bis hin zu flexibler Arbeitszeit über das Jahr gesehen oder sogar bis zur flexiblen Lebensarbeitszeit. Letztere kann dann natürlich Familien- und Lebensplanung mit berücksichtigen. Es ist wichtig, insbesondere für Frauen, bei den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diese sehr umfassende Definition von Flexibilisierung im Auge zu haben.
Was weiß man über die Erwartungen der Arbeitgeber?
Das ist eben völlig unklar, weil es kaum Unternehmen gibt, die das tatsächlich in Vereinbarungen regeln. Die Bitkom-Studie hat das für Deutschland erhoben, und da gibt es eine große Kluft: Die ArbeitnehmerInnen glauben, deutlich mehr erreichbar sein zu müssen, als es die Arbeitgeber von ihnen erwarten. Aber es wird nie explizit ausgesprochen.
Wie lässt sich der Widerspruch auflösen?
Man muss die Dinge transparent machen. Wenn wir flexibles Arbeiten einführen, müssen wir Spielregeln definieren. Betriebsräte könnten zum Beispiel unternehmensspezifische Betriebsvereinbarungen anstreben, wie genau solche flexiblen Modelle aussehen dürfen.
Einerseits muss man offenlegen: Was gehört für mich als Arbeitnehmer dazu? An welche Spielregeln muss ich mich halten? Wie wollen wir mit Notsituationen umgehen? Wann muss, wann soll ich erreichbar sein? Wie gehe ich damit um, wenn ich im Urlaub etwas beantworte: Ist das dann Arbeitszeit oder nicht? Wird von mir erwartet, dass ich antworte, und falls ja, wie vergütet der Arbeitgeber diese Zeit? Will ich das überhaupt? Ich denke, es ist ganz, ganz wichtig, wirklich total arbeitsfreie Zeiten zu vereinbaren.
Was die Wirtschaft fordert, kann ich nachvollziehen: Wir brauchen wirklich im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer flexiblere Arbeitszeitmodelle. Gleichzeitig kann ich aber den Wunsch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachvollziehen, dass man das nicht völlig unreguliert lassen kann.
Gibt es nicht auch noch einen Unterschied zwischen ArbeitnehmerInnen in Führungspositionen und jenen ohne?
Auch als Führungsperson brauche ich einen entspannten Urlaub, um dann wieder fit zu sein. Eine meiner MitarbeiterInnen hatte kürzlich einen Notfall und ich habe meinen Urlaub unterbrochen. Ich habe für mich entschieden, welche Aufgaben so dringend sind, dass ich meinen Urlaub unterbreche – und welche ganz gut warten können. Da wird es jetzt haarig, weil das Fragen sind, die gar nicht so einfach zu beantworten sind, sondern das sind Ausverhandlungsprozesse.
Solche Situationen gibt es im Grunde in jedem Job. Wenn Sie EDV-Technikerin oder -Techniker sind, gibt es vielleicht auch Situationen, die es rechtfertigen, dass Sie aus dem Urlaub geholt werden: zum Beispiel ein Server bricht zusammen oder irgendein Programm ist falsch programmiert. Aber wann ist dieser Punkt erreicht? Das lässt sich eben nicht gesetzlich oder pauschal regeln, wahrscheinlich lässt es sich auch in Betriebsvereinbarungen nur andiskutieren – und dann braucht es eine gute, gelebte Praxis, eine Kultur.
Wir haben diese Spielregeln ja im Office-Bereich auch, an denen wir uns orientieren und die uns die Zusammenarbeit überhaupt erst möglich machen. Genau das brauchen wir auch für das flexible Arbeiten, wobei als Schwierigkeit dazukommt, dass Facetime reduziert ist und die Leute damit nicht mehr sichtbar sind. Zugleich bietet uns diese Flexibilität viele andere Vorteile.
Ist mobiles Arbeiten für alle Prozesse geeignet?
Jeder Produktionsprozess ist natürlich ein Stück weit spezifisch und hat verschiedene Schnittstellen, wo verschiedene Menschen zusammenarbeiten müssen, teilweise mit unterschiedlichen Kompetenzen und unterschiedlichen Betriebsmitteln. Nicht alle Arbeitsabläufe sind geeignet, um sie in einer Extremform flexibel zu gestalten. Aber ganz viele schon und man könnte wahrscheinlich durchaus mehr Tätigkeiten flexibler gestalten.
Arbeit zu flexibilisieren heißt auch, dass sie nicht mehr zentral geplant werden kann, wie das bisher üblich war. Dann werden Kompetenzen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter delegiert, also der Arbeitsablauf, die Koordination und die Abstimmung aufeinander. Als ArbeitnehmerIn bekommen Sie damit eine zusätzliche Aufgabe, denn Ihnen wird nicht mehr gesagt, wann Sie was zu tun haben. Vielmehr müssen Sie sich das selbst einteilen, Prioritäten setzen und sich mit anderen abstimmen. Das sind eigentlich Managementaufgaben, und dazu brauchen Sie Kompetenzen. Die Fragestellung ist also: Wie kann man Rahmenbedingungen schaffen, damit es zu Lernprozessen kommt, zu einem Kompetenzerwerb, und dass es Spaß macht und eben nicht zu Stress, zur Überforderung kommt. Das ist natürlich nichts, das von allein funktioniert. Den Unternehmen muss klar sein, dass es dafür Unterstützung braucht.
Eine neue Herausforderung für das Management?
Natürlich. Es ist einfach ein neues Prinzip: Wenn ich Arbeit flexibel gestalten möchte, muss ich von der geplanten Organisation zur Selbstorganisation übergehen. Man kann das mit entsprechender Kommunikations- und Informationstechnologie unterstützen, wieder mit guten Spielregeln, mit Präsenzzeiten und Face-to-face-Koordination, wo man festlegt, wie manche Dinge passieren sollen – und mit guter Führung. Es braucht Zielvereinbarungen mit MitarbeiterInnen, damit ganz klar ist, welche Aufgaben sie bis wann zu erfüllen haben.
Mir scheint, dass es vor allem da Probleme gibt, wo Abläufe nicht genug reflektiert werden.
Ja, dann werden Schwächen im Fühungs- oder Managementsystem sehr sichtbar. Wenn Mitarbeiter nicht gut geführt sind, kommt es eben zu schwierigen oder Stresssituationen für alle, zu geringerem Output, zu geringerem Commitment und all den negativen Auswirkungen.
Ein Forschungsprojekt einer meiner MitarbeiterInnen beschäftigt sich mit dem Teamklima, zu dem all diese sozialen Aspekte dazugehören und das flexibles Arbeiten gut möglich macht: Spielregeln, Führung, Vertrauen.
Aus internationalen Untersuchungen wissen wir, dass insgesamt auf jeden Fall Vorteile zu erwarten sind, für MitarbeiterInnen und ArbeitgeberInnen: Die Performance steigt, das Commitment, die Zufriedenheit. Und die Befürchtung, dass es verstärkt zu Burn-out kommt, wird nicht bestätigt.
MitarbeiterInnen selbst sehen das nicht unbedingt negativ?
Nein, nein. Ich glaube, dass es derzeit insbesondere für Frauen von Vorteil ist. Aber es wird hoffentlich bald nachhaltig für Männer und für Frauen so sein, also für Menschen, die ein Leben und Verpflichtungen außerhalb der Arbeit haben, sei es weil sie Kinder haben oder ihre Eltern pflegen, sei es weil sie ein Hobby haben, das sie nicht aufgeben möchten.
Ich glaube, dass es insgesamt für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorteilhaft ist – unter der Voraussetzung, dass sie in diesem Prozess unterstützt werden.
Es sind vielleicht nicht alle Menschen generell dafür geeignet. Manche bevorzugen einfach Strukturen und brauchen diese auch. Das ist auch etwas, das man den Unternehmen mitgeben kann oder sollte: Ich würde das nie übers Knie brechen, wenn das jemand nicht will. Wenn jemand lieber zwischen acht und fünf im Büro sitzt und dort seine Arbeit erledigt, dann soll es auch diese Möglichkeit geben.
Natürlich gibt es auch Branchen, wo es nicht geht, gerade Dienstleistungen an Menschen, im Krankenhaus oder in Kindergärten. Da könnte man flexibilisieren, indem man Dienstpläne an Teams delegiert, und bis zu einem gewissen Grad tun die das ja auch. Das wäre theoretisch eine Möglichkeit.
Oder man gibt einem Team eine Aufgabe: Das hätte ich gern in dieser Qualität bis dann erledigt und ihr macht euch aus, wie ihr das tut, ihr könnt euch die Pausen ausmachen und den Urlaub. Der springende Punkt ist: Das funktioniert, wenn das Team funktioniert. Das heißt, man muss in Reflexion, Teambuilding, Supervision und so weiter investieren. Aber Teams, die sich gut etabliert haben, würden nie wieder in eine andere Form der Arbeit zurückgehen.
Wichtig ist nur: Das muss betreut und supervidiert werden. Es muss den Leuten gut gehen damit, und das geht nur, wenn in das Beziehungsgefüge investiert wird.
Erübrigt sich damit Kontrolle?
Genau, die brauche ich dann nicht mehr. Deswegen wird es eigentlich auch billiger.
Dabei erleichtern die technischen Möglichkeiten eigentlich die Kontrolle.
Das ist zum Beispiel ein kritischer Punkt. Da sammeln wir gerade empirisch Erfahrungen mit Unternehmen, die auf flexibles Arbeiten umstellen und die sich im Spannungsfeld befinden: Wie viel Kontrolle braucht es jetzt? Wie viel nutze ich auch Technologie, um zu kontrollieren? Und ist das nicht kontraproduktiv? In diesem Spannungsfeld bewegt man sich. Gleichzeitig gibt es aber auch ein Interesse des Arbeitgebers, seine Daten zu schützen und auch Missbrauch von Flexibilität zu verhindern. Auch das ist nachvollziehbar.
Sprich Vertrauen ist der Schlüssel?
Vertrauen ist ein Riesenthema – zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Team und zwischen Führungskraft und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das heißt, die eigentliche Führungsaufgabe wird noch einmal viel, viel wichtiger. Und sie besteht sehr stark in dieser Beziehungsarbeit, weil das Koordinative eben vom Team selbst übernommen wird. Wahrscheinlich brauchen sie auch flachere Hierarchien, weil viele Managementtätigkeiten damit in Wahrheit obsolet werden.
Wir sehen flexibles Arbeiten vorrangig als Autonomiegewinn für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Aus empirischen Studien wissen wir, wenn sie selbst über Arbeitszeit und Arbeitsort bestimmen können, dann wirkt es sich auch ökonomisch positiv auf das Unternehmen aus, da sie aus Dankbarkeit dem Unternehmen etwas zurückgeben wollen.
Wenn die Flexibilität allerdings vom Arbeitgeber eingefordert wird, ohne auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einzugehen, sind diese positiven Effekte nicht zu erwarten beziehungsweise eventuell sogar negative Effekte zu befürchten.
Man vermutet, dass die Unternehmen sich mit dem Thema ohnehin beschäftigen müssen, weil Generation Y ganz andere Erwartungen hat. Teilen Sie diese Einschätzung?
Man hört es von Personalisten und ich nehme es auch bei meinen Studierenden wahr. Sie sind nicht mehr bereit, ihr Leben für den Job zu opfern. Arbeit soll spannend sein, interessant, aber nach 30 oder 40 Stunden ist es auch genug. Man will gut sein in dem, was man macht, die Arbeit soll Spaß machen und einen Sinn haben. Auch Autonomie und Selbstbestimmung sind ein Thema.
Die neue Generation ist vor allem schon ein Digital Citizen, sie können also mit Informations- und Kommunikationstechnologie sehr gut umgehen und sind mittlerweile auch eine ganz andere Form der Arbeit gewöhnt.
Ich würde zum Schluss noch gerne einen Aufruf anbringen: Wir wollen Unternehmen gerne wissenschaftlich in einem Umstellungsprozess auf flexibles Arbeiten begleiten. Bei Interesse kann man sich gerne bei uns melden.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion aw@oegb.at
]]>Unaufhaltsamer Onlinehandel
2014 kauften zwei Drittel der ÖsterreicherInnen online und gaben dabei rund sieben Milliarden Euro aus. Davon fließt jeder zweite Euro ins Ausland. Tendenz: stark steigend.
Eines muss man sich bewusst sein: Onlinehandel kann man nicht aufhalten. Das erzeugt entsprechend Druck auf den stationären Handel und folglich auf die Arbeitsplätze. Statt VerkäuferInnen in Geschäften laufen etwa bei Amazon Picker kilometerweit in den Lagerhallen herum – mies bezahlt, dafür umso besser überwacht. Der Kunde ist König? Ein Trugschluss, denn KonsumentInnen sind oft auch ArbeitnehmerInnen.
Gibt es schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Löhne in einer Branche, erzeugt das natürlich auch Druck auf andere Branchen. Für den traditionellen Handel bedeutet es, sich auf das geänderte Kaufverhalten einzustellen und selbst die technologischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Dabei dürfen aber die Rechte der ArbeitnehmerInnen nicht unter die Räder kommen.
Wölfe im Schafspelz
Teilen klingt so heimelig – die Welt zu einem besseren Ort machen. Tatsächlich geht es bei Sharing Economy oft ums große Geschäft. So sind etwa Uber, Airbnb oder Helpling milliardenschwere Unternehmen. Da will niemand uneigennützig teilen, da geht es um Profite – möglichst hohe natürlich und möglichst ohne lästige staatliche Einschränkungen der analogen Welt, wie die 50 Milliarden Euro schwere Beförderungsplattform Uber besonders rücksichtslos vorexerziert. Es müsse ja niemand über diese Plattformen seine Dienste anbieten, so die Plattformbetreiber.
Es können aber nicht nur Arbeitsbedingungen betroffen sein, sondern wie bei Airbnb das Wohnungsangebot einer Stadt: Wenn es lukrativer ist, via Airbnb eine Wohnung an Touristen zu vermieten, dann wird man das auch tun. Damit gehen aber Angebote für Wohnungssuchende verloren, was gerade für Ballungsräume problematisch ist. Dazu kommen entgangene Steuereinnahmen. Auch hier gilt es, die nötigen Instrumentarien zu entwickeln, um gesellschaftlich unerwünschte Entwicklungen hintanzuhalten.
Der vermessene Mensch
Zudem generieren die Internet-NutzerInnen einen unermesslichen Datenschatz. Auch diesen kann man zu Geld machen. Menschen werden via Algorithmen vermessen, es wird ein Marktwert bestimmt und künftiges Verhalten vorhergesagt. Wer durchfällt, wird aussortiert oder muss mehr zahlen, etwa für eine Versicherung oder einen Kredit.
Die digitale Entwicklung bietet viele Vorteile und Chancen, auch für die interessenpolitische Arbeit. Diese gilt es zu nutzen und zu fördern.
Der Weg von Selbstverwirklichung zur (Selbst-)Ausbeutung ist aber gerade in der digitalen Welt nicht weit. Und viele haben keine Entscheidungsfreiheit am Arbeitsmarkt, etwa ältere Menschen.
Es bedarf auf nationaler und internationaler Ebene Regulatorien und Rahmenbedingungen, insbesondere um menschenwürdige Arbeitsbedingungen, den Sozialstaat und den Schutz der Privatsphäre weiter zu gewährleisten.
Pikettys Thesen
Der französische Ökonom hat mit seinen Thesen zur Vermögensbildung in den letzten Jahren für sehr viel Aufsehen gesorgt. In einer 6-teiligen Serie werden die zentralen Thesen des Ökonomen kurz und gut verständlich erklärt. Dabei geht es um die steigende Bedeutung des Kapitals, die Vermögensverteilung als politische Entscheidung, die steigende Einkommensungleichheit und dass Vermögen schneller als Wirtschaftsleistung wachsen.
Der Beitrag zu den politischen Ableitungen konzentriert sich auf Instrumente gegen die steigende Ungleichheit. Solche sind hohe Steuersätze auf Spitzeneinkommen und eine Substanzbesteuerung von Vermögen.
Außerdem müssten für eine umfassende Eindämmung der Vermögenskonzentration die teilweise legalen Möglichkeiten der Steuervermeidung abgeschafft werden. Piketty selbst widmet sich in einem Beitrag der Frage: Was muss noch passieren, damit sich Europa bewegt?
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/pbywynk
Arbeitsmarktreform: Die Sündenbockstrategie des Finanzministers
Hans Jörg Schelling hat den Ruf eines besonnenen Ministers. Mit seiner Aussage, das Arbeitslosengeld sei zu hoch, hat er diesen Ruf infrage gestellt. Für den AK-Arbeitsmarktexperten Josef Wallner ist der gemeinsame Nenner der Vorschläge des Finanzministers: kürzen, verschärfen, streichen. Schellhorn kritisierte die hohe Mindestsicherung, die zu laschen Zumutbarkeitskriterien und das Fachkräftestipendium, lobte dafür aber Hartz IV.
Wallner verweist auf die explodierenden Arbeitslosenzahlen, weil die Beschäftigung wegbricht und allmonatlich viel mehr Menschen auf Arbeitsuche sind, als offene Stellen zur Verfügung stehen. Er vermutet in der Sündenbock-Strategie des Finanzministers den Versuch, davon abzulenken, dass für die Behebung der wirklichen Ursachen unserer Arbeitsmarktmisere der Plan fehlt. Denn das gelobte Hartz-IV-Modell hat in Deutschland vor allem zu zwei Dingen beigetragen: einer steigenden Armutsquote und einer der höchsten Anteile an Niedriglohnbeschäftigung in ganz Europa.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/np3shyg
Geschlechtergerechte Arbeitszeit: Kürzer arbeiten – besser leben
Obwohl es in den letzten Jahren wieder verstärkt Initiativen zu einer Neugestaltung der Arbeitszeit im Interesse der ArbeitnehmerInnen gab, sind wir von einer neuen Arbeitszeit weit entfernt, wie Claudia Sorger in ihrem Beitrag darlegt. Es liegt mittlerweile 40 Jahre zurück, dass die gesetzlich festgelegte wöchentliche Arbeitszeit von 45 Stunden auf 40 Stunden reduziert wurde, und die in vielen Branchen kollektivvertraglich festgelegte Arbeitszeit von 38,5 Stunden ist bereits seit 25 Jahren unverändert. In der Arbeitszeitdiskussion der letzten Jahrzehnte dominierten Fragen der Flexibilisierung und Ausweitung der Arbeitszeit.
Dabei weisen die bestehenden Arbeitszeiten ein hohes Ausmaß an Flexibilität in Bezug auf Lage und Länge auf. Regelmäßige Überstundenleistungen sind gängige Praxis, laut Arbeitsklima Index leisten nur 30 Prozent der vollzeitbeschäftigten Angestellten nie Überstunden. Dass diese Arbeitszeiten nicht der Wunsch der ArbeitnehmerInnen sind, zeigt die hohe Zustimmung zur Frage der Arbeitszeitverkürzung: Für eine generelle Reduktion der Normalarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden sprechen sich im Falle eines vollen Lohnausgleichs zwei Drittel der Angestellten aus, ohne Lohnausgleich sind es immer noch knapp ein Viertel (23 Prozent). Die Arbeitszeitdiskussion hat zudem auch einen markanten Gender-Aspekt, wie Sorger anmerkt: Denn derzeit haben zahlreiche weibliche Beschäftigte ihre Arbeitszeit als Teilzeit ohne jeden Lohnausgleich reduziert.
Lesen Sie mehr: tinyurl.com/q77oebo
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Vertrauen oder Kontrolle
Obwohl es heißt: „Wer nichts zu verbergen hat, braucht nichts zu befürchten“, agieren Unternehmen eher nach „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Daher sind die BetriebsrätInnen ganz besonders gefragt, die ArbeitnehmerInnen zu schützen. Mit diesem sensiblen Thema haben sich im Rahmen ihrer SOZAK-Abschlussarbeit die Belegschaftsvertreter Mario Ferrari, Erol Holawatsch, Georg Steinbock sowie Sean Patrick Stanton beschäftigt. Bei ihrer Arbeit handelt es sich um ein Kooperationsprojekt der gewerkschaftspolitischen Lehrgänge der Europäischen Akademie der Arbeit (EAdA) in Frankfurt am Main und der österreichischen Sozialakademie. Das Ergebnis der Kooperation ist eine Broschüre, die als Gemeinschaftswerk herausgegeben wurde. Die Broschüre ist weniger eine wissenschaftliche Studie als der Versuch einer Sensibilisierung der LeserInnen für die Bedeutung des Einsatzes technischer Überwachungsmittel in der Arbeitswelt und deren Missbrauchsmöglichkeiten. Es ist auch ein Leitfaden von BetriebsrätInnen für BetriebsrätInnen in Österreich und Deutschland, der nicht nur über die rechtlichen Rahmenbedingungen aufklärt, sondern auch Hintergrundinformationen und Unterstützungsmöglichkeiten bietet.
Es gibt viele Gründe, warum Unternehmen auf Zutrittskontrollen, Videoüberwachung und Softwareüberprüfung setzen, der Überwachungsgedanke steht dabei allerdings nicht immer im Fokus. Der Hauptgrund für die Installation von digitalen Überwachungsinstrumenten ist die Bewahrung des Unternehmens und des sich darin befindlichen Eigentums – angefangen von Werkzeug und Maschine bis hin zu unternehmensinternen Informationen und Zahlen – vor fremdem Zutritt, Wirtschaftsspionage und Diebstahl, aber auch die Sicherheit der MitarbeiterInnen. Eine Videokamera auf Verkaufsflächen in Geschäften ist ohnehin fast schon Usus, um vor Diebstahl abzuschrecken oder diesen rechtzeitig zu erkennen. Viele Unternehmen, wie die Großbank JP Morgan, verwenden auch IT-Software, um firmeneigene Hardware und Programme vor fremden Zugriffen zu schützen. Diese Methoden bieten allerdings auch die Möglichkeit, die MitarbeiterInnen in Echtzeit zu kontrollieren und auf ihre Laufwerke und Mails zuzugreifen.
Oft werden Qualitätssicherung und Prozessoptimierung als Gründe genannt, um digitale Überwachung im Betrieb einzusetzen. Beides ist gerechtfertigt, jedoch müssen natürlich die Motive hinterfragt werden und die Begründungen nachvollziehbar sein. Bei einer Prozessoptimierung kann es sich einerseits um MitarbeiterInnenabbau handeln. Andererseits kann es tatsächlich darum gehen, bestimmte Prozesse zu optimieren, um Ressourcen anderweitig einzusetzen.
Vorsicht, Überwachung!
Vorsicht für BetriebsrätInnen ist bei einer versprochenen „Bedienungserleichterung“ geboten. Bei der Einführung von neuen technischen Systemen, sei es bei Handys, PCs oder anderen elektronischen Geräten, sollte immer ein Fachmann oder eine Fachfrau zurate gezogen werden, der/die Informationen im Hinblick auf potenzielle Überwachungsmöglichkeiten geben kann. Auch wenn die neuesten und innovativsten Geräte angeschafft werden – MitarbeiterInnen schätzen es, wenn sie mit der aktuellsten Technik ausgestattet werden –, sollten die BetriebsrätInnen überprüfen, in welchem Maß diese neuen Arbeitsmittel die Grenzen zur Privatsphäre der ArbeitnehmerInnen überschreiten könnten. So sind die meisten Smartphones mit einem GPS (Global Positioning System) ausgestattet, das eine Lokalisierung der Person ermöglicht sowie die Kontrolle ihrer Bewegungen. Meist vorgeschobene Gründe für die Installation von Videokameras und Überwachungssoftware sind Aussagen wie „Der Markt zwingt uns dazu“ und dass dies die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs steigern würde. Hier gilt es besonders, die Motive zu hinterfragen, ob die Anschaffung von digitalen Überwachungsgeräten tatsächlich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens verbessern würde.
Betriebs-„Leaks“
Die am häufigsten genutzte – und von den ArbeitnehmerInnen am meisten tolerierte – Überwachsungstechnik ist Audio- bzw. Videoüberwachung, um den Betrieb gegen Diebstahl oder bestimmte Räume zu schützen. Trotz allem werden hier oft Grenzen überschritten und beispielsweise durch Installation von Videoüberwachung in den Sozialräumen oder Toiletten die persönlichen Rechte oder gar die Menschenwürde verletzt. Häufig wird dabei auch die Arbeitstätigkeit einzelner Angestellter überwacht, um damit einen späteren Personalabbau zu rechtfertigen.
Auf Chipkarten, die MitarbeiterInnen beispielsweise zur Türöffnung verwenden, werden Daten zentral gespeichert, wodurch die einzelnen Bewegungen der Angestellten beobachtet werden können. Kommunikationssoftware kann – je nach Konfiguration – alle Chatverläufe und Bewegungen speichern. Auch Arbeitsbeginn und -ende können über den Server ermittelt werden, E-Mails, Eingaben in Suchmaschinen, sogar ganze Einkäufe bei Amazon können ebenfalls aufgezeichnet, protokolliert und überwacht werden. Obwohl viele Unternehmen die private Nutzung von Dienstlaptops und -handys erlauben, sollten MitarbeiterInnen sich bewusst sein, dass auch diese überwacht werden und der Arbeitgeber die abgerufenen Homepages und getätigten Anrufe überprüfen kann.
Die größte Datenschutzfalle stellt jedoch das Personalverrechnungssystem dar, in dem alle relevanten Daten der MitarbeiterInnen, angefangen von Name und Geburtstag bis hin zur Bankverbindung und der Höhe des Gehalts, gespeichert werden. Das meistgenutzte Personalverrechnungssystem, vom Unternehmen SAP entwickelt, ermöglicht AdministratorInnen und UserInnen mit entsprechender Zugangsberechtigung Zugriff auf alle Informationen der Belegschaft.
Die gesetzliche Verpflichtung zu einer Betriebsvereinbarung in der Arbeitsverfassung ArbVG §§ 96 u. 96a bzw. BVG § 87 ist das wichtigste Instrument zum Datenschutz in Unternehmen. Jeder Betrieb hat seine Besonderheiten, Eigenheiten und unterschiedlichste Richtlinien. Daher wird eine möglichst präzise und genau definierte Betriebsvereinbarung empfohlen, um Datenschutz auf höchster Ebene zu garantieren und damit nicht nur das Unternehmen, sondern auch die MitarbeiterInnen zu schützen. Die Herausforderung für BetriebsrätInnen ist eben, diese unternehmenseigenen Besonderheiten zu berücksichtigen. Ohne eine solche Betriebsvereinbarung ist die Verwendung solcher Systeme wie Kommunikationssoftware etc. untersagt. Trotzdem ist nicht garantiert, dass es Fälle von Datenmissbrauch in Betrieben nicht immer wieder vor die Gerichte und als Schlagzeilen in die Medien schaffen.
Linktipp:
Die Broschüren zum Download
tinyurl.com/ouayyjs
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin maja.nizamov@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Digital-Gap 2.0
Dieser Prozess ist jedoch nicht flächendeckend, er erfasst nicht alle Teile des Schulsystems und nicht alle Schulen gleichermaßen. Zudem droht ein neuer Spalt zu entstehen, und zwar innerhalb der Jugendlichen, wie immer mehr ExpertInnen warnen.
Auf der einen Seite stehen jene Jugendlichen, die es schaffen, die neuen digitalen Möglichkeiten produktiv zu nutzen, um ihr Umfeld zu gestalten und sich online künstlerisch und politisch auszudrücken. Auf der anderen Seite stehen jene, die zwar Zugang zu digitalen Informationen und Netzwerken haben, diese aber fast ausschließlich für Konsum zu nutzen wissen.
Klare Vermittlungsziele nötig
Um diesem Trend entgegenzuwirken, braucht es neben einem möglichst breiten Zugang zu Infrastruktur (Hard- und Software) auch klare Vermittlungsziele. Digitale Kompetenzen müssen Teil eines umfassenden Kanons an Basisqualifikationen, einer analogen und digitalen Alphabetisierung sein.
Die Grundlagen dafür wurden bereits für jede Schulstufe festgelegt. Unter dem Slogan „Kein Kind ohne digitale Kompetenzen“ wurde dazu vom Bildungsministerium auf www.digikomp.at ein eigenes Portal mit Unterrichtsbeispielen, Kompetenzmodellen und Weiterbildungsmöglichkeiten für LehrerInnen eingerichtet.
Dabei muss jedoch klar sein, dass nicht jedes Kind Software-EntwicklerIn wird, sondern je Schultyp und Berufsausbildung unterschiedliche pädagogische Zielsetzungen benötigt werden. Christian Schrack, IT-Experte des Bildungsministeriums, unterscheidet in diesem Sinne zwischen IT als beruflichem Ausbildungsziel und IT als Lernwerkzeug. Nicht alle Kinder müssen Code programmieren können, aber fast alle werden in ihrem Berufsleben mit Computer und im Internet arbeiten sowie als KonsumentInnen oder aktive BürgerInnen die Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung und Informationsgestaltung nutzen. Das allgemeine Bildungssystem muss sich darauf vorbereiten.
Um diesem Bildungsauftrag nachzukommen, sind immense Investitionen vonnöten. Diese beginnen mit der Anbindung aller Schulen an leistungsfähiges Breitband-Internet und dem Ausbau von kabellosen Netzwerken (WLAN) an Schulen.
Die Verbreitung von Laptop-Klassen hat in den letzten 15 Jahren immer wieder Debatten über die soziale Verträglichkeit von verpflichtenden IT-Anschaffungen an öffentlichen Schulen provoziert. Gleichzeitig fürchteten viele Lehrkräfte, dass die mit Laptops und Kabeln vollgestopften Klassenzimmer die pädagogischen Möglichkeiten und Kooperation zwischen SchülerInnen einengen würden.
Vom Smartphone zum Smart-User
Aber auch diese Probleme haben sich durch den technischen Fortschritt abgeschwächt. Nicht nur sind die Preise für Laptops und Co im Sinkflug, die leistungsfähigen Tablets ermöglichen noch dazu interaktivere und kommunikativere Unterrichtsmethoden als starre Computersäle. Mit dem neuen BYOD-Zugang (Bring Your Own Device) machen sich viele Lehrkräfte die Tatsache zunutze, dass fast alle SchülerInnen in den Klassen bereits internetfähige Smartphones besitzen, und schlagen damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Es entfallen nicht nur die Kosten für Anschaffung und Verkabelung von PC oder Laptop. Die SchülerInnen lernen damit auch ihr eigenes Smartphone nicht nur für Selfies und Instagram, sondern auch für Wissensakquise, vernetzte Arbeit, Erfolgsdokumentation und Ergebnissicherung zu nutzen.
Leistbarkeit
Bei aller Euphorie für den BYOD-Trend darf nicht vergessen werden, dass sich nicht alle SchülerInnen, respektive ihre Eltern, ein Smartphone und entsprechende Internetpakete leisten können.
Ein weiterer Kostentreiber für Eltern und Lehrkräfte sind interaktive und digitale Unterrichtsmaterialien. Die Schulbuchaktion deckt bisher nur gedruckte Schulbücher ab.
Zwar können die SchülerInnen ab dem Sommersemester 2016 auf ein PDF ihrer Bücher zugreifen, interaktive oder multimediale Unterrichtsmaterialien müssen jedoch auch weiterhin über teure sogenannte SBX, Schulbuch-Extras, zugekauft werden. Darüber hinaus kommen Lehrkräfte bei der Zusammenstellung von digitalen Unterrichtsmaterialien schnell in Konflikt mit dem Urheberrecht und riskieren hohe Strafzahlungen.
Da die parallele öffentliche Finanzierung von gedruckten Schulbüchern und digitalen Unterrichtsmaterialien besonders teuer ist, gehen einige Länder der EU bereits einen radikalen neuen Weg. So plant beispielsweise Polen die völlige Abschaffung des gedruckten Schulbuchs für die Oberstufen, in den Grundschulen wird das gedruckte Materialien-Paket stark reduziert. Die damit frei werdenden Gelder werden in digitale Lernbegleiter (Tablets) und kostenlose, online verfügbare Unterrichtsmaterialien investiert.
Open Educational Ressources
Bemühungen für mehr dieser Open Educational Ressources (OER) gibt es jedoch nicht nur in Polen: In vielen europäischen Ländern, den USA sowie speziell in Entwicklungsländern (Stichwort: Khan Academy) wird das Potenzial von kostenlos zugängigen und erweiterbaren Lerninhalten bereits erkannt.
Die Grundidee besteht darin, den Lehrkräften durch offene, das heißt veränderbare und lizenzfreie Unterrichtsmaterialien jene individuelle Vorbereitung zu ermöglichen, die frühere Generationen aus der Arbeitsblättersammlung kannten.
Durch die Mobilisierung der kollektiven Intelligenz und Kreativität der Lehrkräfte könnte damit eine Sammlung an öffentlichem Vermittlungswissen entstehen, das jeder und jede anzapfen kann. Doch auch OER brauchen öffentliche Investitionen für die Anschubfinanzierung, Wartung und Qualitätssicherung der Lehr- und Lernmaterialien. Wie hochqualitative OER aussehen können, zeigen bereits einige engagierte österreichische Projekte wie das offene Lehrbuch für technisches Lernen (www.l3t.eu) oder auch die steirische Lernplattform www.imoox.at (steirisch: i mogs = ich mag es).
Schritt für Schritt
Die vielen Beispiele aus Österreich und den europäischen Nachbarländern zeigen, wie sehr sich die Bildung Schritt für Schritt digitalisiert, wie versucht wird, die unfassbaren Möglichkeiten der digitalen Bildung zu nutzen und ihre didaktischen Vermittlungsziele im Schulalltag zu verankern.
Um die Spaltung in ProfiteurInnen und VerliererInnen der digitalen Lernkultur zu verhindern, müssen digitale Kompetenzen als Basisbildung in allen Schultypen verankert werden und der Zugang zu den neuen Lernressourcen ohne finanzielle Hürden für Lernende und deren Eltern gewährleistet sein.
Linktipps:
Offenes Lehrbuch für technische Bildung
www.l3t.eu
Online-Lernplattform aus der Steiermark
www.imoox.at
Informationsseite der virtuellen Pädagogischen Hochschule zu OER
www.virtuelle-ph.at/oer
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor andreas.kastner@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>VerbraucherInnenschutz
Die Nutzung von Suchmaschinen, sozialen Netzwerken oder Apps gelten KonsumentInnen mit dem Handelswert ihrer Daten ab. Die Daten sind die Basis für Werbung, Marktforschung, den Adresshandel, für Persönlichkeits-, Mobilitäts- und Verhaltensprofile, für effizientere Unternehmenssteuerung und Entwicklungsprognosen, für individualisierte Produkt- und Dienstleistungsangebote, für Wirtschaftsauskunfteien u. v. m. Alle Internet-NutzerInnen haben einen „digitalen Zwilling“, ihre Eigenschaften, Vorlieben, Interessen, Gewohnheiten, Beziehungen zum Freundeskreis oder Arbeitgeber kennt die Onlinewirtschaft oft genauer als der Betroffene selbst. Wer keinen Wert auf ein virtuelles Double legt, hat kaum mehr Handhabe, als digital weitgehend abstinent zu sein und sich dem Internet zu verschließen.
330 Milliarden Euro
Nach Schätzung der Boston Consulting Group wird der Handelswert persönlicher Daten 2020 allein in Europa 330 Milliarden Euro betragen. Dass Internet-NutzerInnen sich des Werts ihrer Daten zunehmend bewusst werden, haben auch MarketingstrategInnen bereits einkalkuliert: Man beginnt, Internet-NutzerInnen am Datenfluss mitverdienen zu lassen. Mit der App von Shopkick etwa können KundInnen Produkte einscannen, individuell bewerten und dafür geldwerte Bonuspunkte bekommen. In der Regel haben Internet-NutzerInnen aber keinen Einblick, welche Daten und Erkenntnisse über ihre Person gesammelt und weiterveräußert werden bzw. wer die Empfänger dieser Informationen sind.
Mit seinem Buch „The Electronic Eye: The Rise of Surveillance Society“ hat der Soziologe David Lyon schon 1994 das Konzept des „Social Sorting“ beschrieben – also die ständige Klassifizierung der Bevölkerung auf Basis ihrer persönlichen Daten durch Software-Algorithmen. Am Ende stehen subtile Reihungen, durch die manche KonsumentInnen gegenüber anderen privilegiert würden – etwa durch unterschiedliche Preise oder Wartezeiten – und manche würden überhaupt ausgeschlossen.
Big-Data-Visionen
Auf vier in hoffungsvollem Grün gestalteten Seiten fasste die EU-Kommission im April 2015 zu-sammen, wie sie die EU-Datenschutzreform und eine möglichst schrankenlose Nutzung von Big Data in harmonische Beziehung setzen möchte. Die Datenschutzreform wird als Impulsgeber für Big-Data-Dienste in Europa und als Teil eines positiven Kreislaufes zwischen Grund-rechtsschutz, Vertrauen der KonsumentInnen und Wirtschaftswachstum gesehen.
Der Hauptvorteil von Big Data läge darin, so die Kommission, Muster in verschiedenen Datenquellen auszumachen und daraus „nützliche Erkenntnisse“ zu gewinnen. Nützlich mögen wohl viele Datenverknüpfungen sein. Nach unserem Grundrechtsverständnis reicht nachgewiesene Nützlichkeit aber nicht aus, personenbezogene Daten auch tatsächlich verwenden zu dürfen.
Dass die EU-Kommission das Vertrauen der KonsumentInnen in Bezug auf den Datenschutz stärken möchte, ist angesichts folgender Umfrageergebnisse des Eurobarometers keine schlechte Maxime: 92 Prozent der befragten ÖsterreicherInnen sprachen sich für eine Priorität des Datenschutzes in der EU aus. Für 78 Prozent der Befragten verfügen Serviceanbieter über zu viele Informationen über das Verhalten und die Vorlieben ihrer NutzerInnen. 73 Prozent wollen um ihre ausdrückliche Zustimmung gefragt werden, bevor ihre persönlichen Daten gespeichert werden. Nur 22 Prozent halten die Anbieter von Suchmaschinen, sozialen Netzwerken oder Maildiensten für vertrauenswürdig.
Umfassende Datensammlung
Anfang Mai 2015 veröffentlichte die EU-Kommission eine Mitteilung zur „Digitalen Binnenmarkt-strategie für Europa“ und kündigte darin an, dass das dringliche Thema des Eigentums an Daten mit Stakeholdern erörtert werden müsse. Dieser Eigentumskonflikt an Daten entzündet sich gerade an der Entwicklung des „Internets der Dinge“. Damit sind von KonsumentInnen erworbene Waren gemeint, die durch Onlineanbindung und Sensoreneinbau permanent Daten erzeugen, die personenbezogene Rückschlüsse erlauben. Hippe Vorhut dieser Entwicklung sind „Wearables“, Fitnessarmbänder, die beispielsweise Puls bzw. Schlaf messen und die Daten auch an Dritte übermitteln können.
Mit dem „Internet der Dinge“ verwirklicht sich letztlich die Vision, alle Gegenstände – vom Auto über die Kleidung bis zur Zahnbürste – ins Internet zu integrieren und so mit einer eigenen „Identität“ zu versehen. So generiert ein vernetztes Auto nicht nur technische Daten, sondern auch Daten über das Fahrverhalten des Fahrers oder der Fahrerin. Auf der Agenda von VerbraucherschützerInnen stehen damit zusätzliche Aufgaben: sich für ein frühzeitiges Risikobewusstsein und vorsorglichen Schutz für KonsumentInnen durch Gesetzgebung und Kontrollbehörden einzusetzen.
Big-Data-Begeisterte verweisen gerne darauf, dass in Zeiten exzessiver Nutzung von Facebook Privatpersonen ohnedies praktisch alles von sich preisgeben und Privatsphäre deshalb an bürgerrechtlicher Bedeutung eingebüßt habe. Aus dem unstrittigen Hang vieler KonsumentInnen, sich in sozialen Netzwerken unbesonnen zu verhalten, kann nicht geschlossen werden, dass dieser Datenschutz nicht wichtig wäre. KonsumentInnen sorgen sich um den Datenschutz, haben aber weder die zeitlichen, informationellen noch finanziellen Ressourcen, jeden Tag aktiv dafür einzutreten. Sie nehmen Datenschutz als kollektive Aufgabe einer Demokratie wahr. Sie erwarten sich vorsorglichen Schutz durch klare Gebote bzw. Verbote und eine wirksame Kontrolle durch staatliche Einrichtungen.
Schutzniveau absenken?
Die Justiz- und InnenministerInnen haben sich im Rat auf ein Datenschutzkonzept geeinigt, das das Schutzniveau der bisherigen Richtlinie aus 1995 absenken würde. So soll Datenverarbeitung, an der ein berechtigtes Interesse besteht, auch ohne Zustimmung der Betroffenen erlaubt sein, solange diese nicht ein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse einwenden. Anstelle des Vorrangs für den Datenschutz, von dem nur in begründeten Einzelfällen abgegangen werden kann, tritt die Anerkennung eines allgemeinen Verwertungsinteresses an personenbezogenen Daten.
Tabubruch
Einen Tabubruch im Rat erlebte auch das Prinzip der Zweckbindung. Dieses hält DatennutzerInnen dazu an, sich auf jene Daten zu beschränken, die für die Erfüllung des im Erhebungszeitpunkt konkret benannten und zulässigen Zwecks unbedingt erforderlich sind.
Enge Zweckbindung steht aber dem Wesen von Big-Data-Anwendungen diametral entgegen, die auf möglichst großen Datenmengen basieren und nach unbekannten Zusammenhängen und zufälligen Verwertungsmöglichkeiten suchen. Dürften Daten für andere als die ursprünglichen Zwecke – ohne Zustimmung der Betroffenen – weiterverarbeitet werden, ginge wiederum Selbstbestimmung der Betroffenen verloren.
Linktipps:
Weitere Infos dazu finden Sie auf der Homepage der Arbeiterkammer:
tinyurl.com/q6y97o8
tinyurl.com/nrjwacm
tinyurl.com/ow88lc8
tinyurl.com/pbgplrk
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin daniela.zimmer@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Angst vor dem Shitstorm
Die Reaktionen der Unternehmen spalten die Gemüter. Die einen applaudieren laut, weil für sie Unternehmen mit den Entlassungen und Kündigungen ein Exempel gegen hetzerische Kommentare statuierten, die anderen kritisieren das Handeln der Arbeitgeber als zu hart oder als Schnüffeln in der Privatsphäre der MitarbeiterInnen. Es liegt auf der Hand, dass die Unternehmen nicht nur aus Menschlichkeit gegenüber den Flüchtlingen gehandelt haben. Porsche ist extrem unter Zugzwang gekommen. Mehrere NutzerInnen hatten den Arbeitgeber auf der Facebook-Seite und auch per Mail mit dem Kommentar ihres Lehrlings konfrontiert. Porsche fürchtete einen enormen Shitstorm, eine Hetze gegen das Unternehmen, wenn es nicht rasch und zur Zufriedenheit der aufgebrachten Meute handelte.
Willkür der Arbeitgeber
Lehnen sich Arbeitgeber nicht zu weit aus dem Fenster, wenn sie aufgrund privater Aussagen ihrer Beschäftigten mit harten beruflichen Konsequenzen reagieren? Grundsätzlich sind Hass-Postings auf Facebook, Twitter oder anderen Social-Media-Kanälen ein strafrechtliches Problem. Es ist zu prüfen, ob Verhetzung oder Aufforderung zur Gewalt nach dem Strafgesetzbuch (StGB) vorliegt. In dem Fall sind Entlassungen arbeitsrechtlich jedenfalls zulässig. Weder Porsche noch die anderen Arbeitgeber haben die Gerichtsurteile abgewartet, sondern vorher selbst „gerichtet“. Ob auch dieses Handeln arbeitsrechtlich legitim ist, könne nur im Einzelfall beantwortet werden, meint der AK-Arbeitsrechtsexperte Hannes Schneller. Wenn die Weiterbeschäftigung des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin nicht länger zumutbar ist, spreche jedoch vieles für eine Entlassung. „So weit hätte es aber gar nicht kommen müssen“, meint der Rechtsexperte. „Eine Anzeige strafrechtlicher Handlungen durch Facebook-Nutzer bei den zuständigen Behörden ist eine Sache, das Denunzieren beim Arbeitgeber eine andere.“ Die Fälle machen deutlich, dass die Grenzen zwischen öffentlich und privat nicht nur im Internet längst verschwommen sind. Hätte der Lehrling seinen Arbeitgeber nicht in seinem Facebook-Profil bekannt gegeben und wäre daraufhin nicht die Gefahr eines Shitstorms gegen diesen im Raum gestanden, hätte der Lehrling womöglich seine Lehrstelle behalten. Das Problem sei die Willkür der Arbeitgeber, meint der Social-Media-Experte Thomas Kreiml von der GPA-djp: „ManagerInnen spielen sich nun zu sanktionierenden Instanzen auf, weil sie sich um die PR ihres Unternehmens sorgen.“ Selbst wenn arbeitsrechtlich ein Entlassungsgrund gegeben ist, sei die Frage: Auf Grundlage welcher Informationen treffen Arbeitgeber Entscheidungen bis hin zu Entlassungen? Porsche hätte sich auch anders entscheiden können, wie beispielsweise der ÖAMTC, der seinen Mitarbeiter nach einem hetzerischen Posting verwarnt und nicht sofort entlassen hatte. Kreiml plädiert dafür, bei arbeitsrechtlichen Entscheidungen auch die Besonderheiten der Netzkommunikation zu berücksichtigen.
Nicht Fisch, nicht Fleisch
Die technologischen und kommunikativen Besonderheiten von Social-Media-Plattformen verleiten dazu, sich hemmungsfreier und offensiver mitzuteilen. Im Netz entwickelt sich schnell eine eigene Dynamik, ein gegenseitiges Aufschaukeln, so als würde man in kurzer Zeit die Lautstärke voll aufdrehen. In kaum einem anderen Kommunikationsraum finden solche Mechanismen des Sich-Anbrüllens statt wie in sozialen Medien. Diese Emotionen sind ansteckend, Hass ist ansteckend. Das mag auch daran liegen, dass in Online-Diskussionen nonverbale Signale fehlen – wir können weder Gestik, Mimik noch Tonfall der Poster interpretieren. „Gerade dieses Fehlen nonverbaler Signale führt dazu, dass Menschen harscher und ungezügelter werden“, schreibt die „profil“-Redakteurin Ingrid Brodnig in ihrem Buch „Der unsichtbare Mensch“. Laut Brodnig habe zum Beispiel der Augenkontakt eine aggressionshemmende Wirkung. „Diese Kommunikationstücken, vor allem die Aufschaukelungs- und Eskalationsgefahr bei Online-Postings, werden von der Rechtsprechung zu wenig berücksichtigt“, kritisiert Schneller.
Sozialen Medien wohnt aber nicht nur eine eigene Art der Kommunikation inne, sondern auch ein besorgniserregender Gewöhnungseffekt. Wenn die Betreiber einer Plattform fremdenfeindliche Äußerungen zulassen, dreht sich die Spirale von „Hass-Postings“ schnell weiter. In den Online-Debatten um Asylwerbende in Österreich wird das derzeit allzu häufig deutlich. Der Antirassismus-Verein ZARA schlägt bereits Alarm wegen des Ausmaßes an hetzerischen und rassistischen Kommentaren im Netz. Postings wie „Alle in einen Betonbunker und Bombe rein“ oder „Asylflut an der Grenze stoppen, bevor wir alle vergasen müssen“ sind täglich zu lesen und Indizien einer „besorgniserregenden Entwicklung, der Einhalt geboten werden muss“, so ZARA. Viele solcher Postings blieben bisweilen folgenlos, da Verhetzung mindestens 150 Personen erreichen musste, um strafrechtlich relevant zu sein. Ab 1. Jänner 2016 wird es für Hass-Poster enger: Mit der Novelle des Verhetzungsparagraphen braucht es künftig nur mehr ein Publikum von 30 Personen – eine Zahl, die online problemlos erreicht werden kann. Justizminister Wolfgang Brandstätter kündigte mit der Reform an: „Wer Hass sät, wird Gefängnis ernten.“
Die SpielerInnen im Feld
Die Hetze im Netz wird in Zukunft noch öfter die Gerichte und Arbeitgeber befassen, ist der Arbeitsrechtler Hannes Schneller überzeugt. Unternehmen haben sich bereits als Player in diesem komplexen Geflecht aus arbeitsrechtlichen, gesellschafts- und vor allem auch gewerkschaftspolitischen Fragen positioniert. Gewerkschaften haben bisher zu keiner der Entlassungen oder Kündigungen offiziell Stellung genommen. „Gewerkschaften bestimmen den Diskurs nicht mit, sie vernachlässigen ihre Prinzipien“, kritisiert Thomas Kreiml. Das Thema ist heiß und man kann sich leicht verbrennen – egal, wie sich Gewerkschaften zu den Entlassungen und Kündigungen positionieren, ist die Gefahr eines Shitstorms nicht ausgeschlossen. Das gewerkschaftspolitische Feld den Arbeitgebern zu überlassen ist nicht weniger gefährlich.
Konsequenzen
Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft zum Fall des 17-jährigen Mechanikerlehrlings sind seit Mitte August eingestellt. Es gäbe keinen Strafbestand, auch der Tatbestand der Verhetzung sei nicht erfüllt. Arbeitsrechtlich ist die Sache jedoch gelaufen. Porsche hat bereits mitgeteilt, dass an der Entscheidung nicht gerüttelt wird. Da hilft auch die öffentliche Entschuldigung des Lehrlings nicht weiter. Jürgen H. ist dem wohl größten Irrtum der Web-Kommunikation aufgesessen: Was man online tut, habe keine Konsequenzen.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin steindlirene@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Breites Spektrum
Das Spektrum mobiler Arbeit reicht von der gelegentlichen Arbeit zu Hause über ein- bis mehrtägige Dienstreisen bis hin zu längeren Einsätzen direkt bei den KundInnen, die sich über mehrere Wochen und Monate hinziehen können. Die angeführten Formen mobiler Arbeit treten oftmals nicht isoliert auf, sondern werden – je nach Tätigkeit – untereinander kombiniert. Im Dienste des Unternehmens mobil zu sein wird für immer mehr Beschäftigte zu einer Selbstverständlichkeit. Die Zunahme mobiler Arbeit wirft dabei auch Fragen für die Work-Life-Balance auf: Was sind die neuen Chancen, was die neuen Risiken? Ist mobile Arbeit Problem oder Lösung für die Work-Life-Balance?
Wünsche
Die Beschäftigten selbst wünschen sich Arbeitszeiten, die ihnen mehr Entscheidungsspielräume und Autonomie ermöglichen. Von daher kann die Möglichkeit mobilen Arbeitens durchaus positive Effekte haben. Untersuchungen zur Arbeitszeitflexibilisierung zeigen allerdings auch, dass die Interessen der Arbeitgeber (mehr Flexibilität) und der ArbeitnehmerInnen (mehr Autonomie) in der Praxis nur selten unter einen Hut gebracht werden.
Räumliche und zeitliche Entgrenzungsprozesse sind eine Herausforderung für die Arbeitsgestaltung selbst, aber auch für das Verhältnis zwischen Arbeit und Leben. In der Regel heißt Entgrenzung, dass Arbeits- und Lebensbedingungen weniger institutionell vorgegeben sind. Im Gegenzug müssen sie mehr individuell gestaltet werden – oder können dies eben auch. So zeigen Studien zu entgrenzter Arbeit, dass das räumliche und zeitliche Verhältnis von Erwerbsarbeit und Privatleben nun von den Individuen selbst gestaltet und hergestellt werden muss.
Vielfach wird mit der Möglichkeit der individuellen Gestaltung auch die Hoffnung nach einer besseren Work-Life-Balance verbunden. Allerdings erweitern nicht alle Formen mobiler Arbeit den individuellen Handlungsspielraum. Längere Abwesenheitszeiten von zu Hause etwa können zum Problem für die Work-Life-Balance werden.
Eine balanceorientierte Gestaltung mobiler Arbeit setzt voraus, dass die Menschen über bestimmte Ressourcen verfügen. Mobile Arbeit bedeutet also nicht per se einen Schritt in Richtung Work-Life-Balance. Ohne die entsprechenden Ressourcen kann man diese Option entweder gar nicht nutzen oder sie verkehrt sich sogar ins Gegenteil, wird zur Belastung und führt zu einer Verringerung von Optionen. Es reicht von daher nicht aus, isoliert den Faktor Mobilität zu betrachten. Vielmehr hängt es von vielen Faktoren ab, ob mobile Arbeit zur Belastung für die Beschäftigten wird: Arbeitsorganisation, Arbeitsumgebung, Ressourcen, soziale Beziehungen sowie der Einsatz von bzw. die Ausstattung mit Technik.
Um das Verhältnis von Arbeit und Leben im Sinne der ArbeitnehmerInnen besser zu gestalten, dürfen nicht nur individuelle Ressourcen im Mittelpunkt stehen – ansonsten wären sowohl Chancen als auch Risiken sozial sehr ungleich verteilt. Vielmehr müssen individuelle Ressourcen und betriebliche Anforderungen, individuelle Kompetenzen und betriebliche Gestaltung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Nur dann lassen sich die Chancen mobiler Arbeit für die Work-Life-Balance herausarbeiten.
In den Personalabteilungen wie bei der betrieblichen Interessenvertretung wird die Zunahme mobiler Arbeit registriert und zugleich gesehen, dass damit neue Belastungen verbunden sein können. Allerdings gibt es bislang wenig personalpolitische Ansätze, die Beschäftigten in ihrer Mobilität und bei der Bewältigung der damit verbundenen sozialen Probleme zu unterstützen.
Balance
Was also sind die Anforderungen an eine Work-Life-Balance-orientierte Gestaltung mobiler Arbeit? Die betriebliche Gestaltung sollte zumindest drei Bereiche umfassen: eine bedürfnisorientierte Personalpolitik, eine mobilitätsorientierte Arbeitsgestaltung sowie eine balanceorientierte Leistungspolitik.
Eine bedürfnisorientierte Personalpolitik fragt zunächst danach, wie die Freiheiten mobiler Arbeit maximal ausgeschöpft werden können, damit die lebensweltliche Perspektive Berücksichtigung findet. Ein wichtiger Aspekt ist die Orientierung an den jeweiligen Lebensphasen: Wie kann organisiert werden, dass Beschäftigte abhängig von ihrer jeweiligen Lebensphase nach Zeiten hoher Mobilität auch einmal weniger bis gar nicht reisen müssen? Zu einer bedürfnisorientierten Personalpolitik gehört die gezielte Auswahl mobiler Beschäftigter: Wer darf, wer muss reisen? Nicht vergessen werden darf die Qualifizierung der mobilen Beschäftigten, denn der Umgang mit und die Gestaltung von Mobilität erfordert spezielle Kompetenzen.
Drei Aspekte
Ein zweiter Baustein ist die mobilitätsorientierte Arbeitsgestaltung: Hier sind insbesondere drei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens: Mobile Beschäftigte brauchen Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Zweitens: Ein großer Belastungsfaktor ist nicht oder schlecht funktionierende, veraltete oder langsame Technik. Von daher gilt zu fragen: Wie müssen mobil Beschäftigte technisch ausgestattet werden? Ein dritter Aspekt betrifft die Unterstützung und Kommunikation: Wie können die mobilen Arbeiter optimal im Unternehmen unterstützt werden?
Mobile Arbeit, die positive Auswirkungen auf die Work-Life-Balance hat, erfordert eine balanceorientierte Leistungspolitik, die Anforderungen und Ressourcen aus der Arbeits- und auch der Lebenswelt berücksichtigt. Es reicht nicht aus, die Gestaltung auf den Arbeitsort und die Arbeitszeit zu reduzieren, also auf die Frage, wo und wann gearbeitet wird. Vielmehr gilt es nach dem Wie zu fragen, d. h. unter welchen leistungspolitischen Anforderungen und mit welchen Ressourcen wird gearbeitet.
Wenn die Beschäftigten zunehmend eigenverantwortlich Unternehmensziele verfolgen sollen, dann brauchen sie auch Autonomie in der Gestaltung und Kompetenzen im Umgang mit steigenden Mobilitätsanforderungen. Dazu benötigen sie aber zum einen weitgehende Freiheiten bei der Organisation ihrer Arbeit, sodass passend für die jeweilige Lebenssituation ein für die Work-Life-Balance zuträgliches Arrangement herauskommt. Die besten Arrangements nutzen allerdings nichts, wenn der Leistungsdruck immer mehr steigt, weil die zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht zur Bewältigung der Arbeitsaufgaben ausreichen. In diesem Falle wird Mobilität zu einer zusätzlichen Belastung, die „on top“ dazukommt.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gerlinde.vogl@sozialforschung.org oder die Redaktion aw@oegb.at
Der Beitrag ist eine adaptierte Version des gemeinsamen Artikels von Gerlinde Vogl und Nick Kratzer (2015).
]]>Datenklau
Um die Abhängigkeit Europas von Netzgiganten wie Google zu mindern, schlägt Morozov eine Art öffentlich-rechtlicher Datensammlung vor. „Google setzt auf die Zentralplanung im Sowjetstil, was Innovation verhindert. Das geht auf Dauer nicht gut. Stattdessen sollten wir gleiche Voraussetzungen für alle schaffen. Das funktioniert nur, wenn niemand Daten exklusiv sammeln oder besitzen kann. Das kann nur ein starker Staat sicherstellen“, ist der junge Digitalkritiker überzeugt.
„Big Data“, also Datenmengen die zu groß oder zu komplex sind, um mit traditionellen Methoden bearbeitet zu werden, ist heute schon viel mehr als die wirtschaftliche Nutzung von Daten. „Durch die Biometrie und Sensorik kommen wir vielen Träumen näher, sei es die künstliche Intelligenz oder die humanoide Robotik“, meint Thomas F. Dapp, Economist bei Deutsche Bank Research. Er ist dort für den Bereich Innovation und digitale Ökonomie zuständig und verfasste im Jahr 2014 eine Studie mit dem Titel „Big Data: Die ungezähmte Macht“. Demnach stecke der digitale Wandel zwar noch in den Kinderschuhen, habe die Gesellschaft aber bereits voll erfasst. Big Data und das „Internet der Dinge“ könnten enorme Wohlstandsschübe auslösen ‒ „aber nur dann, wenn sie nach den sozialen und rechtlichen Prinzipien organisiert werden, die Europa unter hohen Opfern in seinen Gesellschaften etabliert hat“.
Der Experte begegnet der digitalen Revolution mit gehöriger Skepsis. „Wir bewegen uns in eine Richtung, in der wir die Hoheit über Daten verlieren. Wenn wir keinen adäquaten Weg zur Regulierung finden, fallen mir für jedes positive Beispiel von Big Data ebenso Horrorszenarien ein.“ Es sei aber noch nicht zu spät, für bestehende und neue Player am Markt klare Regeln zu schaffen. Wenn der Regelrahmen optimal gestaltet wäre, könne sich Big Data nicht nur wirtschaftlich positiv entwickeln, sondern auch wissenschaftlich und gesellschaftlich. Der deutsche Studienautor ortet ein Misstrauen in der Bevölkerung. „Das Misstrauen wird mittelfristig zu Innovationseinbußen führen, weil manche webbasierten Technologien nicht mehr angenommen werden.“
Industrie 4.0
Damit Österreich die digitalen Umwälzungen nutzt, wurde im Juni des Jahres vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (bmvit), der Bundesarbeitskammer, der Industriellenvereinigung, der Produktionsgewerkschaft (PRO-GE) und zwei Fachverbänden der Verein „Industrie 4.0 Österreich – die Plattform für intelligente Produktion“ gegründet. Unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“, das 2011 anlässlich der Hannoveraner Messe geprägt wurde, werden mehrere Entwicklungen zusammengefasst. Im Zentrum steht vor allem die Verschmelzung klassischer Produktionstechniken mit digitalen Technologien in dem „Internet der Dinge“, in dem Maschinen, Werkstoffe und Produkte autonom miteinander kommunizieren. AK-Präsident Rudolf Kaske dazu: „Industrie 4.0 bedeutet für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine große Umstellung. Wir wollen uns mit dieser Initiative darauf konzentrieren, zusätzliche Wachstums- und Beschäftigungsmöglichkeiten auszuloten und zu unterstützen.“ Besondere Anliegen sind Kaske die Veränderungen, „die in der Bildung notwendig sind. Noch mehr als bisher wird von den Arbeitnehmenden lebenslanges Lernen erwartet. Unser Bildungssystem muss die Menschen besser darauf vorbereiten.“
„Wir befinden uns am Anfang eines tief greifenden Strukturwandels in der Produktion, am Beginn der vierten industriellen Revolution, an deren Ende die intelligente Fabrik wartet“, meinte Rainer Wimmer, Bundesvorsitzender der Produktionsgewerkschaft PRO-GE, anlässlich der Präsentation der Initiative. „Nur gemeinsam können wir diese innovative Weiterentwicklung mitgestalten und sicherstellen, dass die Interessen der Beschäftigten nicht zu kurz kommen. Es geht um die Absicherung unseres erfolgreichen Industriestandorts und die damit verbundenen Arbeitsplätze.“
Problemlöser
Optimistisch zeigt sich der Zukunftsforscher Klaus Kofler, der mit „Industrie 4.0“ eine logische Weiterentwicklung dessen sieht, was vor rund 25 Jahren mit dem Internet begonnen hat. „Wir werden die Maschine als allgegenwärtigen Bestandteil ins Leben integrieren“, sagte er im Mai in einem „Standard“-Interview. Visionär gedacht, könnte ein Geschäftsmodell der Zukunft so aussehen, dass Menschen Güter mithilfe selbst generierter Energie produzieren, sie global über Webseiten verkaufen und mit führerlosen Fahrzeugen zum Kunden schicken. Der Mensch, der in diesem noch etwas utopischen Umfeld besonders gut zurechtkommen könnte, würde jener Spezies angehören, die der US-Soziologe Paul Hay „Kulturell Kreative“ nannte. Für diese Personen spielen soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Eigenverantwortung und Lebensqualität eine große Rolle. Sie lassen neue Lebens- und Arbeitsmodelle entstehen. „Das sind keine Spinner“, meint Klaus Kofler, „sondern Problemlöser, die langsam in Führungsebenen vorrücken.“ All die Webportale, auf denen man Arbeitgeber, Restaurants oder Reiseveranstalter bewerten kann, seien ein erstes Ergebnis dieser Entwicklung.
Ängste
Auch für den deutschen Forscher Volker Banholzer ist die Zukunft der Arbeit unter dem Schlagwort Industrie 4.0 zu diskutieren. „Durch die Digitalisierung, den zunehmenden Einsatz von Robotern und die Vernetzung ändert sich die Arbeitswelt. Neue qualifizierte Arbeitsplätze entstehen, bestehende Abläufe und Routinen müssen angepasst werden.“ Die größte Angst der MitarbeiterInnen ist es, wenig überraschend, den Job zu verlieren und keinen neuen mehr zu finden, weil die Qualifikation nicht mehr passt. Banholzer: „Das heißt, die Arbeitgeber müssen wissen, welche Qualifikationen sie morgen benötigen, damit sie ihre Mitarbeiter dahin entwickeln können.“
Grundeinkommen
Für viele wird die neue Entwicklung jedoch zu kalt, zu komplex und zu undurchschaubar sein. „Wenn die Politik keine Sicherheit und Perspektiven bereitstellt, werden wir mit einem großen gesellschaftlichen Problem konfrontiert werden“, fürchtet Zukunftsforscher Kofler. Ein Modell, dem Umbruch wirksam zu begegnen, wäre das bedingungslose Grundeinkommen. Es sei auch eine Forderung, die in der Tech-Welt immer häufiger auftaucht. Albert Wenger, ein Risikofinanzier des New Yorker Unternehmens Union Square Ventures, bloggt bereits seit 2013 über dieses Modell. Die smarten Apps, die seine Firma finanziert, lehren Sprachen und können Taxis bestellen. Sie machen praktisch mit jedem Download menschliche Arbeit überflüssig. „Wir stehen am Beginn einer Ära, in der Maschinen immer mehr Dinge übernehmen, die traditionell von Menschen erledigt wurden“, so Wenger. Er will in Detroit ein Grundeinkommen-Pilotprojekt starten.
Linktipp:
Interview mit Klaus Kofler – „Jeder könnte zum Produzenten werden“
tinyurl.com/o6zh5bw
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gabriele.mueller@utanet.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Daten-Kolonie Europa?
Die sozialen Auswirkungen sind immens: Auf der einen Seite stehen die ICT-ExpertInnen und Start-ups, die schnell reich werden, auf der anderen Seite eine wachsende Masse von Crowdworkern, die für Cent-Beträge Aufträge erledigen, ohne Absicherung gegen Krankheit, Unfall, Alter oder Mutterschutz – was einer Rückkehr ins 19. Jahrhundert gleichkommt. Und wo bleibt Europa: Wird es zu einer Daten-Kolonie, abhängig von Big Data aus den USA? Wie verändert Digitalisierung die Gesellschaft, das europäische Sozialmodell und die Arbeit?
Studien haben ergeben, dass Investitionen von 90 Milliarden jährlich notwendig sind, damit Europa seine Stellung behaupten kann. Um das ehrgeizige Ziel europäischer Industriepolitik, einen Anteil von 20 Prozent am BIP, zu erreichen, sind gewaltige Anstrengungen notwendig, auch und gerade im Bereich der Digitalisierung von Industrie und Dienstleistungen.
Auf dem digitalen Schachbrett agieren viele Spieler mit unterschiedlichen Interessen:
So weit die Player und ihre Schwerpunkte. Die gewerkschaftlichen Herausforderungen sind schnell skizziert: Es geht um den Wert und Stellenwert von guter digitaler Arbeit, die mitbestimmt sein muss, ständige Weiterqualifizierung erfordert und tariflich zu gestalten ist. Das deutsche Arbeitsministerium ist vorgeprescht, um diese Fragen ins Blickfeld zu nehmen, aber was passiert in anderen Ländern Europas und warum greift die Kommission diese Steilvorlage, diesen holistischen Ansatz nicht auf, sondern verengt das Sichtfeld ohne Not auf „Binnenmarkthindernisse“?
Eine Studie der Universität Oxford verweist darauf, dass in den kommenden 20 Jahren rund die Hälfte der bestehenden Jobs in den USA durch Digitalisierung gefährdet ist. Eine Schätzung des Thinktanks Bruegel für Europa bewegt sich in gleicher Größenordnung. Auf der anderen Seite behauptet der zuständige Kommissar Andrus Ansip, dass allein in der App-Wirtschaft drei Millionen zusätzliche Jobs bis 2018 geschaffen würden. Gerade im Bereich der informationsbasierten industrienahen Dienstleistungen wie Programm-Updates, Fehlerdiagnose oder Fernwartung ist ein Aufschwung zu erwarten.
Klar ist, dass der Übergang zu digitaler Industrie und digitalen Dienstleistungen gestaltet werden muss – unter gleichzeitiger Sicherung des Beschäftigungsstands. Gute digitale Arbeit muss gefördert werden, wobei der Einsatz neuer Technologien mit neuen Arbeitserfordernissen mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen abzustimmen ist. Digitale Kompetenzen erfordern eine antizipative Qualifikationsstrategie unter Mitwirkung der Beschäftigten, die den Anforderungen von Frauen und Männern, Jugendlichen und Älteren gleichermaßen gerecht wird, etwa indem sie einen tarifvertraglichen Anspruch auf Bildungsteilzeit vorsieht. Die Vereinbarkeit von Privatleben und Arbeit wird umso wichtiger, als die Digitalisierung potenziell eine Entgrenzung der Betriebe und eine Entgrenzung von Arbeitszeit mit sich bringt. Eine Anpassung des ArbeitnehmerInnen- und Betriebsbegriffs, eine Erweiterung der Mitbestimmungsrechte und -möglichkeiten sind gerade bei vernetzten Formen der Arbeitsorganisation und mobilen Arbeitsformen unerlässlich.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Potenziale der Digitalisierung für flexible Arbeitsformen zu nutzen. Diese müssen so gestaltet werden, dass neue Freiräume und Selbstbestimmungsmöglichkeiten für die Beschäftigten entstehen. Neue Regeln sind nötig: Für Plattform-Arbeiten sollten Mindesthonorare und arbeitspolitische Standards geregelt werden. Micro-Jobber müssen als ArbeiterInnen betrachtet werden.
Digitalisierung erfordert weit mehr als Sozialpartnerverhandlungen über Weiterbildung – es ist eine Revolution: Die erste industrielle Revolution markierte den Übergang von Handarbeit zu Maschinen und beruhte auf Dampfkraft (ab 1800). Die zweite basierte auf Elektrifizierung und brachte Massenproduktion, bekannt als Fordismus (ab 1840/60). Die dritte beruhte auf Computerisierung und die neueste ist verbunden mit den Stichworten Industrie 4.0, „Smart Services“, „Crowdsourcing“ „Crowdworkers“.
Sonnen- und Schattenseiten
Disruption heißt das Stichwort, mit dem die quasirevolutionären Prozesse bezeichnet werden, in denen neue AkteurInnen gewohnte Praktiken und Regeln frontal infrage stellen und neue erzwingen. Da die Digitalisierung der Arbeit viele neue Fragen aufwirft und praxisrelevante Lösungen erfordert, ist ein Ausbau der Arbeitsforschung zum Thema „gute digitale Arbeit“ notwendig. Digitalisierung hat ihre Sonnen- und ihre Schattenseite. Aus progressiver Sicht muss das Hauptaugenmerk auf dem spektakulären Anstieg der Produktivität und dessen Auswirkungen auf Arbeit und Beschäftigung liegen. Die Auslagerung von Arbeit aus traditionellen Unternehmensstrukturen hat sich verdichtet zu einem sozioökonomischen Trend, erleichtert durch das Internet: Mechanical Turk ist ein Internet-Marktplatz des Versandhauses Amazon, auf dem sich Crowdworker („Turker“) um Aufträge bemühen können. Mittlerweile haben NutzerInnen ein Online-Forum gegründet, um sich abzusprechen: „Turker Nation“. Darüber hinaus haben WebarbeiterInnen ein digitales Werkzeug geschaffen, um Arbeitgeber zu bewerten: Turkopticon.
Der Megatrend bringt neue Risiken mit sich: Monopolbildung, Massenentlassungen, Überwachung und Kontrolle, mangelhaften Datenschutz, Industriespionage … Gleichzeitig bringt er neue Möglichkeiten: bessere Information, Kommunikation, Beteiligung, Networking ... Es ist nicht zu spät, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen, wie Digitalisierung so zu gestalten ist, dass gute Arbeit möglich bleibt und die neuen Kommunikationsmöglichkeiten zu einer Stärkung und Europäisierung der Mitbestimmung beitragen. Der EGB hat daher vorgeschlagen, ein Europäisches Forum zu gründen, um die Herausforderungen auszudiskutieren und in den Griff zu bekommen.
Linktipp:
Homepage Social Europe
tinyurl.com/qhosxoq
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor wkowalsk@etuc.org oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Seit mindestens zehn Jahren ist nicht nur die Menge an Daten geradezu explodiert, die über das Internet verbreitet wurden. Auch die Macht der Internetkonzerne hat sich in diesem Zeitraum verfestigt.
Währenddessen ist die kommerzielle Bedeutung von Daten gestiegen: Auch aus einfachen Fitness-Apps werden Daten generiert, die dann kommerziell verwertet werden.
Selbst am Arbeitsplatz ist der Einsatz digitaler Technik inzwischen Normalität. Dem stehen aber mangelnde Regeln im Betrieb gegenüber, sei es zum Thema Datenschutz, sei es zum Thema Erreichbarkeit.
Zahlen, Daten, Fakten zum Thema anbei zum Downloaden!
]]>Traditioneller Alltag
Doch obwohl es die technischen Voraussetzungen für modernste Kommunikationsmethoden schon lange gibt, hat sich bisher erstaunlich wenig verändert. 2012 etwa haben 1,3 Millionen ÖsterreicherInnen insgesamt 3,9 Millionen Dienstreisen unternommen.
Der persönliche Kontakt mit KundInnen und GeschäftspartnerInnen ist nach wie vor wichtig und macht belastbare Beziehungen überhaupt erst möglich. Sechs Milliarden Euro ließen sich die Unternehmen das kosten – die Reiseausgaben hatten damit wieder das Vorkrisen-Niveau erreicht. Österreichweit werden, so meldete der „Kurier“ im April 2013, 82 Prozent aller Telefonkonferenzen und 48 Prozent aller Videokonferenzen für die interne Kommunikation genutzt.
Nur acht Prozent der Unternehmen nutzen Videokonferenzen häufig. „Bis heute sind selbst in der IT-Branche Videokonferenzen nur bei den Großunternehmen gang und gäbe“, erzählt Manuel Lehner, Sekretär der Interessengemeinschaften work@professional, work@external und work@it der GPA-djp. „Meistens werden diese technischen Möglichkeiten für Gespräche mit MitarbeiterInnen im Ausland oder mit anderen Niederlassungen genutzt.“
Zeit ist Geld, das gilt auch für Videokonferenzen. Und daher werde, so Lehner, in diese Minuten möglichst viel an Inhalten hineingepackt. Zeit für Kreativität und das Entstehen neuer Ideen bleibt da meist nicht. Außerdem: Während Zweiergespräche über Skype noch relativ einfach sind, erfordert eine echte Konferenz per Video auch einiges an Organisation. Termine müssen koordiniert und entsprechende Räumlichkeiten für vertrauliche Gespräche reserviert werden. Immerhin hat sich die Technologie so weit weiterentwickelt, dass Wackelbilder, schlechte Tonqualität oder Asynchronität theoretisch vermeidbar sind.
Herausforderungen
Dass Distanz und die digitale Kommunikation per Messenger, E-Mails und ähnlichen Tools zwar das Finden und Kontaktieren von Personen erleichtern, das Verständnis für das virtuelle Gegenüber aber nicht gerade verbessern, haben wohl viele Menschen schon selbst erfahren. Man muss nicht gleich Opfer eines Shitstorms gewesen sein, um zu bemerken, dass – sobald der direkte Kontakt fehlt – spontane Entgleisungen, aber auch Missverständnisse und Fehlinterpretationen häufiger werden.
Das Angebot, auch in den eigenen vier Wänden arbeiten zu können, haben viele Beschäftigte gerne angenommen – selbst wenn manche mit falschen Vorstellungen die Option Home-Office gewählt haben. Denn tatsächlich kann man in der Regel eben nicht gleichzeitig Kinder beaufsichtigen oder Kranke pflegen und effizient arbeiten. Und sich den Weg zur Arbeit zu ersparen mag zwar angenehm sein und ermöglicht mehr Freizeit, aber irgendwann fehlt einem vielleicht der Kontakt zu den KollegInnen.
Empfehlungen
Die AUVA-Expertin Brigitte-Cornelia Eder empfiehlt im aktuellen Magazin „Sichere Arbeit“: „Für diejenigen Personen, die gerne ungestört arbeiten, bei denen eventuell Unstimmigkeiten im Kollegenkreis bestehen, die Sozialkontakte, vielleicht sogar aufgrund der eigenen psychischen Zustandslage, als Belastung erleben, kann ein Telearbeitsplatz befreiend wirken und die Freude an der Arbeit zurückbringen. Für andere dagegen kann der Telearbeitsplatz zur Zerreißprobe werden und sie in die Isolation führen. Vielleicht ist man abgeschnitten von Informationen, die, wie jeder weiß, ganz oft informell ‚zwischen Tür und Angel‘, beim Kaffee oder am Gang ausgetauscht werden. Vielleicht entfremdet man sich von seinen Kolleginnen und Kollegen und verliert trotz aller Besuche im Büro den ‚guten Draht‘, den man immer hatte. Hier ist sowohl Eigenverantwortung gefragt, die eigene Situation eventuell wieder zu verändern, als auch der Arbeitgeber in die Pflicht genommen, der hier ein feines Auge und Ohr für seine dann weit entfernten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sollte!“
Vor allem in der IT-Branche sind Home-Offices gut möglich und auch sehr verbreitet. Doch mittlerweile rudern manche Unternehmen wieder zurück und fordern mehr persönliche Präsenz am Arbeitsplatz. Schon 2013 schränkte das US-Internetunternehmen Yahoo die weitverbreitete Arbeit im eigenen Zuhause ein – zum Unmut vieler MitarbeiterInnen, die wieder pendeln mussten.
„Was soll ich denn in der Firma? Da kenn ich ja niemanden“, war die Reaktion bei manchen Beschäftigten bei Hewlett-Packard, erzählt Eva Angerler, Expertin für Arbeit und Technik in der GPA-djp. Doch für die Unternehmensleitung steht mittlerweile fest, dass ein gewisses Maß an altmodischen Face-to-face-Kontakten erforderlich ist, um ausreichend Kommunikation und Kreativität zu gewährleisten.
Big Boss is Watching
Mittlerweile gibt es vor allem bei den großen Softwareproduzenten schon ganz andere Entwicklungen, die teilweise in Richtung Überwachung gehen. Bei internationalen Konzernen wie IBM läuft die Kommunikation unter den auf der ganzen Welt verstreuten Beschäftigten über Social-Software-Plattformen ab. Vorgesetzte und Unternehmensleitung können über diese Software jederzeit sowohl den Vernetzungsstand als auch den Kommunikationslevel einzelner MitarbeiterInnen erheben. Auch die Arbeitsergebnisse bzw. -fortschritte sind abrufbar.
Außerdem im Angebot: Statusmeldungen mit verschiedenfarbigen Lämpchen-Symbolen, um festzustellen, wie lange und wann Mitarbeitende im Home-Office online sind. Manuel Lehner: „Das erzeugt Druck, obwohl jedem klar sein dürfte, dass länger online zu sein nicht unbedingt ein besseres Ergebnis bedeutet.“
Flexibles Arbeiten, das bedeutet nicht nur Gleit- oder Vertrauensarbeitszeit und Home-Office, sondern unter Umständen auch, dass man keinen fixen Schreibtisch mehr hat. Eva Angerler: „In Österreich beginnen jetzt die großen Banken mit der Einführung von Desk-sharing.“ Das soll nicht nur die interne Kommunikation verbessern – in manchen Unternehmen wurden auch die Chef-Büros gestrichen –, sondern ist außerdem platzsparend. Denn wer auf Urlaub oder im Krankenstand ist oder aber zu Hause arbeitet, braucht keinen Schreibtisch im Büro. Dabei hängt es von den aktuellen Tätigkeiten und Anforderungen ab, an welchem Platz und neben welchen KollegInnen man arbeitet. „Es gibt zwar so etwas wie eine Homebase, zu der man fix dazugehört, aber ansonsten ist alles flexibel. Hier stellt sich unter anderem die Frage: Wie findet man seine KollegInnen und Vorgesetzten, wenn man spontan etwas braucht? Der Lösungsmöglichkeit, die Beschäftigten per GPS orten zu können, können wir nichts abgewinnen.“
Eine FORBA-Studie mit Beschäftigten eines Technologiekonzerns in Wien, der ein Desk-sharing-Programm eingeführt hat, zeigte 2012 eher negative Auswirkungen auf die MitarbeiterInnen. Der Wegfall der gewohnten Arbeitsumgebung bzw. des zumindest in Maßen gestaltbaren eigenen „Territoriums“ sorgte für viel Kritik bei den Betroffenen. Im Vergleich mit anderen untersuchten Unternehmen war die Zufriedenheit mit den räumlichen Bedingungen in diesem topmodern ausgestatteten Bürogebäude mit Abstand am geringsten.
Linktipps:
Muster-Betriebsvereinbarung Telearbeit/Home-Office
tinyurl.com/opnabyj
Ausführliche Infos zu Telearbeit
tinyurl.com/p3txkt7
tinyurl.com/q9ed9u5
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>„Der Wunsch, einen sinnerfüllten Job zu haben, trifft mitten ins Herz. Es geht um Identität, die Definition von Leben, Erfolg und Reichtum. Bei alldem ist Angst ein sehr großer Teil – aber all das hilft nicht, wenn du nach Erfüllung suchst“, erklärt Rob Symington, der seine Karriere beim Unternehmensberater Ernst & Young hinter sich ließ. Die Jobplattform Escape wurde zum Teil durch Crowdfunding – bei dem über 850.000 Euro lukriert werden konnten – finanziert. Zugang zu den interessanten Jobangeboten aus aller Welt haben nur Mitglieder. Um auf der Plattform ein Jobangebot aufgeben zu dürfen, muss man bestimmte Kriterien erfüllen wie beispielsweise: exotischer Ort, spannende Aufgabe, soziale Aspekte, Kreativität. Derzeit werden unter anderem EventmanagerInnen auf der thailändischen Insel Ko Lanta, Kulturverantwortliche bei einer NGO in Tansania oder ExpertInnen für ein Start-up-Office in Rio de Janeiro gesucht. Aber auch Offerte aus dem Silicon Valley sind online zu finden – etwa bei Uber, Apple und Airbnb. Die meisten Jobangebote können orts- und zeitunabhängig erledigt werden – und frei von Zwängen einer Festanstellung. Es ist nicht mehr entscheidend, wer am längsten im Büro sitzt, sondern wer seine Kompetenz – unabhängig von Ort und Zeit – am besten einbringen kann.
Gnadenloser Wettbewerb
Das Heer von digitalen FreelancerInnen arbeitet in der Regel in Projekten und bekommt bestenfalls Werkverträge. Der gnadenlose Wettbewerb im Web, bei dem die günstigsten Angebote das Rennen machen, das fehlende soziale Netz und die nicht vorhandenen Mitspracherechte im Betrieb bereiten den Escape-Gründern kein Kopfzerbrechen. Die größten Einwände – nämlich Unsicherheit und fehlenden Kündigungsschutz – entkräftet Rob Symington folgendermaßen: „In letzter Zeit mussten viele Menschen, die nie etwas riskiert und ihr Leben lang für Großfirmen gearbeitet hatten, erleben, wie man sie, dem Rentenalter nahe, auf einmal schlecht behandelte. Es kommt zu Entlassungen, radikal zusammengestrichenen Rententöpfen und massenhaft zwangsweisen Frühpensionierungen. Wenn das Geld knapp wird, sind wir alle entbehrlich.“ Trotz aller Herausforderungen des Freelancer-Daseins überwiegen für die Escape-Gründer die Vorteile deutlich.
Selbstständigkeit ist nicht grundsätzlich schlecht, findet auch Karl-Heinz Brandl, Bereichsleiter für Innovation der deutschen Gewerkschaft ver.di. Nur müssten die Bedingungen stimmen, so der Gewerkschafter. Das sei aber bei den digitalen Jobplattformen derzeit nicht der Fall. Daher bereiten ver.di die neuen Arbeitsmodelle auch ziemliches Kopfzerbrechen. Die Angebotspalette der digitalen Plattformen, die von der Auslagerung konkreter Aufgaben wie Assistenzfunktionen oder einfachen Testfällen im Softwareentwicklungsbereich über Produktentwicklung, Prototypentest bis zur Vermittlung von FreelancerInnen reicht, wächst stetig. „Andere Gewerkschaften und wir arbeiten intensiv an Spielregeln für die neue Arbeitswelt“, versichert Brandl.
Die Liste der Schattenseiten, unter denen Cloudworker („WolkenarbeiterInnen“) leiden, die ihre Arbeit mithilfe moderner Technologien unabhängig von Zeit und Ort erledigen, ist lang. Berichte von extrem schlechter Bezahlung etwa bei Amazons Mechanical Turk – dem Online-Arbeitsmarkt für Mikrojobber – mit einem Durchschnittslohn von zwei Dollar pro Stunde, ohne Sozialleistungen oder ArbeitnehmerInnenschutz, lassen aufhorchen. „Bei diesen Modellen fehlt es meist an Mindeststandards hinsichtlich Bezahlung, Arbeitszeit, Arbeitsschutz und rechtlicher wie sozialer Sicherheit. Deshalb besteht die Gefahr, dass Crowdworking sich in die Sphäre der ausbeuterischen Erwerbstätigkeit entwickelt“, warnt Brandl.
Gewerkschaften sind sich der Tatsache bewusst, dass die Bedingungen in der digitalen Arbeitswelt auch massiven Einfluss auf alle traditionell Beschäftigten haben werden. Dabei kann auch erheblicher Druck auf die Einkommens- und Arbeitsbedingungen der angestellten ArbeitnehmerInnen entstehen. Soll „gute Arbeit“ auch für Crowd-Arbeit möglich werden, so müssten die gesetzlichen Lücken geschlossen und Mindestbedingungen, etwa ein Mindestlohn, rechtlich verankert werden. Die Mitbestimmung in Betrieben müsse für digitale Beschäftigte erweitert werden. Ein wichtiger Punkt sei auch die Wahrung von Persönlichkeitsrechten und Datenschutz. „Bei manchen Verträgen mit Crowdsourcing-Plattformen müssen sich die JobinteressentInnen ja praktisch nackt ausziehen“, warnt Brandl.
All die oben angeführten Punkte würden zeigen, dass die neue Arbeitswelt reguliert werden müsse, damit es zu einem möglichst fairen Ausgleich von Interessen kommt. „Schließlich gilt es, einen sozialen Rückschritt zu verhindern, der uns an den Beginn des industriellen Zeitalters zurückkatapultieren könnte“, mahnt Brandl. Die deutschen Gewerkschaften IG Metall und ver.di haben Internetplattformen (www.ich-bin-mehr-wert.de/support/cloudworking) zum Thema geschaltet und bieten Beratung für Cloudworker. ver.di organisiert auch Workshops für Ein-Personen-Unternehmen (EPUs) und Cloudworker. Informationen, Beratung, Honorarrichtlinien, Vertragspraxis und Weiterbildung stehen auf dem Programm.
Neue Debatte erforderlich
Die rasant voranschreitende Digitalisierung erfordert auch eine völlig neu aufgestellte arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitische Debatte. „Ein Cloudworker mit wenigen Euro Bruttolohn hat keinen Spielraum, in die eigene Vorsorge zu investieren. Das soziale Netz wird für ihn zum Raster, durch das er fällt. Die modernen Arbeitsformen rufen das Konzept einer Bürgerversicherung auf den Plan. Die Verbreiterung der Finanzierungsbasis im sozialen Sicherungssystem wäre der strukturelle Schritt zur Absicherung des ‚digitalen Prekariats‘“, meint etwa SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Denn, so Fahimi, wenn die digitale Arbeitswelt ihr Freiheitsversprechen einlösen möchte, dann könne dies nicht zulasten der Beschäftigten gehen, die am Ende mit der Entscheidung zwischen Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung allein gelassen werden.
In Deutschland laufen bereits angeregte Diskussionen zum Thema auf breiter gewerkschaftlicher und politischer Basis – und konkret werden eine Rentenkasse und Arbeitslosenabsicherung für Online-Jobber gefordert. In Österreich ist man hingegen noch nicht ganz so weit. Der ÖGB weiß, dass man sich den Herausforderungen, die der digitale Wandel der Arbeitswelt mit sich bringt, stellen wird müssen, und es besteht dahingehend auch Problembewusstsein. Entsprechend klare und mit den Sozialpartnern akkordierte Forderungen stecken noch in den Kinderschuhen. Was EPUs betrifft, wäre für diese die Wirtschaftskammer zuständig, von der aber kommt wenig Unterstützung – mit dem Ergebnis, dass viele Menschen in sehr prekären Verhältnissen sind. Aufmerksam beobachten KonsumentenschützerInnen die neuen Entwicklungen von Online-Dienstleistungsvermittlern. „Konsumenten genießen beim Online-Kauf Vorteile wie ein großes Warenangebot, einfache Preisvergleiche und bequeme Auftragserteilung von zu Hause. Die gesellschaftlichen Aspekte jedoch, etwa wie sich digitale Plattformen auf traditionelle Arbeitsplätze auswirken werden, sind noch nicht abzusehen“, erklärt Gabriele Zgubic, Leiterin der Abteilung Konsumentenpolitik der AK Wien. Neue Technologien würden viele Vorteile und Arbeitserleichterungen für KonsumentInnen und ArbeitnehmerInnen bringen. Dennoch dürfe man die negativen Seiten nicht außer Acht lassen, warnt Zgubic: „Neben dem mangelnden Datenschutz zählen steigender Arbeitsdruck, ständige Erreichbarkeit, sinkendes Lohnniveau, aber auch das Wegfallen von Arbeitsplätzen dazu.“
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin irene_mayer@hotmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at
Männerdominanz brechen
Das ist insofern interessant, da Frauen heutzutage in Technik, Wissenschaft und Informationstechnologie im Vergleich zu anderen Branchen total unterrepräsentiert sind. Zahlreiche Studien belegen, dass der Mädchenanteil in technischen Schulen unter 15 Prozent und der Frauenanteil in Fachrichtungen wie Maschinenbau und Elektrotechnik sogar unter der Zehn-Prozent-Marke liegt. Dass Männer den Großteil der ComputerexpertInnen ausmachen, zeigt sich auch an dem Beispiel des IT-Riesen Google: Der Frauenanteil im Unternehmen liegt bei 30 Prozent, davon sind lediglich 17 Prozent im technischen Bereich, zum Beispiel in der Programmierung und Entwicklung, vertreten. Das gleiche (Beschäftigung-)Muster wiederholt sich in allen anderen technischen Unternehmen. Beschäftigte des weiblichen Geschlechts arbeiten meist im kaufmännischen Bereich wie etwa in der Buchhaltung, in der Personalabteilung oder als IT-System-Kaufleute.
Barbiepuppe versus Bauklotz
In den vergangenen Jahren lassen sich vermehrt Bemühungen seitens der Unternehmen, mehr Frauen für technische Berufe zu begeistern, beobachten. Das überrascht auch nicht sonderlich, da Unternehmen ständig über Personalmangel klagen. Etwa 67 Prozent sind außerdem auf der Suche nach hoch qualifizierten Mitarbeiterinnen für Forschung und Entwicklung – aber ohne Erfolg. Trotz guter Arbeitsmarktchancen, guter Verdienstmöglichkeiten, zahlreicher Kampagnen und Projekte entscheiden sich Frauen mit geringer Wahrscheinlichkeit für einen Beruf in diesen Branchen – übrigens auch viele, die ein Studium in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern gemacht haben. Das belegt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Viele ExpertInnen meinen, eine Antwort auf diese Entscheidung könnte sein, dass sich Bildungsvorstellungen und -erwartungen bereits ab dem Kindergartenalter entwickeln.
Wer kennt das nicht? Im Kindergarten spielen Mädchen mit Barbiepuppen und bereiten in den Miniküchen Kaffee und Essen vor, während sich die Buben in ihren blau-roten Superman-T-Shirts mit Werkzeugkästen und Bauklötzen beschäftigen oder das „kaputte“ Dreirad reparieren. Bereits ab diesem Alter werden Kinder im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule und von der Gesellschaft auf unauffällige Art und Weise geprägt. Wenn die Rollenverteilung schon so klar geteilt und geregelt ist – der Vater ist Ingenieur, die Mutter Krankenpflegerin, Deutsch unterrichtet Frau Meier und Physik und EDV Herr Schuhmann –, welche Einstellung zu diesen Fächern und Branchen sollen Mädchen entwickeln? Für eine Veränderung dieser klischeehaften Vorstellungen von Mann und Frau braucht es dringend ein Umdenken der Gesellschaft, vor allem muss diese Veränderung bereits in jungen Jahren spürbar sein, sagen ExpertInnen.
Mathematik als Bremsklotz
Als ein weiterer Grund, warum Frauen in Technik, Wissenschaft und Ingenieurwesen unterrepräsentiert sind, wird oft das Fach Mathematik genannt, das bei diesen Fachrichtungen eine relativ große Rolle spielt. Denn selbst bei gleichen Leistungen glauben Mädchen eher als Jungen, sie seien darin nicht gut genug. Auch wenn das in vielen Staaten zum Teil der Wahrheit entspricht, zeigte erst kürzlich eine Studie, dass Mädchen in Mathematik anders beurteilt werden als Buben – und zwar automatisch schlechter.
Victor Lavy von der Universität Warwick in England und Edith Sand von der Universität in Tel Aviv veröffentlichten dazu eine Untersuchung, die vermuten lässt, dass Mädchen allgemein schlechter in Mathematik abschneiden, weil das Lehrpersonal das von ihnen erwartet. Dazu wurden SchülerInnen von Beginn bis zum Ende der Schulausbildung begleitet, ihre Arbeiten wurden zweimal beurteilt – einmal anonym und einmal vom eigenen Lehrenden. Anonym schnitten die Mädchen besser ab als Buben, beim eigenen Lehrenden war genau das Gegenteil der Fall. In den anderen Fächern, wie beispielsweise Sprachen, konnte dieses Phänomen jedoch nicht beobachtet werden.
Erfolgreiche Erfinderinnen
Erfolgreiche Erfinderinnen zeigten bereits vor vielen Jahren, dass Technik und die damit verbundene Mathematik für Frauen kein Fremdwort ist und dass sie für Jobs in diesen Bereichen genauso gut wie Männer geeignet sind. Nur üben bis heute das familiäre Umfeld, Ausbildungsstätte und die Gesellschaft einen großen Einfluss bei der Berufs- und Studienwahl aus und drängen so die Mehrzahl der Mädchen in traditionell weibliche Berufe, wie Kindergärtnerin und Bürokauffrau. Damit das Interesse für die bisher fast ausschließlich von Männern dominierte Technikbranche wächst und mehr Frauen Interesse zeigen, muss die Berufsinformation um einiges verbessert werden, etwa durch eine stärkere Sensibilisierung für die voraussichtlichen Auswirkungen der unterschiedlichen Fächerwahl von Jungen und Mädchen auf Berufsaussichten und Verdienstniveau. Es zeigt sich nämlich, dass jene Mädchen und Frauen, die sich für eine IT-Karriere entschieden haben oder für die eine solche infrage kommt, in ihrem privaten Umfeld weibliche Vorbilder hatten oder haben. Somit verfügen sie über mehr Wissen hinsichtlich der Berufsmöglichkeiten und haben eher die Chance, in die Branche hineinzuschnuppern und sich ein eigenes Bild davon zu machen.
Die Übernahme der Maschinen
Dass ein Umdenken und eine Veränderung dringend nötig sind, zeigt auch die Tatsache, dass der Einsatz von Robotern und ähnlichen Technologien zunimmt und in den kommenden Jahren viele Arbeitsplätze und somit Arbeitskräfte ersetzen wird. Die wachsende Technologie bedroht in erster Linie Berufsgruppen, die Verwaltungstätigkeiten ausüben, aber auch den Einzelhandel und andere Dienstleistungsberufe. Sogar ganz vom Aussterben bedroht sind zum Beispiel Berufe wie KassierIn und FahrkartenverkäuferIn.
Im Dienstleistungssektor sind, wie zahlreiche Statistiken bestätigen, die meisten Frauen beschäftigt. Das bedeutet, dass vor allem für sie erhöhte Risikogefahr besteht, ihren Job – zwar nicht von heute auf morgen, aber mit Sicherheit irgendwann, da sind sich die ExpertInnen sicher – an eine Maschine zu verlieren. Genau das Gegenteil und eine Zunahme der Beschäftigten bewirkt der technische Fortschritt in Technologieberufen und in der IT.
Politik und Wirtschaft am Zug
Damit IT- und Technikunternehmen in Zukunft seltener über Personalmangel klagen, sind viele Veränderungen notwendig – vom Elternhaus über die schulische Ausbildung bis hin zur Gesellschaft. Benachteiligungen wie etwa das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen und die fehlenden Kinderbildungseinrichtungen müssen beseitigt werden. Hier ist die Politik genauso wie die Wirtschaft am Zug. Denn erst wenn Frauen Chancengleichheit im gesamten Berufsleben vorfinden und es ihnen ermöglicht wird – genauso wie ihren männlichen Arbeitskollegen –, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, haben sie die Möglichkeit, Karriere zu machen und erfolgreich zu sein, sei es in der Informationstechnologie, in der Technik, aber auch in jeder anderen Branche.
Linktipp:
Mehr Infos unter
sprungbrett.or.at
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]]>„Intelligente“ Algorithmen
Hinter der Nutzbarmachung all dieser Datenmengen und der „intelligenten“ Algorithmen steht auch ein Heer an Menschen, die Daten in Computer eingeben. Diese und viele andere Arbeiten werden mittels Crowdwork erledigt: Aufträge werden über webbasierte Plattformen ins Netz gestellt und von sogenannten Crowdworkern abgearbeitet. Dies erleichtert zwar für einige Menschen den Zugang zu Arbeit – die Aufgaben können zu beliebigen Zeiten in beliebiger Menge und von beliebigen Orten erledigt werden. Das Risiko liegt aber beim Einzelnen: kein oder nur geringes Entgelt, keine Absicherung und rechtliches Niemandsland – statt eines Arbeitsvertrags gibt es nur allgemeine Geschäftsbedingungen, von arbeitsrechtlichem Schutz und Mitbestimmung keine Spur.
Sharing Economy
Als Gegenkonzept zur Konsumgesellschaft gedacht, sollte – erleichtert durch Internet und Apps – Tauschen, Leihen und Teilen den Konsum ersetzen. Entstanden ist ein neuer Wirtschaftszweig: Portale, die Car-Sharing, Übernachtungen (Airbnb) und Fahrdienste (Uber) anbieten und damit Milliarden verdienen. Die Digitalisierung dringt so in Bereiche ein, die vorher nicht als stark betroffen galten, in denen aber nun prekäre Arbeit floriert. Es wird schon intensiv an Robotern gearbeitet, deren Sensortechnik den menschlichen Sinnesempfindungen schon sehr nahe kommt. In einer weiteren Entwicklungsstufe arbeitet man daran, Roboter mit selbstlernenden Elementen auszustatten (sprich: Fehler erkennen und daraus Prozesse optimieren). Es kommt zu einer rasanten Entwicklung von Maschinen, die mit den Menschen und ihrem Arbeitsumfeld interagieren.
Der industrielle Sektor wird die Entwicklung der oben genannten Prozesse massiv vorantreiben. Ziel ist die umfassende Vernetzung der Produktion. Alle kommunizieren miteinander: Teile, Maschinen, Beschäftigte und Kunden. So kann die Produktion in Echtzeit umgestellt werden, der Kunde deponiert per Internet Sonderwünsche. Monotone und körperlich anstrengende Arbeiten werden in Zukunft vermehrt von Maschinen übernommen. Für die ArbeitnehmerInnen fallen verstärkt Aufgaben bei der Kontrolle, Steuerung, Planung und Prozesssteuerung an. Man erwartet sich davon hohe Produktivitätsgewinne und viel Potenzial für neue Geschäftsfelder.
Mitgestalten
Noch ist nicht abzusehen, welche technologischen Veränderungen wie schnell in unsere Arbeitswelt Einzug halten. Ziel kann nicht sein, den technologischen Fortschritt aufzuhalten, sondern ihn gezielt mitzugestalten, damit er möglichst vielen Menschen zugutekommt. Einige Entwicklungen und Fragestellungen werden in der Arbeitswelt daher in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Wandel am Arbeitsmarkt
Es gibt einige Studien, die den Jobwandel aufgrund des Einflusses der Digitalisierung der Arbeitswelt auf einzelne Branchen betrachten. Gemeinsamer Tenor ist, dass weniger Jobs geschaffen werden, als durch den technologischen Wandel verloren gehen werden. Viele manuelle Arbeiten, aber auch Bürotätigkeiten und Dienstleistungen bis hin zu Pflege könnten in Zukunft zumindest teilweise automatisiert werden. Menschliche Kreativität und soziale Kompetenz hingegen werden an Bedeutung gewinnen. Entscheidend wird sein, welche gesellschaftspolitischen Antworten wir auf diese Veränderungen haben.
Durch die Entstehung neuer Jobs, aber auch durch die veränderten Arbeitsinhalte, die die Digitalisierung mit sich bringt, bekommen die Themen Qualifizierung und berufliche Aus- und Weiterbildung auf allen Ebenen eine besondere Bedeutung. Was brauchen Menschen, um mit dem digitalen Wandel zurechtzukommen? Wie muss unser Bildungs- und Ausbildungssystem verändert werden, um die Menschen auf diese veränderte Arbeitswelt und Gesellschaft ausreichend vorzubereiten? Und welche Fähigkeiten und Fertigkeiten muss Basisbildung vermitteln, um auf diese veränderten gesellschaftlichen Anforderungen zu reagieren?
Die Entwicklungen der Big-Data-Welt – also die Möglichkeit, Informationen zu verknüpfen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen – werfen gerade beim Datenschutz sehr entscheidende Fragen auf. Auf betrieblicher Ebene wird die Frage, welche MitarbeiterInnendaten wie genutzt werden dürfen, bereits heiß diskutiert. Bei Crowdworkern ist die „digitale Reputation“ existenziell. Wie können wir ein Mitspracherecht über die gesammelten Daten sicherstellen? Und können wir unseren digitalen Fußabdruck auch wieder verändern?
In vielen Arbeitsbereichen werden neue Arbeitsformen zu einer höheren Flexibilität führen, wann und wo gearbeitet werden kann. Aber wie kann ein starker ArbeitnehmerInnenschutz in diesem Kontext gestaltet werden (z. B. Arbeitszeit, Ruhezeit, Überwachung/Kontrolle …)? Und können technologische Möglichkeiten auch genutzt werden, um vor allem psychische Belastungen zu reduzieren?
Mindeststandards definieren
Durch Crowdworking und Sharing-Economy-Plattformen entstehen neue Arbeitsformen, die derzeit völlig unreguliert sind. Die Prekarisierung einerseits hat auch Auswirkungen auf die Einkommens- und Arbeitsbedingungen der regulär Beschäftigten.
Es liegt also im Interesse aller, arbeitsrechtliche Mindeststandards zu etablieren. Auch Mitbestimmung muss neu organisiert werden. Die IG Metall ist zum Beispiel gerade dabei, eine Kommunikationsplattform aufzubauen, über die sich Crowdworker austauschen können.
Derzeit regelt der klassische Arbeitsvertrag (noch) die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse. An den Arbeitsvertrag gekoppelt ist die arbeits- und kollektivvertragliche Absicherung, aber auch die finanzielle Basis unseres Steuer- und Sozialsystems. Automatisierung einerseits und neue Arbeitsformen à la Crowdwork andererseits bewirken, dass dieser klassische Arbeitsvertrag an Bedeutung verliert. Eine zentrale Frage wird daher sein, wie die Finanzierung sozialer Systeme an den digitalen Wandel angepasst und rechtliche Absicherung geschaffen werden kann.
Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht. Es gilt aber bereits jetzt, das Ruder in die Hand zu nehmen, um den gesellschafts- und sozialpolitischen Kurs im Sinne der ArbeitnehmerInnen zu beeinflussen.
Linktipps:
Zum Downloaden:
Frey, C. B.; Osborne, M. A. (2013): The Future of Employment: How Susceptible Are Jobs to Computerisation? Oxford Martin School, 7, 72:
tinyurl.com/oj67kae
Zum Nachlesen:
Rotman, D. (2013, June 12): How Technology Is Destroying Jobs. MIT Technology Review. Retrieved January 21, 2015:
tinyurl.com/odnek6s
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin karin.zimmermann@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at
]]>Evolution des Internets
„Man muss den größeren Kontext der Evolution des Internets betrachten“, sagt Schahram Dustdar, Informatik-Professor an der TU Wien und Leiter des Arbeitsbereichs „Verteilte Systeme“ (Distributed Systems). Die Internettechnologie wurde „Ende der 1960er-Jahre entwickelt, damit die Menschen über eine Maschine miteinander kommunizieren können. Daraufhin folgte die Entwicklung des Web.“
Der nächste Schritt war das Internet der Software-Services – jetzt konnten Software-Programme per Internet miteinander kommunizieren. „Was noch bleibt“, sagt Dustdar, „sind die physischen Dinge“ – und damit auch die Kommunikation zwischen Gegenständen, die „machine-to-machine communication“. Das ist es, was derzeit die Technologie- und IT-Firmen der Welt, aber auch Regierungen, Stadtverwaltungen und Unternehmen von Handel über Logistik bis zu industrieller Produktion interessiert. Hier wird geforscht, was das Zeug hält.
Von Paket bis Amtsersatz
Einige Beispiele: In Dortmund forscht das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik an einem „Paradigmenwechsel in der logistischen Welt“. Es werden Logistiksysteme entwickelt und optimiert, bei denen die Waren ihren Weg zum Ziel selbst organisieren. Im Internet der Dinge sieht man die Lösung: Pakete können sich selbst steuern und wissen, wo’s langgeht.
Der IT-Ausrüster Cisco investiert viel in die Entwicklung von IoT-Anwendungen. Der neue Cisco-Chef Chuck Robbins glaubt gar, im Jahr 2030 würden 500 Milliarden Dinge mit dem Internet verbunden sein. Cisco liefere „den Bauplan, um unbelebte Dinge miteinander zu vernetzen“. So hat der Konzern am Hamburger Hafen Lkw-Parkplätze mit Sensoren ausgerüstet: Lkw-Fahrern wird automatisch gemeldet, wo ein Platz frei ist. In Barcelona und Nizza hat man BürgerInnenkioske installiert, an denen Menschen einen neuen Pass beantragen oder die Steuererklärung abgeben können, ohne ein Amt betreten zu müssen. Auch viele kleinere Unternehmen wie etwa die österreichische IT-Firma TTTech, die weltweit rund 400 MitarbeiterInnen hat, setzen auf das IoT. TTTech entwickelt unter anderem Lösungen für selbstfahrende Autos.
Riesenerwartungen
Das Internet der Dinge weckt Riesenerwartungen von Wirtschaft und Politik. Studien werfen nur so mit Milliardenbeträgen um sich. So rechnet die Unternehmensberatung Accenture in der im Jänner präsentierten Studie „Winning with the Industrial Internet of Things“ damit, dass das Internet der Dinge bis 2030 mit 14,2 Billionen US-Dollar zur globalen Wirtschaftsleistung beitragen könnte.
Allerdings ist dies nur ein potenzieller Betrag, denn aus Sicht von Accenture würden weder Unternehmen noch Regierungen ausreichende Anstrengungen zeigen, um die Voraussetzungen zur umfangreichen Verbreitung neuer digitaler Technologien zu schaffen. Dazu gehört etwa der Ausbau der Netze, welche die enormen Datenmengen transportieren können. Noch agiere der Großteil der Unternehmen vor allem deshalb zurückhaltend, weil sie noch nicht wissen, wie sie mit den neuen Technologien Geld verdienen können. Vermutlich ist das aber nur eine Frage der Zeit. Denn die Befragung von 1.400 Führungskräften globaler Unternehmen ergab: Mit dem Internet der Dinge verbindet man die Steigerung der Produktivität und die Senkung der Betriebskosten.
Jobabbau und neue Berufe
Das weckt natürlich Sorgen. Produktionshallen, Logistikzentren und Transportmittel werden weniger menschliche Arbeitskraft benötigen. Frank Bsirske, Chef der deutschen Gewerkschaft ver.di, sagte Anfang des Jahres: „Ganze Berufsfelder sind von der Digitalisierung bedroht.“ Große Sparpotenziale bei Arbeitsplätzen drohen, und so entstehe eine Automatisierungsdividende. Diese müsse in neue Arbeitsplätze investiert werden, etwa im Erziehungs- und Gesundheitsbereich – und das müssten Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften fördern. Bsirskes österreichischer Kollege Wolfgang Katzian, Vorsitzender der GPA-djp, sagt: „Natürlich kommen auf dem Arbeitsmarkt einige Branchen durch den digitalen Wandel gehörig unter Druck. Beispielsweise schreibt niemand mehr Enzyklopädien. Wenn wir etwas wissen wollen, suchen wir es nicht mehr zwischen zwei Buchdeckeln im Wohnzimmer, sondern im Internet.“ Im Verlagswesen, im Journalismus, aber auch im Handel, Finanzbereich und der Industrie würden sich gewaltige Veränderungen bei den Arbeitsabläufen und ein Arbeitsplatzabbau zeigen. Allerdings entstünden auch neue Berufsfelder, wie die IT-Forensik oder die Big-Data-Analyse. Die Tatsache, dass Robotik menschliche Arbeitskraft teilweise ersetze, sei ein guter Grund, „die frei werdenden Kapazitäten für eine Arbeitszeitverkürzung zu nutzen anstatt zum Jobabbau“. Der Gewerkschaft gehe es darum, bestehende und neu entstehende Arbeitsplätze so zu gestalten, „dass sie ein finanziell und sozial abgesichertes Leben ermöglichen. Dafür brauchen wir auch eine starke und handlungsfähige öffentliche Hand.“
Offene Fragen
Einsatzbereiche des Internets der Dinge, die vielen zugutekommen, sind Entwicklungen im Bereich Smart Cities. Hierzu wird an der TU Wien eifrig geforscht, Software und Prototypen gebaut, die es ermöglichen, Geräte wie etwa Klimaanlagen oder Verkehrsampeln steuerbar zu machen und miteinander in Beziehung zu setzen. Auf dem Weg zu einem umfassenden Internet der Dinge gibt es laut Informatik-Professor Dustdar „nur Probleme, wo man hinschaut“. Es beginnt bei der Sicherheit, immerhin lässt sich alles hacken, was mit dem Internet verbunden ist.
Es geht weiter bei der Frage: Wie rechnet man mit dem Kunden ab? Und: „Was für mich noch stärker wiegt, ist das Thema Privacy: Das Empfinden der Privatsphäre ändert sich stark.“ Schon jetzt wird in den sozialen Medien meist kein Geldbetrag bezahlt, denn der Preis für die Nutzung sind die eigenen Daten. „Daten sind das Öl der Gegenwart“, so Dustdar. Er kann sich vorstellen, dass man in Zukunft mit dem Auto kostenlos von A nach B gebracht wird, wenn man Werbung über sich ergehen lässt.
Der Forscher macht sich solche Gedanken, obwohl es reichen würde, die Technologie voranzutreiben. Für ihn geht es beim Internet der Dinge aber auch um eine philosophische Frage: „Was ist der Mensch? Was soll der Mensch machen? Lebt er, um zu arbeiten? Arbeitet er, um zu leben?“ Die Technologisierung werde langfristig dazu führen, dass die Menschen kürzer arbeiten. Was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen, werde sich zeigen – und es müsse nicht nur positiv sein. Aber: „Wir können diesen Prozess durch Technologieskepsis nicht aufhalten, denn es ist ein globales Thema.“ Zwar ist das IoT schon im Einsatz, trotzdem stehen wir bei der Entwicklung laut Dustdar erst am Anfang. Ein wenig Zeit ist also noch, sich auch die philosophischen Fragen zu stellen.
Linktipps:
Accenture-Studie:
tinyurl.com/p7up9gy
TU Wien zum Thema Smart Cities:
http://energiewelten.tuwien.ac.at/forschung/smartcity
Blogtipp:
www.das-vernetzte-leben.de
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